Karl Radek 19090700 Die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie

Karl Radek: Die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie

(Juli 1909)

[Bremer Bürger-Zeitung, Juli 1909. Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909-1919, S. 17-36]

Es lebe der Krieg!

Die erfreuliche Einmütigkeit, mit der sich die Parteipresse gegen den Genossen Leuthner wandte, war eine Äußerung des Willens zum Frieden, wie er im deutschen Proletariat lebt. Der Standpunkt Leuthners wurde ganz richtig als eine Aufmunterung der deutschen Kriegshetzer aufgefasst, und das genügte, um ihn für die deutsche Sozialdemokratie unmöglich zu machen. Die Sozialdemokratie ist der Hort des Friedens, diese Tatsache ist ein Produkt der Entwicklung seit dem Frankfurter Frieden oder noch mehr seit dem Ausbruch der neuen kolonialen Ära. Denn nicht immer war der Friede die Losung der Sozialdemokratie. Es gab eine Zeit, da sie für den Krieg Propaganda machte. Ein Rückblick auf die Umstände, unter welchen dies geschah, ist nicht nur von historischem Interesse. Erstens wird er uns erlauben, die veränderte Situation, in der die jetzige Stellungnahme der Sozialdemokratie entstand, schärfer ins Auge zu fassen, zweitens wird er uns helfen, in der Argumentation der offen oder versteckt kriegsfreundlichen Genossen manche Elemente der alten Position wieder zu finden.

Diese Position war die folgende: Im Jahre 1848 schrieb Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung: „Nur der Krieg mit Russland ist ein Krieg des revolutionären Deutschlands, ein Krieg, worin es die Sünden der Vergangenheit abwaschen, worin es sich ermannen, worin es seine eigenen Autokraten besiegen kann, worin es, wie einem die Ketten langer träger Sklaverei abschüttelnden Volke geziemt, die Propaganda der Zivilisation mit dem Opfer seiner Söhne erkauft und sich nach innen frei macht, indem es sich nach außen befreit.“

In demselben Blatt befürwortete Marx den Krieg um Schleswig-Holstein, der gegen Dänemark, England, Russland und das alte Preußen geführt wurde, mit folgenden Argumenten: „Gerade solch ein Krieg tut der einschlummernden deutschen Bewegung not, ein Krieg gegen die drei Großmächte der Konterrevolution, ein Krieg, der Preußen in Deutschland wirklich aufgehen lässt, der die Allianz der Polen zum unumgänglichen Bedürfnis macht, der die Freilassung Italiens sofort herbeiführt, der gerade gegen die alten konterrevolutionären Alliierten von 1792 bis 1815 gerichtet ist, ein Krieg, der das ‚Vaterland in Gefahr‘ bringt und es gerade dadurch rettet, indem er den Sieg Deutschlands vom Siege der Demokratie abhängig macht.“

Im Juni des Jahres 1859, während der europäischen Krisis, die mit dem Kriege Österreichs gegen Italien endete, schrieb Fr. Engels an Lassalle: „Vive la guerre (Es lebe der Krieg), wenn Franzosen und Russen uns zugleich angreifen, wenn wir dem Ertrinken nahe sind, denn in dieser verzweifelten Situation müssen sich alle Parteien von der jetzt herrschenden bis zu Zitz und Blum abnutzen, und die Nation muss, um sich zu retten, sich endlich an die energischste Partei wenden.“ (Zitiert im 47. Briefe Lassalles an Marx: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels. Stuttgart 1902, S. 185.)

Seit dieser Zeit war die Hervorhebung der Notwendigkeit des Krieges mit Russland ein steter Bestandteil der auswärtigen Politik der deutschen Sozialdemokratie, bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wie sich aber selbst diese Losung veränderte, zeigt die folgende Ausführung Liebknechts, eines Hüters der traditionellen auswärtigen Politik Marx auch in Zeiten, als dieselbe schon teilweise der internationalen Situation nicht mehr entsprach:

Wenn die Regierungen Österreichs, Englands, Frankreichs klar und nett vor die Alternative gestellt würden: kosakisch oder demokratisch, sie würden unbedingt und ohne sich zu besinnen antworten: kosakisch. Indes, wenn auch von den jetzigen Staaten kein radikales Vorgehen gegen Russland zu erwarten ist, so folgt daraus doch nicht, dass man fatalistisch die Hände in den Schoss legen solle. Es ist richtig: die russische Macht kann nur bis zu einem gewissen Punkt anschwellen, und dann muss von Seiten der erwachten und mündig gewordenen Völker der vernichtende Rückschlag kommen, aber die Frist bis zu diesem Rückschlag wird dadurch, dass man den Völkern die Tragweite der orientalischen Frage zeigt, wesentlich abgekürzt.“ Diese Worte schrieb Liebknecht im Jahre 1878, zur Zeit des Russisch-Türkischen Krieges (Zur orientalischen Frage, oder soll Europa kosakisch werden. Leipzig 1878, S.49), und es unterliegt keinem Zweifel, dass dies die Grundlage der späteren Kundgebungen der Partei gegen den Zarismus bildete.

Dies die Position der Sozialdemokratie. Werfen wir nun einen Blick auf die Situation, die sie bedingte. Sie zerfällt in zwei Zeitabschnitte: bis zum Frankfurter Frieden (1871), und von dann bis in die neunziger Jahre. Sie entstand während der deutschen Revolution und entsprach den inneren Verhältnissen Deutschlands und seiner internationalen Lage. Die Übermacht Russlands in Europa, die bis zum Japanisch-Russischen Kriege anhielt, hemmte die demokratische Entwicklung auf Schritt und Tritt. Ein Krieg mit Russland wäre ein Krieg gegen die Konterrevolution gewesen. Er hätte einen Umschwung in der inneren Situation Deutschlands geschaffen. Das deutsche Spießbürgertum machte Miene, schon nach dem ersten Siege der Revolution diese freudejohlend der Konterrevolution auszuliefern. Ein Krieg gegen Russland, in dem es alle Kräfte hätte anspannen müssen, hätte es aus dem Schlafe gerüttelt, hätte es genötigt, die damals noch kleinliche Furcht vor dem Proletariat abzuschütteln; der Krieg mit Russland hätte nicht nur die Revolution geschützt, sondern auch ihre Basis erweitert.

