Karl Radek 19221028 Die Liquidation des Versailler Friedens

Karl Radek: Die Liquidation des Versailler Friedens

(Bericht an den 4. Kongress der Kommunistischen Internationale, 28. 10. 1922)

[Broschüre. Hamburg 1922]

Das uns vom 3. Kongress trennende Jahr zeigt den Beginn der Liquidation des Versailler Friedens und der ihm angeschlossenen Friedensverträge. Während die Vertreter der kapitalistischen Welt in einer Unzahl von Büchern, Millionen Artikeln, einer Menge von Konferenzen, wie auch versteckt hinter den Kulissen der Diplomatie, die Frage der Revision der Versailler Friedensverträge behandeln, wird diese Revision durch den eigenwilligen Gang der Ereignisse selbst vollzogen, die vom Fundament des Versailler Friedens einen Stein nach dem andern abtrug. Es genügt, auf die Konferenzen in Washington, Genua und Den Haag, wie auf den Sieg der türkischen Armee hinzuweisen, um zu erkennen, dass Säule auf Säule des Versailler Friedens einzustürzen beginnen. Im Osten und Südosten Europas, ebenso in Vorderasien, wird er durch die Waffen der Roten Armee und der türkischen National-Armee, im Fernen Osten durch die Macht des amerikanischen Dollars, in Zentraleuropa die Ohnmacht der deutschen Mark liquidiert. Die richtige Einschätzung dieses Liquidationsprozesses bedeutet gleichzeitig die Aufzeigung jener neuen politischen und ökonomischen Kräftegruppierungen, die bereits begonnen haben, sich herauszukristallisieren. Eine klare und bestimmte Vorstellung von den treibenden Kräften dieses Liquidationsprozesses ergibt auch gleichzeitig die Grundlage für das Verständnis der sich auf der politischen Weltbühne vorbereitenden Ereignisse.

I. Das Kräfteverhältnis des Versailler Friedens

Die nach dem Siege der Verbündeten über Deutschland, Österreich, Bulgarien und die Türkei in Europa geschlossenen Friedensverträge stellen nicht etwa den einheitlichen Ausdruck eines allgemeinen Sieges des verbündeten Kapitals dar, sondern lediglich eine Aufteilung der Macht unter die einzelnen Teile der Entente. Sie legten das Fundament für eine Hegemonie des französischen Imperialismus auf dem Kontinent, eine Hegemonie Englands im Nahen Osten und auf dem Meere und gaben Japan im Fernen Osten eine ausgesprochene Vorzugsstellung, die den Ausgangspunkt bildete für den Kampf um die Erlangung der Hegemonie in Ostasien.

Sieht man sich den Versailler Friedensvertrag etwas genauer an, erkennt man unschwer, dass die Bildung Polens auf der einen Seite, die faktische, durch Okkupation erreichte Verschiebung der Grenzen Frankreichs bis zum linken Rheinufer auf der andern, die Alleinherrschaft Frankreichs auf dem Kontinent ergeben hat. Der englische Schriftsteller Dillon hat recht, wenn er in einem Artikel zur Genueser Konferenz bemerkt, Frankreich habe selbst in den Zeiten höchster Machtentfaltung Napoleons keine so weitgehende militärische Herrschaft über Europa ausgeübt, wie heute auf Grund des Versailler Friedens. Der Umstand, dass die Alliierten Polen mit deutscher Bevölkerung durchsetzte Gebiete gegeben, einen Korridor geschaffen, und ihm Danzig und Oberschlesien angegliedert haben, hat Polen an den Triumphwagen Frankreichs gefesselt, und es so zum Wächter des Versailler Friedensvertrages im Osten gemacht. Neben Polen erscheinen die von Frankreich mit französischen Instruktoren und Kriegsmaterial versehenen Staaten der Kleinen Entente: Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien als zweites Glied französischer Kontinentalherrschaft. Im Verein mit Polen spielt Rumänien die Rolle eines Gendarmen Frankreichs gegenüber Sowjetrussland, während sich Frankreich Jugoslawiens als eines Gegengewichtes gegen Italien bedient. Gleichzeitig haben Polen und die Tschechoslowakei über die Erfüllung der Bedingungen des Versailler Friedensvertrages durch Deutschland zu wachen.

Wenden wir uns nun der Machtposition zu, die auf Grund des Versailler Friedensvertrages England zugefallen ist, so springt zunächst die Tatsache ins Auge, dass England schon während der Versailler Verhandlungen die Forderung der Freiheit der Meere ablehnte. Man ließ die Frage offen, d. h. England behielt trotz allen Geredes über die Freiheit der Meere den Suezkanal und die Dardanellen, Aden und Singapur d. h. seine Herrschaft über das Mittelmeer und den Indischen Ozean blieb unangetastet. Seine Kriegsbasis in Hongkong sichert ihm, unmittelbar nach Japan, den stärksten Einfluss im Gebiet des Stillen Ozeans. Seine Herrschaft im Atlantischen Ozean stützt sich auf eine Reihe erstklassiger Flottenstützpunkte. Dazu kommt, dass es im Einvernehmen mit Frankreich in Sèvres die türkische Frage löste und damit seine Herrschaft im Nahen Osten aufrichtete, denn es ist klar, dass, mögen die Meerengen und Konstantinopel formal auch einer gemeinsamen Kontrolle durch die englische und französische Flotte unterworfen sein, sie angesichts der Überlegenheit der englischen Seemacht faktisch und in erster Linie der Kontrolle Englands unterstellt sind. Die in englische Hände geratenen türkischen Gebiete Mesopotamien und Arabien, die zu Scheinkönigreichen erhoben wurden, sichern dem englischen Imperialismus die Beherrschung des Persischen Golfes und des Roten Meeres. Über Arabien und Mesopotamien hinweg besitzt England eine unmittelbare Brückenverbindung zwischen Ägypten und Indien. Nun hat Frankreich allerdings Syrien erhalten, von wo aus es den Suezkanal bedrohen kann. Doch hat der Krieg Frankreich derart zur Ader gelassen, dass es einstweilen unfähig ist, diese eventuale Drohung zur Wirklichkeit zu machen.

Im Fernen Osten unterließen es die Verbündeten, sich der Interessen Chinas anzunehmen, wie es China erwartet hatte. Schantung verblieb in den Händen Japans, womit die Verwirklichung seiner Träume über den Besitz der Kohlen- und Eisenbergwerke Chinas begonnen hat, da letztere Japan das bieten, wessen es zur Festigung seines Militarismus in erster Linie bedarf. Außerdem erhielt Japan eine Reihe wichtigster Stützpunkte im Südteil des Stillen Ozeans.

II. Die Liquidation des Versailler Friedens in Zentraleuropa

Ich beginne mit Zentraleuropa, obwohl, chronologisch genommen, der Zusammenbruch des Versailler Friedens seinen Anfang in Russland genommen hatte. Doch die deutsche Frage stellt heute die zentrale Frage der kapitalistischen Welt dar, da ohne eine Wiederherstellung der Wirtschaft Deutschlands auch keine Wiederherstellung des Kapitalismus möglich ist, sodass die deutsche Frage, zugleich die Frage nach dem Schicksal des bedeutendsten Besiegten des Weltkrieges, unmittelbar zur Frage nach der Macht des bedeutendsten Siegers in diesem Kriege d. h. der Vereinigten Staaten Nordamerikas hinüberleitet.

Die Geschichte der Reparationsforderungen der Verbündeten an Deutschland ist aller Welt bekannt, sodass ich mich mit dem Hinweis auf die wichtigsten Momente begnügen will. Nachdem die Verbündeten Deutschland seiner Handelsflotte und seines gesamten, im Auslande platzierten Kapitals beraubt, ihm 83 Prozent seines Eisens, ein Drittel seiner Kohle und 15 Prozent seines Getreides weggenommen hatten, auferlegten sie ihm außerdem einen schweren wirtschaftlichen Tribut.

Geraume Zeit verstrich, bis sie sich darüber geeinigt hatten, was von Deutschland zu fordern sei. In Versailles wurde keine bestimmte Höhe der Zahlungssummen festgelegt, sondern nur bestimmt, Deutschland habe die von Frankreich, wie auch von Belgien, erlittenen Schäden zu ersetzen und die an Krüppel und die Hinterbliebenen der Gefallenen zahlbaren Pensionen zu decken. Als sich die Verbündeten daran machten, die Höhe der von Deutschland zu entrichtenden Entschädigungssummen zu berechnen, ließen sie sich von den phantastischsten Hoffnungen einlullen. Noch im Dezember 1919 erklärte in der französischen Deputiertenkammer ein französischer Minister, Deutschland werde während 34 Jahren 25 Milliarden Goldmark pro Jahr zu zahlen haben, was einer Zahlung von 375 Milliarden Goldmark gleichkäme. Im November 1920 verlangte ein anderer französischer Minister, Deutschland solle 218 Milliarden Goldmark zahlen. Frankreichs Nationalvermögen betrug vor dem Kriege 250 Milliarden Goldmark, sodass die Summe der von Deutschland zu leistenden Reparationszahlungen nur wenig unter derjenigen des französischen Nationalvermögens gestanden hätte. Auf der Londoner Konferenz der Verbündeten vom Mai 1921 wurde bestimmt, dass Deutschland 132 Milliarden Goldmark zu zahlen habe, wobei
für die nächsten Jahre Zahlungen von 2-6 Milliarden Goldmark pro Jahr, die teilweise in Geld, teilweise in Waren zu erfolgen hätten, vorgesehen waren. Zur Zeit dieses Beschlusses besaßen 100 deutsche Mark einen Wert von 1.61 Dollar. Nachdem Deutschland im Laufe der folgenden Monate seine erste Zahlung in der Höhe von 1 Milliarde Mark beglichen hatte, fiel die deutsche Mark plötzlich, sodass für 100 Mark bereits nur noch 0,54 Dollar, d. h. für einen Dollar gegen 200 Mark gezahlt wurden. Nachdem die ersten Zahlungen beglichen waren, richtete Deutschland an die Verbündeten die Bitte, die Begleichung der weiteren Zahlungen hinauszuschieben, da es sich außerstande sehe, die bevorstehende nächste Zahlung zu leisten. Die englische Staatsbank, an die sich Deutschland damals mit dem Ersuchen um Gewährung eine Anleihe gewandt hatte, erklärte, dass Deutschland für den Fall des Fortbestandes der Versailler Vertragsbestimmungen zahlungsunfähig bleiben müsse. Damit bezeugte das wichtigste Geldinstitut der Verbündeten den Bankrott des Versailler Vertrages. Im Januar 1922 versammelten sich die Verbündeten in Cannes. Lloyd George präsentierte dieser Konferenz ein Memorandum, das ein Dokument von außerordentlicher Bedeutung darstellt. Es deckt im Hinblick auf Deutschland die treibenden Kräfte des Liquidationsprozesses auf. In seinem Memorandum weist Lloyd George zwar darauf hin, dass Frankreich durch den Krieg in der Tat ungeheuer gelitten habe und seine Nordprovinzen zerstört seien, betont jedoch gleichzeitig, auch England, in dem keine einzige Fabrik zerstört worden sei, besitze in Gestalt einer zwei Millionen Köpfe betragenden Arbeitslosenmasse seine Trümmerzone. Auf die Abhängigkeit Englands vom Welthandel hinweisend, hebt Lloyd George hervor, England könne eine ökonomische Zerstörung Deutschlands, eines der ersten Abnehmer seiner Waren, nicht dulden. Der Zusammenbruch Deutschlands bedeutet den Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Er weist dabei darauf hin, dass Frankreich in weit geringerem Masse als England vom Außenhandel abhängig sei, da es genügend eigenes Getreide besitze und über sämtliche, für seine Industrie erforderliche Hauptrohstoffe verfüge. Frankreichs Hauptsorge bestünde in der Sicherung seiner territorialen Unantastbarkeit und der Möglichkeit einer deutschen Revanche. Am Schlusse des Memorandums schlägt England Frankreich die Garantie seiner neuen Grenze für die Dauer von 10 Jahren unter der Bedingung vor, dass Frankreich sich zur Revision der ökonomischen Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages bereit erklärt. In Cannes wurde beschlossen, die für 1922 fälligen Zahlungen Deutschlands auf 720 Millionen Goldmark Bargeld und 1450 Millionen Mark in Warenwerten zu reduzieren. Die Pariser Konferenz vom März 1922 ratifizierte den Beschluss von Cannes und setzte die Gesamtsumme der deutschen Kosten für die Aufrechterhaltung der Besatzungstruppen auf 250 Millionen Goldmark herab. Nach der Genueser Konferenz tritt auf Initiative der Verbündeten,
unter Vorsitz des amerikanischen Finanzkönigs Morgan, ein Komitee von Bankdirektoren zusammen. Das Komitee soll die Bedingungen festsetzen unter denen Deutschland eine Anleihe gewährt werden könnte, die es ihm ermöglichen würde, seinen Zahlungen gegenüber den Verbündeten nachzukommen und seine Wirtschaft, und damit seine Finanzen, wiederherzustellen. Auf diesen Vorschlag antworten die Bankiers, Deutschland könne seine Finanzen solange nicht in Ordnung bringen, als die Reparationszahlungen nicht soweit herabgesetzt werden, dass ihre Begleichung auch faktisch möglich würde. Das von den Bankiers ausgearbeitete Gutachten stellt weiter fest, dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen von der Gewährung einer internationalen Anleihe an Deutschland selbst dann nicht die Rede sein könne, wenn diese Anleihe durch solideste Garantien, wie z.B. durch die deutschen Zolleinkünfte, sichergestellt wäre, denn das Fortbestehen des auf Deutschland ausgeübten Druckes und das Fortschreiten seines finanziellen Zusammenbruchs erzeugten die Möglichkeit sozialer Erschütterungen, die jede Garantie, welcher Art sie auch sein möge, in Frage stellen würden. Obwohl die Bankiers einen solchen Ausgang für unwahrscheinlich hielten, rechneten sie doch mit dem Allerschlimmsten, da es sich um eine langfristige Anleihe handele.

Der Beschluss des Komitees der Finanzmänner führte in Verbindung mit der Ermordung Rathenaus, die ihrerseits das Ergebnis eines durch die Versailler Politik heraufbeschworenen politischen Kampfes war, einen katastrophalen Sturz der Mark herbei. Als die Genueser Konferenz zusammentrat, hatte der Dollar noch keine 300 Mark erreicht. Nach Bekanntgabe des Beschlusses des Komitees und der Ermordung Rathenaus schnellte der Dollar bis zu 1400 Mark und darüber hinaus bis zu 2000 Mark in die Höhe. Selbstverständlich ist diese wachsende Zerrüttung der deutschen Finanzen und des deutschen Wirtschaftslebens nicht nur auf die Reparationspolitik der Alliierten zurückzuführen. Sie ist ein Resultat der wirtschaftlichen Schwächung Deutschlands durch den Krieg, wie auch der Politik der deutschen besitzenden Klassen, die große Teile des Kapitals dem deutschen Wirtschaftsleben entziehen, um sie dort zu verwenden, wo sie vor dem Zugriff der Entente gesichert sind. Und sogar wenn die Alliierten ihre Reparationsforderungen auf ein Minimum herabsetzen würden, würde die wirtschaftliche Lage Deutschlands außerordentlich schwer sein. Doch es unterliegt keinem Zweifel, dass es unsinnig ist, die wachsende Zerrüttung Deutschlands nur auf Machenschaften der deutschen Kapitalisten zurückzuführen. Sie wird beschleunigt durch die Reparationspolitik, die dem deutschen wirtschaftlichen Zerfall ein katastrophales Tempo gibt.

Die Verbündeten begriffen, dass sie am Ende ihres Lateins seien und eine weitere Entwicklung in dieser Richtung nicht nur den finanziellen Zusammenbruch Deutschlands, das ein langfristiges Moratorium verlangte, bedeute, sondern auch eine ungeheure soziale Gefahr in sich berge. So wandten sie sich denn einer neuen Überprüfung der Frage zu.

Anfang September sollte Poincaré zur Besprechung mit der englischen Regierung, die nicht wünschte über eine geringfügige Verlängerung der Zahlungsfristen, über Palliativmittel zu verhandeln, sondern eine neue Entscheidung über Deutschlands Zahlungsfähigkeit Überhaupt herbeiführen wollte, nach London kommen.

Doch ehe noch Poincaré London erreicht hatte, trat die englische Regierung mit der bekannten, die interalliierten Schulden betreffenden Note Lord Balfours vom 1. September an die Öffentlichkeit. Diese Note stellt einen Versuch Englands dar, den von Poincaré zu erwartenden Hieb zu parieren. Von dem Augenblicke an, als die Frage der Revision der ökonomischen Punkte des Versailler Vertrages auf die Tagesordnung gesetzt wurde, huldigte England bekanntlich folgender Idee: Die Verbündeten verzichten auf ihre gegenseitigen Schulden, wodurch das seiner englischen und amerikanischen Schulden ledige Frankreich in die Lage versetzt wird, auch Deutschland Konzessionen zu machen. Der englische Plan stützte sich auf die Annahme, die Verbündeten würden nach Annullierung der interalliierten Schulden von Deutschland nicht 132, sondern nur 50 Milliarden Goldmark fordern und damit Deutschland nicht nur eine Atempause gewähren, sondern auch die Aussicht auf eine Anleihe eröffnen, sodass Deutschland nicht einmal restlichen die 50 Milliarden, sondern nur die Zinsen der Anleihe und diese die Amortisationskosten zu decken hätte. In diesem Falle wäre Deutschland von dem Alb des französischen Druckes befreit, sodass die ganze kapitalistische Welt nun ein Interesse an seiner Wiederherstellung haben würde. Seinerseits müsste aber Deutschland sich mit der Kontrolle seiner Finanzen und einer Sicherstellung der Anleihe durch reale Garantien abfinden. Dies der englische Plan, der zwar nie eine offizielle Formulierung erfahren hatte, von dem jedoch hinter den Kulissen der Verbündeten viel gesprochen wurde.

Der englische Plan basierte auf folgenden Voraussetzungen:

1) auf der Bereitschaft Amerikas, auf die Schulden der Alliierten zu verzichten und

2) der Bereitschaft Frankreichs (in seinem Canneser Memorandum weist Lloyd George darauf hin, dass Frankreich verzichten müsse, weitere Unterseeboote zu bauen, also England zu bedrohen), Deutschland und England entgegenzukommen.

Einen solchen Plan von Seiten Englands erwartend, hatte Frankreich schon einen eigenen bereit. Der französische Plan bestand darin, England zu veranlassen, auf seine Forderungen gegenüber Frankreich, unabhängig davon, ob Amerika seine Forderungen gegenüber England aufrecht erhält oder nicht, zu verzichten. Dabei dachte jedoch Poincaré keineswegs daran, etwa Frankreichs Forderungen an Rumänien, Serbien und Russland fallen zu lassen. Auch ließ er die Frage der politischen Konzessionen an Frankreich offen. Mehr noch. Selbst die Erfüllung genannter Bedingungen sollte Frankreich noch nicht verpflichten, mit Deutschland ein Generalabkommen zu schließen. Frankreich erklärte sich in diesem Falle lediglich bereit, Deutschland ein Moratorium zu gewähren.

Um diesen Vorstoß rechtzeitig zu parieren und Verhandlungen auf dieser Basis abzubrechen, veröffentlichte die englische Regierung die Balfour-Note, in welcher sie ihre Stellung folgendermaßen fixiert:

England verzichtet auf seine Forderungen an die Verbündeten nur im Falle einer allgemeinen Regelung der Schulden- und Entschädigungsfragen bei gleichzeitigem Verzicht Amerikas auf seine Forderungen. Nur in solchem Falle wäre England bereit, seine Forderungen an Frankreich zu annullieren. Damit macht die Note Lord Balfours die Frage der interalliierten Schulden zur Hauptfrage. Wir müssen uns diese Frage etwas näher besehen, da sie in der Tat das wichtigste Problem in der kapitalistischen Welt der Gegenwart bildet und gleichzeitig die beste Antwort auf die Frage erteilt, wer denn nun eigentlich aus dem Weltkriege als eigentlicher Sieger hervorgegangen ist.

Zunächst führen wir einige grundlegende Zahlen über die gegenseitige Verschuldung der Verbündeten an.

1. Die Schulden der Verbündeten an Amerika (in Dollar)


Kapital

Zinsenrückstand am 31. Dezember 1921

Belgien

347.700.000

42.700.000

Kuba

8.100.000

-

Tschechoslowakei

61.300.000

7.100.000

Frankreich

2.950.800.000

357.900.000

Groß-Britannien

4.166.300.000

509.200.000

Griechenland

15.000.000

-

Italien

1.648.000.000

202.300.000

Rumänien

23.200.000

2.800.000

Russland

187.700.000

23.500.000

Serbien

26.200.000

3.300.000

Die Gesamtsumme der Verbündeten-Schuld an Amerika beträgt 10.150.300.000 Dollar, die Gesamtsumme der Zinsen 1.172.200.000 Dollar.

II. Die Verschuldung der Verbündeten gegenüber England.

Die bis zum 31. März 1922 rückständigen Zahlungen für Kriegsanleihen betragen in £:

Russland

655.000.000

Frankreich

584.000.000

Italien

503.000.000

Jugoslawien

25.000.000

Portugal, Rumänien, Griechenland und die übrigen verbündeten Staaten

67.000.000

Insgesamt

1.834.000.000

Anleihen zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Wirtschaft in £:

Österreich

12.000.000

Polen

3.900.000

Rumänien

2 200.000

Jugoslawien

2.000.000

Die übrigen Staaten

1.000.000

insgesamt

21.100.000

Ferner: Belgische Wiederherstellungsanleihe

9.000.000

Sonstige Anleihen: Armenien

829.000

Tschechoslowakei

2.000.000

Die Gesamtsumme der Verschuldung gegenüber Groß-Britannien einschließlich der Verschuldung der Dominions, die 150.432.000 £ entspricht, beträgt 2.017.461.000 £.

