Karl Radek 19110812 Gegen den Imperialismus

Karl Radek: Gegen den Imperialismus

(August 1911)

[Freie Volkszeitung (Göppingen), 12. August 1911, S. 2f.]

Gegen einen neuen Feind stehen wir im Kampfe. Vor einem Jahrzehnt brachte er deutsche Soldaten über weite Meere nach China, um zusammen mit den Militärs anderer kapitalistischer Staaten Rache an den Chinesen zu nehmen, weil sie den Plänen zur Aufteilung ihres uralten Reiches Widerstand entgegensetzten. “Die Deutschen vor die Front!” — hieß es damals, und seit dieser Zeit drängt sich der deutsche Imperialismus, wo er nur kann, vor. Im Jahre 1905 hatte er schier einen Weltbrand wegen Marokko entflammt, im Jahre 1908 steht er in schimmernder Wehr an der Seite des österreichischen Imperialismus, der Bosnien und Herzegowina der Türkei endgültig entriss. Im Jahre 1909 feiert er einen großen Sieg, indem er durch die Weiterführung der Bagdadbahn große Gebiete der Türkei für das deutsche Kapital erschließt, er demütigt den selben Zarismus, vor dem Deutschland zwei Jahrhunderte lang auf dem Bauche gekrochen hat. Und jetzt stehen wir in der Mitte einer Marokkokrisis, die jederzeit die Kriegsgefahr heraufbeschwören kann und, selbst wenn sie friedlich enden sollte, dem deutschen Volke neue koloniale Lasten auferlegen und einen Ansporn zu neuen Rüstungen bilden wird. Zum Kampfe gegen den Imperialismus steht die deutsche Arbeiterklasse auf. Mit jedem Jahre erkennt sie mehr, dass er wie im Brennpunkte alle ihr feindlichen Interessen vereinigt, und jeder neue Versuch des Imperialismus weckt hellere Erkenntnis seiner Gefahren in den Reihen des deutschen Proletariats. Zuerst sammelten sich die Massen zum Protest gegen den Imperialismus unter der Losung: Krieg dem Kriege. Der deutsche Arbeiter sah ohne weiteres ein, dass er nicht die mindeste Ursache hat, zu Felde gegen das französische Volk zu ziehen. Als das Marokkofieber Europa im Jahre 1905 schüttelte, da wurde die Arbeiterklasse sich bewusst, dass mehr hinter dem Imperialismus steckt als die Gefahr der Kriege mit “wilden Völkern”. Die Gefahr des deutsch-französischen Krieges bedeutete die Gefahr des Bruderkrieges zwischen dem französischen und dem deutschen Proletariat, zweier Armeen der Internationale, die durch Kampfesbrüderschaft seit Jahrzehnten vereinigt waren. Und um welches Ziel sollte dieses Schreckliche geschehen? Wegen einer Kolonie, und dass, nachdem der Hererokrieg der deutschen Arbeiterschaft zeigte, dass die Gründung von Kolonien nicht nur diese der kapitalistischen Ausbeutung ausliefert, sondern auch die Ausbeutung des europäischen Proletariats durch das Kapital durch ungeheure Steuerlasten für Kolonialkriege steigert.

So gewann der Kampf der Arbeiterklasse gegen den Imperialismus einen reichen Inhalt, er vereinigte den Kampf gegen den Militarismus und Marinismus mit dem Kampfe gegen die kapitalistische Brandschatzung des Volkes durch wachsende Steuerlasten. Und je mehr das Volk Protest gegen die imperialistische Politik erhob, desto mehr zeigte es sich, dass die parlamentarischen Mittel als Abwehr gegen den Imperialismus versagten, weil er mit Zustimmung des Bürgertums gänzlich dem Bereich des parlamentarischen Einflusses entzogen zur Domäne des reinen Absolutismus wurde. Auf diese Weise wuchs sich der Kampf gegen den Imperialismus, der ein Problem der auswärtigen Politik schien, zum Kampf gegen den Absolutismus in der inneren Politik, d.h. zum Kampf für die Demokratie aus. Als solcher erwies er sich bald, gleich dem Kampfe um jede wichtige Forderung der Demokratie, als Kampf um den Sozialismus, weil die Demokratie, bei dem konsequenten Widerstand, den die bürgerlichen Klassen ihrer Entwicklung entgegenstemmten, nur als Sieg des Sozialismus verwirklicht wurde. So gewann der Kampf gegen den Imperialismus Breite und Tiefe, er wurde und wird mit jedem Tag mehr in den Augen der Arbeiterklasse zum Kampf für den Sozialismus.