Etwas anders war die Situation im Jahre 1859. Die Konterrevolution in Deutschland hatte dank der Schwächlichkeit der Bourgeoisie gesiegt. Im ganzen Lande fühlte man nicht einen Hauch mehr von dem Geist der Revolution. In dieser Situation entstand ein Konflikt zwischen dem um seine Vereinigung ringenden Italien und Österreich, das einen Teil Italiens besaß. Napoleon III. unterstützte die italienischen Bestrebungen, um als Verfechter einer populären Idee in Frankreich seine Stellung zu befestigen. Marx und Engels glaubten erstens fest daran, dass Russland sie aktiv unterstütze, und zweitens, dass dem Schlage gegen Österreich am Po ein zweiter am Rhein gegen Deutschland folgen würde. Obwohl sie seit Jahren ihr Wort für die Befreiung Italiens in die Wagschale warfen, hielten sie es jetzt für ihre Pflicht, gegen Italien Stellung zu nehmen, weil ein Sieg Italiens den Sieg Russlands bedeuten, weil er Napoleon, also die Konterrevolution in Frankreich befestigen, weil er die Einigung Deutschlands verschleppen würde. Sie machten auch aus dem Grunde Propaganda für den Krieg, weil er den Bann der Konterrevolution in Deutschland — wie sie glaubten — brechen und der Revolution zum Durchbruch verhelfen würde. Wie falsch auch manche ihrer Voraussetzungen und ihre taktische Position waren — und dass sie falsch, bewies Lassalle in einer genialen Auseinandersetzung, in der er einen wunderbaren Einblick, man könnte sagen, eine Vorahnung der künftigen proletarischen auswärtigen Politik an den Tag legt,1 — ihre Position hatte nichts zu tun mit „patriotischen“ Erwägungen ä la Leuthner oder Maurenbrecher, und wir glauben, dass man ihre tiefsten Beweggründe besser in der intimen Äußerung Engels gegenüber Lassalle, als in seiner Broschüre:

Po und Rhein (Berlin 1859, bei Duncker), welche anonym herausgegeben, sich an das bürgerliche Publikum wandte und nach Mehrings Zeugnis allgemein für das eines hochgestellten und vorzüglich unterrichteten Militärs gehalten wurde, finden kann.

Die Herrlichkeit des neu gegründeten Reiches und der Niedergang des Liberalismus führten dazu, dass bei den Führern der deutschen Sozialdemokratie der Glauben an die Möglichkeit eines~ Vorgehens des Deutschen Reiches gegen Russland zerstob; die veränderte Situation der Ära des bewaffneten Friedens hätte die Agitation für einen Krieg in die pure Agitation für militärische Rüstungen verwandelt. Das führte, zusammen mit Momenten, über die wir noch sprechen werden, dazu, dass die kriegsfreundliche Stellung der Sozialdemokratie nur noch in der Form zu finden ist, die ich in der oben angeführten Äußerung Liebknechts wiedergegeben habe. In dieser Fassung wandelte sich die auf direkte, sofortige Beeinflussung der bürgerlichen auswärtigen Politik gerichtete Agitation in eine agitatorisch-propagandistische Vorbereitung zukünftiger Kämpfe. Zur Beurteilung dieser Position muss noch ein Moment hervorgehoben werden. Während dieser Epoche kann man eigentlich nur von der auswärtigen Politik der Führer der Sozialdemokratie, nicht aber von der des Proletariats sprechen. An dem Fehlen des Proletariats starb eben die deutsche Revolution; dieses Fehlen schob die Führer der Sozialdemokratie auf die Bahn des Spekulierens auf revolutionäre Situationen, die das Kleinbürgertum revolutionieren würden; es führte dazu, dass sie mehr an eine den Interessen der Revolution dienende auswärtige Politik der Bourgeoisie, als an die des Proletariats dachten. Nach dem Jahre 1848 sprachen sie über auswärtige Politik nicht von proletarischen Tribünen, sondern anonym in bürgerlichen Blättern, in Broschüren, von denen fast niemand wusste, dass sie die revolutionäre „Schwefelbande“ zu ihren Verfassern hatten. Diese Umstände gaben ihrem Standpunkt eine gewisse Färbung, eine Abtönung, deren Entstehen wir bei der Beurteilung ihrer Positionen nicht aus den Augen verlieren dürfen, wenn wir nicht blinde Nachbeter unserer Altmeister sein, sondern sie gerecht, d. h. historisch beurteilen wollen.

Die Sozialdemokratie als Hort des Friedens.

Nach dem Deutsch-Französischen Kriege wuchs mit jedem Jahre die Last der ‘Rüstungen in Deutschland und den benachbarten Staaten. Im Jahre 1868 behauptete Moltke, die Einigung Deutschlands sei der beste Weg zur Abrüstung Europas. Zwanzig Jahre später, während des Kriegsrummels des Jahres 1887, erklärte er: „Meine Herren, ganz Europa starrt in Waffen. Wir mögen uns nach links oder rechts wenden, so finden wir unsere Nachbarn in voller Rüstung, die selbst ein reiches Land auf die Dauer nur schwer ertragen kann.“ Das Land, d.h. die Arbeiterklasse, musste sich jedoch das Wachsen der Kriegslasten gefallen lassen, weil sie noch nicht die genügende Kraft besaß, das von der Bourgeoisie im Jahre 1848 versäumte Werk zu vollbringen. Sie musste sich noch mehr gefallen lassen. Es hagelten auf ihren Rücken die Skorpione Bismarcks, die Verfolgungen des Sozialistengesetzes. Und die klassenbewussten Arbeiter bildeten schon kein kleines Häuflein mehr; die Zeit, da Lassalle als letzter Mohikaner der Revolution in Düsseldorf lebte, war schon vorüber. Hunderttausende deutsche Arbeiter kämpften unter der roten Fahne. Die Rüstungen gingen vonstatten unter der Losung eines Krieges mit Frankreich. So bekam die Solidarität mit der französischen Arbeiterklasse eine praktische Bedeutung, eine konkrete Äußerungsform: sie wurde der Beweggrund der scharf ablehnenden Haltung gegen die Rüstungen, gegen die Franzosen- hetze; sie wurde zum ehernen Fundament einer friedlichen auswärtigen Politik, der die Arbeiterklasse das Wort sprach. Zwar kehrte, wenn die theoretische Möglichkeit eines Abwehrkrieges gegen Russland besprochen wurde, die alte Erklärung; diesen Kampf machen wir mit, wieder, wer aber den Geist der Parteipresse aus diesen Zeiten kennen lernt, der spürt in ihr nicht einmal den Hauch des Willens zum Kriege.

