Karl Radek 19110805 Die Marokkofrage und die deutsche Sozialdemokratie

Karl Radek: Die Marokkofrage und die deutsche Sozialdemokratie

(August 1911)

[Freie Volkszeitung (Göppingen) Nr. 180, 5. August 1911, gezeichnet K.R.]

Was ist das Kennzeichen der Marokkolage? Krieg in Sicht, ein englisches Ultimatum an Deutschland, wie schon eine englische sozialdemokratische Korrespondenz zu melden wusste? Jedenfalls die Möglichkeit der Verschärfung der Lage bis zu Kriegsdrohungen und die Notwendigkeit der proletarischen Protestaktion.

Ein Blick auf die Lage beweist das. Wir halten uns an die jetzt gegebene Situation, wo das Spiel zwischen zwei direkt und einer indirekt mitwirkenden Macht vor sich geht. Aus allem, was über die Verhandlungen hindurchsickerte, kann man die Position Deutschlands folgendermaßen charakterisieren: Deutschland leistet Verzicht auf politische Festsetzung in Marokko, wofür es Minenkonzessionen in Sus, Freiheit wirtschaftlicher Betätigung in ganz Marokko und Entschädigungen aus den französischen Kolonien im übrigen Afrika fordert. Frankreich will diese Forderungen prinzipiell gewähren, aber es will in der Praxis die kolonialen Abtretungen auf ein Minimum herunterdrücken. England unterstützt, wie schon ausgeführt, diese Position Frankreichs und wacht dabei über seine maritimen Interessen. Wir nehmen also die friedlichste von allen möglichen Situationen das heißt, wir abstrahieren von dem Bestreben einer Richtung in England, Deutschland und Frankreich, die der Meinung ist, es sei besser heute als morgen vom Leder zu ziehen; wir abstrahieren von der Möglichkeit, für deren Annahme selbst in der jetzigen Situation Anzeichen bestehen, dass England an dem Nichtzustandekommen eines deutsch-französischen Abkommens gelegen ist, nicht nur, weil dann Frankreich bei einer internationalen Lösung auf die Unterstützung seitens Englands angewiesen ist, sondern auch, weil England hofft, dann trotz einer politischen Desinteressierung in Marokko im Jahre 1904 aus der Chose noch Kapital für sich zu schlagen. Das alles lassen wir beiseite und halten uns bei der Beurteilung der Lage neben den sachlichen Hauptargumenten an die bestimmenden taktischen Momente.

Die ganze jetzige Marokkokrise ist ein Produkt der serbisch-österreichischen Konflikte. Der damalige Sieg des Dreibunds bedeutete die Durchbrechung der englischen Einkreisungspolitik und brachte dem deutschen Imperialismus neben einigen namhaften Erfolgen ein gesteigertes Machtgefühl. Das musste bei der bevorstehenden offenen oder versteckten Liquidation der Marokkofrage zum Ausdruck gelangen. Ein Zurückweichen würde hier ein Zurückgeworfenwerden bedeuten. Darum, will man den Ernst der Situation ermessen, so darf man sich nicht mit Schlagworten wie Zickzackkurs oder Bluffpolitik beruhigen. Dem deutschen Imperialismus ist es bitter ernst um die Sache, denn es handelt sich für ihn nicht nur um den sachlichen Wert der zu erzielenden Erfolge, sondern auch um die Probe aufs Exempel, um die Ausmessung der Kräfteverhältnisse. Er setzt jetzt einen großen Einsatz auf die Karte und es ist damit zu rechnen, dass er gewillt ist, die Probe zu bestehen. In solchen politischen Wendepunkten kann die Lage die ernsteste Gestalt annehmen: denn selbst wenn die englische Regierung nicht mit demselben Ziel in die Kampagne eingetreten sein würde, kann sich eine Situation ergeben, wo sie den Handschuh aufzunehmen genötigt sein wird; andererseits wieder kann eine den deutschen Imperialismus reizende Form der englischen Einmischung eine erste Wendung der Situation ergeben, die an und für sich lösbar ist.

Wir sagen also: es wäre ganz unbegründet, die Sache nur vom Standpunkt der in Marokko existierenden oder entwicklungsfähigen Interessen des deutschen Kapitals, der sich kreuzenden Einflüsse verschiedener Gruppen deutscher Kapitalisten auf die Haltung der Regierung zu betrachten. Sie ist viel ernster. Wir malen die Situation in dieser Farbe keineswegs aus agitatorischen Gründen. Die aktuelle Agitation gegen die Kriegsgefahr würde an Kraft einbüßen, wenn die Kriegsgefahr nur in unserer Phantasie bestehen würde, und wir sind ganz mit dem Genossen Beer einverstanden, wenn er in der “Chemnitzer Volksstimme” erklärt, die Situation enthalte ernstere Momente als die im Frühjahr 1909. Das ist so, schon darum, weil in der serbisch-österreichischen Krisis ein Faktor, die Schwäche Russlands, exakt zu berechnen war, während in der jetzigen Krisis das Kräfteverhältnis sich nur im Kampf messen lässt, und alle drei in erster Linie in Betracht kommenden Mächte annehmen können, dass die Gegenseite in letzter Stunde ausweichen wird. Wir lassen dabei natürlich nicht die Gegentendenzen aus dem Auge. Als solche ist die gute wirtschaftliche Konjunktur zu nennen und die Angst vor dem großen Ungewissen, wie es ein Zusammenprallen dreier Großmächte bedeutet, was verursachen kann, dass alle drei Mächte schließlich auf Kompromisse eingehen werden. Aber dabei würden wir doch die Friedensseligkeit, wie sie manche Parteikreise charakterisiert, für gar nicht am Platze halten.

Wie hier schon einmal ausgeführt war, hat das Proletariat keine genügende Kraft, der Politik des Imperialismus Einhalt zu gebieten, weil in ihr die wichtigsten Interessen der einflussreichsten Schichten des Kapitals zum Ausdruck kommen, und weil sie geistig die Ideologie des ganzen Bürgertums mehr und mehr beherrscht. Aber die Protestaktion des Proletariats ist einer der Faktoren, die den Kriegstendenzen entgegenwirken. Nur gilt es, den besitzenden Klassen die Einsicht einzuhämmern, dass es sich nicht um bloße Worte handelt, sondern um Worte, hinter welchen der Wille zur revolutionären Tat steckt. Dieser Eindruck kann natürlich nicht durch vereinzelte Versammlungen erreicht werden, sondern nur durch eine verallgemeinerte Versammlungsaktion im ganzen Reiche, die in den zentralen Momenten durch international organisierte Proteste verstärkt werden muss. Wenn darum die Genossin Luxemburg mit einem Vorwurf des Fehlens einer Initiative seitens des Parteivorstandes völlig Recht hatte, so kann man der Partei und ihrer lokalen Organisationen nicht den Vorwurf ersparen, dass sie ihre Pflichten in der Frage zu wenig ernst und selbständig nehmen. Natürlich lässt das sich durch die Jugend des deutschen Imperialismus erklären, aber in diesem Augenblick handelt es sich nicht um die Erklärung der Fehler, sondern um ihre Vermeidung.

Darum Agitation und Aktion gegen den deutschen Imperialismus auf der ganzen Linie! -

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