Karl Radek 19110815 Imperialismus und nationale Frage

Karl Radek: Imperialismus und nationale Frage

(August 1911)

[Bremer Bürger-Zeitung, Nr. 189, 15. August 1911. Der Artikel befasst sich mit dem Nationalismus in den imperialistischen Ländern. Der deutschsprachige Bevölkerungsteil im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat betrachtete sich damals noch als Deutsche. Radeks Position zur nationalen Frage in unterdrückten Nationen hat Lenin kritisiert. Später korrigierte sie Radek selbst.]

Als die Fahrt nach Marokko losging, wurde die nationale Trommel aus Leibeskräften gerührt. Wer Deutschlands Ehr‘ und Ansehen achtet, wurde in die Reihen der Marokkaner gerufen. Und jetzt, wo es scheint, dass die Sache wie das Hornberger Schießen enden soll, erklingen wieder die nationalen Trauerlaute, nationaler Schmerz tobt in den Herzen und nationaler Groll sendet Blitz und Donner selbst zu den Thronen, vor denen sonst jeder, der die deutsche Nation liebt, auf dem Bauche zu rutschen die Pflicht hatte. Ist das nur Mache?

Es genügt, in die Rüstkammer des Imperialismus anderer Länder einen Blick zu werden, um sich zu vergewissern, dass in diesem Wahnsinn Methode steckt, dass es für den Imperialismus eine Lebensfrage ist, den Nationalismus vor seinen Wagen zu spannen. In England wird vom Imperialismus die Gefahr einer deutschen Invasion an die Wand gemalt und den Massen eingeredet: Verräter an der Nation ist, wer nicht für Dreadnoughts über Dreadnoughts stimmt, wer nicht die Weltherrschaft Englands ausbauen hilft, nicht gewillt ist, auf dem Altar des englischen Weltreiches die größten Opfer zu bringen. Auch Frankreichs Ehre steht auf dem Spiele! Es gilt, die Schmach von Sedan aus der Welt zu schaffen; dazu ist ein mächtiges Kolonialreich vonnöten, das die versagende Militärkraft der Republik durch Negerblut stärken soll. So tönt es von jenseits der Vogesen. Als im Jahre 1896 italienische Freiwillige in die griechischen Reihen gingen, um für Kretas Unabhängigkeit zu kämpfen, da wurden Erinnerungen aus der Zeit der Kriege Venedigs, Genuas mit den Türken ausgegraben; jetzt, wo sich Italien in Albanien ein Erbe bereiten will und Österreich im Wege steht, wird die Unterdrückung der Italiener in Österreich benützt, um aus den Expansionsgelüsten eine nationale Sache zu machen. Ja, selbst der österreichische Imperialismus sucht einen nationalen Mantel für seine Balkansehnsüchte. Nur werden, da es keine österreichische Nation gibt, zwei Mäntel genäht. Die Deutschen Österreichs betrachten die Expansion nach dem Balkan als deutschen Drang nach Osten, die slawische Bourgeoisie fabriziert eine Legende von dem zukünftigen slawischen Österreich, das entstehen wird, wenn einmal so oder so viel Millionen Slawen vom Balkan hinzukommen. Die kleine Clique der spanischen Expansionspolitiker entblödet sich nicht, an die glorreichen Kämpfe der spanischen Hidalgos mit den Mauren zu erinnern; es gilt das “Kulturwerk” mit Schutt und Asche verschütteter Jahrhunderte zu erneuern.