Auf das Entstehen dieser Atmosphäre des Krieges gegen die Bourgeoisie und der Friedfertigkeit dem Auslande gegenüber wirkten neben den angezeigten noch andere Momente ein. Trotz des von Zeit zu Zeit entstehenden Kriegsrummels, der die Motive zum weiteren Rüsten liefern sollte, waren die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts keine Kriegszeiten. Die Grenzen der Staaten schienen unwandelbar zu sein. In diesen Jahren entstand die bekannte Theorie des Bankiers Bloch von der Unmöglichkeit der Kriege. Die Bourgeoisie richtete sich in dem neuen Hause gemütlich ein, sie nutzte in schnellem Tempo den neu geschaffenen einheitlichen inneren Markt aus, sie schuf eine enorme Industrie und ein stets anschwellendes Proletariat. Die Arbeiterklasse entwickelte in ihrem Gesamtbewusstsein den Antagonismus zum kapitalistischen System, sie organisierte im nationalen Rahmen den Kampf gegen die Bourgeoisie. Und wie die Bourgeoisie wirklich an keinen Krieg dachte, so floss auch die friedliche auswärtige Politik der Arbeiterklasse mehr aus ihrer Opposition gegen die innere Politik der Bourgeoisie und der Regierung, aus der Auflehnung gegen die Verrücktheit der Rüstungen, als aus der Bewertung der Gefahr eines bevorstehenden Krieges.

In dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts begannen sich die Verhältnisse zu ändern: Die schon in den achtziger Jahren begonnene Ära der Kolonialpolitik fing an, ihre Folgen in der internationalen Situation anzukündigen. Der Kapitalismus stieß auf dem nationalen Markte auf ein Hindernis: das unter seiner Herrschaft waltende Lohngesetz, das der Masse der Arbeiterklasse nur die notwendigsten Unterhaltungsmittel gewährte, beengte die Möglichkeit einer dem Wachstum der Produktivkräfte entsprechenden Ausbreitung des Absatzes. Dieses Hindernis wurde desto bedeutsamer, einen je größeren Teil der Bevölkerung die Arbeiterklasse ausmachte. Das Kapital suchte neue, ferne Absatzmärkte, auf denen es der Konkurrenz auswärtiger Kapitalisten begegnete. Es rief die Staatsmacht um Hilfe und Unterstützung an, es forderte von ihr monopolisierte Märkte. Das im schnellsten Tempo gesammelte Kapital schrie nach Anlagegelegenheit „bei möglichst guten Zinsen“. Im alten kapitalistischen Europa waren die Profite zu klein. Es versuchte, sich vermittels der Staatsgewalt bessere zu verschaffen: Kolonien, d. h. vom Staate besetzte Gebiete, wo man Bahnen bauen, verschiedene Bauten anlegen könne, wurden zur Losung. Die schwere Industrie, die Eisenkönige und Finanzbarone und die „Königlichen Kaufleute“ wurden zu Trägern, ihre Sorgen und Hoffnungen die Triebfeder der neuen Kolonialära. Dieses ist eine internationale Erscheinung; je nach den historischen Verhältnissen jedes Landes kommen zu diesen allgemeinen Ursachen der Belebung der kolonialen Bestrebungen spezielle soziale und politische Gründe. Wie mannigfaltig sie aber auch waren, sie hatten ein gemeinsames Resultat. Die Reibungsflächen der Staaten wuchsen ungeheuer, das Konfliktsmaterial sammelte sich an den verschiedensten Stellen der Welt. Das Burenland, Faschoda, China, Marokko, die Mandschurei, oder wie die entfernten Gegenden heißen, überall konnte der Brand entstehen, der Europa in ein Schlachtfeld verwandelte. Selbstverständlich erweckte dies die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse. Während sie in den Werkstätten den Mehrwert für die Kapitalisten produzierte, aber auch die Waffen gegen sie schmiedete, konnten die Herrschenden in einen Konflikt hineinrennen, dessen Ausgang das Vergießen ihres Blutes und die Zerstörung ihres Gutes bilden musste. Vor der Arbeiterklasse erstand die Möglichkeit, sich ‚nicht nur für eine fremde, sondern für eine feindliche Sache abschlachten lassen zu müssen. Während der Deutsch-Französische Krieg ein Krieg für die Vereinigung Deutschlands war, also eine begrenzte Lösung durch die deutsche Konterrevolution der von der Revolution ungelösten Aufgabe, während also in ihm zwar durch Mittel, welche die Sozialdemokratie bekämpfte und durch ihre Feinde aber doch eine Frage zur Lösung kam, deren Lösung die Sozialdemokratie im Interesse der Arbeiterklasse für notwendig erachtete, würden jetzt in einem eventuellen Kriege feindliche Interessen im Spiele sein. Die Arbeiterklasse bekämpft die kapitalistische Kolonialpolitik nicht nur darum, weil diese ohne Unterdrückung der Eingeborenen unmöglich ist, sie bekämpft sie in erster Linie aus dem Grunde, weil sie in ihr eine Flucht vor dem Sozialismus sieht. Die ökonomischen Verhältnisse Westeuropas sind schon für den Sozialismus reif. Nur die Schnitter fehlen noch, denn der Prozess des Bewusstwerdens proletarischer Massen geht nicht so schnell vonstatten, wie die ökonomische Entwicklung. Diese macht die weitere Entwicklung der Produktivkräfte auf kapitalistischer Grundlage mit jedem Jahre mehr zur Unmöglichkeit. Dem Kapitalismus drohen Erschütterungen, in denen das Bewusstsein der Massen in wunderbarer Eile reifen würde. Die soziale Revolution rückt in greifbare Nähe. Der Kapitalismus will eine Zuflucht und Rettung in den Kolonien finden. Es wird nur eine Galgenfrist sein, das weiß die Arbeiterklasse. Soll sie ihm diese aber gewähren? Die Kolonialpolitik der Regierungen kann zu einem Zusammenstoss der konkurrierenden Großmächte führen, der den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen würde. Das weiß die Arbeiterklasse und trotz des Schreckens der Kriege graut ihr nicht vor ihrem Ausgang. Sie weiß erstens, dass der Krieg die Geister der Arbeiterklasse zur Auflehnung gegen das ganze System des Kapitalismus, zum Kampf um den Sozialismus aufpeitschen wird, je kriegsfeindlicher die Masse „verseucht“ ist. Zweitens erblickt sie ihr spezifisches Kampfesmittel im Kampfe gegen die Kapitalistenklasse, der die Proletarier aller Länder vereint, im Klassenkampf, und nicht im Kriege, der sie, wenn auch nur auf kurze Zeit und ungewollt, entzweien könnte.