III. Die Verschuldung Englands.

Am 31. März 1922 betrug die Verschuldung Englands (in £) gegenüber

Amerika

856.093.000

Kanada

25.360.000

Japan

3.000.000

Straites Settlements

7. 656.000

Mauritius

538.000

Den übrigen Bundesregierungen

128.000.000

Insgesamt

1.020.647.000

IV. Die Guthaben Frankreichs.

Am 31. März schuldeten Frankreich (in Fs).

Russland

5.939.000.000

Belgien

1.684.000.000

Serbien

1.795.000.000

Rumänien

1.181.000.000

Griechenland

861.000.000

Polen

1.056.000.000

Tschechoslowakei

574.000.000

Italien

49.000.000

Sonstige Staaten.

42.000.000

Insgesamt

15.181.000.000

V. Die Verschuldung Frankreichs.

Am 31. März betrug die Schuld Frankreichs an:

Großbritannien

584.000.000 £.

Amerika

2.950.800.000 Dollar.

Japan

133.000.000 Yen.

Was Italien und Belgien betrifft, so fehlen Angaben über die Höhe der Verschuldung. Die spärlichen diesbezüglichen statistischen Daten sind widerspruchsvoll.

Die Note Lord Balfours stieß in Amerika auf eine äußerst feindselige Haltung. Es sei hier von den in die Tausende gehenden Artikeln, die dazu in der englischen und amerikanischen Presse erschienen, nur einer zitiert. Es handelt sich um einen Artikel des bekannten amerikanischen Schriftstellers Frank Simonds, der die Stellung Amerikas sowohl im führenden Organ der herrschenden Partei Amerikas, dem ”New-York Herald”, als auch in den Londoner ”Times” beleuchtete. Simonds schreibt:

Die Frage, ob es England gelingen wird, die Vereinigten Staaten von der Notwendigkeit der Schuldenannullierung zu überzeugen, bildet die Grundfrage der gesamten internationalen Situation. Englands Lage in dieser Frage ist eine schwierige. Während kein einziger der europäischen Staaten in der Lage ist zu zahlen, unterliegt es keinem Zweifel, dass England die Möglichkeit zu zahlen besitzt. Die Existenz einer solchen Möglichkeit gab es in den letzten Monaten wiederholt zu. Englands Staatsmänner brüsteten sich geradezu damit, dass sie erklärten, Großbritannien sei bereit zu zahlen, womit sie den Unterschied, der zwischen dem Verhalten Englands seinen Schuldverpflichtungen gegenüber und dem Verhalten der Staaten des Kontinents bestand, zu unterstreichen beliebten. Der englischen Regierung kann daher nicht gestattet werden, sich von der Zahlung der Schulden zu drücken oder beim Eintritt des Fälligkeitstermins eine Verlängerung der Zahlungsfrist zu verlangen”.

Nachdem Simonds weiter ausgeführt, dass weder Frankreich, noch Russland, noch Italien in der Lage seien, ihre Schulden zu tilgen und diese daher fiktiven Charakter trügen, dergestalt, dass weder die Vereinigten Staaten, noch England die Begleichung derselben fordern könnten, erklärt er:

Was England uns schuldet, ist reales Geld, das man auftreiben, bezahlen kann. Was dagegen die Verbündeten England schulden, ist nicht reales Geld. England verlangt also von uns, wir sollen zu seinen Gunsten, ohne geringste Gegenleistung seinerseits, auf 5 Milliarden Dollar verzichten”.

Weiter weist Simonds darauf hin, dass Europa und in erster Linie gerade England und Frankreich, ungeachtet ihrer finanziellen Schwierigkeiten, in ihren Rüstungen fortfahren. Die amerikanische öffentliche Meinung sei der Auffassung, die Rüstungen geschähen auf Kosten der amerikanischen Steuerzahler, was Europa jedoch nicht zufrieden stellte, da es überdies auch noch verlange, Amerika solle für die finanziellen Verpflichtungen Deutschlands aufkommen.

Diesen Standpunkt vertritt der überwiegende Teil der öffentlichen Meinung Amerikas. Die Haltung einzelner, die Schuldenannullierung predigender, in Finanzkreisen wie in der Politik ebenfalls einflussreicher Persönlichkeiten, wie beispielsweise des bekannten amerikanischen Bankiers Vanderlip oder des ehemaligen Senators und Präsidentschaftskandidaten Knox erzeugen die Illusion, als wäre eine amerikanische Hilfe in absehbarer Zeit zu erwarten. Indessen verlangt eine Beteiligung der Vereinigten Staaten an dem wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas nur jener Teil der Bank- und Handelskreise, der am europäischen Export und Import interessiert ist. Die Bestrebungen dieser Kreise stehen jedoch im Widerspruche in erster Linie zu der nichts weniger als glänzenden Lage der amerikanischen Finanzen. Vergleichen wir diese mit den Finanzen der Vorkriegszeit, so ergibt sich folgendes Bild: 1914 betrug die Gesamtsumme der Staatseinnahmen und Staatsausgaben 1 Milliarde Dollar, während heute Zinsen der Kriegsanleihen allein schon über eine Milliarde erfordern. Dem Bericht des Finanzministers Mellon zufolge betrug die konsolidierte Schuld Amerikas am 31. März 1921 16 Milliarden Dollar, zusammen mit den übrigen Schuldverpflichtungen 23 Milliarden. Die erste Frage somit, vor deren Lösung die neue Regierung Hardings gestellt wurde, war die Frage der Einschränkung der Staatsausgaben. Hätte die Regierung sich an die Masse der Anleihebesitzer mit dem Vorschlag gewandt, die 12 Milliarden Schulden der Verbündeten zu annullieren, so wäre das gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Amerika betrachtet die Schulden der Verbündeten als Verpflichtungen, denen unter allen Umständen nachgekommen werden müsse, sodass alle Versuche Englands und Frankreichs, die Schuldenfrage in Verbindung zu bringen mit der auf den Schlachtfeldern geübten Solidarität, weder in den ausschlaggebenden Kreisen der amerikanischen Bourgeoisie, noch viel weniger bei den Volksmassen Sympathie finden. Und da Amerika gleichzeitig sieht, wie sich Europas gewaltige Rüstungen dauernd steigern und sich immerfort die 800.000 Mann starke Armee Frankreichs und die Riesenflotte Englands vor Augen hält, entsteht in den Vereinigten Staaten allmählich die Überzeugung, dass Europa seine Flotte und Armee auf Kosten Amerikas vergrößere. Die Missstimmung dagegen basiert auf sehr realen Interessen der amerikanischen Bourgeoisie. Amerika ist das reichste Land der Welt. Es herrscht auf dem Baumwoll-, Kohlen- und Petroleummarkte. Es besitzt heute eine erstklassige Handelsflotte. Es ist daher selbstverständlich, dass der Verzicht Europas auf die Fortsetzung seiner Rüstungen der Vollendung der amerikanischen Hegemonie gleichkäme.

Natürlich besitzt Amerika nicht die geringsten Aussichten von einem seiner Schuldner außer England die Schulden bezahlt zu bekommen. Das ergibt sich ohne weiteres aus der Zahlungsbilanz Europas gegenüber Amerika. Im Jahre 1921 kaufte Europa in Amerika um 1.600.000.000 Dollar mehr als es ihm verkaufte; zudem zahlten europäische Privatschuldner (Privatpersonen in Europa schulden amerikanischen Banken 5 Milliarden Dollar) an Amerika 350 Millionen Dollar Zinsen. Somit schuldete Europa an Amerika im Jahre 1921 (ohne dass die bisher nicht bezahlten Zinsen für Staatsschulden überhaupt in Rechnung gezogen werden) 1.950.000.000 Dollar, also gegen 2 Milliarden Dollar. Europa seinerseits besaß Amerika gegenüber folgende Aktiva: 1) 100 Millionen Dollar als Zinsen für die in Amerika verbliebenen Reste investierter europäischer Kapitalien. 2) 500 Millionen Dollar den europäischen Emigranten in Amerika und den amerikanischen Hilfsorganisationen. 3) 150 Millionen Dollar amerikanischer Ausgaben in Europa und endlich 4) 50 Millionen Dollar allerhand anderer amerikanischer Verpflichtungen an Frachten, bei Banken usw. Das ergibt alles in allem 800 Millionen Dollar. Zieht man diese Summe von der Gesamtsumme der europäischen Verpflichtungen gegenüber Amerika ab (die Zinsen für Staatsschulden immer noch ungerechnet), so stellt sich heraus, dass Europa jährlich 1.150.000.000 Dollar Überzahlungen zu leisten hat. Nun entsteht aber die Frage, womit Europa diese Summe bezahlen kann. Selbstverständlich nur durch seine Waren. Will man das europäische Defizit Amerika gegenüber beseitigen, um wenigstens die erforderlichen 5 % seiner Schuld zu decken, muss die Ausfuhr Europas nach Amerika phantastische Ausmaße annehmen.

Bestanden schon in den letzten Jahren keine Aussichten für eine solche Steigerung des europäischen Exports nach Amerika, so hat sich in dieser Hinsicht die Situation in der allerletzten Zeit noch wesentlich verschlimmert. Am 21. September d. J. wurde ein neuer Zolltarif eingeführt, der einen Schutzzolltarif für eine ganze Reihe Erzeugnisse, die Europa zu exportieren in der Lage wäre, darstellt und an Höhe alle bisherigen amerikanischen Tarife übertrifft. Dieser Zolltarif besitzt für die weitere Entwicklung der internationalen Beziehungen eine außerordentliche Bedeutung. Indem er Deutschland und England nicht nur die Aussichten auf eine Vergrößerung ihres Exports nach Amerika, sondern auch die Erhaltung ihrer bisherigen Ausfuhr benimmt, erschwert er gleichzeitig in unerhörter Weise die Tilgung der Schulden der europäischen Mächte. Zur Aufrechterhaltung seines Kredits wird England auch weiter heroische Anstrengungen machen, seine Schulden zu bezahlen. Deutschland dagegen wird nach Einführung des neuen Zolltarifs seine Ausfuhr nur dann steigern können, wenn es die Lage der Arbeiter vollkommen auf das chinesische Niveau herabdrückt.

Der neue amerikanische Zolltarif gewinnt nicht bloß vom Standpunkte seiner Folgen aus betrachtet, sondern auch wegen der Ursachen seiner Entstehung eine erhöhte Bedeutung. Diese Ursachen sind in der Struktur der amerikanischen Industrie zu suchen. Ein Teil des amerikanischen Industriekapitals hat in den letzten drei Jahren begonnen, in Europa und in erster Linie in Deutschland, Fabriken und Unternehmen aufzukaufen, um die Arbeitskraft der deutschen Arbeiter, die mindestens sechsmal billiger ist, als die amerikanische, auszunützen. Das schuf der amerikanischen Industrie eine bedrohliche Konkurrenz. Die gesamte, die Bedürfnisse des Innenmarktes bestreitende Industrie begann sich gegen die europäische Konkurrenz zu erheben. Als Gegner des neuen Tarifes erwiesen sich nur die Banken, die die Unternehmungen des amerikanischen Kapitals in Europa finanzieren und derjenige Teil der amerikanischen Handelswelt, der vom Import europäischer Waren lebt. Eine weitere Ursache des Sieges des neuen Zolltarifes liegt in dem Preissturz der landwirtschaftlichen Produkte und der Drohung mit der Konkurrenz argentinischen und kanadischen Getreides und anderer landwirtschaftlicher Produkte auf dem amerikanischen Markte. Dieser Umstand führte ein Bündnis des amerikanischen Farmerblocks mit der amerikanischen Schwerindustrie zwecks Forderung der Hochschutzzolles herbei. Der amerikanische Zolltarif stellt einen weiteren Schritt zur Trennung Amerikas von Europa, zur Isolation Amerikas, den Zusammenbruch aller auf eine Schuldenannullierung seitens Amerikas, Investierung in den nächsten Jahren größerer Kapitalien in Europa und Gewährung einer größeren Anleihe an Deutschland aufgebauten Hoffnungen dar. Das neue Zolltarifgesetz ermächtigt den Präsidenten, nach eigenem Gutdünken die Höhe der Tarifsätze um 50 % zu erhöhen oder herabzusetzen. Damit sichert sich Amerika eine mächtige Waffe zur Beeinflussung der Politik aller übrigen Mächte. Sollte England eine Politik des Liebäugeins mit Japan zu ungunsten Amerikas betreiben wollen, sollte es versuchen, mit Amerika in Konkurrenz zu treten und Amerika in der Petroleumfrage kein Entgegenkommen zeigen, so. verfügt nun Amerika über die erforderlichen Mittel, den Sterling-Kurs herabzudrücken. Auf der andern Seite bietet sich ihm die Möglichkeit, auch Frankreich fester anzupacken, und es gegen England zu hetzen. Es vermag im Kampfe gegen England Frankreich durch Konzessionen zu gewinnen. Der Tarif liefert auch Deutschland vollkommen an Amerika aus. Indem Amerika Deutschland eine Anleihe verweigert, vermag es Deutschlands Wirtschaft und Finanzen in eine derartige Lage zu versetzen, dass es dem Dollar möglich wird, Deutschland für den allerniedrigsten Preis aufzukaufen. Als der ehemalige Senator Knox mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit trat, Amerika solle sich der wirtschaftlichen Angelegenheiten Europas annehmen, schlug er folgenden Plan der Kontrolle der Finanzen Deutschlands vor: Da Frankreich Gegner Deutschlands sei und England das Misstrauen Frankreichs genieße, sei weder eine französische, noch eine englische Finanzkontrolle Deutschlands möglich. Es müsse daher eine unparteiische Kontrolle eingesetzt werden, als welche die amerikanische in der Person des Handelsministers Hoover empfohlen wird. Dies das amerikanische Programm der Kontrolle Deutschlands, ein Programm, das bei fortschreitender Zuspitzung der ökonomischen Lage in Europa sehr bald Wirklichkeit werden kann. So wird der Versailler Friedensvertrag, der sich auf der Alleinherrschaft Frankreichs gegenüber Deutschland aufbaut, liquidiert, und die ganze Frage ist nun nur noch die, in welcher Form die Verbündeten dieser Liquidation ihre Zustimmung zu erteilen sich bereit finden werden.

Es ist eine Frage, die jetzt noch nicht beantwortet werden kann, ob diese Liquidation in der Form einer Verständigung des amerikanischen und französischen Kapitals stattfinden wird oder in der Form einer Verständigung des englischen und amerikanischen.

Doch all das bedeutet noch nicht, dass Frankreichs Lage hoffnungslos sei und es über keine Kampfmittel gegen die Folgen der nun eingetretenen Lage verfüge. Das französische Steuersystem belastet viel weniger die besitzenden Klassen, als das englische. Die französische Regierung könnte gegebenenfalls einen Teil ihres Defizits decken durch die Anziehung der Steuerschraube. Wenn sie das nicht tut, so aus Angst vor den Massen der Bauern, denen sie versprochen hat, dass Deutschland alle Schulden bezahlen wird, und aus Angst vor den Kapitalisten, die sich gegen eine hohe Einkommens- und Erbsteuer wehren. Um den inneren Kampf zu vermeiden, wird sie einen schweren Kampf führen, um möglichst viel aus Deutschland herauszupressen. Sollte dieser Kampf wirklich von Neuem beginnen, so bedeutet dass nichts anderes, als den Zusammenbruch der Entente, den Zusammenbruch des anglo-französischen Bündnisses. Bekanntlich verfolgte Deutschland als Hauptziel in seinem Kampfe gegen Frankreich die Vereinigung der deutschen Kohle mit dem französischen Eisenerze des Beckens von Briey. Hinter diesem Plane stand während des Krieges vor allem die deutsche Schwerindustrie, die durch die Erweiterung ihrer Basis die wirtschaftliche Hegemonie in Europa erstrebte. Das zertrümmerte Deutschland verlor 15 % seiner Getreidefläche, 83 % seiner Eisenerze, und 1/3 seiner Kohle.

Trotz alledem fuhr die Schwerindustrie fort, ihre Herrschaft über das wirtschaftliche Leben Deutschlands in steigendem Masse zu erweitern. Ungeachtet der Niederlage, hielt sie am alten Ziel der deutschen Imperialisten fest, nur sollte es mit französischer Hilfe verwirklicht werden. Dieser Plan basiert auf der Ausnützung des Umstandes, dass, solange Frankreich das Ruhrbecken noch nicht annektiert habe, es sich mit der Saarkohle, die die französische Stahlindustrie nicht braucht, weil sie Koks erfordert, begnügen müsse. Dieser Umstand zwang Frankreich, von Deutschland die Begleichung eines Teils seiner Reparationsschuld in Koks zu fordern. Stinnes und andere Konzerne glaubten nun, dieses Bedürfnis Frankreichs würde die französische Schwerindustrie dazu drängen, mit ihnen ein Übereinkommen zu treffen, wodurch ein mächtiger Kohlen- und Stahltrust Zentraleuropas geschaffen würde, der den Kontinent beherrschen könnte. Während dann die Ehre der Verteidigung der Interessen dieses deutsch-französischen Kohlen- und Stahltrusts französischen Bajonetten übertragen werden würde, würde seine eigentliche Organisation sich in den Händen deutscher Kapitalisten befinden. Französische Industriekreise, das Comité des Forges, traten diesem Plane Stinnes’ entgegen, da sie erstens befürchteten, eine solche Abmachung würde zur Aufrichtung der Herrschaft des deutschen Kapitals, als des besser organisierten und technisch mächtigeren, führen und zweitens hofften, das Ruhrbecken einfach zu besetzen, wodurch sie ohne einen Vertrag mit Stinnes und ohne die Gefahr einer wirtschaftlichen Stärkung des deutschen Kapitalismus, die eine Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus ermöglichen würde, in den Besitz deutschen Kokses gelangen würden. Die französische Schwerindustrie war daher im Gegensatz zu den Banken an den deutschen Reparationszahlungen durchaus nicht interessiert, war sie doch darauf bedacht, gerade Deutschlands Weigerung, seinen Zahlungen nachzukommen, zum Vorwande einer Besetzung des Ruhrgebietes zu nehmen. Doch die Gefahr eines Bruches mit England hinderte die französische Regierung, ihre Annexionsabsichten zu verwirklichen. So sah sich denn ein Teil der französischen Schwerindustrie in dem Maße, wie sich für Deutschland die Möglichkeit, seinen Reparationszahlungen in barem Gelde zu entsprechen, immer mehr verringerte und die katastrophale Zerrüttung der deutschen Finanzen immer augenscheinlicher würde, genötigt, mit der deutschen Schwerindustrie in Verhandlungen einzutreten. Der Vertrag Stinnes mit dem Marquis de Lubersac betreffs Wiederherstellung Nordfrankreichs stellt den Beginn dieser neuen Politik dar. Der französischen Regierung flößt diese Politik natürlich Furcht ein. Frankreich weiß sehr wohl, dass, sobald diese Politik sich nicht auf ein oder mehrere Abkommen beschränkt, sondern faktisch die Vereinigung der Schwerindustrie Deutschlands und Frankreich herbeiführt, das Entstehen eines ungeheuer mächtigen Konkurrenten Englands bedeuten würde, was zum Kampfe mit England führen müsste. Auf der andern Seite befürchten gewisse Industriekreise Frankreichs ihrerseits eine Konkurrenz der deutschen Industrie. Alle diese Faktoren werden die Entwicklung der Politik einer Annäherung französischer und deutscher Schwerindustrie auch weiterhin hemmen. Dennoch stellt angesichts des finanziellen Bankrotts Deutschlands und der Gefahr, die aus einer militärischen Besetzung des Ruhrgebietes auch für Frankreich erwachsen kann, die Politik einer Annäherung an Frankreich, den einzig möglichen Ausweg aus der Reparationssackgasse dar. Den Versailler Friedensvertrag jedoch vermag auch sie nicht zu retten. Der Sinn des Versailler Vertrages war die Vernichtung Deutschlands. Indem sich Frankreich das Recht der Okkupation des Rheingebietes erstritt, feierte damit die alte französische Rheinpolitik aus den Zeiten des westfälischen Friedens, Ludwig XIV. und Napoleons nun ihre Auferstehung. Die Schaffung eines rheinischen Pufferstaates, als Keil zwischen Nord- und Süddeutschland, hätte im Süden die Bildung eines katholischen Staates zur Folge, der Deutsch-Österreich und Bayern vereinigen und ein Gegengewicht zum Norden bilden würde. Der Versailler Vertrag verfolgt nicht nur den Zweck, aus Deutschland für Frankreich möglichst viel Geld und Kapital herauszupressen, er bedeutet gleichzeitig auch das Todesurteil für das deutsche Volk. Wenn daher Frankreich sich nun zur Rettung seiner ökonomischen Lage veranlasst sieht, eine Vereinigung mit der deutschen Schwerindustrie anzustreben, so wird es auf diesem Wege zwar Geld und ungeheure ökonomische und militärische Machtmittel für einen Kampf gegen England erhalten. dies jedoch mit der Wiederherstellung Deutschlands bezahlen müssen; denn ein so gearteter wirtschaftlicher Kurs müsste unbedingt auch den politischen Kurs Frankreichs Deutschland gegenüber verändern. Andererseits wird England der Bildung eines so gewaltigen europäischen Konkurrenten nicht mit verschränkten Armen zusehen. England, das mit Japan im fernen Osten konkurriert, England, das gegen Deutschland als seinen Konkurrenten auf dem Kontinente, Krieg führte, als Deutschland noch nicht einmal über den zehnten Teil der Kriegsmacht verfügte, die nach einer Vereinigung der französischen und deutschen Schwerindustrie Frankreich besitzen würde, dieses England sollte das Zustandekommen einer solchen Situation ruhig hinnehmen? Noch jeden Versuch Deutschlands, sich Frankreich anzubiedern, hat England bisher durch entsprechende Hiebe zu parieren verstanden, und wenn Deutschland Oberschlesien verloren hat, so stellt dieser Verlust nicht anderes als die englische Antwort auf die Wiesbadener Abmachungen dar. Die Niederlage Lloyd Georges wird den Kampf um Deutschland nur verschärfen.

