Karl Radek 19230800 Die internationale Lage, das Abflauen der kapitalistischen Offensive

Karl Radek: Die internationale Lage, das Abflauen der kapitalistischen Offensive und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale.

[Die Kommunistische Internationale, Heft 27, August 1923, S. 3-41]

I.

In den sechs Monaten, die seit dem letzten Kongress verflossen sind, dem ich einen schriftlichen Bericht über die „Liquidation des Versailler Friedens“ erstattet habe, ist eine ganze Reihe sehr wichtiger weltpolitischer Erscheinungen zutage getreten, die das allgemeine Bild der Lage stark ändern, und die auch eine ganze Reihe taktischer. Entscheidungen von uns erfordern. Bevor ich aber an die Behandlung dieser Fragen herantrete, möchte ich ein paar bescheidene Worte an einen großen Gönner der Kommunistischen Internationale, an Lord Curzon richten. Er hat in seiner Note an Sowjetrussland die Kommunistische Internationale eine „mischievous body“, eine Unheil stiftende Organisation genannt. Und er hat seine große Unzufriedenheit darüber geäußert, dass wir uns mit weltpolitischen Fragen beschäftigen.

1. Eine Antwort der Kommunistischen Internationale an Lord Curzon.

Genossen, wir wissen die große Ehre zu schätzen, die uns Lord Curzon durch diese Apostrophierung erwiesen hat. Wir wissen auch, dass wir nicht so geeignet sind, uns mit weltpolitischen Fragen zu beschäftigen wie Lord Curzon. Keiner von uns hat jedenfalls das Eton-College besucht, keiner von uns hat im 7. Lebensjahre den Traum gehabt, dass er Vizekönig von Indien werden wird, und wir repräsentieren auch nicht die Klasse, die seit gut 300 Jahren die Weltpolitik macht. Wir repräsentieren eine Klasse, die bisher Objekt der Weltpolitik war, und wir studieren die Weltpolitik nicht in den Colleges der englischen Aristokratie, sondern die Arbeiterklasse hat die Folgen der Politik der Lord Curzon und anderer während des Weltkrieges am eigenen Leibe studiert. Das hat sich als ein noch ungenügendes Studium gezeigt, denn sonst hätte Lord Curzon nicht mehr die Möglichkeit Weltpolitik zu treiben. Wir versuchen, der Arbeiterklasse weiter in diesem Studium zu helfen, und es ist selbstverständlich, dass wir dabei Fehler machen. Wäre der Standpunkt Lord Curzons prinzipiell nicht so verschieden von dem unseren, wir würden eine Kritik seinerseits ebenso dankend entgegennehmen wie die Kritik unserer Gegner in der Arbeiterbewegung. Aber wir hoffen nicht, dass wir imstande sein werden, in der Zukunft die Kritik Lord Curzons zu mildern und von ihm das Zeugnis zu bekommen, dass wir eine ihm Freude bereitende Organisation sind. Wir streben auch nicht danach. Aber wir sind überzeugt, dass, indem wir uns mit der Weltpolitik beschäftigen, wir jedenfalls den Zielen dienen, die sich die Arbeiterklasse gestellt hat, die sie verfolgen und die sie siegreich erreichen wird, ob es Lord Curzon gefallen wird oder nicht.

2. Der Zusammenbruch des weltpolitischen Planes Lloyd Georges.

Jetzt zu den Fragen selbst. Das erste Ereignis, das kurz nach dem Kongress stattfand, und das eine große Wandlung in der internationalen Lage bedeutet, ist der englisch-amerikanische Vertrag über die Zahlung der englischen Schuld an Amerika; das zweite: die Besetzung der Ruhr und die Haltung Englands ihr gegenüber; die dritte Frage: die Lausanner Konferenz; die vierte Frage: der englisch-russische Konflikt; die fünfte und letzte Frage: die praktische Liquidation des Washingtoner Abkommens in Ostasien. Es scheinen einzelne, voneinander unabhängige Fälle zu sein, in Wirklichkeit sind sie aber aufs engste miteinander verbunden, und nur die Analyse des Zusammenhangs der fünf Fragen ergibt das Bild der Weltlage und zeigt die Aufgaben, die wir als Kommunistische Internationale zu erfüllen haben. Um zu verstehen, welche große weltpolitische Änderung das englisch-amerikanische Schuldenabkommen signalisiert, ist es nötig in ein paar Worten zu erinnern an die vorangegangene Phase der englischen Politik, an die Politik Lloyd Georges, wie sie zum Ausdruck kam erstens in der Genueser Konferenz und zweitens in der bekannten Balfour-Note über die interalliierten Schulden.

Der Plan, den Lloyd George im Interesse des englischen Handelskapitals verfolgte, war folgender: die Alliierten haben große Schulden untereinander, in erster Linie an Amerika. Einer der größten Schuldner Englands und der Vereinigten Staaten ist Frankreich. England erstrebt ein Abkommen, das in seinem Resultat zwar Frankreichs Last gegenüber den Alliierten vermindern, aber dafür Frankreich nötigen würde, seine Rüstungen einzuschränken und die Reparationslasten Deutschlands zu vermindern. Würde Frankreich gezwungen werden, seine Armee zu vermindern, so würde der englisch-französische Gegensatz im Kampfe um die Hegemonie in Europa geschwächt, die Lage Englands erleichtert. Wenn Frankreich genötigt wäre, dafür, dass man einen Teil seiner Schulden an England und Amerika streicht, einen Teil der deutschen Reparationslasten zu streichen, würde die deutsche Bourgeoisie wieder konsolidiert werden. Und da Deutschland eine große Rolle in der englischen Handelsbilanz gespielt hat, würde die englische Handels- und Industriebourgeoisie die Möglichkeit bekommen, die große Arbeitslosigkeit zu überwinden, die England jährlich so viel kostet wie Frankreich von Deutschland an Reparaturen fordert: 100 Millionen Pfund. Der zweite Teil des Planes von Lloyd George war, in Genua mit Sowjetrussland ein Abkommen zu treffen, das Russland nicht nur in den kapitalistischen Weltverkehr hineinziehen würde, sondern durch das Russland ein neuer kapitalistischer Staat werden würde. Lloyd George hoffte, dass die Sowjetregierung nicht nur auf ihren sozialistischen Charakter, d. h. auf das dauernde Streben, die Wirtschaft Schritt für Schritt in der Richtung zum Sozialismus zu entwickeln, verzichten wird, dass sie in der Form 99-jähriger Konzessionen die Fabriken, die früher den ausländischen Kapitalisten gehörten, zurückgeben wird, sondern dass Sowjetrussland zur Abzahlung der Schulden und der so genannten Entschädigungen an die Kapitalisten auch genötigt sein wird, seine Eisenbahnen, seine Häfen und vielleicht die noch nicht ausgebeuteten Reichtümer Russlands dem internationalen Kapital auszuliefern. Der russische Bauer und Arbeiter sollte auf diese Weise beitragen zur Restauration des europäischen Kapitalismus. Lloyd George erklärte in seiner Rede im Parlament nach der Genueser Konferenz, dass die Führer der russischen Revolution sehr kluge und nüchterne Menschen sind. Sie haben etwas Pöbel hinter sich, der aufgeputscht wird von wilden Kommunisten wie unser Freund Bucharin, den er zwar nicht genannt hat, der aber gemeint ist, und aus diesem Grunde muss man den klugen Leuten die Sache etwas erleichtern. Sie soll sich weiter Sowjetregierung nennen, die Internationale darf weitergespielt werden, aber die russischen Wirtschaftskräfte sollen dem europäischen Kapital ausgeliefert werden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dieser großzügige Plan zeigt, dass dieser frühere Vertreter des englischen Kleinbürgertums und spätere Vertreter der Kriegsspekulanten eine Idee hatte, wie man die Welt am schönsten einrichten könnte. Nur hatte diese Idee mit dem berühmten Pferd des Ariosto das gemeinsam, dass sie tot war; die Rechnung war ohne zwei Wirte gemacht: ohne die Vereinigten Staaten von Nordamerika und ohne Sowjetrussland.

Die Voraussetzung für das Gelingen des Planes war einerseits die Zustimmung Sowjetrusslands, andererseits der amerikanische Druck auf Frankreich und die Bereitwilligkeit Amerikas, Deutschland eine Anleihe zu geben. Amerika dachte nicht daran, die Politik Lloyd Georges und Englands zu treiben. Wenn Sie nur die einfachsten Ziffern über die jüngste wirtschaftliche Entwicklung Amerikas, die große Prosperität des Jahres 1922/23 in Betracht ziehen, die Tatsache, dass die Stahlproduktion in Amerika sich im Vergleich mit der Vorkriegszeit verdoppelt hat und jetzt 50 Millionen Tonnen beträgt, die Tatsache, dass der bebaute Weizenboden von 46 Millionen Acre vor dem Kriege auf 98 Millionen gestiegen ist, dass die amerikanische Industrie trotz des Fordney Tarifs in steigendem Maße fremde Rohstoffe zu verarbeiten und einen Mangel an Arbeitskräften zu empfinden beginnt, so zeigt das, warum die amerikanische Bourgeoisie keinesfalls das Bedürfnis empfand, sich kopfüber in europäische Dinge zu stürzen und ein großes Kapital zur Restauration des europäischen Kapitalismus anzulegen. Zwei Gruppen sind Gegner der Isolationspolitik: erstens die Farmer; aber die Farmer bilden nur 30 Prozent der Bevölkerung Amerikas, ihre Produktion liefert nur 17 Prozent des nationalen Einkommens, und von der agrarischen Produktion Amerikas gehen 20 Prozent ins Ausland; zweitens die finanziellen Kreise; die Bankkreise haben auf der Konferenz der Bankiers in Washington den Willen zur Einmischung in europäische Dinge ausdrücklich manifestiert. Sie hofften auf diese Weise die europäische Industrie in ihre Hände zu bekommen. Eine Anzahl Banken sind interessiert an der Finanzierung des Exports aus Europa, der billigere Waren liefert als Amerika, Sie hätten die Möglichkeit großer Profite, aber auf Kosten der amerikanischen Kapitalisten, die sich durch den Fordney Tarif von allen Konkurrenten abzuschließen versucht haben. Die Tatsache der Besserung der Wirtschaftslage in Amerika hat die Isolierungstendenzen der USA gestärkt, trotz der Warnungen Hoovers, auch an den morgigen Tag zu denken und die Beziehungen zu den auswärtigen Märkten zu pflegen. In dem Maße, wie die amerikanische Einfuhr gestiegen ist, ist es auch die Einfuhr von Rohstoffen aus den Kolonialländern, denen das amerikanische Gold zufließt. Amerika ist aus der Isolierung nicht herausgetreten. Wenn es beginnt, sich näher mit Weltdingen zu befassen, so sind es mehr klein-, fernasiatische und südamerikanische Dinge als europäische.