Darum wächst der bewusste Wille zum Frieden in den letzten Jahren so gewaltig im Proletariat, der proletarische Gedanke arbeitet und sucht nach Mitteln, um die Kriege unmöglich zu machen, darum erklärt seine Vertretung, der internationale sozialistische Kongress, dass es die Pflicht des Proletariats ist, alles zu tun, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern, und falls dies nicht gelingt, die von ihm geschaffene Situation für einen kräftigen Vorstoß der proletarischen Armee zu benutzen. Untersuchen wir jetzt die internationale Lage und die konkreten Resultate einer solchen proletarischen Politik.

Die gefährliche englische die friedliche deutsche auswärtige Politik.

Die oben geschilderte Stellung der deutschen Sozialdemokratie zu den Fragen der auswärtigen Politik äußerte sich in den letzten Jahren konkret in der Stellung zu dem Streit um Marokko und zu der viel wichtigeren Angelegenheit der deutsch-englischen Beziehungen. Während aber im ersten Falle die Haltung der Partei eine allgemeine Anerkennung in der Internationale fand, wird sie im zweiten von einigen Genossen kritisiert. Ohne darauf einzugeben, wie einheitlich diese Kritik ist und aus welchen Quellen sie fließt, wollen wir hier ganz ruhig ihre wichtigen Einwände besprechen. Als erstes Argument gegen die Stellung der deutschen Sozialdemokratie kommt die folgende Behauptung in Betracht: der englische Imperialismus ist gefährlicher als der deutsche; die auswärtige Politik der deutschen Regierung ist friedlich. Betrachten wir diese Argumentation etwas näher.

Worin besteht der englisch-deutsche Gegensatz? In erster Linie in der Furcht Englands vor dem Verlust seiner außereuropäischen Besitzungen. In Indien und Ägypten entwickelt sich eine Bewegung der einheimischen Bevölkerung, die Selbstverwaltung für sich fordert. Mit dem Fortschritt der kapitalistischen Wirtschaft wird die Bewegung in diesen Ländern an Kraft zunehmen und in anderen entstehen. Um sich in diesen Ländern zu befestigen, steuert die englische Politik in der Richtung der direkten oder indirekten Beschlagnahmung des ganzen Gebietes der Türkei und Persiens, das zwischen Ägypten und Indien liegt. Wenn man also fragen würde, ob diese Politik für Indien, Ägypten, Persien und die Türkei gefährlich ist, so müsste man diese Frage bejahen. Aber nicht darum geht es den Gegnern unserer Position. Für den europäischen Frieden wird sie erst dadurch gefährlich, dass die deutsche Bourgeoisie diese Pläne der englischen kreuzen will.

Die deutsche Bourgeoisie und ihre auswärtige Politik wird von den Genossen Renner und Leuthner als friedlich dargestellt. Würden diese Genossen dabei auch nur an die Pläne der führenden Parteien und der deutschen Regierung denken, so würden sie schon Unrecht haben. Das deutsche Kapital schreit nach Kolonien, wie jedes andere, und dass die deutsche Regierung es bis jetzt nur mit Brocken speisen konnte, verdankt die deutsche Arbeiterklasse nur der Tatsache, dass die deutsche Kolonialpolitik sehr spät begonnen hat. Die deutsche Bourgeoisie aber verliert nicht die Hoffnung: sie war schon auf dem Sprunge, beim chinesischen Raub mitzumachen, und noch jetzt, wo der Prozess der Regenerierung Chinas im Flusse ist, will sie Kiautschou nicht aus den Händen lassen, um einen Anhaltspunkt für eine Aktion zu haben, wenn sich eine entsprechende Gelegenheit zu ihr biete, d. h. wenn andere Großstaaten auch zugreifen. Selbst Paul Rohrbach, der immer eine friedliche auswärtige Expansion des Kapitals befürwortete, bekämpft in seinen „deutsch-chinesischen Studien“ (Berlin 1909) die Idee der Aufgabe Kiautschaus mit obigen Argumenten. So steht es selbst mit den friedlichen Plänen der deutschen Regierung. Noch weniger kann man an die Friedlichkeit ihrer auswärtigen Politik glauben, wenn man ihre Wirkung und eventuellen Ergebnisse ins Auge fasst. Nehmen wir die deutsche Politik in der Türkei.

Das deutsche Kapital sucht in der Türkei Anlagegelegenheit und einen Markt. Eine starke türkische Regierung würde ihm die Sicherheit seiner Zinsen garantieren. Darum unterstützte es Abdul Hamid, darum wird es auch die Jungtürken aufrichtig unterstützen. Es hat einstweilen zu viel in der Türkei zu verdienen, um jetzt auf ihre Teilung hinzuwirken. Diese friedliche Politik des deutschen Kapitals würde aber augenblicklich in eine kriegerische umschlagen, sowie es sich zeigen würde, dass das neue Regime in der Türkei den schwierigen Aufgaben nicht gewachsen ist, dass es dem deutschen Kapital die Sicherheit für seine Zinsen nicht garantieren kann. Die deutsche Regierung würde dann selbst die nötige Sicherheit der deutschen Bourgeoisie zu schaffen versuchen, indem sie die vom deutschen Kapital ökonomisch eroberten Teile der Türkei mit der Waffe in der Hand besetzen würde. Die friedliche Politik der deutschen Regierung kann also in ihrer Entwicklung zu solchen gar nicht friedlichen Resultaten führen. Dasselbe würde der Fall sein, wenn England seine Pläne in der Türkei zu realisieren versuchte. Das deutsche Kapital würde streben, auch sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. In beiden Fällen könnte es zu einem Kriege zwischen Deutschland und England kommen. So ist es um die friedliche deutsche Politik bestellt. Wie die „gefährlichere“ englische, so auch die „friedliche“ deutsche Politik können einen Zusammenstoss bereiten, wobei die englische sich von der deutschen dadurch unterscheidet, dass sie in einem eventuellen Kriege die traditionelle Lage Englands verteidigen, während die deutsche um die Zukunft der deutschen Kolonialmacht kämpfen würde.