Als Professor Keynes und eine Menge anderer kleiner Keynese die Notwendigkeit einer Revision des Versailler Friedens zu beweisen suchten, als die internationale Sozialdemokratie, die Vertreter der 2. und 2½. Internationale in die gleiche Kerbe hieben, führten sie weit und breit aus, wie Frankreich, der böse Genius Versailles‘, schließlich seiner wahnsinnigen Zerstörungspolitik entsagen würde, und damit eine neue Epoche des Friedens und anderer Herrlichkeiten einsetzen würden. Heute ist die Frage der Revision des Versailler Friedens schon kein Streitobjekt mehr, da der Friedensvertrag faktisch bereits liquidiert ist. Diese Liquidation des Versailler Vertrages bedeutet indessen nichts anderes, als die Erzeugung einer neuen Konfiguration der Kräftegruppierungen innerhalb des europäischen Kapitalismus, neuer Möglichkeiten internationaler Konflikte, in denen Deutschland das Objekt und nicht das Subjekt des Kampfes bildet.

III. Die kapitalistische Welt und Sowjetrussland

Chronologisch gesehen, setzte, wie gesagt, die Liquidation des Versailler Vertrages nicht in Deutschland, sondern in Russland ein. Als die Verbündeten den Versailler Friedensvertrag schlossen, der Russlands nur in einigen seiner Ergänzungspunkte gedachte, war das ganze System der Versailler Politik nicht nur auf der Vernichtung Sowjetrusslands, sondern auch der Vernichtung Russlands als Großmacht aufgebaut. Die Politik der Erdrosselung Deutschlands, seiner Vernichtung als internationalen Faktors, setzte an sich schon die Vernichtung Russlands als Großmacht voraus; denn möchte Russland regiert sein, von wem es wolle, in jedem Falle hätte es ein Interesse an der Existenz Deutschlands. Sogar das weiße Russland, wenn siegreich, könnte sich einer Vernichtung Deutschlands gegenüber nicht gleichgültig verhalten. Das aus dem Kriege unerhört geschwächt hervorgegangene Russland hätte mit dem Fortbestand seiner Großmachtstellung und dem Erlangen wirtschaftlicher Mittel für seinen wirtschaftlichen Wiederaufbau nur unter der Bedingung rechnen können, dass es in der Existenz Deutschlands ein Gegengewicht zur Hegemonie der Verbündeten besäße. Würde ein solches weißes Russland Sowjetrussland ablösen, so würde es an der Existenz Deutschlands als eines eventuellen Verbündeten selbst dann noch interessiert sein, wenn ein solches weißes Russland gewillt sein sollte, das Bündnis mit seinen früheren Verbündeten aufrecht zu erhalten. Aber nicht nur die Politik der Alliierten Deutschland gegenüber, sondern auch die von den Verbündeten in der Frage des Nahen Ostens getroffenen Entscheidungen hatten das vollkommne Ausscheiden Russlands zur Voraussetzung. Man braucht sich nur der Anstrengungen und Kämpfe zu erinnern, die den russischen Zarismus 1915 die Einwilligung Englands zur Übergabe Konstantinopels und der Meerengen an die russische Bourgeoisie gekostet hat. Und selbst wenn die im Kriege aufs Haupt geschlagene russische Bourgeoisie gezwungen worden wäre, auf die Forderung nach Überlassung Konstantinopels und der Meerengen zu verzichten, hätte Russland sich doch nicht damit einverstanden erklären können, den Schlüssel zum Schwarzen Meere der schwachen Hand der Türkei zu entreißen, um ihn in die mächtige Faust Englands zu drücken. Endlich hatte auch der während der Versailler Verhandlungen von England hinter dem Rücken seiner Verbündeten mit Persien geschlossene Vertrag, der Persien in eine englische Kolonie verwandelt, die Ausschaltung Russlands zur Voraussetzung. Die siegreichen Verbündeten betrachteten Russland vom Standpunkte der Erweiterungsmöglichkeiten ihrer künftigen Einflusssphären d. h. sie sahen in ihm, wie in der Türkei oder Persien, ihre zukünftige Kolonie. Der Kampf der Verbündeten gegen Sowjetrussland stellt nicht bloß einen Kampf gegen den ersten proletarischen Staat dar, sondern auch einen Versuch der Vernichtung Russlands überhaupt, das sonst den Verbündeten seine Rechnung präsentieren könnte. Die Verbündeten hatten es sich zum Ziele gesetzt, Sowjetrussland zu zertreten und an dessen Stelle ein schwaches weißes Russland zu setzen. Während der Versailler Verhandlungen richtete Lloyd George an Clemenceau und die Vertreter der anderen verbündeten Staaten ein vom 29. März 1919 datiertes geheimes Memorandum. Dieses geheime Memorandum ist (zum ersten Male) in dem Buche ”Das friedlose Europa” des ehemaligen italienischen Ministers Nitti abgedruckt. Es erzählt, welch ungeheuren Schrecken Sowjetrussland damals den Verbündeten eingejagt hatte. In jenen Tagen erklärte Lloyd George: ”Ganz Europa ist voll gepfropft von revolutionären Ideen”. Lloyd George weist auf den damals gerade erfolgten Umsturz in Ungarn und auf den Spartakusaufstand in Deutschland hin und betont, indem er auch das Bestehen einer tiefgehenden Unzufriedenheit breitester Massen des französischen und englischen Volkes feststellt, dass es sich heute für die Massen nicht bloß um den Kampf für eine Verbesserung ihrer Lebenslage, sondern auch, bewusst oder unbewusst, um eine soziale Umwalzung handele. Auf Sowjetrussland hinweisend, sagt Lloyd George, Sowjetrussland habe keine neue gesellschaftliche Ordnung durchgeführt, seine Industrie sei zertrümmert, seine Eisenbahnen zum Stillstand gebracht. Es habe aber dennoch das Wunder vollbracht, eine Armee und sogar eine disziplinierte Armee, die einzige Armee der Welt, die für Ideen zu kämpfen bereit sei, zu bilden. All das steht wörtlich in dem geheimen Memorandum Lloyd Georges. Aus den von ihm angeführten Momenten zieht Lloyd George den Schluss, dass zur Verhinderung eines Bündnisses mit dem revolutionären Russland man Deutschland schonen, gegen Sowjetrussland dagegen den Kampf führen müsse.

Der zweijährige Kampf der Verbündeten endete für sie mit einer Niederlage. Mehr noch. Russland ging zur Offensive über und marschierte, nachdem es die Polen bei Kiew geschlagen hatte, auf Warschau. In diesem Moment trat in dem Verhältnis der Verbündeten zu Sowjetrussland ein scharfer Umschwung ein. Damals waren die Verbündeten nicht nur davon überzeugt, dass sie außer Stande seien, die Sowjetmacht zu stürzen, sondern rechneten während unseres Vormarsches auf Warschau selbst mit der Möglichkeit eines Sieges der Roten Armee in Polen und mit den daraus sich ergebenden Folgen, in erster Linie der Auslösung der Revolution in Deutschland. Auf der zu dieser Zeit zusammengetretenen Konferenz in Boulogne war nicht nur England, sondern auch Frankreich bereit, Sowjetrussland anzuerkennen, um so seinen siegreichen Vormarsch aufzuhalten. Sowjetrussland erlitt jedoch vor Warschau eine Niederlage, die die Verbündeten sofort mit der Weigerung, die Sowjetregierung anzuerkennen, Frankreich insbesondere mit der Anerkennung Wrangels, beantworteten. Die gehobene Stimmung hielt nun an selbst nach der Zerschmetterung Wrangels, noch Anfang 1921, beherrscht die Verbündeten immer noch die Hoffnung auf die Möglichkeit einer schließlichen Niederwerfung Sowjetrusslands. Dessen ungeachtet schließt England mit Sowjetrussland einen Handelsvertrag ab.

Die Gründe, die England dazu zwangen, sind zwiefacher Art. Der erste Grund lag in der Arbeitslosigkeit, die in der zweiten Hälfte 1920 in England einsetzte. Diese Arbeitslosigkeit bewies den Verbündeten, in erster Linie der englischen Großbourgeoisie, die Unmöglichkeit der Fortsetzung der Versailler Politik, bewies ihnen die absolute Notwendigkeit der Erschließung neuer Absatzmärkte und zwar nicht nur für England, sondern auch für Deutschland. Schon damals entstand in den kapitalistischen Kreisen Englands der Gedanke, dass es aus der Reparationssackgasse nur dann einen Ausweg gäbe, wenn Deutschland die Möglichkeit erhielte, die Entwicklung der ökonomischen Kräfte Russlands zu fördern und sich auf Kosten russischer Bauern und Arbeiter wieder aufzurichten. Daneben trat in England auch noch eine Tendenz zutage, die eine noch weitere Zukunft im Auge hatte. Als jedoch im Jahre 1921 die Reparationsfrage und die Frage des Nahen Ostens zu einer Verschärfung des Kampfes zwischen England und Frankreich führte, begann England sich mit der Frage zu beschäftigen, ob Frankreich in seinem Siegestaumel nicht schon zu weit gegangen sei. In einigen, die Zukunft nüchterner einschätzenden Kreisen des englischen Kapitals machten sich nun Bestrebungen geltend, als Gegengewicht zu Frankreich ein wieder erstarktes Russland und Deutschland oder aber ein auf Russland sich stützendes Deutschland zu verwenden.

Die neue ökonomische Politik Russlands erweckt in England die Überzeugung von einem vollkommenen Bankrott des Kommunismus in Russland, die Überzeugung von der Möglichkeit einer Entwicklung der Politik der Sowjetregierung und Sowjetrusslands in der Richtung einer Wiederherstellung des Kapitalismus. Die über die Situation in Russland in der von Lloyd George nach der Genueser Konferenz im englischen Parlament gehaltenen Rede niedergelegten Gedanken enthalten in dieser Hinsicht die herrschende Auffassung der kapitalistischen Mächte. Lloyd George wies darauf hin, dass Sowjetrussland der Kredite bedürfe, dass ohne Kredite an eine ökonomische Renaissance Russlands nicht zu denken sei, dass aber die Leiter der Politik Sowjetrusslands, die sich in der internationalen Lage zu orientieren verstünden, die Unmöglichkeit der Durchführung des Kommunismus einsähen, aber unter dem Drucke der Stimmung einer Arbeiteroligarchie stünden, der sie nachgeben müssten. Die Sowjetmacht, meint Lloyd George, könne nicht brüsk mit ihren bisherigen Überzeugungen brechen, würde sich jedoch schließlich und endlich von ihnen lossagen und die Bahn kapitalistischer Entwicklung betreten. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das die Ansicht der führenden bourgeoisen Politiker war, die die Genueser Konferenz einberiefen. Sie waren überzeugt, dass es genüge, die Forderung nach Wiederherstellung des Kapitalismus in Russland entsprechend zu verhüllen, um die Sowjetregierung zu veranlassen, das den enteigneten ausländischen Kapitalisten gehörende Eigentum zurückzuerstatten. Es würde sich dann ein auf ausländisches Kapital gestützter Privatkapitalismus entwickeln, während die in den Händen der Regierung verbleibenden kümmerlichen Reste verstaatlichter Industrie unfähig wären, mit einer solchen Privatindustrie zu konkurrieren. Damit würden sie auch wieder in die Hände der russischen Bourgeoisie übergeführt werden. Von der Höhe solch lockender Perspektiven herab betrachtete Lloyd George die Franzosen, die, nötiger Elastizität bar, von der Sowjetregierung fordern, sich schriftlich vom Kommunismus loszusagen. Der aufs praktische gerichtete Verstand des Engländers war bereit, sich damit abzufinden, dass die russische Regierung auch weiter den Namen Sowjetregierung trage, in russischen Schulen auch weiter Kommunismus gepredigt werde usw., wenn sich nur Sowjetrussland bereit erkläre, die russische Industrie wirklich dem ausländischen Kapital auszuliefern. In dem Augenblick, als unter den Verbündeten der Gedanke einer Herabsetzung der Zahlungen Deutschlands entstanden war, legten sie Sowjetrussland eine Riesenrechnung von Vorkriegs- und Kriegsschulden vor. Der Sinn dieser Forderungen bestand lediglich darin, die Sowjetregierung, die außerstande ist, diese Schulden zu bezahlen, zu zwingen, Russlands alte Industrie, neue Riesenkonzessionen, die Zolleinkünfte als Garantie für spätere Schuldbegleichung, endlich vielleicht auch die Eisenbahnen den Kapitalisten der Verbündeten auszuliefern. Mit diesem Projekt in der Tasche, reisten die Verbündeten nach Genua. In Genua erklärten sie dann Sowjetrussland: Wir haben Euch zwar durch Waffen nicht besiegen können, Ihr bleibt also an der Macht, aber eine Kolonie der Verbündeten muss Sowjetrussland doch werden.

Diesen Vorschlag der Verbündeten lehnte Sowjetrussland rundweg ab. Es lehnte ab, seine Industrie ehemaligen ausländischen Kapitalsinhabern als Privateigentum zu überlassen, seine ganze Industrie dem Privatkapital in Pacht auszuliefern. Die angesichts der langsamen Entwicklung der Weltrevolution im Interesse des Wiederaufbaus der zerstörten Wirtschaft zu Konzessionen gezwungene Sowjetregierung ist auch heute noch bereit, einen Kompromiss zu schließen, jedoch nur unter der Bedingung, dass ihr die Möglichkeit gegeben werde, die wichtigsten Errungenschaften der Oktoberrevolution zu festigen und weiter auszubauen. Darum lehnt es die Sowjetmacht ab, das Privateigentum wiederherzustellen. Auf den ersten Blick mag die Frage als eine bloße Formsache erscheinen, doch ist dem in Wirklichkeit nicht so. Die Übergabe ehemaligen Privatbesitzes als Privateigentum an die ausländischen Kapitalisten bedeutet den Verlust der Möglichkeit, die Richtung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Unternehmer zu beeinflussen. Behält die Regierung dagegen auch weiter ihre Besitzrechte, so behält sie damit gleichzeitig die Möglichkeit, den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung auch zu beeinflussen. Es genügt beispielsweise darauf hinzuweisen, dass der vom Rat der Volkskommissare verworfene Urquhart-Vertrag Urquhart verpflichtete, Kupfererze, Bleierze usw. in den ihm auf Konzession überlassenen Gebieten innerhalb bestimmter Fristen und in genau fixierter Menge zu fördern. Die Sowjetregierung ist bereit, dem ausländischen Kapital nur denjenigen Teil der Industrie zur Verfügung zu stellen, den es auf Grund seiner eigenen Berechnungen in der nächsten Zeit mit eigenen Kräften schwerlich wird wiederherstellen können. Von dem Bestreben geleitet, den wichtigsten Teil der Industrie, in erster Linie die Schwerindustrie, als Hauptmittel zur selbständigen Wiederherstellung der Eisenbahnen und Beeinflussung der weiteren Entwicklung der Landwirtschaft, in ihren Händen zu behalten, weigerte sich die Sowjetregierung, die Forderung nach Rückgabe der gesamten früheren ausländischen Industrie an ihre ehemaligen Besitzer zu akzeptieren. Die Frage der Schulden ist keine Prinzipienfrage. Der Kommunismus kennt kein prinzipielles Verbot der Schuldenbezahlung. Wenn Sowjetrussland seinerzeit die Zahlungen der Vorkriegs- und der Kriegsschulden verweigerte, so war das einerseits ein Hieb, den es dem Weltkapital versetzte, das den Krieg nicht beenden wollte, andererseits ein Versuch, die Kleinbourgeoisie, soweit sie Besitzerin von Wertpapieren war, in Bewegung gegen ihre den Krieg verlängernden Regierungen zu setzen. Überdies war es auch ein Versuch, das Land von einer unerhört schweren Last zu befreien. Wenn Sowjetrussland die Anerkennung der Schulden jetzt verweigert, dreht sich der Streit im wesentlichen nicht um Prinzipien, sondern darum, dass das verbündete Kapital für sich die Möglichkeit beanspruchte, anstelle der Schulden, die Russland zu zahlen außerstande ist, die Finanzkontrolle, neue Riesenkonzessionen und die Auslieferung der Eisenbahnen zu bekommen.

Hätte die Möglichkeit vorgelegen, in Bezug auf die Höhe der Schulden und ihrer Zahlungsfristen unter Ausschluss jeder Gefahr einer Kolonisierung Russlands zu einem Einvernehmen zu gelangen, so hätte das Interesse der Arbeiterklasse von uns einen solchen Kompromiss erfordert. Denn, nochmals: kein Prinzip verbietet eine Schuldenanerkennung. Die Verbündeten dagegen, versuchten in Gesprächen hinter den Kulissen die Sachlage gerade umgekehrt darzustellen. Sie behaupteten, es handele sich um die Anerkennung eines Prinzips und nur eines Prinzips. Denn es sei, wie Lloyd George im Parlament ausführte, ein Unding, sich an die Kapitalisten mit der Forderung einer Anleihe zu wenden und dabei gleichzeitig zu erklären, Sowjetrussland anerkenne ein Prinzip der Verpflichtung zur Schuldentilgung nicht an. Da die Verbündeten sich weigerten, über die Höhe ihrer Ansprüche genauere Angaben zu machen und akzeptable Zahlungsfristen zu bestimmen, so war es unmöglich, überhaupt zu irgend einem Kompromiss zu gelangen. Die Genueser und die ihr folgende Haager Konferenz erlitten ein vollständiges Fiasko, weil die Verbündeten augenscheinlich noch nicht geneigt sind, die Existenz Sowjetrusslands als eines Landes, in dem der Sozialismus die ersten Schritte zu seiner Verwirklichung zu tun sich anschickt, als vollendete Tatsache hinzunehmen.

Das Fiasko von Genua und von Den Haag, das im wesentlichen der Weigerung der Verbündeten entsprang, die bloße Tatsache der Existenz eines die Verwirklichung des Sozialismus anstrebenden Arbeiterstaates anzuerkennen, wurde beschleunigt und besiegelt durch den Kampf des Petroleumkapitals um Russland. Die Rivalität unter den Petroleumtrusts, die die Konferenz in Genua wie in Den Haag in die Luft sprengte, fand während der Verhandlungen gelegentlich auch in der Presse ihren Ausdruck. Die wirklichen Ausmaße dieses Kampfes jedoch waren nicht nur einem breiteren Publikum unbekannt, sondern auch neun Zehnteln der an den Verhandlungen unmittelbar beteiligten Persönlichkeiten. Erst das später vorgenommene gründliche Studium der Petroleumpresse ergab Anknüpfungspunkte, deren Verfolgung es ermöglichte, die wahre Rolle des Petroleumkapitals an dem Versagen der Genueser und Haager Konferenz aufzudecken. Als Anfang Mai in der internationalen Presse die Nachricht verbreitet wurde, dass in den Verhandlungen zwischen Tschitscherin und Lloyd George am 30. April der Boden eines möglichen Kompromisses festgelegt worden sei, erschien in den Zeitungen plötzlich die Meldung vorn Abschluss eines Vertrages zwischen der Sowjetregierung und dem englischen Petroleumtrust Royal Dutch-Shell. Diese Meldung, deren Sinn im Augenblick schwer zu erfassen war, bildete jene Bombe, die die Genueser Konferenz sprengte. Der Kampf zwischen der Standard Oil und der Royal Dutch, auf den wir noch in unserer Übersicht über die Lage im Nahen Osten zurückkommen werden, führte vor dem Zusammentritt der Genueser Konferenz zu einer provisorischen Abmachung zwischen England und Amerika, bei der die englische Regierung versprach, die amerikanischen Petroleuminteressen in der russischen Frage zu berücksichtigen. War das auch kein regelrechter Vertrag, so versprach er doch Amerika in der Frage des Baku-Petroleums die Einheitsfront aufrecht zu erhalten, und so kauften die englischen und amerikanischen Petroleumsyndikate die Aktien der russischen Naphthaunternehmen, wodurch sie sich gewisse Rechtspositionen der früheren Eigentümer anzueignen glaubten. Die Meldung über den Abschluss eines Vertrages zwischen der Sowjetregierung und dem englischen Syndikat wurde von der Standard Oil in die Presse lanciert, weil die von Lloyd George in seinem Kompromissvorschlag vom 30. März in der Frage des Privateigentums in Russland akzeptierte Formel bei der Standard Oil die Befürchtung erweckte, hinter dieser Formel verstecke sich schon ein bestimmtes Abkommen in der Petroleumfrage. Lloyd George war bereit anzuerkennen, dass Sowjetrussland das Recht habe, falls es nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, gewisse Fabriken, Unternehmen oder Gruben, die früher ausländischen Kapitalisten gehörten, zurückzugeben, bestimmte Kompensationen zu zahlen. Die Standard Oil Co. schloss daraus, dass das der Sowjetregierung die Möglichkeit gebe, gewisse gegenwärtig in amerikanischen Händen sich befindende Naphtha-Gebiete ehemaliger russischer Besitzer zum Zwecke ihrer späteren Übergabe an die Royal Dutch-Shell zu behalten. Das veranlasste die Standard Oil zur Sprengung der Genueser Konferenz. Was die Versorgung mit Petroleum betrifft, so befindet sich Frankreich in der kläglichsten Lage. Dazu kommt, dass bei allen Verhandlungen mit der Sowjetregierung seine Lage infolge der Tatsache, dass sich in seinen Händen der Hauptteil der russischen Vorkriegsschulden konzentriert, eine äußerst prekäre ist. Vor dem Kriege erhielt Russland seine Anleihen nicht in London oder New York, sondern in Paris. Die Forderungen Frankreichs an Russland sind daher sehr bedeutend. Russland aber kann von Frankreich ökonomisch nicht viel bekommen, da das letzte selbst ökonomisch darnieder liegt. diese Lage der französischen Bourgeoisie, in der sie über keinerlei Äquivalente verfügt, schließt für sie große Gefahren in sich, ist dagegen äußerst vorteilhaft für England. Nicht prinzipielle Gründe also, sondern nüchterne Berechnung waren die Ursache der Weigerung der französischen Regierung, Lloyd Georges Memorandum vom 30. März zu unterschreiben, trotzdem Frankreichs Vertreter Barthou sich mit dem Memorandum vorher einverstanden erklärt hatte. In der gleichen Lage befand sich auch die belgische Regierung. Kurze Zeit nach der Genueser Konferenz gründeten Frankreich und Belgien ein franko-belgisches Petroleumsyndikat, das in Den Haag eine entscheidende Rolle spielte. Vor Eröffnung der Haager Konferenz fand in Den Haag eine Besprechung von Vertretern der Standard Oil, Royal Dutch Shell und des franko-belgischen Syndikats statt, in deren Verlauf Frankreich und England sich verpflichteten, in den Verhandlungen mit Sowjetrussland eine Linie einzuhalten.

