Karl Radek 19111011 Christentum und Tripolisraub

Karl Radek: Christentum und Tripolisraub

(Oktober 1911)

[Freie Volkszeitung (Göppingen), Nr. 237 und 238, 11. und 12. Oktober 1911, gezeichnet „K.R.“]

I.

Eine der interessantesten Erscheinungen, die der Raubzug des italienischen Imperialismus zeitigt, ist die Begeisterung der italienischen Klerikalen. Obwohl sie sich in offizieller Opposition zur italienischen Regierung befinden, obwohl der Papst von Monarchen, die ihn besuchen wollen, fordert, sie sollen dem italienischen Königspalast fern bleiben und wenn sie dies nicht tun können, nicht vom Quirinal die Pilgrimfahrt zum Vatikan antreten, marschieren die Klerikalen bei den „patriotischen“ Demonstrationen und die klerikale Presse jubelt dem Brigantenstreich zu, als ob es sich dabei um die Bekehrung aller Sünder der Welt handeln würde. Der Bischof Bonemelli von Cremona hat — wie die „Kölnische Zeitung“ meldet — einen Hirtenbrief erlassen, worin er einen Krieg, der den Interessen der Zivilisation und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen soll, vollkommen billigt. Nicht blinde Willkür und Eroberungshunger, sondern die Notwendigkeit der Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen und nationalen Würde hätten zum Kriege gezwungen. In Cagliari segnet der Erzbischof Valestra die abgehenden Soldaten. Zwei Priester brachten eine rotgelbe Fahne, die in der Seeschlacht von Lepanto 1571 den Türken entrissen wurde, an Bord des Dampfers „Citta di Cagliari“. Jetzt bringt die „Kreuzzeitung“, das Organ der mit dem Zentrum verbundenen Konservativen — also ein keinesfalls anti-ultramontanes Blatt — ganz greifbare Gründe für diesen Standpunkt des Vatikans.

Wie bekannt, gab den letzten Anlass zum Tripolisraub die Bedrängung der Banco di Roma, die in Tripolis in ihren Geschäften von der Türkei gestört wurde. Die „Kreuzzeitung“ meldet, dass der Grundstock des Kapitals dieser Bank — es beträgt 150 Millionen Lire — dem Vatikan und den Kongregationen gehört und der Leiter der Bank, Pacelli, soll ein Vertrauensmann des „heiligen Vaters“ sein.

Diese Tatsache ist gar nicht erstaunlich. Als die Geldwirtschaft noch keine herrschende Form des Wirtschaftslebens war, musste die Kirche die ihr in Naturalien zufließenden Gaben der Gläubigen den ärmsten von ihnen als Almosen zurückerstatten. Was die Mönche und Pfaffen nicht verprassen konnten, diente zur Festigung des Einflusses der Kirche auf die Volksmassen. Seitdem die Geldwirtschaft ihr die Zins bringende Verwendung eines jedes dem Volke entlockten Pfennigs erlaubt, ist die Kirche eine der eifrigsten Profitmacherinnen. Sie ist Schnapsbrennerin und Fabrikantin, für sie roboten Landarbeiter, und die skandalöse Ausbeutung, die in den katholischen Mehrwertsfabriken herrscht, zeigt noch heute der Welt Bilder, wie sie sonst nur in den Berichten der englischen Fabrikinspektoren aus der Zeit, wo die Arbeiterschaft noch keine Arbeiterschutzgesetze erringen hatte, zu finden sind. Kein Wunder also, dass die Kirche die in der ganzen Welt zusammengerafften Reichtümer, den von den Proletariern in ihren Fabriken direkt ausgepressten Mehrwert, dort unterbringt, wo ihr die größten Profite winken. Diese sind die kolonialen Unternehmungen. Sie arbeiten oft unter Zinsgarantie der kapitalistischen Staaten und wenn nicht, so springen ihnen die Staaten zur Hilfe, wenn nur ihre Interessen gefördert werden. Seit jeher hatte die katholische Kirche ein feines Verständnis für die kolonialen Geschäfte. Als kaum eben der koloniale Aasgeier seine Flügel zu schwingen begann, erteilte die katholische Kirche ihren Segen zum Raubfluge: im Jahre 1493, also ein Jahr nach der Entdeckung Amerikas, tritt der Papst Alexander VI als Schiedsrichter zwischen Spanien und Portugal auf und teilte unter sie die erst zu erobernde Welt. Der Spur der raubenden und sengenden Konquistadoren folgten die frommen Mönche, um an den Plünderungen jener teilzunehmen und die Eingeborenen gefügig zu machen. Und der Jesuitenorden, die Seele des nach der Reformation sich reorganisierenden Katholizismus, machte die kolonialen Geschäfte zur speziellen Quelle seiner Macht.