Und was sich in dem Auge der arbeitenden Klassen allmählich entschleierte, dass nämlich der Kampf gegen den Imperialismus nur als Kampf für den Sozialismus möglich ist, das war für die sozialistische Wissenschaft, für den Marxismus, von vornherein klar. Denn als was zeigte sich unter der Lupe der marxistischen Forschung der Imperialismus? Er war nichts anderes als die Flucht des Kapitalismus vor dem Sozialismus. Jahraus, jahrein wachsen die Produktionskräfte der kapitalistischen Gesellschaft. Um Extraprofite einzuheimsen, um einen Vorsprung vor der Konkurrenz zu erlangen, sorgt das Kapital und seine wissenschaftlichen Kulis für immer neue Erfindungen. Und was heute das sorgfältig gehütete Geheimnis des einzelnen Kapitalisten ist, das wird morgen Gemeingut aller und die Hatz geht weiter. Aus diesem Wachstum der Menge der produzierten Waren, der Menge des einer Anlage harrenden Kapitales hält nicht gleichen Schritt das Wachstum des Marktes. Zwar hat der Kapitalismus den Bauern zum Warenproduzenten und Warenkonsumenten gemacht, aber gleichzeitig setzt ein der Prozess der Umwandlung des Bauern in den Proletarier. Die immer mehr anschwellende Masse des Proletariats bildet den Markt, der zwar mit der Zunahme der Zahl der Proletarier wächst, aber keinesfalls imstande ist, über die engen Schranken der zum Leben notwendigen Produkte hinauszuwachsen. Das kapitalistische Lohngesetz erlaubt nicht, wie schwankend auch die Löhne des Proletariats sind, die Konsumtionskraft dieses immer mehr ausschlaggebenden Volksteils entsprechend dem Wachstum der Produktivkräfte zu erhöhen.

So stand vor dem Kapital die Aussicht immer umfangreicherer Wirtschaftskrisen, mit wachsender Not und gleichzeitiger Revolutionierung des Proletariats, das heißt die immer näher rückende soziale Revolution. Es suchte Zuflucht vor der drohenden Gefahr und es fand sie in der steigenden Ausfuhr seiner Kapitalien in die unentwickelten Länder, in der zu ihr hinzukommenden Ausfuhr seiner Waren. Vermittels Kriegsschiffen und Kolonialarmeen, deren Ausrüstung auf Kosten des Volkes hohe Profitgelegenheit gab, unterjochte es ganze Völker in Afrika und versuchte dasselbe in Asien. Wo es ihm gelang, dort raubte es dem unterjochten Volke den Boden, entraffte ihm seine Mineralschätze, raubte ihm seine Früchte und baute Eisenbahnen, deren Kosten das arbeitende Volk des Mutterlandes trug; so steigerte es die Ausfuhr der Waren, erfand ein Mittel der Verschleuderung und Vertilgung der Produktivkräfte, die ihm sonst über den Kopf zu wachsen drohten.