Als die Frage der deutschen Anleihe in Amerika diskutiert wurde, hat der Direktor des Morgan-Trustes, Lamond, in seiner Rede gezeigt, wie schwer es den Banken fiele, Kapital für Europa zu mobilisieren. Er erklärte:

Wir Banken haben nicht ein so großes Kapital, wir müssen es bekommen von den großen Massen des Kleinbürgertums, das Anleihen zeichnet. Aber diese sehen, dass Europa zerrissen ist, von Kriegsgefahr und Revolution bedroht, und sagen, bevor die europäische Bourgeoisie selbst nicht Ordnung schafft, kann sie nicht auf eine Hilfe von Amerika hoffen.“

Das war der allgemeine Grund, warum Amerika auf den Plan von Lloyd George nicht einging. Aber es waren auch noch andere Gründe. Lloyd George versuchte, politisch gesprochen, eine anglo-amerikanische Koalition gegen Frankreich. Amerika weiß sehr gut, dass die französische Politik in Europa eine Politik der Zerrüttung ist. Amerika will sich aber nicht jetzt schon endgültig mit England verbinden. Wie ich in meinem Bericht über die Liquidation des Versailler Friedens ausgeführt habe, ist die englische Politik im Fernen Osten nicht festgelegt. England hat keine endgültigen Verpflichtungen gegen Japan übernommen. Amerika weiß nicht, ob es nicht genötigt sein wird, bei dem zukünftigen Kampf im Osten England in Schach zu halten. Amerika und England sind nicht nur zwei große Industriemächte, die auf dem Weltmarkt konkurrieren, sondern sie sind auch zwei große Seemächte. Amerika hat die englische Flotte überholt und weiß nicht, ob nicht die Notwendigkeit des Kampfes gegen sie um die Herrschaft zur See entstehen wird. Würde diese Situation eintreten, so wäre Frankreich nicht der Feind, sondern evtl. ein Verbündeter. Die französischen Unterseeboote würden dann die Wege, auf denen die Rohstoffe und das Brot nach England kommen, abschneiden können, die französischen Häfen, die auf dem ganzen Atlantischen und Indischen Ozean verstreut sind, wären ein Stützpunkt für die amerikanische Flotte. Und Amerika, das fürchterlich über den Militarismus in Europa schreit, hütete sich, in Washington von Frankreich zu fordern, dass es auf den Bau von Unterseebooten verzichten solle.

Auf der anderen Seite ist der Plan, was Sowjetrussland anbetrifft, an einem kleinen Irrtum, der Lloyd George in Bezug auf Sowjetrussland unterlaufen ist, gescheitert. Ich will keinesfalls leugnen, dass wir etwas Vernunft haben und sehr viel Kühle, aber Lloyd George hat sich geirrt über unsere Absichten. Er ist vielleicht ein Opfer der Zweiten Internationale und der Menschewiki geworden, als er angenommen hat, die neue ökonomische Politik bedeutete nichts anderes, als dass wir uns mit einem Fallschirm langsam herablassen wollten zu den Niederungen des Kapitalismus. Sowjetrussland hat in Genua und dann in Den Haag erklärt, dass es gerne bereit ist, dem ausländischen Kapital Zugeständnisse zu machen, wenn es uns Kredite gibt. Aber unter keinen Umständen werden wir unsere Schwerindustrie, unsere Eisenbahnen fremdem Kapital ausliefern. Damit war der Plan Lloyd Georges auch von der Ostseite her zerrissen. Er drohte der Vertretung Sowjetrusslands bei den Verhandlungen in der Villa Alberti, dass, wenn er politisch stirbt, uns kein so treuer Freund mehr erstehen wird, dass dann unser Feind die Oberhand gewinnen wird. Wir haben uns gedacht, Gott schütze uns vor unseren Freunden, gegen unsere Feinde werden wir uns selber schützen. So war der Plan Lloyd Georges zerschlagen.

3. Das englisch-amerikanische Schuldenabkommen.

Als das neue konservative Kabinett kam, musste es auf einem anderen Wege versuchen, sich Amerika zu nähern. Wenn Mohammed nicht zum Berge kommt, muss der Berg zu Mohammed kommen, und der Schatzkanzler Englands, Herr Baldwin, der Mitbesitzer der Firma Baldwin Ltd, reiste nach Amerika und brachte von dort ein Abkommen. Welchen Eindruck dies machte, will ich Ihnen mit den Worten von Lloyd George schildern. Sie sind zu schön, als dass ich sie Ihnen vorenthalten sollte. Er erklärte:

Ein kalter Schauer lief über den Rücken der Engländer, als man offiziell meldete, dass die britische Regierung endgültig entschlossen sei, sechzig Jahre lang jährlich mehr als 30 Millionen Pfund Sterling an die Vereinigten Staaten zu bezahlen für die von uns im Namen unserer Alliierten übernommenen Schulden, und zwar ohne von unseren Schuldnern eine Kontribution zu fordern, die die Steuerzahler Englands geschützt hätte.“

Und es ist kein Wunder, dass sogar einer so starken kapitalistischen Macht wie England ein Schauer über den Rücken lief. Eine siegreiche Macht soll an einen Alliierten im Kriege 300 Millionen Goldrubel jährlich zahlen, ohne nicht nur vom schlechten Russland keinen Groschen zu bekommen, sondern auch ohne von guten Alliierten wie Frankreich und Italien einen Groschen an Schulden zurückzukriegen. Von den Steuern, die England zahlt, die höher sind als die, die die Bourgeoisie irgendeines anderen Landes leistet, machen die Prozente für die Schulden der Alliierten an England 10 Prozent aus. 10 Prozent der englischen Steuern auf die Bezahlung der ausbleibenden Prozente der Alliierten an England! Auf diese Weise suchte England politisch eine Annäherung an Amerika herbeizuführen. Aber das war nicht die einzige Folge des Bankrottes des Planes von Lloyd George. Die zweite Folge war, England musste sich fragen: Was weiter in Frankreich?

4. Die Ruhrfrage und England.

Amerika hatte es abgelehnt, durch den Druck des Dollars auf Frankreich zu drücken, damit es entweder die Schulden zahlt oder sich bereit erklärt, sein Heer zu vermindern, die Kriegsgefahr in Europa zu vermindern und die Last der deutschen Reparationen zu vermindern. England stand also vor der Frage, welche Mittel es zum Kampfe gegen Frankreich hat. Und da musste es eine außerordentlich traurige militärische Bilanz ziehen. Englands Stärke war, dass es eine Insel ist. Weder die Pläne Napoleons einer Invasion noch die Deutschlands wurden verwirklicht. England musste nach dem Krieg feststellen, dass es aufgehört hatte, eine Insel zu sein. Die Entwicklung der Luftflotte, die Entwicklung der chemischen Industrie im Kriege, kombiniert mit der Luftflotte, hat England nicht nur mit einer Achillesferse beglückt, sondern England besteht jetzt aus lauter Achillesfersen. Wenn Sie das Buch des Majors Lefebrucke zur Hand nehmen, das die Entwicklung des chemischen Krieges schildert — und Major Lefebrucke war einer der Leiter der englischen chemischen Versorgung im Kriege —‚ so drängt es den Schluss auf, dass Frankreich mittels seiner Luftflotte imstande ist, die englischen Industriezentren zu vernichten. Das Verhältnis der Luftflotte Englands zu Frankreich, das — wie Sie wissen — am 23. März im englischen Oberhaus behandelt wurde, ist ein katastrophales. England besitzt (im April 1923) 35 Luftgeschwader mit 529 Flugmaschinen, 29 davon befinden sich in den Kolonien: in Ägypten, Indien, Palästina, Mesopotamien und Konstantinopel. Frankreich hat einen Soll-Bestand von 2163 Maschinen (1925) und einen Ist-Bestand von 1722 Maschinen. Frankreich ist also in der Luft dreimal stärker als England. Es ist ein Witz der Geschichte, dass die frankophile Clique in England, mit der „Morning Post“ an der Spitze, in erster Linie jetzt die Kampagne für die Steigerung der englischen Luftflotte führt. Jedenfalls musste Lord Grey in der Debatte im englischen Oberhause ganz kühl sagen, England könne einen Bruch mit Frankreich nicht riskieren. In dieser Situation entstand für England die Frage: Was weiter also in der Reparationsfrage?

Die Mark stand auf 9000, und es war so klar, wohin die Reise ging. Es fand die Pariser Konferenz statt. In ihr brachte England ein Programm vor, das für Deutschland, was die Ziffern anbetrifft, nicht günstiger war als der französische Vorschlag, das aber Frankreich keine Sicherheiten gab. Frankreich hat diesen Plan abgelehnt. Der deutsche Plan wurde gar nicht vorgebracht. Bonar Law wusste ebenso gut wie Poincaré, dass der deutsche Staatssekretär Bergmann mit einem Plan im Vorzimmer wartete, aber sie haben ihn nicht herangezogen. Viele glauben, und das gute deutsche Publikum glaubt es bis heute, dass es eine Komödie der Irrungen war. Die Engländer forderten von Deutschland mehr als die Franzosen und brachten es zum Bruch mit diesen, und die. Engländer wollten Deutschland so gern retten, aber trotzdem sie wussten, dass Bergmann da war, wurde er nicht hineingelassen.