Die Haltung der Standard Oh hierbei findet ihre Erklärung im Wesentlichen in der Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber Russland. Die Vereinigten Staaten stellen nicht nur den mächtigsten kapitalistischen Wirtschaftskörper der Gegenwart dar, sondern sind auch das Land des ausgesprochensten bourgeoisen Individualismus, das Land, in dem vor einigen Jahrzehnten noch jeder Arbeiter Farmer werden konnte und jeder Kleinbürger sich der Hoffnung hingeben durfte, dereinst Bourgeois zu werden. Dieses Land stellt nicht nur seinen Interessen, sondern auch seiner ganzen Psychologie nach den Champion des Kapitalismus dar, und sicherlich gibt es kein Land, in dem der Hass der Bourgeoisie gegen Sowjetrussland so stark und die antibolschewistische Presseagitation so umfassend wären, wie in Amerika. Heute ist der zentraleuropäische Absatzmarkt für landwirtschaftliche Erzeugnisse gründlich zerstört. Was er heute noch kauft, stellt nur das allernotwendigste dar. Die Preise für Erzeugnisse amerikanischer Landwirtschaft fallen und die amerikanischen Farmer beginnen die Möglichkeit des Auftretens Russlands als eines Getreide exportierenden Landes als eine Gefahr der nächsten Zukunft zu empfinden. Als vor wenigen Wochen durch die Presse die falsche Nachricht ging, die Sowjetregierung beabsichtige, in diesem Jahre mit dem Getreideexport zu beginnen, fingen die amerikanischen Farmer an, sofort zum Boykott russischen Getreides aufzurufen. Die Entwicklungsmöglichkeiten einer Ausfuhr amerikanischer Industrieprodukte nach Russland sind, potentiell genommen, ungeheure. Sie haben jedoch die Gewährung eines großzügigen, langfristigen Kredits au die russische Bauernschaft zur Vorbedingung. Das amerikanische Kapital dagegen verfügt noch über außerordentliche Entwicklungsmöglichkeiten im Innern des Landes selbst. Nur ein kleiner Teil desselben produziert für die Ausfuhr. Und heute gar, da das amerikanische Kapital England aus Süd- und Zentralamerika verdrängt, da ihm die Aussicht winkt, Deutschlands Industrie aufkaufen zu können, hat es keine Eile, mit Russland in Verbindung zu treten. Gewiss möchte die Standard Oil das Baku-Petroleum an sich reißen. Doch will sie das nur, weil ihr momentan ein so starker Konkurrent wie Shell droht, das Baku-Petroleum wegzuschnappen. Das amerikanische Kapital wird sich mit Russland verständigen, schon um die andern kapitalistischen Länder daran zu hindern, sich mit Hilfe Sowjetrusslands zu stärken. Die Politik der Standard Oil in Genua und dem Haag verfolgte daher den Zweck, Russlands Abmachungen mit Shell zu hintertreiben. Insofern es nun Amerika gelang, Shell zu binden, hat, es an einem Übereinkommen mit Sowjetrussland selbst vorläufig kein brennendes Interesse mehr.

Das Fiasko in Genua und in Den Haag beweist nicht, dass ein Übereinkommen zwischen Sowjetrussland und der kapitalistischen Welt unmöglich sei, sondern nur, dass die Zeit für ein solches Übereinkommen noch nicht gekommen ist. Wenn gewisse Leute die Frage debattieren, ob prinzipiell ein modus vivendi zwischen Kapitalismus und proletarischer Diktatur, Kapitalismus und Sozialismus möglich sei, so ist die Frage in dieser Form falsch gestellt. Der modus vivendi existiert bereits 5 Jahre, existiert als ein labiles Gleichgewicht, das durch eine Reihe Kompromisse mit der kapitalistischen Welt charakterisiert ist. Die ganze Frage ist nur die, auf welcher Basis diese Kompromisse geschlossen werden.

Einstweilen ist die kapitalistische Welt noch überzeugt, dass Sowjetrussland unter dem Drucke seiner ökonomischen Lage kapitulieren wird, und dass es seine Kompromisse durch Schönfärberei nur zu verdecken trachten wird. Das Fortbestehen der Sowjetregierung, das wenn auch langsame Wachstum der Produktivkräfte des Landes und eine Politik des Abwartens bilden die Voraussetzung für weitere Kompromisse. Im Verhältnis zu Russland ist der Versailler Friede, soweit es sich um einen militärischen Erfolg handelt, liquidiert.

Ein bestimmter Kompromiss der alten kapitalistischen mit der neuen proletarischen Welt ist jedoch noch nicht zustande gekommen. Die kapitalistische Welt hält noch an der Überzeugung fest, dass sie Russland schließlich doch ihre Bedingungen diktieren wird. Doch die Zeit, in deren Verlauf Sowjetrussland nicht allein zu leiden haben wird, sondern die Streitobjekte selbst bedroht werden, diese Zeit arbeitet für Russland. Die gesamte internationale Situation, die eine neue Kräftegruppierung und zunehmende Verschärfung der internationalen Beziehungen mit sich bringt, erhöht das spezifische Gewicht Sowjetrusslands. Sie wird dazu führen, dass der Kompromiss nicht auf rein kapitalistischer Grundlage geschlossen werden wird, sondern auf der Grundlage beiderseitigen Nachgehens. Das Ausmaß der Konzessionen wird bestimmt von Sowjetrussland als einem Arbeiter- und Bauernstaat einerseits und der internationalen Situation andererseits. Als die Sowjetdelegation nach Genua kam, war die englische Regierung überzeugt, dass es ihr gelingen würde, uns zur Kapitulation zu zwingen. Unsere wenn auch nicht erstklassige Ernte gibt uns nicht nur für ein Jahr eine neue Atempause, sondern eröffnet uns auch neue Perspektiven für unsere auf den Wiederaufbau unserer Wirtschaft gerichtete Tätigkeit. Dieses Jahr, das Jahr der Liquidation des Versailler Friedensvertrages, ein Jahr ungeheuerster Erschütterungen, wird das Jahr sein, in dem wir uns einer neuen Umgruppierung aller Machtfaktoren gegenübergestellt sehen werden, wird das Jahr sein, in dem vieles davon abhängen wird, welche Haltung in dieser oder jener Frage Sowjetrussland einnehmen wird. Ohne mit dem Säbel zu rasseln, ohne sich in irgend welche Abenteuer einzulassen, vermag Sowjetrussland in dieser Zeit des Heranreifens neuer Widersprüche und neuer Umgruppierungen eine abwartende Haltung in der festen Zuversicht einzunehmen, dass jede weitere Woche seiner Existenz auch sein internationales Gewicht erhöht.

Erst wenige Wochen sind verflossen, seit im grellen Lichte sich der Welt die Tatsache manifestierte, dass infolge der Unmöglichkeit, den Bestimmungen des Versailler Friedens zu entsprechen, die deutsche Erfüllungspolitik vor dem Zusammenbruch stehe. Noch kürzere Zeit ist verflossen, seit die Kunde vom Siege der Türkei, einem Siege folgenschwerster Art, die Welt umflog. Welcher Art die Atempause, die der Türkei aufgezwungen wird, auch sein möge, welche Schicht sich endlich die Herrschaft in der Türkei auch sichern möge, die Frage des Nahen Ostens hat Sowjetrussland ganz automatisch wieder in den Brennpunkt internationaler Politik geführt. In gleicher Richtung verläuft auch die Entwicklung der Dinge im Fernen Osten.

IV. Die Krise im Nahen Osten.

Die Liquidation des Vertrages von Sèvres vollzieht sich im Nahen Osten in militärischer Form, unter dem Donner der Geschütze. Sie setzte ein, bevor auch nur die grundlegenden Bestimmungen des Vertrages Wirklichkeit geworden. Der Friedensvertrag von Versailles betraf die Türkei nur insofern, als er Deutschland alles abnahm, was es in der Türkei im Laufe mehrerer Jahre auf dem Wege kapitalistischer Penetration erreicht hatte, also vor allem die Bagdadbahn, das Hauptobjekt diplomatischer Kämpfe des letzten Jahres vor dem Kriege, und das gesamte in türkischen Unternehmen investierte Kapital. Die Lösung der türkischen Frage war das Ziel des Vertrages von Sèvres, den die Verbündeten erst 1920 fertig gestellt hatten. Der Sèvresvertrag stellte die Verwirklichung des alten Programmes des englischen Liberalismus dar, die Türken vom europäischen Kontinent zu verjagen und die Türkei als Großmacht zu vernichten, das Programm Gladstones. Auf dem europäischen Festlande wurde der Türkei alles genommen, was ihr der mit Griechenland, Serbien und Bulgarien im Jahre 1912 geschlossene Frieden noch übrig gelassen hatte. Desgleichen verlor die Türkei alle Gebiete, in denen die Türken eine nationale Minderheit der Bevölkerung darstellten. Man schuf ein unabhängiges Armenien, das in Alexandrette einen Ausgang zum Mittelländischen Meer suchte. Man beraubte die Türkei Syriens, Mesopotamiens und Arabiens. Im Westen Kleinasiens musste sie das tief ins Land einschneidende Smyrnagebiet an Griechenland abtreten. Im Süden erhielt Frankreich Kilikien, das Adengebiet sollte an Italien fallen. Überdies sollten die Meerengen und Konstantinopel im Besitze der sich hinter der Liga der Nationen verbergenden Verbündeten verbleiben. Der Friedensvertrag von Sèvres wurde von der Türkei nicht ratifiziert. Die übrig gebliebenen Reste der zersplitterten Offizierskorps, von Kemal Pascha geführt, verweigerten dem Sèvres-Vertrag ihre Anerkennung. Nach seiner Flucht aus Konstantinopel schritt Kemal Pascha zur Organisation der Verteidigung des Landes gegen die Verbündeten, sodass selbst die an die Entente gänzlich ausgelieferte Regierung des Sultans, die auch nicht den Schein einer Macht repräsentierte, sich genötigt sah, angesichts einer solchen Entwicklung der Dinge den Sèvres-Vertrag abzulehnen.

Wirft man die Frage auf, wie sich das Kräfteverhältnis der Verbündeten untereinander bei der Aufteilung der Türkei gestaltete, so erkennt man unschwer, dass der überwiegende Einfluss und die wichtigsten Positionen England zufielen. Gewiss können die Franzosen von Syrien aus den Suezkanal, die Hauptverbindungsader des englischen Imperialismus mit Indien, bedrohen, wären sie nicht selbst vom englischen Imperialismus abhängig. Aber Amerika hatte den Versailler Friedensvertrag nicht ratifiziert und Europa verlassen, sodass der Schutz des Versailler Friedens lediglich davon abhing, ob England Frankreich seine Unterstützung angedeihen ließ. Frankreich befand sich auch noch in vollkommener ökonomischer Abhängigkeit von England, hing doch von der Unterstützung Englands die Entscheidung der Frage ab, ob Deutschland seinen Reparationszahlungen nachkommen werde. Somit konnte eine Bedrohung Englands durch Frankreich von Syrien aus nur theoretischen Charakter tragen, nicht mehr als ”Zukunftsmusik” darstellen, umso mehr als die Engländer auch noch über eine mächtige Mittelmeerflotte verfügten, die die Kräfte Frankreichs weit hinter sich ließ, außerdem nach Mesopotamien über Bagdad jederzeit indische Truppen werfen konnten. Außer der politischen Beherrschung der Türkei sicherten sich die Engländer auch die ökonomische.

Trotzdem ein geheimer Vertrag zwischen England und Frankreich vom Jahre 1916 das Naphthagebiet von Mossul Frankreich zugesprochen hatte, traten es die Franzosen 1920 in San Remo an England ab. Das Naphtha, das vor dem Kriege vorwiegend als Handelsartikel diente, wurde seit Einführung der Dieselmotoren in der Marine die Haupttriebkraft der Kriegsschiffe. Auch die Automobil- und Flugzeugindustrie ist auf Naphtha angewiesen. Diese beiden Industriezweige haben während des Weltkrieges eine so außerordentliche Bedeutung erlangt, dass Lord Curzon bei der anlässlich des Abschlusses des Waffenstillstandes mit Deutschland in London veranstalteten Feier das historische Wort prägte: ”Naphthawogen trugen uns dem Siege entgegen”. Das Mossul-Naphtha schloss den Ring englischer Naphthabesitzungen am Persischen Golf. Die Besitzergreifung Mossuls stellt einen der größten Erfolge Englands im Kriege dar. Der das Mossulnaphtha an England überliefernde Vertrag von San Remo verpflichtete letzteres, nur 25 % der Ausbeute zum jeweiligen Marktpreise an Frankreich abzutreten. Diesen Sieg erfocht England nicht nur dank der oben erwähnten Abhängigkeit Frankreichs, sondern auch mit Hilfe des militärischen Druckes. England machte nämlich gegen das verbündete Frankreich den König Faisal mobil, der, von England ausgerüstet, die Franzosen aus Syrien hinauszudrängen begann. Erst die Bereitschaft Frankreichs, sich der Naphthaherrschaft Englands, die in der Folgezeit die Abhängigkeit Frankreichs steigern musste, zu beugen, ließ England auf eine Unterstützung Faisals verzichten. Das des Naphthas beraubte Frankreich konnte von nun an nur noch mit Zustimmung Englands Kriege führen, es sei denn, es gelänge ihm, sich der Hilfe der andern Naphthamacht, Amerikas, zu versichern.

Englands Politik der ökonomischen Beherrschung des Nahen Ostens besaß noch einen weiteren Trumpf, nämlich die alten Verbindungen des englischen Kapitalismus mit dem griechischen. Griechenland verfügt im Nahen Osten über ein verhältnismäßig mächtiges Handelskapital. Während die kapitalistische Produktion Griechenlands noch unentwickelt und schwach ist, besitzt es seit jeher eine starke Handelsflotte und Handelsverbindungen, die weit reichender sind als die Verbindungen der armenischen Kaufleute. Schon in früheren Zeiten erfolgte das Eindringen englischen Handelskapitals in Kleinasien durch griechische Kanäle. Dies war die ökonomische Basis des englischen Philhellenismus. Die Überlassung Smyrnas [=Izmirs] an die Griechen bedeutete also seine faktische Annexion durch das englische Handelskapital.

Doch man hatte in Sèvres die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Obwohl die Hauptkader, auf die sich Kemal Pascha während des Aufstandes von 1919 stützte, die alte Organisation der Jungtürkenpartei abgab, konnte Kemal Pascha seinen Kampf nicht unter türkischer Flagge führen, da die Jungtürkenpartei nach ihrer Niederlage im Kriege ihre Popularität bei den Volksmassen eingebüsst hatte. Schon während des Krieges hatte diese Partei, die zu einer Partei der Armeelieferanten und Kriegsgewinnler, zu einer zwar noch nicht kapitalistischen, dafür aber schon alle Laster des Kapitalismus zur Schau tragenden Partei geworden war, in den Augen des Volkes bankrott gemacht. Indessen änderte das formale Abrücken Kemal Paschas von dieser Partei nichts an ihrer tatsächlichen Bedeutung, da die Türkei nun einmal über keine anderen Kräfte zur Organisation der Landesverteidigung verfügte, als gerade jene Elemente, auf die sich die Jungtürkenpartei stützte. Diese Elemente entstammen vor allem jener Schicht von Berufsmilitärs, die den deklassierten Adel, der über keinerlei Landbesitz mehr verfügte, repräsentierte, ferner der alten, dem gleichen Adel entstammenden, gleichzeitig aber auch gewisse Volkselemente umfassenden Bürokratie. In der alten Türkei konnten nämlich energische Männer auch der unteren Schichten sich leicht bis auf die Höhen der herrschenden Oligarchie durchschlagen. (Es genügt beispielsweise zu erwähnen, dass der Großwesir Talaat Pascha, einer der energischsten und klügsten Vertreter türkischer Politik, früher Telegrafist, der Sohn eines Eisenbahnarbeiters war). Auch in der Armee gab es viele Kommandeurposten, die von Sprösslingen unterster Volksschichten bekleidet wurden. Diese Verhältnisse ermöglichten es der in Zersetzung begriffenen Oberschicht des türkischen Volkes, neue Kräfte für die Wiederaufrichtung des Staates zu gewinnen. Dies die Kräfte, die Kemal Pascha die Organisation der Landesverteidigung ermöglichten. Die Tatsache, dass es ihm, trotz einer Kette ununterbrochener Kriege, die seit 1909 andauern und die türkische Bauernschaft bis auf den Grund ruiniert haben, gelang, diese Verteidigung dennoch zu organisieren, wird verständlich, wenn man sich die Vergangenheit des türkischen Volkes vergegenwärtigt, das auf eine lange Herrschaft im Südosten Europas zurückblicken darf und große kriegerische Traditionen aufzuweisen hat. Diese Traditionen finden wir in ausgeprägtester Form beim anatolischen Bauern, der sich durch besondere Anhänglichkeit an sein Land und stete Bereitschaft, sein Land zu verteidigen, auszeichnet. Es kommt hinzu, dass das Volk seine Verteidigung als einen Kampf gegen die Knechtung des mohammedanischen Ostens durch den christlichen Westen auffasste.

1920 setzt in der Türkei eine lebhafte, auf die Organisation seiner militärischen Kräfte gerichtete Tätigkeit ein. Gleichzeitig halten die Türken Umschau nach Verbündeten für die bevorstehenden schweren Kämpfe. Schon 1919, als Sowjetrussland von der Türkei noch durch die Denikinsche Front, die Truppen in Transkaukasien und Georgien und die Fronten Mustaphas und der Daschnaki getrennt waren, suchten die Regierung Kemals und türkische Emigranten eine Verbindung mit Sowjetrussland herzustellen. Darin offenbarte sich eine politische Weitsichtigkeit, die um so höher zu bewerten ist, als sie sich in dem für Sowjetrussland kritischsten Augenblicke äußerte, da Denikin vor Orel und Judenitsch vor Petrograd standen. Im September 1919 setzen Verhandlungen zwischen Vertretern der Türkei und Vertretern Sowjetrusslands in Berlin ein. Gleichzeitig gelang es Sowjetrussland, über die Denikinfront eine unmittelbare Verbindung mit der Türkei herzustellen und mit ihr über einen weiteren gemeinsamen Kampf gegen die Entente in Unterhandlung zu treten. Diese Unterhandlungen fanden in dem Friedensvertrage vom April 1921 ihren Abschluss. Selbstverständlich gab sich Sowjetrussland keinerlei Illusionen über den sozialen Charakter der Regierung der Nationalversammlung in Ankara bin. Es war sich vollkommen klar darüber, dass die Ankara-Regierung nicht nur keine Arbeiter- und Bauernregierung, sondern selbst nicht einmal eine bürgerlich-nationale Regierung, die eine bürgerliche Revolution verkörpern würde, darstellte. Es wusste, dass es die Regierung einer bestimmten, von der Bürokratie unterstützten Offiziersschicht vor sich habe. Anderseits aber hatte Sowjetrussland auch erkannt, dass der Krieg an den Volksmassen nirgends vorübergegangen war, ohne tiefgehende Veränderungen in ihrem Denken und Fühlen bewirkt zu haben, was auch für das türkische Volk gelten musste. Die Verwüstung des flachen Landes, die nicht nur die gesamte Bauernwirtschaft ruiniert, sondern auch die alte, aber starke Gutsbesitzerschicht geschwächt hatte, setzte als wichtigste Frage der nächsten Zukunft die Bauernfrage auf die Tagesordnung, die in der Türkei weit weniger eine Frage einer neuen Bodenzuteilung an die Bauern, als vielmehr der Beseitigung der im Steuersystem noch verkörperten Reste des Mittelalters und der Heranziehung der Bauern zur Teilnahme am politischen Leben ist. Die Zukunft des Landes ruht gerade auf jenen demokratischen Elementen, die der Bauernschaft entstammen: auf den Volksschullehrern, jungen Offizieren und der Bauernintelligenz. Als Sowjetrussland die alte imperialistische Politik gegenüber der Türkei verwarf, war es sich dessen bewusst, dass es damit das Fundament eines künftigen Bündnisses zweier Völker lege. Auch war ihm klar, dass, wenn auch die heute die Türkei führenden Männer es noch so oft versuchen wollten, sich denen zuzuwenden, die ihnen mehr bieten werden, d. h. den kapitalistischen Weltmächten, wenn auch in der Clique der Bürokraten und Militärs viele käufliche Elemente vorhanden sind, die türkischen Volksmassen einen solchen Betrug aus dem einfachen Grunde nicht mitmachen würden, weil jedes Geschäft mit der Entente stets auf Kosten dieser Massen abgeschlossen würde. Darum betrachtet es Sowjetrussland, das die Möglichkeit diplomatischer Schwankungen der verschiedenen Cliquen nüchtern in Betracht zieht, als seine Pflicht, den Kampf der Türkei um ihre nationale Unabhängigkeit im Interesse der Förderung der Weltrevolution, deren Sieg ohne Unterstützung der Bauernmassen des Nahen und Fernen Ostens, die heute das Opfer der Profitgier des Weltimperialismus sind, unmöglich ist, zu unterstützen.

