Karl Radek 19110731 Die deutsch-französischen Verhandlungen

Karl Radek: Die deutsch-französischen Verhandlungen

[„Bremer Bürger-Zeitung” Nr. 170, 31. Juli 1911, gezeichnet „K.R.“]

Die deutsch-französischen Verhandlungen dauern schon einen vollen Monat und sie sind bisher nicht nur zu keinem Ergebnis gelangt, sondern sie stecken so sehr im Dreck, dass, wie die hochoffizielle „Neue Preußische Korrespondenz“ meldet, bei der Unterredung Kiderlen-Wächters mit dem Kaiser „die Möglichkeit eine Scheiterns der Verhandlungen ins Auge gefasst“ und „die Konsequenzen“ erörtert wurden, „die aus dem eventuellen Abbruch der deutsch-französischen Verhandlungen für die deutsche Politik zu ziehen wären.“

Die Wahrscheinlichkeit dieser Lageschilderung ergibt sich auch aus den Meldungen der großen französischen Presse, die schon die Konsequenzen eines Abbruchs der Verhandlungen untersucht und die Frage einer internationalen Marokkokonferenz ventiliert, und schließlich auch aus der inneren Lage in Deutschland.

Als der „Panther“ vor Agadir erschien, glaubte die bürgerliche Presse, dass die Regierung einen Teil Marokkos für sich beanspruchen würde. Der Wunsch nach einem Teil Marokkos ist bis in die linksliberalen Kreise gedrungen, und die Rheinisch-Westfälische Zeitung hatte alles, Recht, selbst die Frankfurter Zeitung zu ihrer Kohorte rechnen. So plauderte z.B. am Mittwoch das Berliner Tageblatt aus, dass es auch für die Erringung des Hinterlandes von Agadir sei. Auf diesen Marokkoenthusiasmus fiel aber bald ein Reif. Es zeigte sich, dass die Regierung von vornherein auf eine Festsetzung in Marokko verzichtet hat und Entschädigungen aus dem kolonialen Besitz Frankreichs in Westafrika fordert. Dagegen begann ein Kesseltreiben in den alldeutschen, kolonialen Kreisen, dass von den Organen der schweren Industrie unterstützt wurde, die es nach den Erzen Marokkos gelüstet. Aber die Regierung konnte hoffen, dass sich die Übereifrigen beruhigen würden, wenn es ihr gelänge, einen großen Streifen Boden in Französisch-Kongo samt einem Hafen zu erlangen. Um so mehr, da hinter dieser ihrer Forderung die Börsenjobber stehen, für die eine tropische Kolonie ein viel größeres Spekulationsobjekt darstellt, da es sich in einer solchen nur um Plantagenwirtschaft handeln kann, die von großen Gesellschaften geleitet, von der Börse gespeist wird. Um für dieses Interesse der Börse die weitere Öffentlichkeit einzufangen, die imperialistisch wie sie ist, doch keine speziellen warmen Gefühle für die Spekulanten besitzt, werden die in der diesen Kreisen nahe stehenden Presse allmählich phantastische Perspektiven auf ein großes westafrikanisches deutschen Kolonialreich eröffnet: Westafrika von Kamerun bis Englisch-Südafrika deutsch! Wie, wann? Es geht schon: jetzt bekommen wir einen großen Happen von Französisch-Kongo; Portugiesisch-Angola fällt uns „doch“ zu, denn Portugal wird die koloniale Last nicht tragen können und England hat Appetit au die ostafrikanischen portugiesischen Kolonien; den fehlenden Teil von Französisch-Kongo bekommen wir schließlich bei irgendeinem Tausch. Und so wird ein gewaltiges Kolonialreich zusammengeschustert. Zwar auf dem Papier nur, aber das genügt schon, um die event[uell] von Kidelen-Wächter erschacherten Sümpfe als gewaltigen Erfolg darzustellen. Doch diese Milchmädchen-Rechnung hilft darüber nicht hinweg, das schon ein Monat vorüber ist, seitdem die Verhandlungen begonnen, und dass es zu keiner Einigung kommt, weil die Franzosen den geforderten Preis nicht zahlen wollen. Die Missstimmung darüber greift schon auf Kreise über, die konsequent die Linie der Regierung in der jetzigen Marokkokrise vertreten haben. So schreibt in der heutigen „Deutschen Tagszeitung“ Ernst Graf Reventlow:

Hat man fortdauernd behauptet, die Stellung des Deutschen Reiches sei durch sein Verhalten in der bosnischen Frage auf einmal ganz gewaltig in der Welt gewachsen, denn man habe gesehen, dass es nicht zögerte, sein Schwert in die Wagschale zu werden — so bemerken wir heute wahrhaftig nichts von dieser Mehrung des Ansehens. Im Gegenteil, es kann sich wohl niemand dem Eindruck entziehen, dass das gesamte Ausland, insbesondere England und Frankreich, mit voller Sicherheit auf deutsches Zurückweichen und Nachgeben rechnet.“

Solche Klagen in den Reihen der Myrmidonen1 sind für die Regierung Peitschenhiebe zum festeren Vorgehen und darum muss man auf die Verschärfung der Lage gefasst sein.