Das Rätsel klärte sich sehr leicht. England verfolgte in Paris die Politik der Provokation. Es wollte, dass Frankreich allein handelt und das Ruhrgebiet besetzt. Der Plan war klar. Wenn England nicht imstande ist, den französischen Imperialismus zurückzuschlagen, so muss man dem französischen Imperialismus erlauben, sich an dem deutschen

Widerstand das Genick zu brechen. Die englische Regierung wusste sehr gut, dass sie auf die Länge die Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich nicht tolerieren kann. Wenn Frankreich im Ruhrgebiet bleibt, wird es durch die Vereinigung der deutschen Kohle mit der lothringischen und mit den Erzen von Brieux die Basis schaffen nicht nur für den französischen Militarismus, sondern für die wirtschaftliche Beherrschung Europas, jedenfalls bis zur Beresina, durch den französischen Kapitalismus. Die Engländer wissen gut, dass sie das nicht zulassen dürfen. Aber ihr Plan lief darauf hinaus, den französischen Plan an der Tücke des Objekts scheitern zu lassen. England wusste, dass mit dem Sturze der kleinbürgerlichen deutschen Regierung, dem Sturze Wirths, eine Regierung der Großindustrie kommen würde, dass die Deutsche Volkspartei, die Partei der Großindustriellen, die jahrelang gegen die Erfüllungspolitik Sturm gelaufen war, nicht an die Macht kommen kann, ohne zu versuchen, Widerstand zu leisten, und England stellte sich hinter diesen Widerstand. Die englische Politik war eine Politik der Provokation, wie wenige Beispiele dafür in der Geschichte vorhanden sind. In London erklärte man die Neutralität. In Berlin war der englische Botschafter Lord d’Abernon die treibende Kraft, die die deutsche Bourgeoisie zum Widerstand aufstachelte. Man erzählt, dass Lord D‘Abernon, der frühere Vorsitzende der Dette Publique Ottomane, der nicht nur ein großes Interesse für schöne Frauen und Pferde hat, sondern auch ein großer Finanzier ist, in Berlin auf der Börse spekuliert auf den Fall der Mark. Aber wir haben eine so große Achtung vor den englischen Lords, dass wir überzeugt sind, dass ein solcher niemals eine Vermischung der Politik mit den Finanzen zulässt. Aber mag es um die edlen Passionen des Lord D‘Abernon bestellt sein, wie es will, Lord D‘Abernon verfolgt jedenfalls bei seinem Spiel die Interessen der englischen Politik. Curzon in London sprach von Nichteinmischung, und Lord D‘Abernon suchte Deutschland in einen Kampf hineinzutreiben, wobei er natürlich versprach, dass England im entscheidenden. Augenblick Deutschland unterstützen würde.

So spekuliert England, dass Poincaré sich den Kopf einschlagen wird an dem Widerstand der Bergarbeiter, der durch die Bourgeoisie finanziert wird, und dass, wenn der Augenblick gekommen sein wird, der Streit durch einen Kompromiss geschlichtet wird, worauf der Eisen- und Kohlentrust gebildet wird, aber unter Teilnahme Englands und der Vereinigten Staaten Amerikas. Da die Vereinigten Staaten und England ökonomisch stärker sind als Frankreich, so hofft England, dass es in letzter Linie, zusammen mit der finanziell schwachen, aber organisatorisch sehr starken deutschen Bourgeoisie, den Eisen- und Kohlentrust beherrschen wird. Dieser Plan wurde aufs äußerste gefährdet durch den Partner des Lord D‘Abernon, durch die deutsche Bourgeoisie.

Genossen, was in diesen sechs Monaten an der Ruhr vorging, erfordert die größte Aufmerksamkeit der gesamten internationalen Arbeiterklasse. Es zeigt, dass die internationale Bourgeoisie nicht nur nicht imstande ist, die kapitalistische Weltwirtschaft von neuem aufzubauen, sondern dass sogar die Bourgeoisie eines jeden Landes nicht imstande ist, die Sonderinteressen einzelner ihrer Gruppen ihren gemeinsamen Interessen unterzuordnen. Die deutsche Bourgeoisie ist jetzt ein Haufen von Hyänen, die sich schlagen um jedes Stück Aas. Als Klasse hatte sie ein großes weitpolitisches Interesse an dem Abbau des Versailler Friedens. Aber sie hilft Poincaré zum Siege, weil jede Clique des deutschen Kapitalismus nur an ihre nächsten Profitinteressen denkt. Worin bestand das Problem des Widerstandes? Es bestand darin, die deutschen Arbeiter an der Ruhr so lange zu ernähren, bis Poincaré einsehen würde, dass er den Widerstand der Bergarbeiter nicht brechen kann. Stattdessen hat die deutsche Bourgeoisie unter dem Geschrei der nationalen Verteidigung eine Politik betrieben, die ich Ihnen an ein paar Tatsachen schildern will. Die deutsche Bourgeoisie bekam viele Milliarden Papiermark vom Staate als „Ruhrhilfe“, damit sie imstande wäre, den Arbeitern, wenn sie nicht arbeiteten, den Lohn zu zahlen. Sie bekam 200 Milliarden Papiermark zur Diskontierung ihrer Handelswechsel. Das waren 200 Millionen Goldmark. Die deutsche Bourgeoisie bekam vielleicht ein Drittel des deutschen Goldfonds, damit sie billige Devisen kaufen könnte und für diese Devisen billige Kohlen. Der Dollar war Ende Januar auf 49.000 gestiegen. Er wurde auf 20.000 und 19.000 heruntergedrückt. Die deutsche Bourgeoisie kam, wie unser Berichterstatter über die Wirtschaftspolitik, Genosse Pawlowski, in einem besonderen Artikel in der „Kommunistischen Internationale“ noch ausführlich darlegen wird, an den Schalter einer Bank, erhielt Papiermark als Kredit und ging an einen anderen Schalter der Bank und bekam für weniger als für die Hälfte des Preises Dollars. Als mehr als 300 Millionen Goldmark verpumpt waren, begann, von Stinnes eingeleitet, eine wilde Spekulation um die Eindeckung in Dollars. Die Folgen sind bekannt. Nach einem heutigen Telegramm kostet der Dollar jetzt 100.000 Mark. Der Widerstand der deutschen Bourgeoisie war aufgegeben. Sie trieb alle Preise so in die Höhe, dass die Arbeiterklasse nur durch eine mehr als zehnfache Erhöhung der Löhne imstande wäre, das zu kaufen, was sie vor der Ruhraktion dafür bekam. Die deutsche Bourgeoisie hat aber mit Unterstützung der deutschen Regierung versucht, die Löhne zu drücken. Das Wolffsche Telegraphenbüro hat am 8. März direkt erklärt: Jetzt müssen die Löhne gedrückt werden. In allen Verhandlungen der Unternehmer mit den Arbeitern traten die Vertreter der Regierung für eine Senkung der Löhne ein. Das Resultat war, dass die deutschen Arbeiter im besetzten Gebiet vom 8. Februar an keine Lohnerhöhungen erhalten haben, während den Beamten Lohnerhöhungen zugebilligt wurden. Die Folge war eine spontane Welle von Streiks, zuerst im Ruhrgebiet, dann in ganz Deutschland, die — wie Sie wissen— dazu führten, dass sich der Vertreter der deutschen Regierung, Dr. Lutterbeck, an den General Degoutte wandte unter Berufung auf das höhere Exempel Thiers 1871 mit der Bitte, den Wechsel einzulösen, den die französische Bourgeoisie 1871 unterzeichnet hat. 1871 hat Bismarck geholfen, die Pariser Kommune niederzuwerfen, und Lutterbeck forderte, jetzt sollt ihr helfen, den Aufstand im Ruhrgebiet niederzuwerfen. Dies Dokument, das von allen Parteien der Kommunistischen Internationale, nicht nur von der deutschen, als ein klassisches Dokument des Verrats der nationalen Befreiungsziele durch die Bourgeoisie in allen Ländern verbreitet werden sollte, ist ein Beweis dafür, dass die Bourgeoisie den Widerstand gegen den französischen Imperialismus aufgegeben hat. Wenn der Reichskanzler Cuno zwei Wochen nach dem Brief Dr. Lutterbecks in seiner Rede in Münster sagte: „Der Widerstand ist noch nicht zu Ende, wir werden ihn weiterführen“, so ist das ein Versuch der restitutio in integrum, der Wiederherstellung der Jungfräulichkeit, der leider in der Geschichte nicht gelingt. Die deutsche Bourgeoisie ist bereit, vor Poincaré zu kapitulieren auf dem Rücken des deutschen Proletariats. Die deutsche Bourgeoisie hat der deutschen Regierung vorgeschlagen: die Schwerindustrie, der Handel und die Landwirtschaft wollen 500 Millionen Goldmark im Jahre zur Zahlung der Reparationen hergeben, wenn der Achtstundentag abgeschafft wird, die Eisenbahnen den Industriellen ausgeliefert werden, d. h. wenn die Kapitalisten das Recht erhalten, den Ausverkauf Deutschlands nicht mehr en detail, sondern en gros zu betreiben. Da das Proletariat nicht imstande war, die Sachwerte der Bourgeoisie zu erfassen, so erfasst die Bourgeoisie den bürgerlichen Staat im wahrsten Sinne des Wortes, indem sie ihm alle selbständigen wirtschaftlichen Quellen wegnimmt und dem Proletariat alle Bürden auferlegt.