Als Kemal Pascha seinen Aufstand begann, galt er den Verbündeten nicht mehr als ein Räuberhauptmann. Noch im Frühjahr laufenden Jahres weigerte sich die englische Regierung, Vertreter Kemal Paschas zu empfangen und mit ihnen zu verhandeln. Anfang August hielt Lloyd George über die englische Politik im Nahen Osten eine große Parlamentsrede, die eine Wiederholung der alten Ideengänge Gladstones war. Doch die Kräfte des englischen Imperialismus reichten zur Verwirklichung seiner Drohungen nicht aus. Frankreich, das in San Remo auf das Mossul-Naphtha verzichtet und England im Nahen Osten nachgegeben hatte, wurde nun gewahr, dass ihm damit eine Unterstützung seiner Politik in Europa durch England noch immer nicht gewährleistet sei. Von seinen Handelsinteressen geleitet, wollte England Deutschland schonen und forderte daher die Wiederherstellung Deutschlands als Abnehmers der Erzeugnisse englischer Industrie. Nachdem England von Deutschland alles, was es forderte, erhalten, dessen Kriegsflotte vernichtet und Handelsflotte ihm abgenommen hatte, erkannte es, dass es Frankreich in seinem Siegesrausche Deutschland gegenüber allzu sehr die Zügel habe schießen lassen. England bedurfte zur Verhinderung der Aufrichtung einer Alleinherrschaft Frankreichs auf dem Kontinent bis zu einem gewissen Grade der Wiederherstellung der politischen Macht Deutschlands. In Bezug auf den Versailler Frieden bestand daher Englands Politik in dem Doppelspiel einer theoretischen, öffentlichen Verteidigung des Wortlautes des Friedensvertrages einerseits und einer praktischen Hintanhaltung französischer Versuche, sich gegenüber Deutschland seiner starken Druckmittel zu bedienen, andererseits. Konnte es letzteres zuweilen nicht verhindern, so hielt es sich dafür verpflichtet, gegen die Ausübung eines Druckes auf Deutschland zu protestieren, wodurch es sich in Deutschland den Ruf eines Verteidigers der Rechte des Schwächeren, den Ruf eines Friedensengels zu verschaffen gedachte. Als nun Frankreich seinerseits das allmähliche Verdorren des Versailler Friedensvertrages konstatierte, suchte es nach Mitteln, die gestatten würden, einen Druck auf England auszuüben, nach einem Trumpfe, den es gelegentlich gegen England ausspielen könnte.

Als Frankreich sich überzeugt hatte, dass Kemal Pascha in der Lage sei, mit Hilfe Sowjetrusslands die Türkei zu verteidigen, begann es, mit der Türkei zu verhandeln. Franklin Bouillon reist als Vertreter der französischen Regierung nach Ankara und schließt mit der Türkei einen Vertrag ab, laut welchem Frankreich nicht nur seine Truppen aus Kilikien zurückziehe, sondern sogar ihre Ausrüstung den Kemalisten überlasse. Frankreich versorgt auch weiterhin die Türkei mit Waffen. Wie die Engländer behaupten, soll der von Franklin Bouillon abgeschlossene Vertrag geheime Punkte enthalten, die Frankreich verpflichten, der Türkei für den Fall, dass es versuchen sollte, das von Engländern besetzte Mossul zurückzuerobern, keine Hindernisse zu bereiten. Auf Frankreich folgt Italien, das durch die Gefahr einer Stärkung Griechenlands als Mittelmeermacht zu einem Übereinkommen mit der Türkei getrieben wird. Dank dieser günstigen Lage, d. h. dem Bündnis mit der ersten revolutionären Großmacht, Sowjetrussland, einerseits und dem Abkommen mit Frankreich und Italien andererseits, wird die Türkei so stark, dass die Verbündeten auf eigene Initiative im März d. J. zur Revision des Vertrages von Sèvres eine Konferenz nach Paris einberufen und der Türkei die Rückgabe Konstantinopels und eine verklausulierte Rückgabe Smyrnas vorschlagen. Die Türkei lehnt diesen Vorschlag ab. Darauf bereitet Griechenland einen neuen Angriff vor. Reichlich mit englischen Waffen versehen, führt es seine erste Offensive mit so großem Erfolge, dass die griechischen Truppen fast bis Ankara vorrücken, während die türkische Armee ins Innere des Landes zurückweicht. Mit Mühe gelang es den Türken diesen Angriff abzuschlagen. Nun begannen die Griechen einen zweiten Angriff vorzubereiten. Da wendet sich das Geschick. Die türkische Armee ergreift die Initiative und geht nun ihrerseits zur Offensive über, die die Zertrümmerung der griechischen Armee herbeiführt.

Der militärische Sieg der Türkei stellt sie unmittelbar vor die politische Hauptfrage, die Frage der Existenz der Türkei als Großmacht. Griechenland, Englands Vasall, wurde besiegt, England selbst aber blieb unbesiegt. Als kürzlich die Frage aufgeworfen wurde, ob wohl Kemal Pascha den Versuch machen werde, die Meerengen zu forcieren, um auf Thrakien zu marschieren, hatte man es einerseits mit einer aktuellen militärischen, andererseits mit der politischen Frage, ob die Türkei jetzt einen neuen Krieg gegen England zu führen in der Lage sei, zu tun. Vom militärisch-technischen Standpunkte aus war eine Eroberung der Meerengen durchaus möglich. Englands Kräfte an der asiatischen Küste der Dardanellen waren gering (insgesamt nur 8000 Mann); zudem waren sie in Tschanak von türkischen Truppen eingeschlossen. Kein Zweifel, wollte die Türkei zu kriegerischen Aktionen gegen England übergehen, so würde es diese Truppen gefangen nehmen oder ins Meer werfen. Das Kämpfen und Manövrieren in den Meerengen würde der englischen Flotte große Schwierigkeiten bereiten. Die Erfahrung des Weltkrieges lehrt, dass es der Flotte überhaupt schwer fällt, gegen Küstenartillerie anzukämpfen. Die Türkei verrügt heute auch über eine erhebliche Anzahl französischer und italienischer Flugzeuge, die es ihr ermöglichen würden, die englische Flotte auch von oben herab anzugreifen. Indessen lösen Erwägungen solcher Art die Frage nur, sofern es sich um militärisch-technische Dinge handelt. Demgegenüber scheint die Türkei die Frage nicht bloß statisch, sondern auch dynamisch erfasst zu haben. Sie sagte sich: Kann England im gegenwärtigen Augenblick auch keinen Gegenschlag führen, so unterliegt es doch nicht dem mindesten Zweifel, dass nach Verlauf einer gewissen Zeit der englische Imperialismus die kriegerischen Operationen mit Kräften wird beginnen können, die die Kräfte der Türkei übertreffen werden. Die Opposition gewisser Kreise des englischen Liberalismus gegen Lloyd Georges Politik der Drohung mit dem Kriege, wie sie in dessen Telegramm vom 16. September und in der dem englischen militärischen Kommissar Sir Harington gegebenen Instruktion, der Türkei ein Ultimatum vorzulegen, zum Ausdruck kam, repräsentiert keine reale Macht. Gewiss sind die englischen Arbeitenmassen und die englische Bourgeoisie sehr kriegsmüde, sodass, käme es über einen neuen Krieg zur Abstimmung, Lloyd George heute keinen neuen Krieg zu führen vermöchte. Doch Lloyd George ist nur in Worten ein großer Demokrat, hat er doch in den ersten Tagen der Krise, ohne das Parlament zu befragen oder einzuberufen, für den Nahen Osten zweihundert Millionen Goldrubel ausgegeben. Das Haupt der menschewistischen englischen Arbeiterpartei, Ramsay Macdonald, schreibt im ersten Heft der neuen Zeitschrift seiner Partei ”New Leader” tränenerfüllten Auges, dass, wenn Lenin die Konstituante auseinander jagte, Lloyd George höflicher verfahre, indem er das englische Parlament als überhaupt nicht existierend betrachte. Würde jedoch England einen Krieg beginnen, so würde angesichts eines solchen Ereignisses die englische Bourgeoisie sich selbstverständlich auf die Seite der Regierung schlagen, nicht nur, weil erhebliche Staatsinteressen der Bourgeoisie auf dem Spiele ständen, sondern auch, weil das Klassenbewusstsein der englischen Bourgeoisie so groß ist, dass sie ihre Fraktionsinteressen den Klassen- und Staatsinteressen unterordnet.

Der Kampf um die Meerengen ist infolge seiner Jahrhunderte umfassenden Geschichte romantisch geworden. Zwar haben die Meerengen seit dem Durchstich des Suezkanals, der Konstantinopel seines Charakters als Handelszentrum Südwestasiens beraubte, wesentlich an Bedeutung verloren, ihre Bedeutung für die Gestaltung künftiger Beziehungen Englands zu Russland und der Türkei dagegen ist auch heute noch eine enorme. England kann gegen Russland keinen Landkrieg führen, Russland dagegen, als Englands Nachbar in Asien, und ein von ihm mehr räumlich, als durch organisierte Kraft getrennter Staat, vermag England sehr wohl zu bedrohen. Russland ist Englands Nachbar in Indien, das von Russland nur durch die dünne Afghanistaner Scheidewand getrennt ist. Russland ist aber auch Englands Nachbar über Persien hinweg, wohin es viel leichter als England Landstreitkräfte werfen kann. Im Falle eines mittelasiatischen Krieges zwischen England und Russland ist Russland durch ein völlig gesichertes Hinterland gedeckt, was für die Kriegsoperationen entscheidendes Gewicht besitzt, während England dauernd mit einer nationalrevolutionären Bewegung der Volksmassen in Indien und Persien wird rechnen müssen und in eine Lage geraten wird, die es zwingen wird, gegen zwei Fronten zu kämpfen. Daraus folgt, dass für England die Möglichkeit, gegen Russland gerade die Kraft zu verwenden, in der es Russland weit überlegen ist, also die Flotte, eine ausschlaggebende Bedeutung besitzt. Das Meerengenproblem besteht für England in der Frage nach der Möglichkeit Russland vom Süden her zu blockieren. Der Besitz der Dardanellen entscheidet auch darüber, ob England die Türkei dauernd unter Drohung mit einem Kriege werde halten können. Wer die Meerengen besitzt, besitzt damit auch das stärkste Mittel zur Ausübung eines Druckes auf die zukünftige Türkei. England hat mit der Türkei noch keinen Frieden geschlossen. England weiß ausgezeichnet, was es von der Türkei fordern wird, und weiß, dass die Erlangung eines solchen Friedens keine leichte Sache ist, verzichtet es doch gegenüber der Türkei nicht auf die Forderung der Kapitulationen und der Finanzkontrolle. Hatte die Türkei schon vor dem Kriege sich dieser Forderung widersetzt und unmittelbar nach der Kriegserklärung das Regime der Kapitulationen beseitigt, so kann die heute von nationalem Enthusiasmus erfasste, siegreiche Türkei sich noch weniger mit einem Kapitulationsregime befreunden. Auch das Verlangen einer Finanzkontrolle über die Türkei, als Kompensation für die Gewährung eines Kredits, wird auf einen nicht minder harten Widerstand stoßen, hat doch die Türkei in ihren Händen Reichtümer, die ihr auch ohne Finanzkontrolle Kredit verschaffen können. In erster Linie besitzt sie Naphtha, dessen enorme Bedeutung eigentlich erst mit dem Weltkriege, fast könnte man sagen, entdeckt wurde. Und behielte England selbst die Meerengen, so wäre es seines Besitzes doch nur unter der Bedingung sicher, dass die türkische Armee auf ein Minimum reduziert würde. Die Erfahrung des Weltkrieges hat bewiesen, dass die englische Flotte schwer gegen ein Landheer kämpfen kann. Aviationsstützpunkte, mögen sie auch im Landesinnern gelegen sein, bleiben ein machtvolles Druckmittel gegen sie. Daher muss sich die Türkei darauf gefasst machen, dass England bei den Friedensverhandlungen die Forderung nach einer starken Verminderung der türkischen Armee erhebt. Diese Forderung hätte für England nicht nur im Zusammenhange mit der Meerengenfrage große Bedeutung. Armenien, das England zu seinem Vasallen und zu einem den englischen Besitz in Mesopotamien schützenden Vorposten zu machen gedachte, befindet sich heute einesteils in den Händen der Sowjets, anderenteils der Türkei. England kann Mesopotamien nur vom persischen Meerbusen aus halten, wo trotz englischer Bestechungsarbeit die eingeborenen Stämme antienglisch gestimmt sind. Somit bedeutet eine Verminderung der türkischen Armee die Verminderung der dem englischen Naphtha drohenden Gefahren.

Der Besitz der Meerengen ist für England nicht nur gegenüber Russland und der Türkei, sondern auch Frankreich und Amerika gegenüber wichtig. Als Frankreich 1920 auf Grund des geheimen Abkommens von San Remo seine Naphthapositionen an England abgetreten hatte, eröffnete Amerika eine entschiedene Kampagne dagegen. Die Naphthaausbeute der Vereinigten Staaten Nordamerikas beträgt ungefähr 70 % der Weltausbeute, dafür übersteigt aber der Verbrauch Amerikas an Naphtha den Naphthakonsum aller übrigen Länder der Welt zusammen genommen. Die ökonomische Entwicklung der amerikanischen Automobilindustrie und die steigende Zunahme der Verwendungsmöglichkeiten des Dieselmotors steigert den Naphthaverbrauch ins Riesenhafte. Die amerikanische Regierung verfolgt mit ihrer Politik nicht Augenblicksinteressen, sondern Interessen einer weiteren Zukunft. Nach dem Abkommen von San Remo unterwarf es seine Naphthaquellen einer Prüfung, bei der sich ergab, dass ihr Naphtha nur für 17 Jahre ausreicht, nach Ablauf welcher Frist ihre eigenen Vorräte erschöpft sein werden. Die englische Regierung, die Hand in Hand mit dem englischen Naphthasyndikat ”Royal Dutch Shell” arbeitet, hat nicht nur das Naphtha von Mossul, sondern auch das Naphtha Persiens an sich gerissen, außerdem sich auch noch die Ausbeutung der Naphthagebiete aller französischen Kolonien, Madagaskars wie der übrigen, durch Shell gesichert. Mehr noch. Das Abkommen mit der Royal Dutch machte England fast zum Monopolinhaber des Naphthas der holländischen Inseln, der reichen Naphthalager Dschambis. Daher das Geschrei der amerikanischen Regierung, das Naphtha des ganzen Erdballes gerate in englische Hände und mache England zum Beherrscher des Naphthamarktes. Die amerikanische Regierung hat den Kampf gegen das drohende englische Monopol begonnen. Bisher spielte sich dieser Kampf im Rahmen diplomatischer Verhandlungen ab, bei denen Amerika unter Anwendung verschiedener Druckmittel England zu veranlassen suchte, den Vereinigten Staaten die Möglichkeit der Ausbeutung der Naphthalager in den Kolonien Englands, Hollands und Frankreichs zu eröffnen. Da es ein englisch-amerikanisches Abkommen noch nicht gibt und der Sieg Kemal Paschas den Vertrag von San Remo in Frage stellt, haben Amerika und Frankreich allen Anlass, die Frage der Naphthaaufteilung erneut aufzuwerfen. Selbstverständlich wird der Ausgang der Verhandlungen wesentlich davon abhängen, ob England imstande sein wird, Konstantinopel mit Hilfe der Geschütze seiner Kriegsflotte in Schach zu halten.

Der politische Knoten im Nahen Osten bleibt also auch weiter geschützt. Bisher spottete er jedem Lösungsversuch, mochte sich nun seiner die Feder des Diplomaten oder das Schwert des Generals angenommen haben.

Die Lösung der Frage des Nahen Ostens zieht sich hinaus. Die Krise wird ihren schleppenden Charakter beibehalten, nicht nur, weil sie von einem versteckten Kampfe der Verbündeten untereinander, die bei den diplomatischen Verhandlungen mit der Türkei nach außen hin eine Einheitsfront vorspiegeln, in der Tat aber einander bekämpfen werden, begleitet sein wird, sondern auch vor allein deshalb, weil deren Lösung eine Berücksichtigung der Interessen Sowjetrusslands erheischt. Während der jetzigen Krise hat sich Sowjetrussland jedes Säbelrasselns, jeder Drohung der sofortigen Verteidigung seiner Interessen in den Meerengen mit bewaffneter Hand enthalten. Es konnte eine vollkommen gelassene Haltung bewahren und sich auf eine diplomatische Verteidigung seiner Interessen beschränken, da die Logik der gesamten Verhältnisse für Sowjetrussland spricht. Alle ohne Sowjetrusslands Zustimmung abgeschlossenen Verträge erlauben es ihm, die strittigen Fragen dann aufzuwerfen, wann es ihm passt und es dazu in der Lage ist. Im Augenblick der Verschärfung der europäischen und asiatischen Krise vermag es dann diese Fragen in kategorischer Form aufzuwerfen. Wenn die unter Laien auf militärischem Gebiete infolge oberflächlicher Einschätzung der Erfahrungen des Weltkrieges viel verbreitete Auffassung, die Großkampfschiffe hätten heute jeden Gefechtswert eingebüsst, auch irrig ist, so unterliegt es andererseits doch keinem Zweifel, dass auf einem so beschränkten Operationsgebiete wie das Schwarze Meer U-Boote und Flugzeuge entscheidende Bedeutung erlangen. Trotz seiner großen Armut vermag nun aber Russland sich gerade mit diesen Verteidigungsmitteln sehr wohl zu versorgen. Wie beim Elektrifizierungsproblem haben auch in dieser Frage die jungen Länder vor den alten einen Vorsprung. Länder, in denen in Eisenbahnen mit Dampfantrieb große Kapitalien investiert sind, können sich nur schwer zur Elektrifizierung der Eisenbahnen entschließen, da. die Einführung der Elektrizität der Vernichtung eines enormen, noch nicht amortisierten Kapitals gleichkäme. In Ländern dagegen, die über ein noch schwach entwickeltes Dampfeisenbahnnetz verfügen, fällt für die Elektrifizierung der Kampf gegen den Widerstand rückständiger Interessen weg. Ebenso sind auch die Länder, die auf den Bau einer Dreadnoughtflotte Milliarden verwandt haben, heute Gegner eines Ausbaues der U-Boot- und Luftflotte. Man will eben alte Kampfmittel, in denen ungeheure Kapitalien angelegt sind, nicht einfach zum alten Eisen werfen. Daher im Besonderen die ablehnende Haltung Englands gegenüber einer Verstärkung seiner U-Boot- und Luftflotte. Auf dem Gebiete der Flugtechnik hat es auf das Championat zu Gunsten Frankreichs verzichtet und sucht das Wachstum der französischen Unterseebootsflotte aufzuhalten. Alle kapitalistisch noch jungen Länder können ungeachtet ihrer Armut gerade dem Ausbau der U-Boot- und Fliegerwaffe ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Sowjetrussland ist allerdings zur Zeit noch nicht in der Lage, zu behaupten, dass es zur Verteidigung der Interessen Russlands das Fundament für den Bau einer neuen Flotte schon faktisch lege. Dafür kann es aber etwas anderes behaupten, etwas, was jeder zu würdigen wissen wird, der den Weltkrieg noch nicht vergessen hat. Russland vermag den Grund zur Bildung einer solchen Flotte politisch zu legen. Werfen wir einen Rückblick auf die Geschichte der russischen Flotte, so konstatieren wir, dass sie, wenn sie auch keine Luftflotte war, so doch in der Luft hing, weil sie lediglich ein Spielzeug der Zarendynastie war. Trotz der auf den Ausbau der russischen Flotte nach dem russisch-japanischen Kriege verwandten Riesenarbeit, vermochten sich die Volksmassen Russlands für sie nicht zu erwärmen. Während in England, tatsächlich, selbst ein Bergknappe auf ”seine” Flotte stolz ist, war in Russland keinerlei Interesse für die Flotte vorhanden. Das erscheint ohne weiteres verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass einem Bauern des Gouvernements Pensa, das Erdöl von Baku nicht bekannter war, als einem Bauern des Gouvernements Tambow oder der Ukraine die turkestanische Baumwolle. Bürgerkrieg und wirtschaftlicher Ruin haben die Volksmassen Russlands denken gelehrt, sodass sie heute begreifen, dass der Verlust Bakus, als Fundament seiner Naphthaindustrie, und der Verlust Turkestans, als Fundament seiner Textilindustrie, Russland heute der Gefahr einer Versklavung durch die kapitalistischen Mächte aussetzen würde. Daher die Energie der Roten Soldaten in der Verteidigung Turkestans und in der Verteidigung Bakus. Die proletarische Revolution hat in den Arbeiter- und Bauernmassen staatsbürgerliches Selbstbewusstsein geweckt. Sie hat, indem sie das Land fünf Jahre hindurch verteidigte, durch das Schwert den es umgebenden eisernen Ring in Stücke schlagen ließ, bewiesen, dass sie jenes Schwert der Nation ist, das ihre Zukunft verteidigt und auch fürderhin verteidigen wird. Das Recht auf diesen Glauben gibt ihr das Bewusstsein, dass der Kampf Sowjetrusslands um die Erhöhung und Festigung seines internationalen Einflusses kein Kampf ist um nationale Vorrechte, sondern ein Kampf um die Erhaltung des ersten einer siegreichen Revolution entsprungenen Staates, von dessen Machtfülle die Beschleunigung der Befreiung des Proletariats aller übrigen Länder, die Befreiung der Menschheit abhängt. Die Tatsache, dass der kommunistische Jugendverband, die Organisation der heranwachsenden neuen Generation, die das Werk der Oktoberrevolution zu vollenden, den Kampf um den Wiederaufbau zu leiten und die Entwicklung Sowjetrusslands zu fördern haben wird, zum Chef der Flotte ernannt wird, beweist, dass Sowjetrussland gewillt ist, durch die Volksmassen selbst sich die Quellen zu erschließen, deren es bedarf, nicht nur um die interventionistischen Gelüste der imperialistischen Staaten im Zaume zu halten, sondern auch jeden Versuch zu verhindern, Lebensfragen der künftigen Entwicklung Russlands ohne Russland oder wider die Interessen Russlands zu entscheiden.

