Karl Radek 19111103 Der italienisch-türkische Krieg und die Internationale

Karl Radek: Der italienisch-türkische Krieg und die Internationale

(November 1911)

[Bremer Bürger-Zeitung, Nr. 258, 3. November 1911, ungezeichnet und Freie Volkszeitung (Göppingen), 4. November 1911, gezeichnet „K.R.“]

Der erste Monat ist vorüber, seitdem Italien der Welt zeigte, was Imperialismus bedeutet. Der Widerstand aber der tripolitanischen Bevölkerung, die Todesverachtung, mit der sie die sich selbst beweihräuchernden Eindringliche angreift, hat inzwischen dem italienischen Imperialismus gezeigt, das er die Sache etwas voreilig auf die leichte Achsel nahm. Bis jetzt beherrscht Italien nicht einmal die Küste. Im Innern des Landes hat es nicht nur mit den türkischen Truppen und den aufständischen Arabern zu kämpfen, sondern es muss dazu solche Hindernisse bewältigen wie Unkenntnis des wegelosen Landes, Mängel an entsprechenden Transportmitteln usw. Dabei kann es auf ein schnelles Ende des Kampfes nicht rechnen. Das tripolitanische Volk setzt sich zur Wehr, weil es vom Eindringen der Italiener eine gänzliche Umwälzung der gewohnten Lebensart erwaten musste. Die türkische Fremdherrschaft war viel leichter zu ertragen, weil sie an den gesellschaftlichen Zuständen von Tripolis fast gar nicht gerüttelt hat und weil religiöse Gemeinschaft die Eingeborenen und Fremdherrscher verband. Die Grausamkeit, mit der die italienischen Truppen die Herrschaft der „Zivilisation“ etablieren, das Erschießen der Kriegsgefangenen, muss dem Volke die alte türkische Herrschaft als etwas Verteidigenswertes darstellen. Je länger aber der Widerstand der tripolitanischen Bevölkerung dauert, desto mehr Zeit hat die türkische Regierung, Offiziere durch Ägypten zu senden, die ihn organisieren und stärken. Italien aber verpulvert mit jedem Tag des Krieges mehr Geld — der erste Kriegsmonat kostete nach Berechnung italienischer Blätter eine Milliarde Lire — es verliert mehr und mehr Menschen. Darum wird also die italienische Regierung sich gedrängt fühlen, ihr Übergewicht auf See der Türkei fühlen zu lassen, kleinasiatische Küstenstädte, türkische Inseln im Ägäischen Meer zu besetzen, um Pfänder für Friedensverhandlungen mit der Türkei in der Hand zu haben. Mit der Verlängerung des Krieges, mit seiner Ausbreitung wächst auch die Gefahr, dass er zu Verwicklungen auf dem Balkan führen wird. Zwar haben die Großmächte ihren Einfluss in Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland aufgeboten, um die Ruhe auf dem Balkan aufrecht zu erhalten, aber je länger der Krieg dauert, desto mehr er die Kräfte der Türkei in Anspruch nimmt, die bisher den Dingen freien Lauf ließ und nur auf diplomatischem Wege sich zu verteidigen suchte, desto weniger glaubhaft ist, dass der Balkan ruhig bleibt. Die Balkanunruhen sind keineswegs ausschließliches Werk der machthungrigen Regierungen. Ihre Grundlage bildet der Drang der jungen Bourgeoisie und Intelligenz der Balkanvölker, deren Entwicklung durch nationale Zerklüftung aufgehalten wird, nach nationaler Vereinigung; ferner die Abwehr der von den Großgrundbesitzern und der türkischen Bourgeoisie ausgebeuteten Bauern. Und diese Schichten können in Bewegung kommen auch gegen den Willen ihrer Regierungen, die vom internationalen Kapital kommandiert werden. Die Aufrollung der Orientfrage aber bedeutet die Möglichkeit eines Weltkrieges.

Gegen diese Möglichkeit protestiert in diesen Tages das internationale Proletariat. Es leidet schon jetzt unter den Folgen des italienischen Raubzuges, der neue Unruhe in das Wirtschaftsleben Europas hineingetragen hat. Und mit Grauen sieht es die Gefahr eines Weltkrieges nahen wegen der Profitinteressen einer kleinen Clique italienische Kardinäle und Bourgeoisie, wegen des Großmachtkitzels der italienischen Bourgeoisie. Indem es die Stimme gegen den Tripolisraub, gegen die Gefahr eines Weltkrieges erhebt, wendet es sich nicht nur gegen die italienische Räuberregierung. Es weiß wohl, dass der italienische Raubzug nicht nur Ausfluss derselben Politik ist, die das ganze kapitalistische Westeuropa verfolgt, sondern dass es ohne die Besetzung Algiers, Tunis und Marokkos durch Frankreich, Ägyptens durch England und des deutschen Marokkoschachers unmöglich wäre.