Wir glauben, dass die Niederlage der deutschen Bourgeoisie an der Ruhr schon jetzt erzielt, aber noch nicht formell vollzogen ist. Fraglich ist nur, ob Poincaré allein die Früchte des Sieges einzuheimsen imstande, oder England einen Teil der Beute abzutreten genötigt sein wird, das natürlich den Schein zu erwecken sucht, als rette es wieder einmal Deutschland. Die deutsche Bourgeoisie ist nicht einmal zur Kapitulation fähig. Sie hat alle Hunde des Nationalismus gegen die Franzosen losgelassen, und jetzt sitzen sie ihr im Nacken. Sie versuchte, die Kapitulation durchzuführen, indem sie einen Aufstand der Kommunisten im Ruhrgebiet zu provozieren versuchte, um dann mit dem Schrei „die Kommunisten haben Frankreich die Front geöffnet“, die Kommunisten niederzuwerfen und dann die Faschisten und die Nationalisten, von denen ein Teil gegen die Regierung losgehen könnte, gegen die Arbeiterklasse zu werfen. Durch die Kaltblütigkeit der deutschen Kommunistischen Partei ist dieser Plan misslungen, und die deutsche Bourgeoisie weiß nicht, wie die Dinge weitergehen werden. Ihr Angebot ist ein Angebot der Versklavung Deutschlands, aber sie will selbst Sklavenhüter sein. Sie gibt den Franzosen nicht die Möglichkeit, die Ausbeutung selbst in die Hand zu nehmen, und der französische Imperialismus fürchtet, dass die Garantien nur auf dem Papier bleiben. Wie die Dinge liegen, wird ein Abkommen geschlossen werden, das Deutschland dem Ententeimperialismus ausliefert, aber es ist möglich, dass die Situation noch monatelang unentschieden bleibt. Als der Ruhrkampf begann, hat Poincaré in einer Rede, in der er sich über den deutschen Antrag, eine internationale Kommission der Bankiers solle bestimmen, wie viel Deutschland zu zahlen hat, aussprach. Töne angeschlagen, die an die Noten Tschitscherins erinnern. Er erklärte, Frankreich wird niemals zulassen, dass die internationale Finanz bestimmt, was Frankreich zu bekommen hat und was ihm notwendig ist. Diese sozialistische Tirade des Herrn Poincaré gegen die internationale Finanz war gegen Amerika und England gerichtet. Es ist klar, dass in einem solchen internationalen Ausschuss die englischen und amerikanischen Banken die Kreditgeber sein und eine ausschlaggebende Rolle spielen würden. Siegt Frankreich an der Ruhr, so bedeutet das natürlich nicht, dass das amerikanische und englische Kapital vollständig ausgeschaltet wird. Aber da Frankreich erklärt, von der Ruhr nicht wegzugehen, bis die Zahlungen gemacht sind, bedeutet dies, dass es die Ausbeutungsobjekte militärisch in der Hand hat und so den Druck des Dollars und Sterlings schwächt. Ob der Kampf an der Ruhr revolutionäre Formen annimmt, ob der Leichnam des passiven Widerstandes die Luft verpestet, oder ob es zu einem Abkommen kommt, eins ist klar: die sechs Monate des Ruhrkrieges haben die deutsche Wirtschaft um Jahre zurückgeworfen. Die Anpassung nur der Löhne an die Preise bedeutet eine Lohnrevolution. Der Finanzzustand Deutschlands ist ohne jede Aussicht. Die Hoffnung der deutschen Bourgeoisie auf die amerikanische Anleihe war aus der Luft gegriffen. Wir wussten es, als wir in Genua Anleihen gefordert haben, aber die deutsche Bourgeoisie glaubte an sie. Und jetzt kommt Keynes, der Deutschenfreund, und sagt der deutschen Bourgeoisie in der Londoner „Nation“, dass sie bestenfalls auf eine mildtätige Anleihe rechnen könnte, auf ein Almosen, für das man sich Zigarren kaufen kann, das aber die finanzielle Lage Deutschlands nicht erleichtern wird. Das bedeutet, dass Deutschland einer großen wirtschaftlichen Zerrüttung entgegengeht, das bedeutet für England, dass es einen der wichtigsten Käufer für lange Zeit verliert. Und damit komme ich zu dem Zusammenhang dieser Niederlagen Englands an der Ruhr und seiner russischen Politik.

5. Der russisch-englische Konflikt.

Wenn wir die Grundziffern der englischen Außenhandelsbilanz ansehen, so sehen sie folgendermaßen aus:

Von 1921 bis 1922 wuchs der englische Export in das nicht-englische Ausland von 310 auf 336 Millionen Pfund; der englische Export in die englischen Kolonien verminderte sich von 208 auf 198 Millionen Pfund.

Im Ganzen genommen ist der Handel Englands mit seinen Kolonien seit dem Kriege um 2 Prozent gestiegen, was eine sehr minimale Summe ist, denn Sie wissen, welche Revolutionierung der Preise stattgefunden hat auch in Pfund. Das Ergebnis ist sehr minimal in Anbetracht der Bemühungen, die England macht, um sich in seinen Kolonien zu befestigen.

Die Ausfuhr nach Deutschland, die im Jahre 1913 29.000.000 Pfund ausmachte, im Jahre 1921 12.000.000 Pfund, stieg im Jähre 1922 auf 24.000.000 Pfund. Das bedeutet, dass der Handel mit Mitteleuropa in schnellerem Tempo wuchs, trotz des Ruins nach dem Kriege, als der Handel mit den Kolonien. Jetzt sehen wir, dass dieser Markt, der westeuropäische, der deutsche Markt, durch die Ruhrereignisse einer großen Zerrüttung auf eine lange Zeit entgegengeht, und das ist eine Ursache, weshalb die Richtung Lord Beaverbrock, die koloniale Richtung in der englischen Politik, trotzdem gegen sie die englische Handelsbilanz und ökonomische Gründe sprechen, an Kraft zunimmt. Ein Teil der englischen Bourgeoisie sagt, die europäische Wirtschaft ist der Zerrüttung ausgeliefert. Deshalb richtet er sein Augenmerk immer mehr auf die Kolonien.

Der Ausdruck dieser Tendenz war die Note Curzons gegen Sowjetrussland. Sie erschien fast zur gleichen Zeit, als die Note Curzons an Deutschland ausgehändigt wurde, in der er von der deutschen Bourgeoisie verlangt, sie soll zahlen, was Frankreich fordert, in der er die deutsche Bourgeoisie in barschester Weise behandelt. Im ersten Augenblick schien das eine verrückte Sache zu sein, da Curzon sich gleichzeitig gegen Russland und die deutsche Bourgeoisie in solcher Weise wendet. In diesem Wahnsinn war aber System. Die Kolonialrichtung suchte eine Politik durchzuführen, die in der Auslieferung Deutschlands an Frankreich mit einer kleinen Teilnahme Englands bestand, um für diesen Preis Frankreich zum Kampf gegen Sowjetrussland zu bekommen, um Frankreich davon zurückzuhalten, dass es sich an Stelle Englands in Russland festsetzt. Sie werden fragen, warum der Kampf gegen Sowjetrussland, warum die Änderung in der Politik Englands gegenüber Sowjetrussland? Die Gründe dieser Sache liegen, wie gesagt, teils in der Niederlage des Planes von Lloyd George, teils in der Entwicklung in Russland, teils im Nahen Osten.

Um mit Russland zu beginnen. Ich habe schon gesagt, Lloyd George sah in der neuen ökonomischen Politik eine Brücke, die Sowjetrussland zum Kapitalismus geschlagen hat. Er hoffte auf eine geistige und moralische Zersetzung der Kommunistischen Partei Sowjetrusslands. Lord Curzon hat zwar in Eton den Marxismus nicht studiert, aber es gibt Tatsachen, die sogar für einen englischen Junker klar sind. Diese Tatsachen sind sehr einfach. Russland hat im Bürgerkriege nicht kapituliert, es hat gesiegt mit den Waffen in der Hand. Aber der Bürgerkrieg hat ihm die größten Wunden geschlagen. Dann kam der Hunger. In Genua suchte man uns zur Kapitulation zu zwingen, als wir das Messer des Hungers am Halse hatten. 1922 hatten wir eine mittlere Ernte, wir haben den Hunger mit Ausnahme der Gebiete, an die heranzukommen die Transportschwierigkeiten nicht erlaubten, überwunden. Zum ersten Mal sind unsere Arbeiter ausreichend ernährt und, wie ich auf Grund der deutschen Erfahrungen jetzt weiß, besser ernährt als die deutschen Arbeiter. Wir haben 23 Millionen Pud Brot in diesem Jahre ausgeführt. Wenn wir in den nächsten Jahren eine gute Ernte haben, werden wir 150 bis 200 Millionen Pud jährlich ausführen und ausführen müssen, damit der Bauer die Anbaufläche des Getreides erweitern kann. Der Brotpreis ist hier so niedrig, dass der Bauer genötigt ist, die Getreideanbaufläche einzuschränken, wenn wir nicht ausführen. Vom Standpunkt seiner Befreiung vom Monopol Amerikas, was Rohstoffe und Brot anbetrifft, müsste das England nur begrüßen. Aber vom Standpunkt der englischen Weltpolitik, des Willens, Sowjetrussland auf die Knie zu zwingen, steht es vor der Frage: Was bedeuten 150 Millionen Pud? 150 Millionen Pud bedeuten 150 Millionen Goldrubel, es bedeutet, wenn jetzt schon die leichte Industrie sich hebt, weil der Bauer ihre Produkte kauft, dass dann der Bauer, der Gold für sein Getreide kriegt, Mittel geben wird auch zur weiteren Entwicklung der schweren Industrie. Der Sowjetstaat, der das Monopol des Außenhandels hat, bekommt Geld für die technische Ausrüstung der Roten Armee.