Die Zuversicht, dass die Logik der Entwicklung Sowjetrussland günstig ist, und das wachsende Klassenbewusstsein seiner Volksmassen erfüllt es mit der festen Überzeugung, dass eine ohne die Sowjetregierung oder gegen deren Interessen getroffene Entscheidung der Frage des Nahen Ostens von Sowjetrussland revidiert werden wird. Die Krise im Nahen Osten mag für die Dauer einiger Monate mit irgendeinem Kompromiss enden, im Grunde wird sie eine ungelöste Krise auf Jahre hinaus bleiben und zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Entwicklung des Selbstbewusstseins der Volksmassen des Nahen Orients werden. Wenn heute der türkische Bauer, ein neues Geschütz erblickend, „Moskau” ausruft, so heißt das: der türkische Bauer fühlt, dass das russische Volk, vor wenigen Jahren noch Feind der Türken, ihm heute zu Hilfe eilt. Das ist ein gutes Omen. Es legt den Grundstein für das zukünftige Bündnis der türkischen Volksmassen mit den Bauern- und Arbeitermassen Russlands. Wenn die Pygmäen des internationalen Menschewismus uns erklären, die Türkei würde Sowjetrussland verschachern, sodass wir die Geprellten sein würden, so kann Sowjetrussland ihnen darauf gelassen erwidern, dass es sich nicht dieser oder jener nationalistischen Partei, sondern dem Fluss geschichtlichen Geschehens anvertraue, das angesichts der Drohungen des Imperialismus die Volksmassen aller Länder vereinige.

Wie auch die Krise des Nahen Ostens ausgehen mag, eines ist klar: der Sèvres-Vertrag ist durch die türkischen Kanonen über den Haufen geschossen worden. Die Volksmassen des Nahen Ostens, die in den Augen der Entente nicht bloß eine quantité négligeable, sondern schlechthin den Abschaum der Menschheit darstellen, haben ihre Kolonnen gegen nichts Geringeres als Versailles in Marsch gesetzt. Heute beginnen sie eine gewaltige Rolle zu spielen. Unter den Diplomaten, die den Lauf der geschichtlichen Entwicklung im Orient auf einer geheimen Konferenz meistern wollten, herrscht größte Uneinigkeit. England erlebte eine der tiefsten Demütigungen seiner Geschichte, als es nach der Niederlage seines griechischen Vasallen nicht wagen durfte, ihm mit Waffen beizustehen und, nachdem es über die Türkei das Todesurteil verhängt hatte, gezwungen war, ihr nun zu schmeicheln, ja, ihr sogar einen Platz in dem ehrenwerten Völkerbund anzubieten. Diese Tatsache ist der unwiderleglichste Beweis der Liquidation des Sèvres-Vertrages. Auf tiefer Entwicklungsstufe stehende Volksmassen können nur solange in Sklaverei gehalten werden, als die Sklavenhalter untereinander einig sind, nicht aber, wenn diese selbst untereinander Krieg führen. Sehen Sklaven, dass ihre Peiniger zu zittern anfangen, so werden sie aufständisch. So ist auch der Osten, der heute den englischen Imperialismus erzittern sieht, nicht mehr der Osten des Friedensvertrages von Sèvres. Der türkische Sieg findet seinen Widerhall in Indien, findet ihn in der ganzen mohammedanischen Welt. Dies Echo ist der beste Beweis dafür, dass es sich hier um einen Akt in der Entwicklung der Weltrevolution handelt, mögen die Organisatoren des Sieges auch keine Revolutionäre im modernen Sinne des Wortes sein. Als 1905 das zaristische Russland von dem jungen, kaum erstarkten japanischen Imperialismus im Fernen Osten aufs Haupt geschlagen wurde, gerieten alle Völker der gelben Rasse, die zu jener Zeit als Menschendünger gegolten, während sie beanspruchten, einen Teil der Menschheit zu repräsentieren, in enthusiastische Wallung. Ihr Jubel entsprang der Tatsache, dass der Sieg des militaristischen Japans über die Zarenregierung ein Sieg der Gelben über die weißen Herrenmenschen war. Er wurde zum Ausgangspunkt der revolutionären Bewegung in China, wo nach dem Siege Japans ein 300 Millionenvolk sich sagte: „Auch ich kann siegen!” Er gab auch der revolutionären Bewegung Indiens, wo Hunderte von Millionen Menschen es zum ersten Male wagten, gegen England zu rebellieren, neue Impulse. Er löste jenen revolutionären Wogengang aus, dessen einzelne Wellen noch fortrollen und, noch bevor sie die Küste erreicht, sich durch neue Wellen verstärken. Dieselben Folgen wird auch der Sieg der Türken haben. Darum blicken wir, als proletarische Revolutionäre die ihr Schiff ins Fahrwasser der Revolution gesteuert haben und heute sehen, wie die in den Kampf mit dem Imperialismus eingetretenen Bauernmassen des Orients dem gleichen Fahrwasser zutreiben, mit dem Gefühle aufrichtigster Freude und Genugtuung auf den Sieg der Türken.

V. Der Kampf um den Stillen Ozean.

Die Liquidation des Versailler Friedensvertrages im Fernen Osten setzte im verflossenen Jahre mit der Washingtoner Konferenz ein. Die verborgenen, treibenden Kräfte dieser Konferenz wurden von dem gegenseitigen Verhältnis der ökonomischen und politischen Interessen zu den militärischen Erfolgsaussichten im Fernen Osten bestimmt. Zum besseren Verständnis der sich zur Zeit im Fernen Osten abspielenden Begebenheiten ist erforderlich, dass man sich das vor dem Kriege bestandene gegenseitige Kräfteverhältnis wenigstens in seinen Hauptzügen vergegenwärtigt, ebenso die Gestaltung der Machtverhältnisse während des Krieges in jenen Gebieten der Erde, wo sich die wichtigsten Zukunftsinteressen des Weltkapitalismus konzentrieren und das Zentrum für die Entstehung jener großen Konflikte und Erschütterungen liegt, die in der nächsten Zukunft nicht nur das kapitalistische, sondern möglicherweise auch das sozialistische Europa stärkeren Belastungsproben aussetzen werden. Schon 1851, nach der Entdeckung der Goldfelder Kaliforniens, schrieb Marx, das Entwicklungszentrum der Menschheit sei nun an den Stillen Ozean verlegt. Es ist charakteristisch, dass der hervorragende russische Sinologe Wassiljew, der von Marx‘ Existenz nichts wusste, in seinem Werke ”Die Entdeckung Chinas” gleichzeitig dieselben Perspektiven entwickelte. Damals waren es in der Tat lediglich Perspektiven, die indessen ausreichend begründet waren, da. sich schon damals voraussehen ließ, dass eine zunehmende ökonomische Entwicklung der Westküste Nordamerikas, also Kaliforniens, wie Chinas, die Bedeutung des Stillen Ozeans würde außerordentlich erhöhen müssen. In den seitdem verflossenen fünfzig Jahren schien die Geschichte der Menschheit an das alte, um den Atlantischen Ozean gelegte Geleise gebunden. England blieb unveränderlich Europas kapitalistische Hauptmacht. Dennoch konnte kein Zweifel darüber herrschen, das die von Marx und Wassiljew entwickelten Perspektiven mit jedem Tage ihrer Verwirklichung näher rückten.

Der Übergang zum Kapitalismus des alten, feudalen Japan, eines Landes, das die historische Notwendigkeit begriff, die Förderung der kapitalistischen Entwicklung des Fernen Ostens in seine eigenen Hände zu nehmen, ließ das heutige Japan entstehen. Schon im 16. Jahrhundert unternahm Japan den Versuch, sich Chinas zu bemächtigen, wohl wissend, dass dieses Land Japans Zukunft berge. Der Feldzug des großen Hidejoshi im 16. Jahrhundert darf in der Geschichte der Menschheit einen unvergleichlich bedeutenderen Platz beanspruchen als alle Feldzüge Xerxes‘ gegen Griechenland zusammen genommen. Da wir jedoch gewohnt sind, die Geschichte der Menschheit immer nur als eine Geschichte der weißen Rasse zu betrachten, sind uns diese tief einschneidenden Entwicklungsprozesse im Leben der Völker des indischen und Stillen Ozeans entgangen. Erst jetzt beginnen wir, uns ihrer als wesentlicher Bestandteile unseres Wissens über die Entwicklung dieser Völker bewusst zu werden. Das moderne, kapitalistische Japan sah ein, dass es sich nur unter der Bedingung weiter entwickeln kann, wenn es sich der Elemente versichert, die die Hauptquelle kapitalistischen Fortschrittes darstellen. Es begriff, dass es ohne Kohle und Eisen dauernd von den übrigen kapitalistischen Ländern abhängig bleiben würde. So sehen wir denn zu Beginn der achtziger Jahre Japan seine Blicke auf China richten, da es trotz seiner ganzen kapitalistischen Entwicklung äußerst arm geblieben ist, denn es entbehrt gerade aller ausschlaggebenden Faktoren moderner kapitalistischer Entwicklung. Trotz eines Riesenfortschrittes in der Landwirtschaft gebricht es Japan am Hauptnahrungsmittel der Volksmassen, an Reis. Gleichen Mangel leidet es an Eisen, Kohle, Naphtha und Baumwolle. 1894 siegt Japan über das militärisch schwache China. Doch der ihm von Frankreich, Russland und Deutschland aufgezwungene Friede von Schimonoseki wirft es wieder zurück und raubt ihm die Früchte seines Sieges. Die auf Jahrzehnte eingestellte Politik Japans führt ihre Offensive gleichzeitig in all den Richtungen, die als Ganzes genommen, dem japanischen Imperialismus schließlichen Sieg verheißen. Japan will China annektieren, um mit Hilfe chinesischer Arbeiter in den Gruben Schantungs und Tangtses Kohle und Eisen zu gewinnen. Gleichzeitig streckt es seine Hand nach dem Süden, den Inseln des Stillen Ozeans, aus, da die ständig zunehmende Bevölkerung Japans, klimatischer Verhältnisse wegen, weder in China, noch in Sibirien unterkommen kann. Dieses Vorrücken Japans in der Richtung des Stillen Ozeans besitzt überdies einen strategischen Charakter, da die Inseln des Stillen Ozeans einen Stützpunkt zur Verteidigung Chinas Amerika und England gegenüber abgeben. Auf sie gestützt, vermag Japan China zu erobern, es von Amerika zu trennen und sich seiner zu versichern. Der russisch-japanische Krieg brachte Japan Liau-tung und die Süd-Mandschurei ein, sicherte ihm Korea und eröffnete ihm dadurch die Möglichkeit, die Annexion Nordchinas vorzubereiten. Süd-Sachalin, das Japan durch den Frieden von Portsmouth zufiel, bietet Japan einen Stützpunkt, von dem aus Wladiwostok, wenn es nicht in eine moderne, erstklassige Festung verwandelt wird, leicht die Beute japanischen Expansionsdranges werden kann. Diese ersten Schritte der japanischen auswärtigen Politik waren dank der Unterstützung, die diese neue imperialistische Macht von England erhielt, von Erfolg gekrönt. Das Ringen Englands mit Russland um Mittelasien und die Bedrohung Indiens durch Russland drängten die englische Regierung immer mehr dazu, mit Japan zu einem Einvernehmen zu gelangen, sodass, als im Jahre 1902 der englisch-japanische Vertrag geschlossen wurde, Japan damit in die Familie der kapitalistischen Mächte als anerkannte imperialistische Großmacht eintrat. Das sicherte Japan nicht nur eine finanzielle Unterstützung seitens des englischen Kapitalismus, sondern auch eine technische seitens Armstrong und Vickers, wodurch der Sieg über Russland ermöglicht wurde. Nachdem die russische Gefahr vorüber war und die englische Politik sich Deutschland gegenübergestellt sah, bekam der 1912 erneuerte japanische Vertrag ein ganz neues Gesicht. Seine Spitze nun nicht mehr gegen Russland richtend, von dem Japan mit Ausnahme der Kontribution fast alles erhalten, was es gefordert, ließ der Vertrag Japan nunmehr eine Annexion Kiautschaus, Deutschlands Kolonie in China, erhoffen. Das bedeutete, dass, nachdem Japan sich das japanische Meer gesichert und es zu einem mare clausum gemacht hatte, ihm nun die Aussicht auf Beherrschung auch des Gelben Meeres, und damit der Eintrittspforte Pekings, winkte. Hielt es den Schandungwechsel in der Hand, so war auch die Hoffnung auf Beherrschung der chinesischen Hauptstadt keine Utopie mehr. Japan, das sich mit Vorsicht und Bedacht am Weltkriege beteiligte, verzichtet unmittelbar nach der unter belanglosen Verlusten durchgeführten Eroberung Kiautschaus, auf jedes kriegerische Abenteuer. Es spart seine Kräfte für künftige Zusammenstöße. Es widersetzt sich mit ganzer Kraft der Teilnahme Chinas am Weltkriege an der Seite der Verbündeten, da es verhindern will, dass China aus einem Objekte seiner Annexionspolitik zum gleichberechtigten Verbündeten werde. 1916 legt Japan China die bekannten 21 Forderungen vor, laut welchen Japan sämtliche großen Kohlen- und Eisengruben im Zentrum Chinas, die Finanzkontrolle, die Oberaufsicht über die Heeresorganisation und eine ganze Reihe kleinerer Eisenbahnlinien erhalten sollte. Betrachten wir eine Karte Chinas, so erweist sich, dass die geforderten Eisenbahnlinien die japanische Armee instand setzen würden, China von Norden und Westen her einzuschließen, japanische Truppen aus der Mandschurei und Schandung nach dem Süden, ins Landesinnere, zu werfen und sich so all seiner Reichtumsquellen zu bemächtigen. Die japanischen 21 Forderungen stellen das Maximalprogramm Japans für den Fernen Osten dar, ein Programm der Verwandlung Chinas in eine japanische Kolonie. Als Hauptgegner dieses Programms trat Amerika auf, das, vorerst noch mit diplomatischen Mitteln, Japans Aspirationen aufs entschiedenste bekämpft.

Amerika erkennt, dass eine ökonomische Annexion Chinas durch Japan d. h. die Übergabe eines ganzen Landes, das Kohle, Eisen, Naphtha, Reis, Brot und Baumwolle und die billigste Arbeitskraft der Welt besitzt, an Japan, die Konzentration in japanischer Hand so mächtiger Quellen ökonomischer Entwicklung bedeuten würde, dass Japan, bei gleichzeitiger Unterstützung durch ausländisches Kapital, im Verlaufe der nächsten fünfzig Jahre zur politisch entscheidenden Weltmacht würde. Während des Krieges vermochte Amerika gegen die Annexionsbestrebungen Japans nur diplomatisch vorzugehen. Solange das europäische Gemetzel andauerte und für Amerika die Möglichkeit bestehen blieb, ebenfalls in den Krieg hineingezogen zu werden, wich es einem Zweikampf mit Japan aus, indem es sich auf eine systematische Sabotage Japans beschränkte, dabei aber gleichzeitig mit ihm Abkommen, wie den Lansing-Ishti Vertrag, schließt, der Japans Sonderinteressen in China in Worten Rechnung trägt. Doch auch die japanischen Politiker waren nicht auf den Kopf gefallen und wussten, dass ein Sieg der Verbündeten und Amerikas die ganze auf die Annexion gerichtete Vorarbeit Japans in China mit einem Schlage zunichte machen könnte. In dem Augenblick, als Amerikas Eingreifen in den Krieg offensichtlich wurde, als klar wurde, dass es in Europa engagiert sein würde, versucht Japan, sich auf die Gegenseite zu schlagen und geheime Verhandlungen mit Deutschland einzuleiten.

Die Verhandlungen setzen 1916 ein und werden 1917 fortgesetzt. Zweck derselben war die Durchsetzung eines Separatfriedens Japans mit Deutschland einerseits, Russlands mit Deutschland andererseits, da Russland für Japan keine Gefahr darstellte. Die japanisch-deutsche Politik verfolgte das Ziel eines Bündnisses zwischen dem deutschen Kaiser, dem russischen Zaren und dem japanischen Mikado, eines Bündnisses dreier Staaten, deren Bürokratie und Adel im Verein mit den obersten Schichten der Bourgeoisie die Staatsgewalt beherrschen und deren Politik bestimmen. Wäre dieses Bündnis zustande gekommen, die gesamte Weltpolitik hätte ein ganz anderes Gepräge erhalten. Aber man zog die Verhandlungen zu sehr in die Länge. Japan ging einer Entscheidung aus dem Wege. Unterdessen erfolgte in Russland der Umsturz. Der Zarismus war beseitigt. Das Problem komplizierte sich. Wollte man auf der Verwirklichung des Programms bestehen, musste erst die russische Revolution niedergeworfen sein. Das zog die Verhandlungen noch mehr in die Länge, sodass, als endlich in Stockholm ein geheimer Präliminarvertrag, der in unserem Besitz ist, zustande gekommen war, ein Vertrag, der als Vorbedingung weiterer Verhandlungen die Zerschmetterung Sowjetrusslands durch die vereinigten Kräfte Japans und Deutschlands gefordert hatte, der deutsche Imperialismus schon zerschlagen am Boden lag, während Japan, imperialistisch gesehen, in eine katastrophale, lebhaft an die Geschichte des deutschen Imperialismus erinnernde Lage einer vollkommenen diplomatischen Isolierung geraten war. Während der Versailler Verhandlungen gelingt es Japan, die Verbündeten durch Drohungen und andere Druckmittel zu zwingen, China zur Seite zu schieben, chinesische Forderungen überhaupt nicht zur Diskussion zu stellen. Im Übrigen aber musste sich Japan mit Schandung und einer Reihe von Inseln im Stillen Ozean nördlich vom Äquator zufrieden geben.