Aber was wäre gegen unsere Taktik bewiesen, wenn wir zugeben würden, dass die englische auswärtige Politik gefährlicher ist als die deutsche? Würde die Sozialdemokratie darum eine andere Taktik anschlagen müssen? Keinesfalls! Die deutsche Sozialdemokratie müsste weiter aus allen Kräften die deutschen Kolonial- und Flottenschwärmer bekämpfen, sie müsste die Einschränkung der Flottenrüstungen fordern, denn erstens bedeuten sie eine ungeheure Last für die Arbeiterklasse, zweitens dienen sie Zwecken, die den Interessen der Arbeiterklasse und der sozialen Entwicklung feindlich sind, drittens würde nur die Aktion der deutschen Arbeiterklasse der englischen helfen, den englischen Imperialismus zu bekämpfen. Dagegen wendet Leuthner ein: solch ein Kampf der deutschen Arbeiterklasse könnte nur dieses Resultat haben, dass die starke deutsche Arbeiterklasse, die imstande ist, den deutschen Imperialisten Halt zu gebieten, den englischen den Weg ebnen würde, weil die „schwache“ englische Arbeiterklasse diese nicht bezwingen könne. Wir wollen hier nicht die Frage von dem Verhältnis der beiden Arbeiterklassen besprechen — es würde sich zeigen, dass es mit dieser Frage etwas anders steht, als es Leuthner glaubt — wir wollen die prinzipielle Seite der Frage beantworten. Die Antwort lautet: Wir betrachten die Kolonialpolitik nicht als ein Gut, um das wir andere „Nationen“ im Interesse der Arbeiterklasse beneiden sollten. Im Interesse der deutschen Arbeiterklasse liegt es in allererster Linie, dass Deutschland keine Kolonialpolitik treibt.

Die Arbeiterklasse in den Dienst der deutschen Kolonialschwärmer zu stellen aus Furcht vor dem Wachstum der englischen Kolonialmacht, das können nur Leute, die die kapitalistische Kolonialpolitik nicht prinzipiell als den Interessen der Arbeiterklasse feindlich - bekämpfen. Denn nur der kann einen Krieg mit England für ein kleineres Unglück betrachten, als das ausschließliche Wachstum der englischen Kolonialmacht, der den kolonialen Besitz an und für sich als ein Glück der Arbeiterklasse ansieht. Würde es der englischen Arbeiterklasse nicht gelingen, parallel zur deutschen, die englischen Jingos zu bezähmen, würde also die deutsche Bourgeoisie nur zusehen müssen, wie die englische neue Kolonien beschlagnahmt, so würde die deutsche Arbeiterklasse dabei nichts verlieren. Die Produkte der deutschen Industrie wenn sie durch ihre Güte konkurrenzfähig sein werden — könnten schon ihren Weg in die englischen Kolonien finden, wie sie ihn auch jetzt nach England finden. Und darum könnte es sich für die deutsche Arbeiterklasse höchstens handeln.

Kurz gesagt; erstens: würde man auch die Richtigkeit der besprochenen Argumente zugeben, so brauchte die Sozialdemokratie noch keinesfalls ihren Kampf gegen den deutschen Imperialismus einzustellen; zweitens: diese Argumente, konsequent durchdacht, sind nur möglich im Munde von Leuten, die grundsätzlich Anhänger der Kolonialpolitik sind.

Die panslawistische Gefahr. Die südöstlichen nationalen Bewegungen.

In den Angriffen auf die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie fehlte nicht der Hinweis auf die russische Gefahr. In den Aufsätzen Leuthners finden wir Erzählungen vom „Anmarsch des Slawentums gegen Mitteleuropa“, von der Macht des Panslawismus usw. Diese Erzählungen finden selbst bei kritischeren Köpfen Gehör. So schreibt z. R. Renner: „Die proletarische Internationale hat keine Ursache, moralische Unterscheidungen zu machen, politisch aber bildet der mächtigere Despotenwille des Moskowitertums die größere Bedrohung des europäischen Proletariats in sich, als die durch drei Millionen sozialdemokratischer Stimmen gebändigte Imperatorenromantik Wilhelms II. Die auf dem Wahlunrecht aufgebaute Duma und die vorübergehende englische Entente ändern nichts an der Tatsache, dass der Zarismus der Hauptfeind des europäischen Sozialismus ist und bleibt.“ (Der „Kampf“, 1.11, Nr. 4.) Wären diese Behauptungen so richtig, wie sie unrichtig sind, sie würden auch dann nichts gegen die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie beweisen. Die Sozialdemokratie fordert doch die Verwandlung der stehenden Heere in eine Miliz, also das beste Mittel, vermittels dessen das deutsche Volk seine Unabhängigkeit auch gegen „den Despotenwillen des Moskowitertums“ nötigenfalls verteidigen könnte. Leuthner hat auch bis jetzt noch nicht so weit „umgelernt“, dass er von der Sozialdemokratie verlangte, für den Militarismus zu stimmen. Wozu also die Behauptung? Sie soll die Lage Deutschlands als von Russland bedroht erscheinen lassen, damit die englische Gefahr eine noch größere Bedeutung für den Leser bekommt. Wir haben schon gezeigt, wie es mit dieser Gefahr bestellt ist, jetzt wollen wir zur russischen übergehen. Gegen die Überschätzung der Gefährlichkeit Russlands für Europa kämpften schon im Jahre 1896/97 in der Diskussion über die orientalische Frage Kautsky und Luxemburg. Kautsky bewies dann in seinem lehrreichen Aufsatz über die Flottenvorlage (Schippel, Brentanus und die Flottenvorlage; Neue Zeit XVIII, 1. Bd., S. 771) wie sich die Gefahr seitens Russlands vermindert. Seit dieser Zeit erlebten wir den Russisch-Japanischen Krieg, der nicht nur die innere Faulheit Russlands an den Tag legte, sondern auch den Prozess des weiteren Verfalls der russischen Macht wenn sie nicht inzwischen durch einen Sieg der Revolution gerettet wird — beschleunigt. Angesichts des Hervorhebens der russischen Gefahr ist es am Platze, kurz auf die Ursachen der Ohnmacht Russlands einzugehen, um so mehr, als sie noch jahrelang einen dauernden Einfluss auf die internationale Politik ausüben wird. Vielleicht werden bei dem Genossen Leuthner diese Ausführungen mehr Glauben finden, wenn sie sich nicht an die Analyse der russischen Verhältnisse eines Plechanow, Lenin, Parvus — diese vermaledeiten Kerle gehören nicht zu denen, die so schnell „umlernen“ —‚ sondern an die Ausführungen eines bürgerlichen Politikers anlehnen. Wir können das an der Hand einer tiefen Analyse Paul Rohrbachs tun, eines der wenigen bürgerlichen politischen Schriftsteller Deutschlands, die mit viel Wissen und Gründlichkeit, wenn auch nicht immer mit der nötigen Konsequenz vom bürgerlichen Standpunkt aus die Fragen der auswärtigen Politik besprechen.