II.

Die Tatsache, dass die Profitgier des Vatikans eine der Ursachen des Tripolisraub bildet, dass wegen der Perzentchen des heiligen Vaters die Gefahr eines Weltkrieges heraufbeschwören wurde, bildet nur eine Illustration zur Tatsache, dass die Kirche, die als Vertreterin des armen Tischlersohnes in Judäa auftritt, nicht nur ein Organ zur Unterstützung der kapitalistischen Herrschaft, sondern direkt eine kapitalistische Anstalt ist. Es kann ihr also nichts fremd bleiben, was der Kapitalismus zur Erhaltung seines Lebens für nötig hält, was der einzelne Kapitalist zur Erhöhung seiner Profite gebraucht. Aber es wäre falsch, nur aus dem Interesse des Vatikans an den Geschäften der „Banco di Roma“ die Haltung der Katholiken in Italien zu erklären, denn wie sehr sie auch von den Pfaffen gegängelt werden, so gelänge es dem Vatikan schwer, selbst die Masse der Priesterschaft für den Tripoliskrieg zu begeistern, wenn es sich dabei nur um seine Profitinteressen handeln würde. Der imperialistische Enthusiasmus der Priesterschaft wird dadurch bestimmt, dass sie immer mehr in der kolonialen Ausbreitung ein Mittel zur Stärkung der Kirche sehen. Immer größere Massen der arbeitenden Bevölkerung werden unter dem aufrüttelnden Einfluss des Kapitalismus der Kirche entfremdet. Und selbst dort, wo das Kapital ihnen noch nicht vordemonstriert, dass es nur einen Gott gibt, der ihre Geschicke bestimmt, das Kapital, sehen sie, dass die Kirche nur diesem Gott dient: in Spanien, Portugal erlebt jetzt die Kirche den Abfall ihrer einst gläubigen Sklaven. Die Gewinnung der Massen der Eingeborenen-Bevölkerung in den Kolonien wird darum zum Lebensinteresse der Kirche. Die neuen „Kinder“ sind der Kirche desto teurer, weil sie vom Kapital bis aufs Blut ausgesaugt, lange Zeit sich ganz wehrlos fühlen und in ihr den einzigen Anwalt ihrer Interessen sehen. „Durch den wachsenden Einfluss der Irländer in der Union und die Einwanderung zahlreicher Italiener in Argentinien wuchs ganz von selbst die katholische Kirche in Amerika; nicht minder nahm sie im französischen Algerien und in den deutschen Kolonien zu“ — schreibt der Münchner Privatdozent A. Wirth in seiner „Weltgeschichte der Gegenwart“. Auch eine andere Ursache trug zur Entfachung des kolonialen Enthusiasmus der italienischen Priesterschaft und der katholischen Bourgeoisie bei. Sie sucht aus der Opposition zur Regierung hinauszukommen, die ihr vom Vatikan nach der Aufhebung der Weltherrschaft des Papstes1 befohlen wurde. Obwohl diese Opposition ihre Anhängerschaft im Volk vergrößert, hat sie sehr große Schattenseiten. Sie erschwert die Teilnahme an der Vetternwirtschaft, an dem Unterbringen ihrer Günstlinge in Regierungsstellen, Erlangen von Konzessionen usw. Darum bestand unter den Katholiken Italiens schon lange eine Tendenz zur Annäherung an die Regierung. Der koloniale Enthusiasmus ist ein Brücke dazu, wie der Marokkorummel in Deutschland dem Zentrum ermöglichte, sich enger den Konservativen an die Brust zu schmiegen und so von der ganzen bürgerlichen Welt das Zeugnis zu erlangen, dass es so gut „national“ ist wie die andere imperialistische Meute.