Nach Abschluss des Versailler Friedens beginnt 1919 und setzt sich 1920 und 1921 fort die Arbeit der amerikanischen Diplomatie, die versucht, die Vorzugsstellung Japans im Fernen Osten zu liquidieren. Erst im Jahre 1916 begann Amerika mit dem Bau seiner mächtigen Flotte, die laut Programm bis zu den Jahren 1924 bis 1926 die englische Flotte schon überflügelt haben sollte. Dieses Flottenprogramms, für dessen Verwirklichung Amerika 3½ Milliarden Dollar verausgabte, bedient sich Amerika als seines Hauptdruckmittels gegen England. England ist Japans Verbündeter. Somit besteht die nächste Aufgabe Amerikas in der Zerstörung des englisch-japanischen Bündnisses, der Isolierung Japans. Inzwischen lassen die Vereinigten Staaten ein Schiff über das andere vom Stapel, während England einzusehen beginnt, dass die Geschichte verdammt kritisch wird. Da rückt Amerika mit dem Vorschlage heraus, nach Washington eine Konferenz zur Lösung der Frage der Rüstungseinschränkung einzuberufen. Der politische Sinn des amerikanischen Manövers lag auf der Hand. Amerika hätte seine Rüstungen ruhig fortsetzen können. Mag es ebenfalls seine finanziellen Schwierigkeiten haben, wir erwähnten sie schon, so verfügt es dessen ungeachtet über genügend Mittel, um der englischen Flotte den zweiten Platz anzuweisen. Dagegen erlaubt der Zustand der englischen Finanzen keine Erhöhung der Ausgaben für die Flotte. In der Tat baut England seit Kriegsende keine neuen Schiffe mehr. Darum wandte sich Amerika an England mit folgendem Vorschlag: Seid Ihr bereit, Japan zu isolieren, so verzichten wir auf die Verwirklichung unseres großen Flottenprogramms und erleichtern Euch so Eure Lage. Das Echo, das dieser Vorschlag in England fand, ist symptomatisch und illustriert am schärfsten den in England eingetretenen Stimmungswechsel. In einem Artikel vom 25. Juli 1921, unmittelbar nach Eintreffen der ersten Nachricht über die Washingtoner Konferenz, schreibt das führende Organ der englischen Handelsbourgeoisie, das Organ der City, der ”Economist”, voll erschütternder Melancholie: ”Jahrhunderte hindurch war Großbritannien die erste Seemacht der Welt, war ihm der Schutz aller Meere anvertraut. In Zukunft werden England, Amerika und Japan, statt sich gegenseitig zu bekriegen, ihre Seestreitkräfte vereinigen müssen, um den aufreibendsten und schrecklichsten aller Kriege, die langwierige Seeblockade, zu verhindern”. Weiter heißt es: ”Die Vereinigten Staaten sind gegenwärtig die reichste und daher potentiell mächtigste Großmacht der Welt. Wenn sie beschlossen haben, die größte Flotte der Welt zu besitzen, eine unsere an Stärke übertreffende, so kann sie daran nichts hindern. Würden wir so dumm sein, uns mit Amerika messen zu wollen, also gegen Amerika eine Flotte rüsten, so werden wir geschlagen werden”. England hat eingesehen, dass die Zeiten seiner Vorherrschaft zur See dahin sind. Wenn wir uns dessen erinnern, dass 1912, zwei Jahre vor Kriegsbeginn, als der englische Kriegsminister, Lord Haldane, nach Berlin kam, um mit Deutschland über eine beiderseitige Rüstungseinschränkung zu verhandeln, Deutschland England den Vorschlag machte, das Kräfteverhältnis so zu gestalten, dass auf je 16 englische Linienschiffe 10 deutsche kämen und England diesen Vorschlag ablehnte, weil es glaubte, sich dadurch ein zu schwaches Übergewicht zu sichern; wenn wir uns weiter dessen erinnern, dass England forderte, die Stärke der englischen Flotte müsse zum mindesten der der vereinigten Flotten zweier beliebiger Großmächte gleich sein, und heute konstatieren können, dass England nunmehr nicht einmal mit Amerika allein zu konkurrieren imstande ist, so tritt der in den letzten Jahren eingetretene Umschwung erst voll zu Tage.

Amerika machte England das Zugeständnis, seine Seestreitkräfte auf der Höhe der englischen zu halten. Es verzichtete auf den Bau neuer Linienschiffe, um Japan politisch zu isolieren. England ging darauf ein, verzichtete auf die Rolle des Beherrschers der Meere und willigte ein, sich mit einer Flotte zu begnügen, die an Stärke der amerikanischen gleichkäme. Es musste dem Drucke seiner wirtschaftlichen Nöte und der Forderung seiner Kolonien, die Amerikas antijapanische Politik billigen, weichen.

Nun taucht die Frage auf, warum Japan sich damit einverstanden erklärte, dass, bei einem Kräfteverhältnis zwischen England und Amerika von 5 : 5, seine Marine sich zur Marine jedes dieser beiden Länder wie 3 : 5 verhalte. Zur Lösung dieser Frage bedarf es der Kenntnis einerseits der inneren Lage Japans, andererseits des strategischen Kräfteverhältnisses auf dem Stillen Ozean.

Zuweilen werden die Schwierigkeiten der gegenwärtigen inneren Lage Japans als der Beginn einer sozialistischen Revolution aufgefasst. Diese Auffassung ist falsch. Die innere Lage Japans lässt sich heute am ehesten der Lage Englands vom Jahre 1842 vergleichen, als die alte Protektionspolitik der Großagrarier den Kampf zwischen der Handelsbourgeoisie und dem Adel um die Erniedrigung des Zolltarifs, die Herabsetzung der Preise auf Rohstoffe und Erzeugnisse des Massengebrauchs heraufbeschworen hatte. Der Kampf zwischen den Freihändlern, die die Interessen der Bourgeoisie vertraten, und den Großgrundbesitzern, die mit den höchsten Finanzkreisen verbunden waren, bildete den Hauptfaktor der sozialen Entwicklung Englands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diesem Kampfe parallel gingen Kämpfe der Farmer, der kleinen Landpächter, gegen die von den Landlords ihnen auferlegten Lasten. Gleichzeitig überflutete der Strom einer mächtigen Arbeiterbewegung, der Chartistenbewegung, das Land, die eine Erhebung der unter dem Zwangsarbeitsregime des englischen Frühkapitalismus gänzlich verelendeten Proletarier darstellte. Das heutige Japan nun zeigt in den Machtverhältnissen seiner Klassen eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Verhältnissen in England zur Chartistenzeit. Auch hier stehen sich zwei Hauptfronten gegenüber, die Front der mit den Finanzkönigen und der Offiziersclique verbundenen Feudalaristokratie, deren Führung die Partei der Sejukai innehat, und die der jungen Industrie- und Handelsbourgeoisie, die durch die Kensekai-Partei vertreten wird, nebst den kleinen Landpächtern, die sowohl unter dem Drucke eines in die Höhe getriebenen Pachtzinses, als auch der Teuerung und hoher Steuern zu leiden haben. Im Hintergrunde der Kämpfe dieser beiden Hauptlager sehen wir aber auch schon das Proletariat seine Glieder recken, wenn auch vorläufig noch in der Form einer unorganisierten revolutionären Arbeiterbewegung, die dafür aber immer weitere Schichten der werktätigen Massen erfasst. Beweist das alles, dass gegenwärtig in Japan, ähnlich wie in den 40er Jahren in England, die Bourgeoisie noch um den Besitz der Staatsgewalt kämpft, so besteht andererseits doch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Japan von heute und dem England der Jahre 1840-50. In England war damals die revolutionäre Arbeiterbewegung besiegt worden, weil die Entdeckung der Goldfelder Kaliforniens und die Entwicklung der englischen Kolonien dem industriellen Fortschritt Englands einen mächtigen Anstoß versetzten und gleichzeitig Auswanderungsmöglichkeiten schufen. Die machtvoll sich entwickelnde englische Industrie ermöglichte eine Erhöhung der Arbeitslöhne und Herabsetzung der Lebensmittelpreise in einem Masse, dass die englische Bourgeoisie die Arbeiterklasse Englands um fünfzig Jahre zurückschleudern und sie zu einer Klasse degradieren konnte, die für die Speiseabfälle der Bourgeoisie auf ihre historischen Aufgaben verzichtete. Demgegenüber befindet sich Japan in einer wesentlich anderen Lage, als die Metropole des Kapitalismus, England. Als auf dem Kontinente, in Deutschland, Frankreich und Belgien, die ökonomische Entwicklung einsetzte, war England schon im Besitze riesengroßer Kolonien, auf die gestützt es billig produzieren konnte. Umgekehrt besitzt Japan in Amerika und England Konkurrenten, die es an ökonomischer Macht um ein vielfaches übertreffen. Solange sich Japan in völliger Isolierung befindet, muss der japanische Imperialismus in erster Linie danach trachten, aus der Isolierung herauszukommen, und solange ihm das nicht gelungen, ist er auch nicht imstande, die Lage des japanischen Proletariats zu verbessern. Das aber führt unausweichlich zu einer Verschärfung des Kampfes der Bourgeoisie gegen das Proletariat. Behalten wir das im Auge, so werden wir die gegenwärtige Kampfphase des japanischen Proletariats bei einem Vergleich mit der Arbeiterbewegung Russlands nicht mit dem Jahre 1917, sondern 1903, in welchem die zerstreuten Kräfte der liberalen Bourgeoisie, der Semstwovertretungen, der späteren konstitutionell-demokratischen Partei u.s.w. sich gerade zu sammeln und zu wachsen begannen, und gleichzeitig eine Streikwelle die andere jagte (Rostow-Ereignisse) und die Bauern zu erwachen anfingen, parallelisieren. Die Existenz eines Parlaments und einer gewissen Pressefreiheit werden in Japan den Sammlungsprozess der revolutionären Kräfte beschleunigen. Will die herrschend Klasse Japans sich halten, und sie will es, so muss sie Zeit gewinnen. Will sie aber Zeit gewinnen, so muss sie den Volksmassen Zugeständnisse machen. Daraus erklärt sich Japans Bereitschaft, seine Rüstungen, die 52 % des japanischen Budgets verschlingen, einzudämmen, im Besonderen auch seine Truppen aus Sibirien zurückzuziehen. Aus gleichem Grunde sehen wir in letzter Zeit die japanische Regierung Versuche zur Bekämpfung der Teuerung und Befriedigung der Ansprüche der Bauern und Arbeiter unternehmen. Sie hofft auf diese Weise die Bourgeoisie zu isolieren. In derselben Zeit jedoch versucht sie, dieselbe Bourgeoisie durch Konzessionen seitens der Regierungspartei, der Sejukai, und Einsetzung einer ”parteilosen Regierung” mit Admiral Kato, der die Verhandlungen in Washington geführt hat, an der Spitze für sich zu gewinnen. Neben Momenten innerpolitischen Charakters waren für die Bereitwilligkeit der Regierung die Rüstungen einzuschränken, nicht minder schwerwiegende strategische Erwägungen ausschlaggebend.

Die die strategischen Fragen des Fernen Ostens behandelnde Literatur gibt diesen strategischen Erwägungen das nötige Relief. Die entsprechende Literatur ist umso wertvoller, als die Verfasser verschiedenen Nationen und Heeren angehören. Wir erwähnen: das Werk des englischen Marineschriftstellers Bywater über die strategischen Bedingungen eines Kampfes auf dem Stillen Ozean und die Entwicklung der Flotte Amerikas und Japans; das Buch des amerikanischen Marineoffiziers Knox, betitelt: „Das Verschwinden der amerikanischen Flotte”; endlich die interessanten Untersuchungen zweier früherer Offiziere der russischen Armee: des Generals Golowin, ehemaligen Stabsobersten der 8. Armee Koltschaks, und des Admirals Bubnow. Aus dem Studium genannter Werke ergibt sich: England und Amerika besitzen, was die Zahl ihrer Großkampfschiffe betrifft, über Japan ein starkes Übergewicht. Nun spielt aber im Seekriege die Entfernung der Kampfplätze einer Flotte von deren Stützpunkten eine hervorragende Rolle. Sämtliche besten japanischen Stützpunkte befinden sich von möglichen Treffstellen nicht mehr als 500-700 Seemeilen entfernt, sodass ein im Kampfe beschädigtes japanisches Schiff, ins Schlepptau genommen, binnen 1-2 Tagen im Dock sein kann. Japanische Schwimmdocks wären stets bei der Hand. Das versetzt Japan in die Lage, seine Flotte in einem Maße auszunutzen, die ihren faktischen Gefechtswert verdreifacht. Was Amerika betrifft, so stehen ihm überhaupt nur spärliche Stützpunkte zur Verfügung. Von den für einen Kampf auf dem Stillen Ozean wichtigsten in Betracht kommenden Stützpunkten liegt einer auf den Hawaiiinseln, somit 3350 Seemeilen von den Philippinen, dem zunächst gelegenen Kampfobjekt, entfernt. Letzteres liegt 1500 Seemeilen vom Schlachtplatz entfernt und kann gar nicht stark genug befestigt werden, da die geographischen Lokalverhältnisse den Bau eines größeren Hafens daselbst verbieten. Die amerikanische Flotte wird sich somit im Kriegsfalle in der ungünstigsten Lage befinden. Amerikanische, englische, wie russische Strategen sind sich darin einig, dass, bevor noch die amerikanische Flotte nach einer Kriegserklärung ausreichende Streitkräfte an einer der Seeschlacht günstigen Stelle konzentriert und sich hierzu mit den erforderlichen Mengen an Naphtha, Kohle u.s.w. ausgerüstet hat, was ca. einen Monat erfordern wird, die Philippinen von Japan schon am dritten Tage besetzt sein können. Zieht man die Möglichkeit gemeinsamer Operationen Englands und Amerikas gegen Japan in Betracht, so muss allerdings konstatiert werden, dass England über sehr starke Flottenstützpunkte verfügt, nämlich in Singapur und Hongkong, die möglichen Schlachtplätzen näher liegen als die amerikanischen, wenn auch weiter als die japanischen. Davon erweist sich der eine der beiden Stützpunkte, Hongkong, infolge der Möglichkeit einer Umgehung desselben zu Lande, von problematischem Wert. Das der wahre Grund für die vom militaristischen Japan mit Sun Yat-sen, dem Führer der revolutionären Partei Süd-Chinas, bestehenden Beziehungen. Japan sucht sich gegen England (Hongkong) der Unterstützung des Südens zu versichern. Als wirklich zuverlässiger Stützpunkt kann nur Singapur angesehen werden. Der Wert der englischen und amerikanischen Basen erfährt durch die wachsende Bedeutung der Flugzeuge und Unterseeboote einerseits, die zahlreichen kleinen Inseln, über die Japan verfügt, andererseits, eine wesentliche Einschränkung, da ohne weiteres ersichtlich, dass die japanische Flotte die amerikanische, noch ehe letztere an der Stelle der Entscheidungsschlacht eingetroffen, dauernd beunruhigen kann. Von diesen Betrachtungen ausgehend kann man zu der Ansicht gelangen, dass Japan zur See nicht besiegt werden könne. Die Zugänge zum Japanischen Meer vom Norden sind in den Händen der Japaner, der Zugang vom Süden seit dem Tage gesperrt, da Japan Port Arthur an sich riss. Und gelänge es auch der vereinigten englischen und amerikanischen Flotte, ins Gelbe Meer einzudringen, die Forcierung des Durchganges zum Japanischen Meere dürfte der Flotte schwerer fallen als eine Forcierung der Dardanellen. Doch Japan hat kein Eisen, hat keine Kohle, hat kein Naphtha und besitzt nur ungenügende Mengen Reis, sodass ein mit England verbündetes Amerika Japan von der Hochsee aus blockieren könnte. In diesem Falle hängt das Schicksal des japanischen Imperialismus davon ab, ob es Japan gelingt, die erforderlichen Lebensmittel und Rohstoffe auf dem Landwege von China oder Russland her zu erhalten.

In diesem Punkte hat sich die japanische Politik in eine Sackgasse verrannt. Japans Raubpolitik, die 21 Forderungen, haben in China gegen Japan einen Hass wachgerufen, der alle lebendigen Elemente der erwachenden chinesischen Nation erfüllt. Ebenso hat die japanische Annexionspolitik in Sibirien auch das russische Volk gegen sich angebracht, sodass die japanische Politik heute am historischen Scheidewege steht: entweder verwirklicht die japanische Bourgeoisie, nach ihrem Siege über die Agrarier und Militaristen, eine liberale imperialistische Politik, oder aber Japan wird zerschmettert werden, wie Deutschland zerschmettert wurde. Deutschlands Niederlage im Weltkriege hatte zahlreiche Ursachen. Doch die Hauptursache des Sieges der Verbündeten lag in der Unfähigkeit der alten Junker- und Agrarierkaste Deutschlands, die politischen und psychologischen Vorbedingungen für einen Sieg des deutschen Imperialismus zu schaffen. Durchblättern wir die Erinnerungen des Admirals Tirpitz, eines der klügsten deutschen Politiker, so lesen wir, wie er unmittelbar nach Kriegsbeginn, in seinem Notizbuche schreibt: Ungeachtet einer erstklassigen Armee und Flotte wird Deutschland niedergeworfen werden, denn es fehlt ihm eine politische Führung! Die feudale preußische Clique und die von ihr assimilierten bürgerlichen Elemente waren unfähig, die Politik des Landes zu leiten. Sie gestatteten die politische Isolierung des Landes, obwohl sie ganz andere Bündnisse hätten schließen können, als Bündnisse mit solchen Leichen, wie die alte Türkei und Österreich es waren. Umso besser verstanden sie es dafür aber, im eigenen Lande gegen sich nicht nur die proletarischen Massen, sondern auch andere Schichten der Bevölkerung aufzubringen. So erhielt Deutschland den Todesstoss. Die japanische Bourgeoisie hätte die Entwicklung Chinas sehr wohl leiten können, stattdessen brachte sie ganz China gegen sich auf. Zweifellos hätte Japan, das China besser kennt als es die kapitalistischen Mächte des Westens kennen, als Chinas Nachbar, von den Chinesen auf friedlichem Wege Kohle und Eisen bekommen können. Es hätte sich an die Spitze der Emanzipationsbewegung der Gelben Rasse setzen, sich zur Avantgarde des Kampfes um die Gleichberechtigung der Gelben Rasse machen können. Der japanische Militarismus dagegen, der nur zu befehlen und zu stehlen versteht, säte Hass da, wo eine Schicksalsgemeinschaft hätte erstehen können. Für Sowjetrussland als eine revolutionäre Großmacht, ist der amerikanische Kapitalismus, als Kapitalismus der stärkste, ein gefährlicherer Feind als der japanische. Die Stellung Sowjetrusslands zum Kampfe des japanischen mit dem amerikanischen Kapital ist nicht von vornherein gegeben. Russland könnte diesem Kampfe gegenüber neutral bleiben, Japan über Wladiwostok alles, wessen es bedurfte, erhalten. Dazu brauchte es nur auf seine imperialistischen Räubereien China und Russland gegenüber zu verzichten. Japans führende Schichten vermögen sich noch immer nicht zu entscheiden, werden sich auch schwerlich entscheiden. Der feudale Militarismus ist keine Macht, die eine auf gegenseitigem Entgegenkommen und nüchterner Einschätzung wirklicher Kräfteverhältnisse begründete Politik zu führen verstünde. Der Gedanke, den Forderungen der japanischen Volksmassen wirklich nachzugeben, ist ihm fremd, weil er seinem ganzen Charakter nach die barbarischste und zügelloseste Periode des Imperialismus verkörpert. Wir wissen nicht, ob die japanische Bourgeoisie es in nächster Zeit fertig bringen wird, die Junkerpolitik ihrer Regierung zu ändern, aber wir wissen, dass die herrschende Klasse Japans bis auf den Grund erschüttert ist. Verwirrung beherrscht sie heute. Daher die neue Orientierung, Zurücknahme ihrer Truppen aus Sibirien, Verhandlungen mit Sowjetrussland. Gleichzeitig schielt sie durch die Maske ihres Scheinliberalismus nach Nord-Sachalin. Während es auf der einen Seite versichert, China gegenüber keiner Annexionspolitik zu huldigen, sondern es unterstützen zu wollen, hilft es auf der anderen Seite Tschan-so-Lin, dem Inbegriff der chinesischen Reaktion, und fordert so selbst eine feindselige Haltung der Volksmassen Chinas gegen Japan heraus. Die japanischen Imperialisten sind ins Wanken geraten. Sie begreifen, dass man sich nicht in einen Krieg, selbst bei Vorhandensein bester strategischer Aussichten, einlassen dürfe, ohne das Hinterland vorbereitet und sich mit Eisen, Kohle, Naphtha und Reis versorgt zu haben. Daher die Politik des Abrüstens, des Morgen, morgen, nur nicht heute, daher auch das Amen zum Washingtoner Abkommen.

Was bietet das Washingtoner Abkommen Japan? Die Frage wäre auf Grund der Zeitungsnachrichten allein schwer zu beantworten. Dagegen weiß die strategische Literatur uns auch über diese Frage aufzuklären. Amerika hat das englisch-japanische Bündnis formell zerstört, hat aber selbst mit England noch kein Bündnis geschlossen, sich seiner Unterstützung noch nicht versichert. Das folgt aus der Tatsache, dass auch nach der Washingtoner Konferenz die Teilung der amerikanischen Kriegsflotte in die beiden Formationen der Pazifik- und Atlantik-Flotte bestehen blieb. Wenn die amerikanische Flotte, die doch eine Kampfeinheit, ein taktisches und strategisches Ganzes darstellen und als solches manövrieren lernen soll, dennoch in zwei Teile zerfällt, so beweist das, dass noch kein antijapanisches anglo-amerikanisches Abkommen existiert, das atlantische Geschwader Amerikas also immer noch gegen England gerichtet ist. Einen weiteren Beweis dafür, dass kein englisch-amerikanisch Abkommen besteht, liefert die Tatsache, dass Amerika, als Japan verlangte, die Amerikaner sollten die Befestigung der Philippinen unterlassen, die Gegenforderung aufstellte, England solle auf die Befestigung Hongkongs verzichten. Bestünde wirklich ein angloamerikanisches Abkommen, so wäre Hongkong auch für Amerika selbst ein wichtiger Stützpunkt. In diesem Falle hätte Amerika die Forderung der Nichtbefestigung der Philippinen nicht mit der Gegenforderung der Nichtbefestigung Hongkongs beantwortet. Somit steht fest, dass Amerika die formelle Liquidation des englisch-japanischen Vertrages um den Preis des Verzichtes auf ein Weiterrüsten gegen England durchgesetzt hat, dass aber andererseits England für den Fall eines späteren kriegerischen Konfliktes nicht gebunden ist. Sollte solange ein anglo-amerikanischer Trust, der beide Staaten in allen Fragen der Weltpolitik zu einheitlichem Vorgehen verpflichtete, nicht entstanden sein, so wird England nun dieselbe Rolle spielen, die Amerika während des Weltkrieges gespielt hat d. h. die Rolle des abwartenden Zuschauers. England wird sich erst dann an einem Kriege beteiligen, wenn es ihm passen wird, und sich auf die Seite schlagen, die ihm die aussichtsvollsten Perspektiven bieten wird. Heute ist Amerika die wirtschaftlich stärkste Großmacht. Auch seine Flotte ist stärker als die englische. Da der Weltkapitalismus Konkurrenz bedeutet, ist, potentiell gesprochen, Amerika heute der gefährlichste Gegner Englands. Die im Zentrum der Weltpolitik stehende, zur Zeit positiv noch nicht zu beantwortende Frage lautet: Wird ein anglo-amerikanischer kapitalistischer Trust, ein militaristischer, wirtschaftlicher, England und Amerika vereinigender Trust geschaffen werden, oder soll unter diesen Ländern die Konkurrenz herrschen, und der Kampf gerade deshalb entbrennen, weil sie konkurrierende Mächte sind? Vor dieser Frage stehend, versuchen beide sich die wichtigsten politischen Trümpfe, die gegeneinander ausgespielt werden können, zu sichern.