In seinem lehrreichen Buche: „Deutschland unter den Weltvölkern“ beweist Rohrbach, dass Russland für absehbare Zeit überhaupt aus der Reihe derjenigen Mächte zu streichen ist, die imstande sind, einen großen modernen Krieg zu führen, d. h. sich einen maßgebenden Einfluss auf die Weltpolitik zu wahren (S. 78). Er beweist diese These nicht nur mit der kompletten Zerrüttung der Wirtschaft Russlands, nicht nur mit dem unabwendbar bevorstehenden Zusammenbruch seiner Finanzen. Um die in Russland angelegten Kapitalien nicht zu verlieren und Russland gegen Deutschland eventuell auszunutzen, könnten England und Frankreich das erstere in der Gefahr vermittelst großer finanzieller Opfer als ihren Prätorianer über dem Wasser halten. Aber der Einfluss des wirtschaftlichen Ruins Russlands beschränkt sich nicht auf die Zerrüttung seiner Finanzen, er zeigt sich auch in dem menschlichen Material, über das Russland verfügt. Mit dem Fortschritt in der Technik des Kriegswesens, der Tragweite der Infanteriewaffen und der Geschütze, der Vergrößerung der Heere, der komplizierten Ausgestaltung des Signal- und Meldewesens, des Aufklärungsdienstes, mit der beinahe ins Unendliche wachsenden Vergrößerung des Gefechtsfeldes und vor allem mit der notwendigen Auflösung der fechtenden Truppe während des Kampfes in immer kleinere Körper, ja schließlich in die einzelnen Individuen und der damit zusammenhängenden Notwendigkeit einer steten Erhöhung der Selbständigkeit bei Mannschaften und Offizieren, musste der Moment eintreten- in dem das Material der russischen Armee versagte. Der Feldzug gegen die Japaner hat gezeigt, dass mit den heutigen Anforderungen an ein Heerwesen großen Stils der Punkt, bis zu dem die Leistungsfähigkeit des russischen Durchschnittssoldaten und Offiziers unter den obwaltenden Verhältnissen noch gesteigert werden konnte, bereits überschritten ist Russland ist nicht imstande, im Gebrauch der Mittel, die in der heutigen Kriegstechnik zur Anwendung gelangen müssen, mit geistig und moralisch höher entwickelten Völkern Schritt zu halten.

Wir können an dieser Stelle nicht alle anderen Momente, die in dieser Frage in Betracht kommen, besprechen. Das Gesagte genügt, um zu beweisen, dass es keine Abhilfe für das zarische Russland gibt, dass ihm England und Frankreich hie und da zu einem Knochen verhelfen können, dass es als Parasit des deutsch-englischen Gegensatzes sich weiter als Großmacht gebärden kann, dass es aber als Land des Absolutismus seine Rolle im Konzerte der Mächte ausgespielt hat. Die allslawistischen Kongresse und Agitationen, auf die sich Leuthner beruft, würden die Vorstoßkraft Russlands vergrößern — wenn sie existieren würden. Da sie aber nicht vorhanden ist, ist ihre im österreichisch-serbischen Konflikt offenbarte Schwäche eine kalte Dusche auf die erhitzten allslawischen Ideologen und Geschäftspolitiker. Dabei hat der All- oder Panslawismus keine anderen Kitte als den Glauben an die Macht Russlands, der jetzt flöten geht. Die inneren Differenzen zwischen den slawischen Völkern (Polen-Unterdrückung in Russland, Ruthenen-Unterdrückung in Galizien, die Tschechisierung der Polen in Schlesien, der serbisch-kroatische Gegensatz), die Verschiedenheit ihrer wirtschaftlichen und politischen Struktur, das alles sind Momente, 2. welche in den Augen jedes ernsten Politikers die Drohungen mit dem Panslawismus zur Albernheit machen.