Mehr noch. Lloyd George war die neue ökonomische Politik erwünscht. Aber die neue ökonomische Politik ist die Basis der Erstarkung Sowjetrusslands im Nahen Osten. Von Teheran ist es näher nach Nischni-Nowgorod als über Abuschir nach London. Von Kabul ist es näher nach Nischni-Nowgorod als nach Kalkutta und London. Und die Orientvölker waren gewöhnt an die russischen Waren. Die Waren der russischen Industrie begannen vor dem Kriege die Engländer im Nahen Osten zu schlagen. Und es ist klar, mag Sowjetrussland nicht nur auf die Propaganda verzichten, sondern mag es sogar zwei Finger in die Höhe heben und schwören, dass Lord Curzon der größte Freund der Orientvölker ist, die ökonomischen Änderungen werden die Position Sowjetrusslands im Orient stärken. Und daraus ergab sich nach der Überzeugung Curzons eine Bedrohung eben der Linie der Politik, auf die er auf Grund seiner ganzen Vergangenheit die englische Politik konzentrieren will: Stärkung des Verhältnisses zu den Kolonien, in erster Linie zu Indien. In seiner Rede über die Rolle Indiens in dem englischen Imperium erklärte Lord Curzon im Jahre 1910, dass Persien und Afghanistan das militärische Glacis Indiens sind. Das Interesse des englischen Kapitals erfordert nicht die Besetzung dieser Länder, aber es erfordert zu verhindern, dass Russland einen entscheidenden Einfluss in diesen Ländern besitzt. Nun, Sowjetrussland erstrebt im Gegensatz zum Zarismus weder eine militärische noch eine ökonomische Beherrschung Persiens und Afghanistans. Aber Lord Curzon fürchtet vor allem, dass der geistige Einfluss Sowjetrusslands, gestützt auf den Warenverkehr nach dem Orient, diese Länder aus dem Zustand der politischen Ohnmacht herausführt und ihnen hilft, Herr im eigenen Hause zu werden. Das wäre die größte Gefahr für den englischen Imperialismus. Die alten zaristischen Armeen konnten die indische Festung von außen bedrohen. Werden die Perser und Afghanen freie Völker, so kann das einen Einfluss auf Indien haben, der den Feind des englischen Imperialismus in der indischen Festung stärken würde.

Darum sagte sich Lord Curzon: Entweder gelingt es mir, Sowjetrussland jetzt auf die Knie zu zwingen, es in das Fahrwasser der englischen Politik zu bringen, es im Osten auszustreichen aus der Liste der entscheidenden Faktoren, oder den Kampf zu provozieren, bevor Sowjetrussland gefährlich sein wird. Sie wissen, dass England seine Kriege sehr gerne mit fremden Händen führt. Und die berühmten Telegramme des italienischen Vertreters Amadori in Moskau haben den englischen Plan mit vollkommener Offenheit enthüllt. Amadori, der ein kleiner Beamter war ohne politische Bedeutung, war nicht imstande, selbst solche Pläne zu entwickeln. Er spiegelte die Meinung der Vertreter der kapitalistischen Staaten überhaupt wider. Der Plan Lord Curzons ging darauf hinaus: England und Italien ziehen sich zurück, dann beginnt der Druck auf die englischen Vasallen, das sind alle baltischen und Nordseemächte.

In Moskau würde nur Deutschland bleiben. Aber die deutsche Industrie — so nimmt Curzon an — geht zugrunde, wird zersetzt, hat nicht genügend Mittel, um Brot und Rohstoffe zu kaufen. Sie wird auch nicht genügend Möglichkeiten besitzen, jetzt nach ihrer Zerrüttung an der Ruhr industrielle Waren an England zu liefern. In dem Telegramm Amadoris wird das plump gesagt: Russland wird abgeschlossen sein von den Valutaquellen. Also finanzielle und wirtschaftliche Blockade Russlands. Dann sagt Amadori: Wie wird sich das Verhältnis Russlands zu den Nachbarstaaten gestalten? Die passive Opposition wird nach dem Bruche sich stärken, in aktive übergehen: d. h. die Petljura-Leute, die SR und all das Gesindel, die georgischen Menschewiki kriegen neue Pfundnoten. Sie werden durch die rumänische, durch die polnische Front hineingelassen. Daraufhin — so spekuliert Curzon — werden wir uns fragen, ob es nicht besser ist, statt zuzusehen, wie sie unsere Ernte vernichten, einen Ritt nach dem Westen zu machen.

Die englische Politik lief darauf hinaus, einen Krieg zwischen uns und Polen zu provozieren. Und darum reiste der englische Generalstabschef Earl of Cavan direkt von Rom. wo er mit Mussolini zusammengekommen war, nach Warschau, um der polnischen Regierung zu sagen: 1920 habt Ihr den Krieg verloren, denn Ihr hattet eine junge und schlecht organisierte Armee und hattet nicht die Unterstützung Englands. Jetzt könnt Ihr die Unterstützung Englands haben. Der Plan war also, uns in einen neuen Krieg gegen Polen hineinzuziehen, dessen Folgen — wie sie von Curzon berechnet wurden — wären: Wir müssten die Steuerlast sehr erhöhen, die Unzufriedenheit des Bauerntums hervorrufen, und durch die wirtschaftliche Last des neuen Krieges würden wir — so hoffte Curzon — in die Luft gesprengt. Die zweite Hoffnung war die Spekulation auf die Krankheit Lenins. Genossen, wir sind historische Materialisten, aber Lord Curzon, der auf einem Elefanten nach Delhi ritt, ist ein Anhänger des Heroenkultus, und er ist überzeugt: wenn Lenin krank ist, so werden hier alle Leute den Verstand verlieren.

Wir schätzen die Rolle des Genossen Lenin höher, als ein Lord Curzon imstande ist, sie zu verstehen. Aber die Rechnung war gemacht ohne die 25-jährige Geschichte unserer Partei. Der Vorsitzende der Exekutive, der Genosse Sinowjew, sagte uns früher ein paar Mal — und ich und Bucharin haben das bestritten — wir werden neue Interventionen bekommen, unsere Gegner werden mit Bajonetten ausprobieren, wie viel wir wert sind ohne den Genossen Lenin. Als ich jetzt im Auslande mit einem sehr klugen amerikanischen Journalisten sprach und ihn fragte: Warum will Curzon Krieg; weil er fürchtet, dass wir zu stark werden, oder weil er glaubt, dass wir schwach sind?, erhielt ich zur Antwort: Curzon fürchtet, dass Ihr zu stark werdet, und er will Euch deswegen abwiegen, wie viel Ihr jetzt, vorübergehend, ohne Lenin, wiegt. Die englische Politik rechnete auf Spaltung und Zersetzung unserer Partei durch die neue ökonomische Politik.

Ich brauche hier nicht zu erzählen, welche Vorwände Lord Curzon benutzte, um den Bruch mit Sowjetrussland herbeizuführen: die Erzählungen von den geheimen Konspirationen, die wir im Orient führen, — sie klingen so schön im Munde des Vertreters der Regierung, die während des Krieges als Alliierte des zaristischen Russland aufs unerhörteste gegen Russland konspiriert hat, (Die von deutschen Agenten ins Jahre 1916 in Teheran entwendeten englischen Dokumente, die im Jahre 1917 in Berlin veröffentlicht worden sind, beweisen das aufs klarste.) Ich brauche darüber nicht weiter zu reden. Es ist jetzt wichtiger, den Ausgang der Sache zu prüfen.

Sie wissen, welche Politik Russland getrieben hat. Sowjetrussland hat erklärt: Wenn Lord Curzon Krieg haben will; soll er ihn selbst führen, wir verzichten einstweilen dankend darauf. Es ist klar, dass Sowjetrussland hier eine ihm gestellte Falle sah. Es sollte erniedrigt werden, damit sein Ehrgefühl ihm nicht erlaubt, dem Bruche auszuweichen.

Genossen, wir sind die Regierung der Arbeiter und Bauern. Wenn wir in 10 Jahren — wie ich fest hoffe — sehr stark sein werden, und mit uns die gesamte europäische Arbeiterklasse, so werden wir vielleicht ein besonderes Zeremoniell verfassen, nach dem wir behandelt werden wollen von dem Lord Curzon, wenn sie noch irgendwo existieren werden. Sie wissen, als sich Japan von der kapitalistischen Welt abschloss, forderte es von den holländischen Kaufleuten, wenn sie in die japanischen Hafenstädte eingelassen werden wollten, dass sie Kotau machten. Vielleicht werden wir in der Zukunft ein solches Zeremoniell fertig stellen. Jetzt haben wir uns gesagt, es handelt sich nicht um Zeremonien und Prestige, es handelt sich um die Frage: Lord Curzon will jetzt Krieg, und wir wollen überhaupt keinen Krieg. Und wenn man ihn uns aufzwingen wird, so wollen wir nicht jetzt kämpfen‘ sondern dann, wenn wir mit einem Minimum von Opfern zeigen können, dass es gefährlich ist, mit Sowjetrussland zu spaßen.

Lord Curzon lässt jetzt in die Welt hinaustrompeten, dass er einen Sieg errungen hat. Sowjetrussland hat es zwar abgelehnt, seine Gesandten abzuberufen, hat aber 130.000 Goldrubel bezahlt und zugesagt, dass es sich nicht mit kommunistischer Propaganda in den englischen Kolonien befassen wird. 130.000 Goldrubel sind ein schönes Stück Geld. Aber Lord Curzon hat über seinem Triumph eines an der Sache vergessen. Er hat mit der Stupidität, in der die Schüler von Eton noch die von Potsdam übertrumpfen, zwei Seiten übersehen. Die eine Seite ist Russland. Lord Curzon, der als Vizekönig in Indien saß, ist der Vater der nationalen Bewegung Indiens. Seine Politik der Teilung Bengalens hat die revolutionäre Bewegung in Indien um Jahre gefördert. In Sowjetrussland, wo die Arbeiterklasse die Diktatur übernommen hat, ist das nationale Bewusstsein ein Stück dieser Diktatur. Graf Mirbach und General Hoffmann waren die nationalen Erzieher des russischen Volkes. Als wir unschuldige, damals linke und dumme Kommunisten seinerzeit gegen unseren Lehrer Lenin gekämpft haben und den Vertrag von Brest nicht unterzeichnen wollten, sagte uns Genosse Lenin: Was wisst Ihr vom Vertrag von Brest, er ist bloß ein Stück Papier. Wir werden die größten Erniedrigungen erleben, und dann werden die revolutionären Massen Russlands wissen, dass man Mittel haben muss, um s i~ h zu v er leidigen, und Hoffmann und Mirbach werden die nationalen Erzieher der Massen sein. Lord Curzon suchte diese Erziehungsarbeit weiterzuführen, und wir können ihm verraten: Wir werden die Bedeutung der Sprache Lord Curzons mit den Vertretern von 150 Millionen Menschen ins populäre Russisch übersetzen, so dass es der letzte Bauer versteht. Aber Lord Curzon zieht auch nicht die Bilanz des jetzt erledigten Konfliktes, was den Osten betrifft. Er glaubt, dass der Osten sich sagen wird: Sowjetrussland fürchtet den Krieg mit England, darum kann es uns auch nicht verteidigen, und deshalb wird der Osten die Stiefel Lord Curzons lecken. Lord Curzon unterschätzt die Lage im Osten. Die Volksmassen im Osten werden erfahren, dass der Vertreter Sowjetrusslands, Genosse Worowski, im Kampfe um ihre Befreiung gefallen ist. Diese Massen werden erfahren, dass wir einer Kriegsgefahr entgegengingen, weil der englische Imperialismus in Sowjetrussland einen Freund der Ostvölker sieht. Die Orientvölker wissen, dass wir bleiben, was wir waren. Und diese Bilanz im Osten wird die größte Bilanz gegen Lord Curzon sein.