Die vier Milliarden Dollar amerikanischer Forderungen an England sind der erste Trumpf Amerikas. Amerikas zweiter Trumpf besteht in der Möglichkeit, Frankreich gegen England aufzuhetzen. In Washington wurde die Frage der unbrauchbaren, veralteten Bestandteile der Flotten ebenso die der Einschränkung der Zahl der Linienschiffe, aufgeworfen, während, ungeachtet der hartnäckigen Forderung Englands, die Anzahl der von England als ”Seeräuberschiffe” bezeichneten U-Boote nicht beschränkt wurde. Frankreich erklärte, die U-Boote seien Verteidigungsmittel, England aber begriff sofort, was das bedeutete. Der ganzen Strecke entlang, die die für England Getreide und Rohstoffe führenden Schiffe befahren, liegen französische Küsten- und Flottenstützpunkte. Um das Gibraltar gegenüberliegende Tanger kämpfen die Franzosen noch. Dem englischen Malta gegenüber liegt das französische Biserta. Als Gegenstück zu Suez erstreben die Franzosen die Errichtung einer Flottenbasis in Syrien. Die Franzosen sitzen in Dschibuti bei Aden. Die Insel Madagaskar, die Westküste Afrikas, alle diese Gebiete weisen französische Flottenstützpunkte auf. Bei einer solchen Lage der Dinge werden im Kriegsfalle die französischen U-Boote das erreichen können, was Deutschland während des Weltkrieges mangels entsprechender Flottenstützpunkte nicht durchführen konnte, nämlich England zu blockieren. Sahen sich die deutschen Kriegsschiffe und U-Boote genötigt, im Dreieck zwischen Helgoland, Wilhelmshaven und Kiel, die von englischen U-Booten bewachte Hochsee vor sich, zu operieren, so befinden sich im Kriegfalle die französischen Seestreitkräfte in der Normandie und im Ärmelkanal nur in einer mehrstündigen Entfernung von England. Der Kampf um die Unabhängigkeit Irlands ist ein Kampf darum, ob im Rücken Englands ein Kriegsstützpunkt, der nicht in englischen Händen ist, bestehen soll. Dies die wichtigsten Trümpfe Amerikas gegen England.

Auf der anderen Seite verfügt England über die Möglichkeit, Japan gegen Amerika und Deutschland gegen Frankreich zu unterstützen. Auch das Verhalten Englands Russland gegenüber wird in vielem von den Aussichten des Kampfes um den Stillen Ozean abhängen.

Unter diesen Verhältnissen kann man rundweg behaupten, dass die Washingtoner Konferenz keine anderen Entscheidungen herbeigeführt hat, als den Verzicht Englands auf seine Seeherrschaft. Alle übrigen Fragen blieben ungelöst. Als eine Nachwirkung der Washingtoner Konferenz ist der Abzug japanischer Truppen aus Sibirien zu betrachten. Japans Kampf um die Erringung der Hegemonie im Fernen Osten beginnt unter neuen Bedingungen.

Die von uns angeführten Tatsachen beantworten zugleich auch die Frage nach der Stellung Sowjetrusslands im Fernen Osten. Trotz der gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwäche Sowjetrusslands stellt es eine Macht dar, von deren Haltung der Ausgang des Kampfes um den Stillen Ozean abhängen kann. Schließt es sich der antijapanischen Koalition an, so kann das selbstverständlich zunächst zur Folge haben, dass Russland vorläufig seinen Küstenstreifen der ihm den Zugang zum Stillen Ozean verschafft, verliert. Trotzdem wäre eine solche Stellungnahme Sowjetrusslands eine Besiegelung der japanischen Niederlage, da es damit auf dem Festlande von Europa und gleichzeitig, durch die amerikanische Flotte, vom Meere abgeschnitten wäre. Dabei wäre es gezwungen gewesen, einen Landkrieg zu führen. Dazu kommt, dass die moralische Bedeutung Russlands als Revolutionsherdes dank unmittelbarer Nachbarschaft Russlands und Chinas den Widerstand, den China Japan leisten würde, verstärken würde. Vermag Russland in einer möglichen antijapanischen Koalition die Rolle eines entscheidenden Faktors zu spielen, so gilt das gleichermaßen für sein Verhältnis zu Amerika. Sowjetrusslands Politik kann den Ausgang des Kampfes, der dem Fernen Osten bevorsteht, in entscheidender Weise beeinflussen.

Es braucht jedoch nicht betont zu werden, dass sich Sowjetrussland in seiner Politik ausschließlich von den Interessen der werktätigen Massen Russlands, wie derjenigen der ganzen Welt leiten lässt. Seine Politik anerkennt weder eine prinzipielle antijapanische, noch antiamerikanische Orientierung. Die Zunahme seiner Bedeutung im Fernen Osten wird von der Energie abhängen, mit der es seine westlichen Grenzen zu verteidigen wissen wird. Seine Bedeutung wird von Tag zu Tag wachsen. Diejenige Lösung der Naphtha., Kohlen- und Eisenfrage des Fernen Ostens, bei deren Zustandekommen Sowjetrussland eine der Hauptrollen spielen wird, wird ein besserer Schlüssel zu den Herzen und Taschen der Allmächtigen in Amerika sein, als alle diplomatischen Verhandlungen, alle Appelle an die Humanität, alle Hinweise darauf, dass das russische Einhundertfünfzig-Millionen-Volk niemanden antasten wolle, keines Fremden Gut begehre, sondern nur leben wolle.

Unter Verhältnissen, bei denen die neuen Gruppierungen sich erst herauszukristallisieren beginnen, lässt sich als einziger Schluss aus der Analyse der gesamten internationalen Lage feststellen, dass in allen Kombinationen als einzig ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht und entscheidender Faktor nur die reale Macht übrig bleibt. Gelingt es Sowjetrussland, nach dem nun beendigten Bürgerkriege den Ausbruch eines neuen Bürgerkrieges zu verhindern, gelingt es ihm, in erster Linie seine Landwirtschaft zu heben und sich eine, wenn auch eng begrenzte, so doch solide industrielle Basis zu schaffen, wird das Gewicht seiner Stimme bei künftigen Entscheidungen weltpolitischer Fragen größer sein denn je. Bleibt dabei die Politik Russlands gleichzeitig auf der Bahn, die ihm die aufrichtige Sympathie der Arbeitermassen der ganzen Welt und der zu neuem Leben erwachenden Ostvölker sichert, so bedeutet ein solches moralisches Übergewicht eine weitere Verstärkung der Bedeutung seiner Politik, werden doch die Volksmassen aller Länder immer mehr zu der Überzeugung gelangen, dass die Welt es in Sowjetrussland mit einer neuen Macht zu tun hat, die die Interessen der Arbeiter der ganzen Welt, die Interessen aller Ausgebeuteten zu vertreten weiß.

VI. Neue Gruppierungen der Großmächte, die kommenden Kämpfe und die internationale Arbeiterklasse

Die vorhergehenden Ausführungen haben gezeigt, wie sich das Kräfteverhältnis, das die Grundlage der Versailler Friedensverträge bildete, geändert hat.

Wirtschaftlich sind die Vereinigten Staaten Amerikas die ausschlaggebende Macht in der Welt geworden. England hat in ihnen einen gefährlicheren Gegner, als es Deutschland imstande war zu sein. Die entscheidende Frage ist nur: wird sich diese wirtschaftliche Konkurrenz verschärfen oder wird es zu einer Kooperation der angelsächsischen Mächte kommen. Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Stellungnahme zur weiteren Entwicklung der Weltpolitik ab. Es ist in diesem Augenblick unmöglich, diese Frage zu beantworten. Die Dinge befinden sich erst in ihren Ansätzen, und niemand kann sagen, was aus diesen Ansätzen wird. Es ist gleichzeitig in den Kreisen des englischen Kapitals ein scharfes Verständnis für die Gefahren einer Konkurrenz mit Amerika und ein Bestreben nach einer Kooperation mit ihm vorhanden. Aber auf der anderen Seite könnte eine solche Kooperation nur erreicht werden auf dem Boden des Zurückweichens des englischen Kapitalismus vor dem amerikanischen, der rücksichtslos seine Interessen in den Vordergrund stellt. Die englische Diplomatie spricht immerfort von der Notwendigkeit dieser Kooperation, aber gleichzeitig ist sie überzeugt, dass sie der amerikanischen überlegen ist, dass sie große Trümpfe gegen Amerika besitzt, mit deren Hilfe sie Amerika übers Ohr hauen wird. So kämpfen miteinander die Tendenzen der Annäherung und der Konkurrenz, die letzten Endes zu einem englisch-amerikanischen Weltgegensatz führen können. Die bisherige Erfahrung lehrt, dass zwei große industrielle Staaten, die gleichzeitig eine große Macht auf dem Meere darstellen, miteinander kämpfen, nicht aber sich verständigen.

Der amerikanisch-japanische Gegensatz ist eine Tatsache, über die keine Phrasen hinweghelfen können. Dieser Gegensatz verbindet sich zudem mit dem amerikanisch-englischen, sodass seine Entwicklung von der Entwicklung des letzteren abhängig sein wird. Jedenfalls ist er die ausschlaggebende Tatsache der Lage auf dem Stillen Ozean.

Der englisch-französische Kampf um die Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, der mit dem Kampf um die Erlangung eines überwiegenden Einflusses im Nahen Osten verbunden ist, ist neben dem amerikanisch-englischen Gegensatz das Ergebnis der Entwicklung der Dinge nach dem Kriege. Dieser Gegensatz beherrscht die europäische Politik und bleibt in seiner weiteren Entwicklung abhängig von der Entwicklung des anglo-amerikanischen Verhältnisses. Der französischen militärischen Übermacht auf dem Kontinent fehlt die entsprechende wirtschaftliche Basis. Frankreich kann sie nur in dem Falle bekommen, wenn es ihm gelingt, einen deutsch-englischen [muss heißen: deutsch-französischen] Eisen- und Kohlentrust zu bilden, sei es auf dem Wege einer Änderung seiner Politik Deutschland gegenüber, sei es auf dem Wege der Gewalt. Ob es imstande sein wird, dies zu tun, wird abhängen von der Verschärfung oder Milderung des anglo-amerikanischen Gegensatzes. Tritt eine Verschärfung ein, erhält Frankreich als der europäische Degen Amerikas von diesem die notwendige Rückendeckung gegen England.

Deutschland und Österreich sind zu Objekten der Weltpolitik geworden. Somit wird die nächste Entwicklung, werden die Ansätze zur Umgruppierung der Machtverhältnisse sie aus dieser Lage nicht befreien können, es sei denn, dass eine proletarische Revolution in Deutschland siege und sie in Machtfaktoren verwandle. Die Umgruppierungen in den Beziehungen der kapitalistischen Mächte können nur die Richtung ändern, aus der die Schläge auf die deutsche Bourgeoisie fallen werden. Nur der sich Wehrende stellt einen Faktor in der Weltpolitik dar. Die deutsche Bourgeoisie, in den Kampf mit der deutschen Arbeiterklasse verstrickt, kann an eine aktive Abwehr der Entente nicht denken. Sie vermag ihre Abhängigkeit nur zu wechseln.

Russland ist bereits zu einem Machtfaktor in der Weltpolitik geworden, stellte der Pariser Temps vom 17. Oktober fest. Diese Feststellung ist umso schwerwiegender, als sie dem Munde des offiziösen Organs jener Macht entstammt, die am hartnäckigsten Sowjetrussland die Bedeutung eines erstklassigen Machtfaktors absprach.

Von der Beresina bis Wladiwostok, vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer hat das russische Proletariat das russische Territorium in seinen Händen vereinigt. Gestützt auf eine Rote Armee, die ihre Stärke bewiesen hat, gestützt auf eine nationale Politik, die die nationalen Bedürfnisse der nichtrussischen Nationalitäten der russischen Föderation aufs sorgfältigste berücksichtigt, gestützt auf ein Verhältnis zu den Orientvölkern, das über alle Irrungen und Wirrungen der Diplomatie hinweg Sowjetrussland als den Hort des Befreiungskampfes der Orientvölker gegen den Imperialismus in den Herzen der Massen des Nahen und Fernen Ostens mit jedem Tage fester verankert, die Gegensätze innerhalb des Weltkapitals ausnützend, hat Sowjetrussland, seiner wirtschaftlichen Schwäche zum Trotz, heute gut ausgebaute Stellungen bezogen, die es immer mehr zu einer der ausschlaggebenden Weltmächte machen.

Ob und wann die hier skizzierten labilen Gegensätze sich so verschärfen werden, dass ein neuer Weltkrieg entbrennt, vermögen wir nicht zu sagen. Die Weltbourgeoisie ist durch den Weltkrieg, dessen Folgen zu überwinden ihr bis jetzt nicht gelungen ist, dermaßen erschüttert, dass sich ihrer beim bloßen Gedanken an einen neuen Weltkrieg, der den endgültigen Sieg der Weltrevolution bedeuten würde, eine ungeheure Angst bemächtigt. Daher ein krampfhaftes Suchen nach immer neuen Kompromissen. Jedoch in einander feindlich gesinnte kapitalistische Gruppen, die nicht einmal fähig sind, ihre Sonderinteressen den allgemeinen Interessen des Weltkapitals unterzuordnen, geteilt, ist sie zur Arbeit Penelopes verurteilt. Immerfort zerstört sie das feine Gespinst ihrer kaum vollendeten Verträge. Der Herrschaft kleiner Cliquen ohnmächtiger und hirnloser Diplomaten und dem Ehrgeiz militärischer Juntas überliefert, ist sie unfähig, irgendeiner Politik eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu dienen. Darum wird der Bankrott des Versailler Friedens weder eine Entspannung in der Weltlage herbeiführen, noch irgend ein Übereinkommen, das eine friedliche Entwicklung der Völker zu sichern vermöchte, zur Folge haben, sondern neue Kämpfe um die Neuaufteilung der Welt entfachen.

In allen Kämpfen, die die Welt seit dem Abschluss des Versailler Friedens erschütterten, war die internationale Arbeiterklasse in ihrer überwiegenden Mehrheit lediglich Objekt nicht aber Subjekt der Weltpolitik. Sie spielte nur insofern eine Rolle, als sie, selbst bei passivem Verhalten, eine potentielle Kraft darstellt, die bei einem neuen Kriege ins Gewicht fällt. Nur die Angst, die Lammsgeduld der Arbeiterklasse könnte ein Ende nehmen, beunruhigte die kapitalistischen Staaten.

Die Politik der Führer der Mehrheit der internationalen Arbeiterklasse, der Führer der 2. und 2½. Internationale und des Amsterdamer Gewerkschaftsbundes, war eher geeignet, diese Unruhe der bürgerlichen Regierungen zu vermindern als zu steigern. Ein klassisches Beispiel dieser geistigen und politischen Ohnmacht der Mehrheit der Arbeiterklasse bietet das am 10. Oktober veröffentlichte Protokoll einer Unterredung der Vertreter der englischen Gewerkschaften mit Lloyd George. Gekommen, um Lloyd George für den Fall des Krieges den Krieg zu erklären, ließen sie sich von den Widersprüchen ihrer der Bourgeoisie .entlehnten Ideologie umgarnen. So verließen sie Lloyd George als dessen Gefangene. Die Führer der Mehrheit der Arbeiterklasse fürchten die Revolution nicht minder als die bürgerlichen Regierungen. Darum sind sie verurteilt, sich mit Beschwörungen, Protesten und Flüchen zu begnügen. Darum sind sie gezwungen, sich vor den Wagen des Kapitals spannen zu lassen, sobald sich ihrer die Hoffnung bemächtigt, das Kapital könnte es vorziehen, seinen Profit aus dem Schweiße und nicht aus dem Blute der Arbeiter zu ziehen. In dem Augenblick, da das internationale Kapital aus Rücksicht auf seine Profitinteressen seine Friedensschalmei zur Seite legt, stehen sie da: hilflos, betrogen, kraftlos und unfähig zu jedem Kampfe. Ihr Hass gegen die Revolution treibt sie zum Kampfe gegen Sowjetrussland als Verbündete des Kapitals gegen die einzige revolutionäre Weltmacht. Die Tatsache, dass sie während der Genuakonferenz schwiegen, ja, jeden Versuch eines Aufmarsches der internationalen Arbeiterklasse gegen die internationale Front des Kapitals bewusst sabotierten, bewies, dass ‚ sie zu bewussten Helfershelfern des internationalen Kapitals in seiner Bemühung, die Restauration des Kapitalismus in Russland zu erzwingen, herabgesunken sind. Diese Tatsache erfuhr eine weitere Bestätigung durch die Rechtsschwenkung der Partei der Menschewiki, wie sie in den für die Restauration des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie in Russland plädierenden Artikel Martows und Dans zum Ausdruck gelangt und durch den Brief der Führer der englischen Arbeiterpartei Clynes, der bei der just jenes Urquhartvertrages befürwortet, den die sozialdemokratische Presse als einen Verrat der russischen Revolution, als eine Kapitulation der russischen Revolution denunziert. Die Politik der Führer der Mehrheit der Arbeiterklasse ist bereit, die Wiederherstellung des Kapitalismus zu fördern, wenn er nur auf den Krieg verzichtet. Sie gleicht der Politik des liberalen Industrie- und Handelskapitals und ist daher auch ebenso ohnmächtig wie diese.

Die Kommunistische Internationale allein bildet jenen Teil der internationalen Arbeiterklasse, der eine aktive, revolutionäre Weltpolitik treibt. Indem sie fortgesetzt die Arbeitermassen für den Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges mobilisiert, sie für den revolutionären Kampf sammelt, wird sie zum proletarischen Faktor der Weltpolitik. Ihre Unterstützung Sowjetrusslands bildet einen Teil des gewaltigen Kampfes gegen den imperialistischen Krieg, wie gegen den imperialistischen Frieden, des Kampfes für einen proletarischen Wiederaufbau der Welt. In Sowjetrussland besitzt die internationale Arbeiterklasse das staatliche Zentrum ihres revolutionären Kampfes. Wenn nun die Sykophanten der 2. und 2½. Internationale der Kommunistischen Internationale vorwerfen, sie vertrete die staatlichen Interessen Russlands, so kann die Kommunistische Internationale darauf gelassen erwidern: Die Interessen des russischen proletarischen Staates sind die Interessen der zur Staatsgewalt organisierten russischen Arbeiterklasse, der ersten siegreichen Sektion des Weltproletariats, und damit die Interessen des Weltproletariats selbst. Jeder Tag, der den Zerfall des internationalen Kapitalismus offenkundiger macht, stärkt die Macht Sowjetrusslands und treibt gleichzeitig wachsende Massen des Proletariats in den revolutionären Kampf. Sowjetrussland und die Kommunistische Internationale werden so mit jedem Tage ein dauernd an Bedeutung zunehmender Faktor der internationalen Politik. Diese Macht verwenden sie zur Beschleunigung der Befreiung der internationalen Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, der geknechteten Bauernmassen des Nahen und Fernen Ostens und der schwarzen Völker. Wie lange ihr Kampf dauern wird, lässt sich nicht abschätzen. Die Kommunistische Internationale muss gleich Sowjetrussland mit einer langen Dauer der Weltrevolution rechnen. Das bringt vorübergehende Niederlagen und Rückschläge mit sich. Es erfordert im Kampfe die Anwendung aller Mittel, vor allem aber eine gründliche Vorbereitung der Kämpfe. Hierzu gehört auch eine fortlaufende aufmerksame Verfolgung der Veränderungen auf der weltpolitischen Bühne, will die Arbeiterklasse ihre Rolle im Spiel der internationalen Kräfte heben, ihre Bedeutung erhöhen. Darum ist der Kampf der Kommunistischen Internationale viel inniger mit den Ereignissen weltpolitischen Charakters verwoben, Darum muss aber auch die Kommunistische Internationale ihre Gruppen in allen Ländern mit der gleichen Auffassung jedes Einzelgeschehens von weltpolitischer Bedeutung erfüllen, in ihnen gleiches Verständnis für den Gang der Ereignisse entwickeln und denselben Eifer, denselben Willen entfachen, dessen das Proletariat bedarf, um nicht bloß zu verstehen und zu interpretieren, sondern auch das Geschehen zu beeinflussen, den geschichtlichen Prozess zu beschleunigen, die Wirklichkeit zu verändern. Dieser Wille aber ist der Wille zur Weltrevolution, deren Instrument die Arbeiterklasse ist.

Moskau, den 28. 10. 1922.

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