Die alten kapitalistischen Staaten teilen die Welt ein, damit die Eisenkartelle, Panzerplattenfabrikation, Militärlieferanten, die großen Banken ihre Taschen mit Extraprofiten voll stopfen können. Die gesamte Bourgeoisie der alten kapitalistischen Staaten unterstützt diese Politik, selbst wenn sie von ihr augenblicklich keinen Nutzen hat. Sie hofft nämlich, dass die eroberten Kolonien sie vor den Bedrängnissen retten, mit denen sie von der kapitalistischen Entwicklung bedroht wird. Je weiter diese Entwicklung fortschreitet, einen je größeren Teil der Gesellschaft das in Not lebende Proletariat ausmacht, desto weniger entwicklungsfähig ist der innere Markt. Die ausländischen Mächte aber werden immer mehr von den Schutzzollwällen abgesperrt. Bis jetzt fand das Kapital Auswege aus der Bedrängnis, es konnte die Produktion erweitern. Aber wird es noch lange so gehen? Zwar würde es genügen, der Arbeiterschaft bessere Löhne zu zahlen, dass sie ihre wichtigsten Bedürfnisse decken könnte, und eine Menge von Industriezweigen würde aufblühen können. Aber dieser Weg ist für die Bourgeoisie nicht gangbar, weil der höhere Lohn niedrigeren Profit bedeutet. Sie verfällt also auf den utopischen Gedanken, als könnte man der Industrie in Europa neue Absatzmärkte schaffen, indem man das Proletariat immer mehr ausbeutet, für die ihm abgepressten Steuergroschen Flotten schafft, unentwickelte Länder erobert und in ihren Wüsteneien Städte, Bahnen baut. Diese Illusion des Bürgertums wird von der unerbittlichen Wirklichkeit zerstört werden. Denn es gibt keinen Schlupfwinkel in der Welt, in den sie sich aus Angst vor dem Sozialismus, dieser einzigen Möglichkeit der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte, verstecken könnte. Aber einstweilen übt der Imperialismus eine gewaltige Anziehungskraft auch auf die weniger entwickelten kapitalistischen Länder aus. In Österreich wie in Italien hat die Bourgeoisie noch einen entwicklungsfähigen inneren Markt; durch Agrar-Steuerreformen kann sie die Kaufkraft der Bauern stärken, sie kann sich noch auf Kosten des Handwerks entwickeln. Aber das Bild der Politik der Bourgeoisie in alten kapitalistischen Ländern lässt sie nicht schlafen; was tu ich — fragt sie — wenn mich derselbe Schuh drückt, der jetzt die westeuropäische Bourgeoisie zu drücken beginnt. Und so jubelt die österreichische Bourgeoisie der Annexion Bosniens und der Herzegowina zu, obwohl sie durch die Abwehrmaßregeln der Türkei, den Warenboykott, geschädigt wird; darum befindet sich die italienische Bourgeoisie im imperialistischen Taumel. Darum fällt es dem Proletariat nicht ein, sich nach dem Muster der heuchlerischen bürgerlichen Presse nur gegen die italienischen Briganten und ihren Streich Protest zu erheben. Jeder Protest, jeder Entrüstungsruf, den die Arbeiterklasse nach Rom sendet, trifft die Regierungen in Berlin, Wien, Paris und London. Noch mehr: sie alle sind bereit, die Orientwirren im Interesse des Kapitalismus ihres Landes auszunützen. Und darum wendet sich unsere Aktion in erster Linie gegen sie. Das deutsche Proletariat hat keinen Einfluss auf die italienische Regierung, aber es kann und will die deutsche im Zaun halten, wenn es ihr einfallen würde, an den Feuer im Orient ihre Suppe zu kochen.

Der westeuropäische Kapitalismus ist an dem italienischen Raubzug ebenso schuldig wie der italienische, das ist unsere Anklage.

Der westeuropäische Kapitalismus darf nicht den italienisch-türkischen Krieg und die in seinem Gefolge drohenden Umwälzungen im Orient auszunützen zur Einmischung in die Orientwirren! Das ist unsere Warnung.

Das italienische Proletariat hat die Aufgabe, die Agitation für die schnelle Beendigung des Krieges zu führen. Unsere Aufgabe ist es, die Regierungen Westeuropas von einer Ausbreitung der Orientkrise zurückzuhalten. Je lauter unsere Proteststimme ertönen wird, desto klarer wird es den Regierungen Deutschlands, Englands, Österreichs und Frankreichs werden, dass es für sie besser ist, die Finger fern vom Orientfeuer zu halten. —

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