Lord Curzon wollte den Bruch, Lord Curzon drohte mit dem Bruch noch am Sonntag, als er unsere letzte Note in der Hand hatte, aber er konnte nicht brechen, obwohl wir es endgültig ablehnten, unsere Gesandten abzuberufen. Er konnte nicht brechen, weil die vernünftige Politik der Sowjetregierung nicht nur die englische Arbeiterpartei, sondern beide Parteien des englischen Liberalismus überzeugt hat, dass Lord Curzon den Krieg will und nicht wir. Lord Curzon konnte den Bruch nicht durchführen, weil die industriellen Elemente im Lager der englischen konservativen Partei fragten: Wohin führt das? Es genügt, die Artikel von Garcin im „Observer“ zu lesen, um die Gegensätze in dem Lager der Konservativen zu sehen. Curzon wurde geschlagen von seiner eigenen Partei, da die Industriellen den Sprung ins Ungewisse nicht mitmachen wollten. Sie haben auch von ihrem Standpunkt recht gehabt. Der Bruch wäre Kampf auf der ganzen Linie, und der englische Imperialismus hätte die Dinge zu fühlen bekommen, nicht dort, wo er vielleicht wollte, sondern auf dem ganzen Gebiete der englischen Macht in Asien. Der Rückzug Curzons, sein Verzicht auf die Forderung der Abberufung der russischen Gesandten aus Kabul und Teheran, war nicht nur das Resultat des Widerstandes der englischen Industriellen, sondern auch des Bankrotts seiner Hoffnungen auf die Solidarität der Alliierten und Neutralen. Italien, auf das er in erster Linie rechnete, zog sich von ihm zurück. Italien braucht Russland, weil es hier für industrielle Ware Brot bekommen kann, während es in Amerika für Brot mit Gold zahlen muss. Frankreich ließ gleich nach der Note Curzons die russische Rote-Kreuz-Mission nach Marseille hinein und entsandte eine Handelskommission nach Moskau. Dies bedeutet keinesfalls, dass es sich endgültig entschieden hat, sich in Moskau an die Stelle Englands zu setzen, aber es bedeutet, dass es sich nicht endgültig in der russischen Angelegenheit an Curzon ausgeliefert hat.

Dänemark hat im Augenblick des russisch-englischen Konflikts den Handelsvertrag mit Sowjetrussland unterzeichnet.

Mit Recht schrieben die liberalen Londoner „Daily News“ am 5. Juni 1923:

Was diese Diskussionen intelligentesten und unvoreingenommenen Menschen aller Parteien gezeigt haben, ist, dass der Bruch zwischen Groß-Britannien und Russland schwere Folgen in Osteuropa zur Folge hätte, und dass das direkte Wirtschaftsinteresse beider Länder die Unterstützung des Handels mit allen legalen Mitteln erfordert; die guten politischen Beziehungen beider Länder werden den Handel fördern, das Wachstum des Handels wird seinerseits die politischen Beziehungen fördern. Nicht nur in England wachsen diese Auffassungen immer mehr. Die italienische Regierung hat sofort ihren Vertreter von Moskau abberufen, der sich kompromittiert hat durch seine sehr indiskreten Äußerungen über die russische Politik. Gleichzeitig damit kommt die Nachricht von der Ankunft der französischen Handelsmission in Moskau. Wir zweifeln nicht, dass die englische Regierung den Sinn dieser Vorfälle verstehen wird. Sie zeigen, wie der Wind vom Westen weht.“

Lord Curzon hat sein Ziel nicht erreicht. Er hat weder den Bruch mit Sowjetrussland erreicht, noch es ins Fahrwasser der englischen Politik genommen. Er hat nur das nationale Gefühl der russischen Volksmassen aufs tiefste verwundet. Indem die Regierung Groß-Britanniens sich geweigert hat, ein ehrliches Verhältnis zu Sowjetrussland im Nahen Osten herzustellen, hat sie die Keime neuer Konflikte bewusst konserviert. Indem Leslie Urquhart, der industrielle Manager der Intervention, aus Wut, dass Sowjetrussland ihm nicht hilft, ein kapitalistisch-feudales Fürstentum auf russischem Boden zu errichten, von neuem forderte, die englische Regierung solle mit Sowjetrussland brechen, wenn es den englischen Kapitalisten die Fabriken nicht zurückgibt und die Schulden nicht bezahlt, hat er gezeigt, warum ein Teil der englischen Industriellen bereit ist, die östlich-koloniale Richtung Curzons in ihrem Kampfe gegen Sowjetrussland zu unterstützen. Die Sowjetregierung wird sich nicht auf die Knie zwingen lassen. Sie wird es auf den Kampf ankommen lassen, wenn eine fremde Macht versuchen wird, die Errungenschaften der Oktoberrevolution anzufechten. Darum sehen wir in dem russisch-englischen Konflikt ein Signal großer Gefahren und sagen dem internationalen Proletariat: Die Gefahr neuer Interventionen ist nicht ausgeschlossen! Die Niederlage Curzons zeigt, wie sich die Tendenzen kreuzen. Der Zusammenbruch Deutschlands, das Übergewicht der kolonialen Richtung brachten die Note Russland; die englischen Industriellen wollen aber nicht endgültig auf Europa verzichten, sie suchen noch einen Ausweg zur Rettung ihres Handels mit Zentraleuropa, die koloniale Richtung wird zurückgedrängt. Das bedeutet nach den Erfahrungen des großen Weltkrieges, dass ein Akt zu Ende ist, dass wir aber vor neuen Kämpfen stehen.

Die Zerrüttung Europas, die Zerrüttung des Kapitals geht weiter vor sich, und die Ruhrkrise, die Ereignisse in Den Haag, sie haben bewiesen, dass die einzige Macht, die weiß, was sie will, die sich nicht provozieren lässt, die klar sieht, wohin der Weg geht, die erste Proletarier- und Bauernmacht Sowjetrusslands ist. Die anderen wissen nicht, was sie tun sollen.

6. Lausanne.

Und, Genossen, Russland ist nicht die einzige Gefahr für den englischen Imperialismus, der zweite Feind im Osten ist die aufwachende mohammedanische Welt, darum, weil sie einen staatlichen Konzentrationspunkt hat: die Türkei. Es gibt nur 8 Millionen Einwohner in der unabhängigen Türkei, aber 60 Millionen mohammedanische Hindus, und der Kampf der Türkei um die Unabhängigkeit wirkt als revolutionärer Faktor ersten Ranges in Indien gegen den englischen Imperialismus, den Bedrücker Indiens, weil der mohammedanische Hindu sich selbst in Gärung befindet. Darum versuchte England die Türkei zu erdrosseln, darum hat es seinen griechischen Vasallen auf die Türkei gehetzt. Die Türkei hat gesiegt. Der Kampf der Griechen gegen die Türkei war ein Teil des Programms Lloyd Georges: Verständigung mit Russland, das sich zur kapitalistischen Macht entwickeln, auf seine revolutionäre Rolle im Osten verzichten soll, dafür die Zerstörung der Türkei. Lloyd George hat Russland nicht für den Kapitalismus gewonnen und die Türkei nicht zerschlagen. Curzon suchte die Teilung der revolutionären Ostfront auf einer anderen Linie zu erzielen. Er knüpfte an die Politik seines alten Lehrers Lord Beaconsfield an: Kampf mit Russland! Frieden mit der Türkei. Die Türkei ist zu schwach, um jetzt Mesopotamien und Arabien zu erkämpfen, also das, was England genommen hat, zurückzuerobern. Es ist nach der Berechnung von Curzon leichter, 8 Millionen Türken zu kaufen und durch ihren Einfluss die eroberten Gebiete zu behalten, als eine Verständigung mit Sowjetrussland herbeizuführen. Diese Politik Curzons führte zu einem der frappantesten Szenenwechsel, den die Diplomatie kennt, — in Lausanne!