Was kann das Proletariat dem Imperialismus entgegensetzen? Neutralität, weil es gegen “wilde” Völker rüstet? Aber selbst wenn es sich nicht als Kämpfer gegen jede Unterdrückung fühlen würde, sieht es, dass der Imperialismus jeden Augenblick den Krieg zwischen den zivilisierten Völkern verursachen kann, dass er die Last der Steuern erhöht, das Lebensniveau des Proletariats herunterdrückt, dass er alle dem feindlichen Proletariat feindlichen Mächte, die Bürokratie, den Militarismus, den Marinismus, das Kapital stärkt. Darum Kampf gegen den Imperialismus bis zum Ende. Was kann das Proletariat aber dem Imperialismus entgegenstellen? Einen Kapitalismus, der nicht über die Meere strömt, der sich selbst genügt, der sich nicht auf Kanonen stützt und hinter Schutzzöllen verschanzt? Aber einen solchen Kapitalismus gibt es nicht und wird es nicht in der Zukunft geben: der Drang des Kapitalismus zum Imperialismus wächst mit dem Wachstum des Kapitals selbst. Die einzige Lösung, die das Proletariat dem Schrei der Bourgeoisie nach Imperialismus entgegenstellen kann, ist der Ruf nach dem Sozialismus. Der Sozialismus bedeutet eine Organisation der Arbeit und der Verteilung; der sozialistischen Gesellschaft wird das Wachstum der Produktionskräfte, die dem Volke Wohlstand verbürgen, keine Sorgen bereiten. Das sagt dem Proletariat die sozialistische Wissenschaft. Indem sie ihm das sagt, sagt sie ihm auch, wie der Kampf gegen den Imperialismus geführt werden soll. Es gibt keine andere Macht, die den Sozialismus verwirklichen kann, als die Macht des Proletariats, das von sozialistischer Erkenntnis durchdrungen in revolutionären Kämpfen die Gewalt den kapitalistischen Händen entreißt und sie ergreift zur Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in die sozialistische. In dieser Bestrebung findet das Proletariat bei keiner anderen Klasse Unterstützung, es kann sie also auch nicht in seinem Kampfe gegen den Imperialismus finden. Auf seine Errungenschaften gestützt, alle sie ausnützend, vom Versammlungsrecht bis zur Straßendemonstration und allgemeinen Arbeitsniederlegung wird es gegen den Imperialismus protestieren, seine Bedeutung den weiten und breiten Massen des Volkes klar machen und jedes größere vom Imperialismus verursachte Ereignis zum Kampfe um den Sozialismus verwandeln suchen.

Dieser Standpunkt macht seine Aktion gegen den Imperialismus zur rein proletarischen. Würden selbst einzelne Schichten des Bürgertums aus Angst vor Kriegsgefahr gegen den Imperialismus Stellung nehmen, würden die kapitalistischen Regierungen versuchen, die ihnen vom Imperialismus drohenden Gefahren, wie die Möglichkeit der sozialen Revolution als einer Folge eines europäischen Krieges, aus der Welt zu schaffen, es hilft ihnen nicht. Das Proletariat wurde seinen Kampf gegen den Imperialismus nicht einstellen, nicht zum Vorspann ihrer Aktion zu machen, denn es verfolgt in ihm spezielle Ziele: es sucht nicht nur dem Krieg den Garaus zu machen, sondern der Vergeudung der Produktivkräfte, die das imperialistische System bedeutet. In diesem Sinne nimmt es auch jetzt Stellung zur Marokkokrise. Mögen auch jetzt die Linksliberalen jubeln, dass die Kriegsgefahr vorüber ist, wir protestieren nicht nur gegen die Möglichkeit einer neuen Kriegsgefahr, wie sie jetzt die Alldeutschen heraufzubeschwören versuchen, sondern gegen die Absicht, die koloniale Last Deutschlands durch Erschacherung neuer Gebiete in Französisch-Kongo zu erhöhen, was eine neue Verschleuderung von Steuergeldern für koloniale Eisenbahnen, Expeditionen usw. nach sich ziehen würde. Wenn die kapitalistische Presse mit Sorge den Ausfall der deutsch-marokkanischen [gemeint: deutsch-französischen] Verhandlungen verfolgt, weil sie Angst hat, dass ein zu kleiner Zuwachs für die deutsche Kolonialpolitik daraus erwächst, so antwortet die Arbeiterklasse: wir wollen überhaupt keine neuen Kolonien, weil wir genug unter den alten leiden. Und indem sie in diesem Sinne ihre Protestaktion einleitet, führt sie Kampf gegen die Ziele des Imperialismus überhaupt.

K. Radek.

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