Der Verfall der Macht des Zarismus gibt verschiedenen Fragen der auswärtigen Politik eine andere Gestalt. In erster Linie der Frage unserer Stellung zu den nationalen Bewegungen im Südosten. Schon vor zehn Jahren vertraten Bernstein, Kautsky und Luxemburg gegen Wilhelm Liebknecht die Auffassung, dass die Sozialdemokratie nicht die geringste Ursache hat, diesen Bewegungen feindlich gegenüberzustehen, da der Zarismus nicht imstande ist, sie dauernd für sich auszunutzen, und weil er ihnen darum selber entgegentritt. Seit dieser Zeit gewann die Behauptung noch mehr an Kraft. Wir wollen das Verhältnis dieser Bewegungen zur türkischen Revolution jetzt nicht besprechen, sondern nur ein Moment hervorheben: Ist diese Behauptung richtig, dann liegt die Gefahr, dass diese Bewegungen einen Krieg der Großmächte hervorrufen können, weder in der Natur dieser Bewegungen, noch in Petersburg, sondern ausschließlich in den kolonialpolitischen Gelüsten der Großmächte, in ihrem Streit um die Türkei. Wollen wir also dieser Gefahr entgegenwirken, dann gilt es weder die Unabhängigkeitsbestrebungen der Baikahnvölker usw. zu bekämpfen, noch sich wegen des erfundenen scharfen Vorgehens der deutschen Regierung in Petersburg zu freuen, sondern in erster Linie aus allen Kräften die Flottenpolitik in Berlin und London zu bekämpfen.

Die auswärtige Politik. Kritisches und Taktisches.

Wir versuchten in kurzen Zügen die Entwicklung der auswärtigen Politik der deutschen Sozialdemokratie darzustellen und die gegen sie hervorgehobenen Einwendungen als unrichtig zu beweisen. An dieser Probe auf das Exempel, an der Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum deutsch-englischen Gegensatz, bewiesen wir, dass die Haltung der Partei in den Fragen der auswärtigen Politik den Interessen der Arbeiterklasse entspricht. Natürlich ließe sich noch viel über diese Angelegenheiten sagen, wir müssen jedoch unsere Artikelserie beenden und können uns nur noch einige kritische Bemerkungen erlauben.

In erster Linie fällt es in die Augen, dass nicht nur die Masse des Proletariats, sondern die Partei selbst zu wenig auf die Vorgänge der internationalen Politik reagiert, was man auch von fast allen ausländischen Bruderparteien sagen kann. Die Ursache dieser Erscheinung ist nicht nur darin zu suchen, dass in der Arbeiterklasse, die ihr ganzes Leben in der Tretmühle des~ Kampfes um ihr bisschen Brot verlebt, das Interesse für die „fernen Fragen“ schwer zu wecken ist; eine große Rolle spielt bei dieser Gleichgültigkeit die Tatsache, dass es seit dem Französisch-Deutschen Krieg keinen Krieg zwischen den großen Kulturvölkern gab, was in der Masse den Glauben erweckte, es könne niemals zu ihm kommen; dazu kommt noch eine gewisse Blasiertheit mancher Parteikreise, die den Massenkundgebungen in den Fragen der auswärtigen Politik keine praktische Bedeutung zuschreiben. Die Erschütterung des europäischen „Gleichgewichts“ durch den Zusammenbruch der russischen Macht, das Gären und Brodeln, das an allen Ecken der Welt in den letzten Jahren bemerkbar ist, das alles wird schon Bewegung in die Massen bringen, und es ist die Sache der aufgeklärtesten und energischsten Parteikreise, dafür zu sorgen, dass die Sozialdemokratie diese Bewegung ausnützt, sie belebt und vorwärts- treibt. In einem Aufsatz über die Lehren des Kriegsrummels in Österreich fragt Genosse M. Schacherl (Kampf Nr. 10) ganz richtig:

Wo war die Internationale während des serbisch-österreichischen Konflikts? Es lohnt sich, auf diesen Fall speziell einzugehen, denn an ihm lässt es sich krass zeigen, wie sich die internationalen Verhältnisse jetzt verzweigen, wie es an einer internationalen Aktion des Proletariats mangelt.

Schacherl weist darauf hin, dass die Lage der österreichischen Sozialdemokratie während des Konflikts sehr schwierig war, denn sie befürchtete, durch ihre Aktion gegen die österreichische Kriegspartei die serbische aufmuntern zu können. Wie kritisch wir auch der Taktik der österreichischen Genossen gegenüberstehen, müssen wir jedoch das Vorhandensein dieser Gefahr rücksichtslos zugeben. Aber diese Gefahr eben könnte durch die Aktion der Internationale erheblich vermindert werden. Wir brauchen hier nicht wieder breit auseinanderzusetzen, dass die serbische Regierung nur darum an einen Krieg mit Österreich denken konnte, weil sie auf eine direkte Unterstützung seitens Russlands und eine indirekte seitens Englands rechnete, denn das ist eine bekannte Tatsache. Eine energische Aktion des französischen Proletariats würde die französische Regierung zu einem gesteigerten beruhigenden Einfluss in Petersburg bewegen — Frankreich war schon von vornherein aus sehr wichtigen Gründen gegen einen Krieg — und eine ähnliche Aktion des englischen Proletariats würde die englische Regierung nötigen, etwas vorsichtiger, als sie es tat, mit dem Feuer am Balkan zu spielen. Andererseits würde eine Massenbewegung in Deutschland die Machthaber von der Wilhelmstrasse — wie geringschätzig sie auch von der Politik der Hasenheide zu sprechen belieben — belehren, dass es gefährlich ist, die Wiener Draufgänger durch ein Säbelrasseln in Berlin zu ermutigen. Auf diese Weise würde die internationale Aktion der österreichischen Sozialdemokratie ermöglichen, eine klare Position während des Konfliktes einzunehmen und eine kräftige Aktion zu entfalten, was sie keineswegs getan hat.

Mehr aktiv sein in den Fragen der auswärtigen Politik, gemeinsames Vorgehen mit der Internationale, die Massen während ernster Konflikte aufpeitschen, sich nicht auf Parlamentsreden beschränken — das fordert die Zeit nicht nur von der deutschen Sozialdemokratie, sondern von der ganzen Internationale.