Die Franzosen kamen als „Freunde“ der Türkei nach Lausanne und versuchten die Türken gegen England auszuspielen. Es endete damit, dass die Franzosen die Feinde der Mohammedaner wurden, und Curzon wurde der Prophet der Mohammedaner. Dies geschah durch die Gewalt der Tatsachen. Frankreich war die alte Kreditmacht Europas. 60 Prozent der türkischen Schulden befinden sich in den Händen Frankreichs. Die französischen Rentiers gaben Anleihen für exotische Länder. Der Hauptkreditor der Türkei war Frankreich und nicht England. Als man nach Lausanne kam, waren nicht die territorialen Fragen von Arabien und Mesopotamien die wichtigsten, sondern die Frage, was zu zahlen ist, wie zu zahlen ist und welche Sicherungen für die Zahlungen gegeben werden. Und da zerbrach das diplomatische Spiel Frankreichs. England verhandelte sehr vernünftig erst über die englischen Dinge, kämpfte, machte dann Zugeständnisse, zum Schluss „unterstützte“ es Frankreich loyal bei seinen Fragen. Und der Bankrott der ersten Lausanner Konferenz kam wegen der finanziellen Forderungen der Franzosen, und England suchte sich in Ankara in den Sattel zu setzen, nicht nur, um die revolutionäre Bedeutung der Türkei zu vernichten, nicht nur, um Frankreich im Nahen Osten aus dem Sattel zu heben, sondern auch noch aus einem anderen Grunde. Die Freundschaft mit der Türkei sichert England Mossul für den Preis geringer wirtschaftlicher Zugeständnisse an die herrschende Schicht. Nachdem das Mossul-Öl gesichert ist, kann man dann den Versuch machen, die Türkei gegen Baku zu dirigieren. Dieses Ziel Curzons scheint mir, wie ich schon in meinem letzten Bericht dargelegt habe, auf einer Verkennung der Lage im Osten zu beruhen. Die Türkei, die 8 Millionen Einwohner hat, steht seit 1909 im Kriege. Die Lage des türkischen Bauern ist so, dass Genossen, die das Hungergebiet in Russland gesehen haben, sagen, dass es dort nicht so schlimm war wie bei den türkischen Bauern. Nur die größte Energie der Regierung und die Überzeugung dieser Bauern, dass sie um ihre nationale Unabhängigkeit kämpften, machten es möglich, dass die Türkei den Krieg gegen Griechenland gewonnen hat. Diese Bauern dazu zu bringen, gegen jemanden, der die Türkei nicht angreift, in den Kampf zu führen, ist ein Spiel, dessen Resultat das gleiche sein würde wie das Resultat des griechischen Spiels von Lloyd George. Lord Curzon gilt als bester englischer Orientkenner. Das Organ der Fabier, „The New Statesman“, schrieb über ihn, er weiß über den Osten alles, nur nicht das, was man eigentlich tun sollte. Lord Curzon glaubt, dass die Türkei jetzt noch so aussieht wie zu den Zeiten Abdul Hamids. Aber man braucht nur ein paar Tatsachen aus dem Leben der Türkei zu nehmen, um den Irrtum Curzons zu sehen. In der Türkei, in der die Macht der Religion größer ist als in Europa, wo das Kalifat mit dem Sultanat jahrhundertelang verbunden war und dadurch dem Sultanat die religiöse Weihe verlieh, wurde, als die Engländer das Sultanat in die Hände bekamen, das Sultanat vom Kalifat getrennt, der Sultan entthront, und die Mullahs waren nicht imstande, eine größere Volksbewegung gegen die Regierung auf diesem Boden zu schaffen. Als wir auf dem Kongress in Baku eine Frau ins Präsidium nahmen, da kamen orientalische Kommunisten zu uns und sagten: Es wäre besser, wenn wir das nicht tun würden; die Frau im Orient solle nicht in den Versammlungen der Männer sein. — Schonen wir diesen Aberglauben. Wenn man jetzt liest, dass an der ökonomischen Konferenz in Smyrna 300 Frauen teilnahmen, mit einer Aufmerksamkeit an den Sitzungen teilnahmen, die zeigt, dass sie in das politische Leben hineingerissen sind, wenn man die Tatsache nimmt, dass der Kongress in Smyrna, der organisiert war von der Regierung, in Klassenvertretungen zerfiel, wo die Arbeiter gegen die Kaufleute kämpften, wo die Kaufleute mit den Bauern zankten, — so zeigt das, dass diese Jahre der Kämpfe eine tiefe soziale Differenzierung in der Türkei mit sich gebracht haben, die es unmöglich macht, den Orient so einzuschätzen, wie Lord Curzon ihn einschätzt: es genüge, dass der englische Wille sich in Sovereigns ausdrückt, damit er in der Türkei souverän sei!

Mehr noch: Sowjetrussland hat die revolutionäre Türkei unterstützt nicht aus Vertrauen zu jenem Pascha, der sich einmal Volkskommissar nennt und ein Telegramm an Lenin sendet, sondern aus der tiefen Überzeugung, dass die Interessen der russischen Bauern konform gehen mit den Interessen der Bauern des Ostens und dass die Interessen Sowjetrusslands und des internationalen Proletariats solidarisch darin sind. Das Resultat dieser Unterstützung ist, dass die Volksmassen in der Türkei in Russland nicht einen Feind sehen, sondern die einzige Macht‚ die ihnen geholfen hat in schwerer Zeit. Und wir sind überzeugt, dass, wenn Lord Curzon an die Ideen des Lord von Beaconsfield anknüpft, er an das russische Sprichwort erinnert von dem Mann, der zur Hochzeit kam und ein Grablied sang und zum Begräbnis kam und ein Hochzeitslied sang. Einer der besten politischen Schriftsteller Englands, Sidebothom, schreibt in einer Skizze, Lord Curzon sei der Mann der Ideen aus dem vorigen Jahrhundert. Wir mussten in Russland den Zarismus abschaffen, wir mussten mit den russischen Ideen der Junker von vor 100 Jahren kämpfen, und es scheint, dass wir auch aufräumen müssen mit Vertretern und Ideen des 18. Jahrhunderts in England. Das ist eine sehr schwere Aufgabe. Aber jedenfalls sind wir überzeugt, dass die neue Politik, die sich auf die Massen stützt, hier über den alten Plunder, den Lord Curzon aus seinen alten Schmökern kennt, siegen wird.

7. Die Liquidation des Washingtoner Abkommens.

Genossen, erlauben Sie mir, jetzt kurz in ein paar Worten die fünfte Tatsache zu schildern, in der sich die Änderung der internationalen Lage in den letzten Monaten ausdrückte. Das Washingtoner Abkommen der in Ostasien interessierten Großmächte vom Januar 1922 sollte die Lage im Fernen Osten stabilisieren. Russland wurde nicht eingeladen, nicht als Großmacht anerkannt und nicht als interessiert in Ostasien angesehen, worauf wir in ein paar Wochen in Wladiwostok standen. Die Großmächte haben dort kein Abkommen erzielt über die Erledigung der ostasiatischen Frage. Die ostasiatische Frage ist in erster Linie die Frage der Aufteilung Chinas, der Teilung Chinas unter die Großmächte. Sie haben sich begnügt mit einem Abkommen, das die Wehrkräfte stabilisieren sollte bis zu der Zeit, wo sie sich verständigen. Dieses Abkommen ist schon über den Haufen geworfen

Es scheint, dass sogar das Abkommen über die Beschränkung der Seerüstungen, das den Gegenstand der Verhandlungen zwischen den Vertretern von England, Amerika, Japan, Frankreich und Italien gebildet hat, sich letzten Endes herausstellt als ein Stück Papier,“

so‘ schreibt Archibald Hurd, ein hervorragender englischer Marineschriftsteller, in der Januar-Nummer 1923 der „Fortnightly Review“. Das Washingtoner Abkommen schränkte die Zahl der Dreadnoughts ein und verbot den Bau neuer. Das Verhältnis, das entstand, war auf diese Weise sehr günstig für England und Amerika. Aber Japan verstand, was das bedeutet. Es verstand, dass das die zukünftige Erdrosselung Japans bedeutet, und es unterwarf sich zwar dem Washingtoner Abkommen, aber es änderte seinen strategischen Plan. Der alte strategische Plan ging darauf hinaus, den Kampf zu suchen im Stillen Ozean, dort die amerikanischen Dreadnoughts zu schlagen. bevor sie an die Philippinen herankommen. Dieser Plan ist geändert worden. Der japanische strategische Plan besteht jetzt — wie es sich aus allen japanischen militärischen Maßregeln klar ergibt — darin, den Feind angreifen zu lassen. Japan unterbrach den Bau der Dreadnoughts und warf sich auf den Bau schneller Kreuzer, auf den Bau von Unterseebooten. Im Jahre 1925 wird Japan nicht weniger als 25 moderne Linienschiffe und Kreuzer und 70 Unterseeboote haben. Der englische Sachverständige in den maritimen Fragen, Bywater, veröffentlichte vor kurzem einen Artikel, in dem er zeigt: 153.000 Arbeiter beschäftigte Japan während der Washingtoner Konferenz auf seinen Werften. Kein einziger Arbeiter wurde entlassen. 153.000 Arbeiter arbeiten jetzt auf den japanischen Werften. Japan geht über zur Politik der Verteidigung in den chinesischen Gewässern, wo die strategische Lage so ist, dass es leichter ist, in die Dardanellen hineinzukommen, als durch das chinesische Meer und die Tsuschima-Enge Japan anzugreifen. Durch die geheime Befestigung der Bonin-Inseln, die vor der Washingtoner Konferenz durchgeführt wurde, hat Japan seine strategische Lage noch verstärkt. Die Vereinigten Staaten Nordamerikas blieben auch nicht untätig:

Idealisten haben geglaubt — schreibt Archibald Hurd in dem oben zitierten Artikel —‚ dass der Krieg 1914-18 der letzte Krieg sein wird. Es scheint aber, dass er die Samen neuer Kriege ausgestreut hat. Viele Nationen stehen am Rande des Bankrotts. Manche von ihnen sind nicht imstande, die Prozente ihrer Schulden zu bezahlen, — aber das, ist ohne jeden Einfluss auf ihre Rüstungen. Die geistigen und politischen Führer der Vereinigten Staaten Nordamerikas erklären, dass sie nichts tun wollen zur Linderung der Wunden Europas, bis diese Nationen nicht reumütig ihre Rüstungsbudgets kürzen. Aber zur selben Zeit fordert die amerikanische Regierung in dem jüngsten Budget 256.552.000 Dollar für die Armee, und 289.881.000 für die Vergrößerung der Flotte.

Die Vereinigten Staaten Nordamerikas gehen an die Vermehrung der kleinen Kreuzer, Zerstörer usw., ungeachtet der Tatsache, dass sie keine Verbindungen mit einem zerstreuten Kolonialbesitz zu verteidigen haben wie Groß-Britannien.