Das sind die allgemeinen und speziellen Gründe, die den Vatikan, die italienische Priesterschaft und die klerikale Bourgeoisie in das Lager der Tripolisräuber trieben. Dass aber die unter ihrem Einfluss sich befindenden Massen des italienischen Volkes sich dagegen nicht auflehnen, soll uns nicht wundern, wo wir sehen, wie allmählich nur die durch das religiöse Opium betäubten katholischen Arbeiter Deutschlands gegen den Verrat ihrer nächsten Interessen durch das Zentrum zu protestieren beginnen.

Indem wir den Anteil der katholischen Kirche, an dem Tripolisraub, ihre Mitschuld an den von ihm heraufbeschworenen Gefahren, feststellen und geißeln, können wir nicht umhin, auch der Haltung des „Reichsboten“, dem Organ der Pastoren, einige Worte zu widmen. In einem Artikel, der schon von unserer Presse zitiert wurde, geizte diese frumbe Organ der Gescheitelten2 nicht mit Worten der Entrüstung aus Anlass des italienischen Brigantenstreichs. Unsere Parteipresse fragte schon die moralischen Lutherjünger, wo ihre Entrüstung war, als der deutsche Hunnenfeldzug im Jahre 1900 stattfand, und wir möchten noch fragen: warum protestierten sie nicht, als die Hereros in den Sandwüsten Südwestafrikas dem allmählichen Hunger- und Dursttod von den deutschen kolonialen Helden ausgeliefert wurden? Kein Hofprediger schrie denen, die dafür verantwortlich waren, zu: Mörder ihr! Warum? Der „Reichsbote“ wird wohl die Frage nicht beantworten und so wollen wir es selbst tun. Chinesen und Hereros wurden im Interesse des deutschen Kapitals niedergemetzelt. Darum sangen die protestantischen deutschen Pastoren Hosianna! Aus den Knochen der gemordeten Tripolisberber wird dem deutschen Kapital kein Profit erblühen; ja der Raub Tripolis‘ kann die Türkei schwächen, mit der das deutsche Kapital so gute Geschäfte macht, darum kocht die Pastorenseele vor Entrüstung. Dass aber die Pastoren sich nicht minder für koloniale Ausbeutung interessieren als die katholischen Pfaffen, zeigt die aufmerksame Lektüre der wirtschaftlichen Rundschauen im „Reichsboten“, die von ihm oft abgedruckten antienglischen Artikel von Paul Dehn, die hetzerische Haltung dieses Organs in der Marokkokrise.

Der Protestantismus ist um keinen Deut weniger beteiligt an der kapitalistischen Ausrottungspolitik in den Kolonien als die katholische Kirche. Beide Teile des Christentums, das als Sklavenreligion den Kampf um die Welt begann, sind jetzt Anbeter der Sklavenzüchter in den Kolonien. Und wie konnte es denn anders sein, da se beide vor dem Mammon auf den Knien liegen, obwohl es heißt: Du wirst keinen anderen Herrn haben als mich, deinen Gott!

1 Gemeint ist die Aufhebung der weltlichen Herrschaft durch die Besetzung des Kirchenstaats im September 1870 durch Italien, die zu einer jahrzehntelangen Eiszeit zwischen Vatikan und italienischem Staat führte.

2 Protestantische Priester wurden damals in der sozialistischen Presse oft als „Gescheitelte“ bezeichnet, im Unterschied zu den „Geschorenen“, den katholischen Mönchen mit ihrer Tonsur.

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