Dazu kommen noch andere Momente. Ein wichtiges Moment in der Rechnung der deutschen Regierung bildete die Rücksichtnahme Englands auf die Erstarkung der Türkei, die, wenn durch kein Bündnis, so doch durch eine Interessengemeinschaft mit dem deutschen Imperialismus verbunden ist. Als sich aber die Marokkokrise im Frühjahr zu verschärfen begann, brach in Albanien von neuem der Aufstand aus, der der Türkei die Bewegungsfreiheit raubte, da er England ermöglichte, durch das Damoklesschwert einer Intervention in der albanischen frage die türkische Regierung in Schach zu halten. Jetzt scheint es zu einem Friedensschluss zwischen der türkischen Regierung und den Albanesen zu kommen. Dauernd oder nicht — wir glauben an seine Dauerhaftigkeit nicht — würde er für die kurze Zeit, auf die es ankommt, Deutschlands Position stärken. Dazu kommen noch die persischen Wirren, in denen, wie die Proteste der russischen Regierung gegen die Ernennung des englischen Majors Stokes zum persischen Heeresorganisator und die Intrigen Russlands gegen den von England unterstützten amerikanischen Finanzkontrolleur Schuster beweisen, und wie wir es hier vorhergesehen haben, sich eine englisch-russische Spannung in Persien ausbilden kann. Dass dies Wasser auf die Mühlen der deutschen Imperialisten ist, weil England dadurch stark in Anspruch genommen werden würde, kann man in der deutschen imperialistischen Presse, wie der „National-Zeitung“ lesen. Aber auch diese neuen Momente können zur Verschärfung der Lage führen.

Die von der französischen Presse ventilierte Konferenzidee bildet keinen Ausweg. Schon darum nicht, weil weder Frankreich noch Deutschland eine Konferenz wünschen. Frankreich, weil auf dieser Konferenz die nur handelspolitisch in Marokko interessierten Mächte (wie Österreich, Italien) die Forderung der Rückkehr zur Algecirasakte erheben würden, und weil, wenn an die Frage der Entschädigungen aufwürfe, auch England sich melden würde, dass dieses aber nicht mit einem bloßen Bissen abzuspeisen ist, weiß Frankreich trotz der großen, die beiden Mächte verbindenden Freundschaft sehr gut. Deutschland seinerseits ist der Konferenzidee schon darum nicht hold, weil, wo viele zu entschädigen sind, jeder einzelne wenig bekommt. Die Konferenzfrage würde die Lage noch mehr verschärfen, denn erstens könnte sich Deutschland widersetzen — man findet schon dahindeutende Winke in der Presse — oder zweitens, ebenso wie Frankreich, d.h. mit vollendeten Tatsachen, vor die Konferenz treten, könnte es Agadir besetzen. Das sind alles Möglichkeiten, die noch nicht den Krieg bedeuten, aber die Kriegsgefahr vergrößern.

Das deutsche Proletariat, das die imperialistische Politik seiner Regierung verwirft, betrachtet es nicht als seine Aufgabe, diplomatische Rezepte für die Regierung zu bereiten. Koloniale Entschädigungen sind für das Proletariat eine Vergrößerung seiner Last, darum hat es gar kein Interesse an dem Siege der Regierung in den deutsch-französischen Verhandlungen. Eine internationale Konferenz bedeutet die Verschärfung der Lage und gibt keine Aussichten auf eine Regelung der Frage, die den Interessen des Proletariats entsprechen würde. Seine Aufgabe besteht in der Entfaltung einer möglichst großen Massenaktion unter der Losung: Die Hände weg von Marokko, keine neuen kolonialen Lasten! Auf die Agitation für diese Ziele beschränkt sich augenblicklich unsere Aufgabe, und es wäre nichts misslicher, als sich in die diplomatischen Streitereien zu mischen, die sich alle auf dem Boden abspielen, den wir prinzipiell nicht betreten können: auf dem Boden des imperialistischen Schachers.


1 eigentlich Völkerschaft im antiken Griechenland, nach der Sage vom Gott Zeus aus Ameisen in Menschen verwandelt.

Kommentare