Ferner. Maurenbrecher wies in einem Aufsatz auf die Tatsache hin, dass z. 8. während des Marokkokonfliktes die französische Sozialdemokratie[ um die französische Regierung zu bekämpfen, die Richtigkeit der Forderungen der deutschen Regierung bewies, während umgekehrt die deutsche Sozialdemokratie zwecks Bekämpfung der deutschen Regierung die historisch begreiflich größere Interessiertheit der französischen Regierung unterstrich, wodurch sich beide Bruderparteien entgegenarbeiteten Die Bemerkung Maurenbrechers ist sehr richtig, nur der Schluss, den er aus ihr zieht, ist von unserem Standpunkt aus verkehrt. Natürlich fordert Maurenbrecher, dass wir die „berechtigten Wünsche“ der deutschen Regierung gegenüber dem Ausland würdigen und unterstützen lernen. Ebenso natürlich fordern wir, dass die Sozialdemokratie die Rolle einer politischen Partei nicht mit der des Historikers verwechselt. Historisch ist nicht nur die englische Kolonialpolitik, sondern auch die deutsche begreifbar und „berechtigt“, die eine mehr, die andere weniger. Aber wir bekämpfen die Kolonialpolitik grundsätzlich, wir verwerfen sie gleichmäßig im Interesse der deutschen, der französischen wie der englischen Arbeiterklasse. Wozu also das Hervorheben der Grade ihrer historischen Berechtigung? Der Parlamentarier ist geneigt, sie hervorzuheben, um die Politik der Regierung auch vom bürgerlichen Standpunkte aus zu bekämpfen. Er überzeugt mit seinen Argumenten die bürgerlichen Abgeordneten nicht, denn sie wollen nicht überzeugt werden. Aber er erreicht das, dass er erstens der Bourgeoisie des Konkurrenzstaates Argumente liefert und so der Arbeiterklasse in diesem Lande den Kampf erschwert, zweitens, dass er die Aufgabe der prinzipiellen Aufklärung seiner Wähler — und dies ist seine wichtigste Aufgabe — vernachlässigt. Also prinzipielle und immer nur prinzipielle Bekämpfung der Kolonialpolitik!

Punkt drei! Bei der Beurteilung einzelner Probleme der auswärtigen Politik, bei der taktischen Stellungnahme zu der Politik der Regierung, kann man ihre Schritte nicht nur darnach beurteilen, ob sie in der gegebenen Situation nicht anders vorgehen konnte. Der sozialdemokratische Abgeordnete muss daran denken, dass dieser Schritt ein Glied in der Kette ist, die wir vom ersten Moment unserer Politik an zu zerreißen bemüht sein müssen. Wenn wir überhaupt die Bündnispolitik der Regierungen bekämpfen, weil sie die Gefahr der Konflikte nur vergrößert, so können wir uns nicht mit einer Handlung der Regierung einverstanden erklären, die von ihrem Standpunkt aus vielleicht nötig war. Wir stehen doch auf dem Standpunkt, dass der Kapitalismus heute schon reif zum Untergange ist, dass heute schon eine andere Politik, als die der Kriegsvorbereitungen, möglich ist; diesen Gedanken wollen wir dem ganzen arbeitenden Volke beibringen, und darum muss unsere Partei bei der Stellungnahme zu den Fragen der auswärtigen Politik unsere ganze Position aufrollen, die Fragen in allen ihren Konsequenzen beleuchten.

Viertens. Aus der Zeit der russischen Gefahr blieb die Losung:

Wir verteidigen unser Vaterland gegen die fremden Eingriffe. Die Losung ist abstrakt auch jetzt ganz richtig, denn jede Fremdherrschaft erschwert den Klassenkampf der Arbeiterklasse. Aber während diese Gefahr seitens Russlands ganz reell war, ist sie jetzt nur eingebildet. Es glaubt niemand an einen solchen Blödsinn, dass die englische Regierung an die Unterjochung der 65 Millionen Deutscher, oder die deutsche an die Unterjochung von 45 Millionen Engländern, an die Entfachung eines Krieges um die Unabhängigkeit großer Kulturnationen denken könnte. Die Wiederholung der Erklärung hat aber kein anderes Resultat, als dass es die nichtvorhandene Möglichkeit einer solchen Situation vor die Augen der Masse rückt und sie empfänglich für die Agitation der Kriegshetzer macht. Es existiert keine Gefahr der Unterjochung Englands oder Deutschlands, es existiert aber die Gefahr eines Krieges beider Staaten. Die Pflicht der Sozialdemokratie besteht also darin, nicht ihre Bereitschaft zum Kampfe um die Unabhängigkeit zu betonen, sondern die Masse zum Kampfe gegen die Kriegshetzer zu führen, durch ihre Aktion den herrschenden Klassen vor die Augen zu führen, dass es gefährlich werden kann die Arbeiterklasse auf die Schlachtbank führen zu wollen, denn sie ist keine widerstandslose Hammelherde. Darin liegt die Aufgabe, nicht in „patriotischen Erklärungen“.

Wir kommen zum fünften und letzten Punkt. Die kapitalistischen Regierungen gehen nicht immer ganz offen auf den kolonialen Raub aus, sie lieben sehr, es im angeblichen Interesse verschiedener unterdrückter Völkerschaften zu tun, um diesen die Befreiung zu erleichtern. „Gelegentlich“ suchen sie dann, als Lohn für ihre Mühen, ihre kolonialen Besitzungen zu erweitern. Gewiss finden die Leiden dieser Völker nirgends ein sympathischeres Echo, als in den Hetzen der Arbeiterklasse, die unter der größten Unterdrückung leidet. Aber die Arbeiterklasse muss sich gegen alle diese „edlen“ Vorsätze ihrer Regierungen auflehnen, sie darf sich durch ihre Gefühle nicht zur Aufstellung der Forderung der Einmischung in fremde Angelegenheiten verleiten lassen. Sie muss daran denken, dass sie selber ein Sklave ist, und dass ihre Beherrscher die Befreierrolle in fremden Ländern nur dazu benutzen werden, um das Joch der Arbeiterklasse noch schwerer zu machen. Darum muss jetzt die Losung der Arbeiterklasse heißen: Keine Einmischung in die türkischen, persischen usw. Angelegenheiten.

Das wären die taktischen Grundlinien der auswärtigen Politik der deutschen Sozialdemokratie.

1 Siehe Briefe Lassalles an Marx, S.189-190. Die ganze Kontroverse legt Mehring sehr klar dar in seinen Anmerkungen zu der Korrespondenz, S.206-218, in denen er sich auf die Seite Lassalles stellt. Der Aufsatz von Hugo Schulz im Kampf, Nr. 8. Mai 1909, „Friedrich Engels über den österreichischen Feldzug im Jahre 1859‘‘, gibt keinen gehörigen Begriff von der Kompliziertheit der Angelegenheit.

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