Wenn die amerikanische öffentliche Meinung dies akzeptiert und der Kongress es beschließt, so ist dies ein tödlicher Schlag für das Washingtoner Abkommen,“

schreibt Hurd. Groß-Britannien seinerseits beginnt den Wiederaufbau der Welt dadurch. dass es 9 Millionen Pfund Sterling opfert für den Ausbau der militärischen Basis bei Singapur. Das bedeutet nicht nur eine vollkommene Umwandlung der Situation dort seitens Englands, sondern scheint ein Schritt zum Zusammengehen Englands mit Amerika zu sein, ein Preis, den England an Amerika gegen Japan zahlt. Es wird bedeuten die Zusammenziehung der englischen Hauptflotte in der Nähe des Stillen Ozeans. Auch England umgeht auf diese Weise den Washingtoner Vertrag, der neue Befestigungen im Stillen Ozean verbietet. Diese Situation im Fernen Osten bedeutet eine wachsende Verschärfung des amerikanisch-japanischen Gegensatzes. Diese Situation macht Japan in hohem Maße abhängig von Sowjetrussland. Der Kampf wird auf chinesischem Territorium ausgefochten werden. Alle inneren Kämpfe in China sind mehr oder minder Kämpfe der imperialistischen Mächte um China. Russland ist ein Nachbar Chinas an einer langen Grenze. Russland kann Japan militärisch in den Rücken fallen. Das würde bedeuten, dass Japan mit geteilten Kräften kämpfen müsste. Der Friede und das Freundschaftsverhältnis zwischen Japan und Russland sind für Japan absolut notwendig, um es Amerika zu erschweren, dass es sich mit Sowjetrussland gegen Japan verbindet. Aus diesem Grunde neigt jetzt Japan zu einem Friedensschluss mit Sowjetrussland.

8. Die Aufgaben der Kommunistischen Internationale.

Das sind die wichtigsten neuen Tatsachen. Erlauben Sie mir, jetzt einige Schlüsse aus diesen Tatsachen zu ziehen.

Der erste Schluss liegt auf der Hand. Der berühmte Wiederaufbau Europas hat Platz gemacht, wie ein russischer sehr witziger Schriftsteller seinen Roman betitelte, dem Trust zur Zerstörung Europas. Zusammengenommen ist die Politik aller kapitalistischen Mächte ein Trust zur Zerschlagung Europas. Wenn das der Zweck wäre, — besser könnte die Sache nicht gemacht werden. Das zeigt ‘wieder, dass heute, wie wir es auch auf dem IV. Kongress getan haben, unsere politische Linie auf große Erschütterungen der Welt eingestellt sein muss, dass trotz der Offensive des Kapitals nicht nur kein Grund vorliegt, dass wir eine Rekonstruktion des Kapitalismus feststellen könnten. sondern umgekehrt: Wir stehen vor einer immer schneller vor sich gehenden Zerrüttung Europas.

Der amerikanische Kapitalismus hat sich einstweilen gestärkt. In England sind kleine Besserungen in der wirtschaftlichen Lage zu verzeichnen. Aber der alte Kontinent, auf dem wir einstweilen in erster Linie kämpfen, wo die größten revolutionären Gegensätze vorhanden sind, er geht nicht der Ruhe, sondern großen Kämpfen entgegen. John Kennedy Turner, der Verfasser des ausgezeichneten Buches über die Rolle Amerikas im Kriege, das besser für die Diktatur des Proletariats wirken kann als viele unserer propagandistischen Bücher, sagt in der Einleitung: „Summiert doch die Zahlen der Soldaten und der Rüstungsbudgets, sie sind größer als vor dem Kriege, und deshalb ist die Kriegsgefahr jetzt größer als 1914.“ Das ist der erste Schluss.

Der zweite Schluss ist, dass die einzige Macht der Revolution, Sowjetrussland, sich jetzt in Gefahr befindet. Eben weil wir stärker werden und weil die Hoffnungen der Kapitalisten, uns zu zermürben, zunichte gemacht worden sind, sind wir in Gefahr. Und wir sagen Euch: Wisst, dass die Festung der proletarischen Weltrevolution, Sowjetrussland, sich jetzt in dauernder Gefahr befindet, dass Lausanne und die Curzon-Note die Glockenschläge sind, die die Gefahren signalisieren. Sowjetrussland ist stark, wird sich wehren und nicht niederwerfen lassen, selbst dann nicht, wenn es auf seine eigenen Kräfte angewiesen ist. Aber von dem internationalen Proletariat wird es abhängen, ob ein neuer Angriff auf Sowjetrussland nur von Sowjetrussland abgeschlagen wird, oder ob das gesamte Proletariat zum Gegenangriff schreiten wird.

Der dritte Schluss ist: die deutsche Arbeiterklasse befindet sich in größter Gefahr und mit ihr die deutsche Revolution. Hier hat Sinowjew gesagt — und ich stimme ihm vollkommen zu —: Wir marschieren in Deutschland mächtig vorwärts. Das ist eine Tatsache. Die Zersetzung der deutschen Bourgeoisie wächst mit jedem Tage, und das schafft die neue, große Gefahrenzone. Die deutsche Bourgeoisie hat versucht, den Ruhrstreik in einen Ruhraufstand umzulügen, sie hat versucht, die deutsche Arbeiterklasse blutig niederzuwerfen,

bevor sie von ihr geschlagen werden kann. Die deutsche Partei hat ganz richtig manövriert. Aber die Not der Arbeiterklasse ist so groß, die Partei wird mit der Losung „Lasst Euch nicht provozieren!‘ — nicht auskommen. Sie wird kämpfen müssen. Und hier liegt die große Gefahr. Deutschland ist eine große Kolonie Frankreichs. Man kann diese Kolonie nicht ausbeuten, wenn in ihr Revolution herrscht. Deshalb hat Frankreich ein Interesse daran, die deutsche Revolution niederzuwerfen. Wenn diesmal Lutterbecks Angebot abgewiesen worden ist, so wird man es ein zweites Mal, wenn die Gefahr größer sein wird, annehmen. Die deutsche Arbeiterklasse befindet sich zwischen zwei Feuern: zwischen der deutschen Bourgeoisie, dem Faschismus, und dem französischen Imperialismus. Hier muss den französischen Genossen gesagt werden: Die französische Partei ist noch schwach, sie ist noch jung, aber sie hat große internationale Pflichten zu erfüllen.

Der vierte Schluss ist, dass die revolutionäre Bewegung im Orient sich in Gefahr befindet. Vorgestern bekamen wir die Nachricht, dass in Teheran die nationalistisch-halbdemokratische Regierung gestürzt worden ist von den anglophilien Elementen mit Hilfe des englischen Geldes. Wie die Sache in der Türkei liegt, ist klar. Die Elemente,. die für ein Abkommen mit der Entente und England arbeiten, sind diejenigen, die die kommunistische Bewegung niederwerfen wollen, weil sie dort zum Zentrum der Bauernbewegung wird. Hier genügt es nicht, zu sagen, dass wir, die russische Partei, unsere Pflicht gegenüber dieser Gefahr tun werden. Hier gilt es, an unsere englischen Genossen zu appellieren, dass sie die Aufmerksamkeit auf die kolonialen Dinge richten, dass wir sie dazu anspornen, dass sie, so jung sie sind, einen großen Teil der Arbeit der Unterstützung der revolutionären Bewegung im Orient auf sich nehmen, denn wenn sie dies tun, verteidigen sie nicht nur diese Bewegung, sondern sich selbst. Macdonald, der Führer der Labour Party, hat in seiner Rede aus Anlass der Curzon-Note gesagt, dass, wenn die Sowjetregierung die revolutionäre Bewegung im Orient unterstützt, Curzon Recht habe mit seinen Beschwerden. Wenn die Arbeiter und Bauern in Persien, der Türkei und Indien glauben werden, dass dies die Meinung des englischen Arbeiters ist, dann wehe der englischen Arbeiterklasse in dem Moment, wo sie um die Macht ringen wird, wo es davon abhängt, ob die Bauern in Ägypten oder Persien ihre Gegner oder ihre Freunde sein und ihnen Brot liefern werden. Diesen Appell richten wir an die englischen Genossen! Sie sind Engländer, d. h. Sie verstehen die weltpolitischen Fragen besser als andere. Sie können die Brücke des europäischen Proletariats bilden zu der langsam sich entwickelnden Arbeiterklasse .und den Bauernmassen im Orient.

Das sind die Schlüsse, die ich ziehe. Ich schlage Ihnen nicht vor, Lord Curzon sofort abzusetzen. Wir können es noch nicht, weder wir noch Sie. Wir schlagen nicht blutrünstige Manifeste vor, sondern wir haben Sie auf die Zersetzung der politischen Lage, auf die kommenden Kämpfe und auf die große Bedeutung der Arbeit, die wir als Weltpartei des um seine Befreiung kämpfenden Proletariats zu leisten haben, aufmerksam gemacht. Wir haben Sie aufmerksam gemacht auf die Arbeit, die wir nicht nur im Augenblick der Gefahr, sondern jeden Tag zu leisten haben. Wir haben in diesen Monaten eine Tatsache erlebt, deren schauerliche Ausmaße sogar uns nicht voll zum Bewusstsein gekommen sind: dass vor der Besetzung der Ruhr, vor all diesen Dingen, die sich vor den Augen des Proletariats vorbereiteten, die Vertreter von vielen Millionen Arbeitern in Den Haag versammelt waren, dass diese Versammlung die Gefahren sah, sie verstand und keinen Finger gerührt hat. Zum zweiten Male haben wir das Jahr 1914 erlebt: das ist die große Lehre. Hätte die Bourgeoisie sich entschlossen, so hätten wir einen neuen Krieg ohne Revolution. Wir wären nicht imstande gewesen, ihn zu verhindern. Dazu sind wir zu schwach. Wir müssen wenigstens die ganze Bedeutung dieser Tatsache erfassen und aus ihr den Schluss ziehen, tausendmal mehr als heute den weitpolitischen Fragen unsere Aufmerksamkeit zu schenken, nicht als Zuschauer, sondern als proletarische Kämpfer.

(Lang anhaltender Beifall.)

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