So wird ein Band zwischen romantischer Vergangenheit — selbst wenn man sie erst fabrizieren muss — und schmutziger Gegenwart gewoben, so werden Interessen des Kapitalismus in nationale umgelogen: und das alles, um den noch nicht verschwundenen Einfluss der nationalen Ideologie auf die Massen wirken zu lassen im Interesse einer Politik, die ihrem wahren Inhalt nach in den Massen nur Abscheu erregen kann. Obwohl man immer wieder den Massen einzureden sucht, der Raub von Kolonien geschehe in erster Linie in ihrem Interesse, ist es sehr schwer, ihnen diese Überzeugung beizubringen. Auch der Arbeiter, der die nationalökonomische Argumentation der Kolonialpatrioten zu widerlegen nicht imstande ist, sieht, dass es seine ärgsten Feinde sind, die ihm erst gestern bei ökonomischen Kämpfen in den Rücken gefallen sind, die für seine politische Entrechtung eintraten, und die sich heute als seine besten Freunde gerieren. Er durchschaut das Gaukelspiel und beißt auf den Köder nicht an. Da gilt es stärkere Saiten aufzuziehen, und ein nationales Lied ertönt. Man erinnert ihn (was man gestern vergaß) daran, dass er ein Sohn des Vaterlandes ist, man lässt die Toten, die auf den Schlachtfeldern gefallen, aus den Gräbern steigen. Und wo sich — wie jetzt in Deutschland — kein Zusammenhang zwischen alten nationalen Kämpfen und den neuen kolonialen Abenteuern finden lässt, dort wird der nationalen Idee, die in ihrer alten Gestalt die Idee von der Selbständigkeit der Nation war, ein neuer Inhalt gegeben: es wird die Idee von der Herrschaft der eigenen Nation über andere, wenig entwickelte Nationen in die Massen geworfen.

Proletarier — rufen die Imperialisten — dort jenseits der Meere kannst du Herr sein! Du gehörst einer höheren Rasse an, und obwohl hier im Vaterlande ein Knecht, kannst du dort im Neuland anderer Herr sein! Und wenn der geknechtete Arbeitsmann sich erinnert, wie schmerzhaft ihm das kapitalistische Joch den Rücken gescheuert hat, und erklärt: ich will weder Knecht sein noch knechten, dann wird Alarm geblasen: Die Franzosen raffen eine neue Welt zusammen, schädigen unseren Handel, kränken unsere Ehre! Sollen wir das dulden? Die Engländer erklären sich zu Richtern der Welt, wollen uns Befehle erteilen: es gilt die deutsche Nation vor Knechtschaft zu bewahren! Und die Trommel wird immer lauter geschlagen, auf dass einem der Verstand vergehe, auf dass man vom Taumel ergriffen in die Reihen — die bisher verpönten — eintrete.

Müßiges Bemühen, ihr Herren! Das deutsche Proletariat gab Euch schon die gehöre Antwort während der Hottentottenwahlen [1907], indem es treu zur roten Fahne hielt trotz des kolonialnationalistischen Rummels. Und es wird ihr treu bleiben, weil das soziale Denken und Fühlen es beherrscht und einen Panzer gegen den nationalen Rummel bildet. Wenn das die deutschen Imperialisten nicht verstehen können, so nur, weil ihnen das Seelenleben der deutschen Arbeiterklasse überhaupt und ihr Verhältnis zur nationalen Frage ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Die deutsche Arbeiterklasse berauschte sich vor einem halben Jahrhundert an der nationalen Ehre. Sie trat für die Einigung Deutschlands ein und träumte von dem Tag

da wird gespannt

Ein einzig Zelt ob allem deutschen Land.

Die nationale Idee bedeutete schon damals bei der deutschen Bourgeoisie den Gedanken an die Beherrschung und Ausbeutung der ganzen deutschen Nation. Für das Proletariat, in seiner Masse war sie das Streben nicht nur nach der Einigkeit, sondern auch nach der Freiheit der deutschen Nation. Seine Avantgarde, die hinter der nationalen Phrase der Bourgeoisie den wahren Gehalt sah, wollte um die Einheit Deutschlands kämpfen, um dem Kampfe für den Sozialismus ein einheitliches, großes Terrain zu schaffen. Seit dieser verflossenen fünf Jahrzehnte, auf Schlachtfeldern wurde das deutsche Reich gegründet, ein Teil der Nation wurde in dynastischem Interesse außerhalb des neuen Hauses gelassen, und das Haus selbst entpuppte sich als eine große Kaserne. Und vier Jahrzehnte hindurch arbeitete die Bourgeoisie unermüdlich, um dem Proletariat einzuhämmern, dass sein Weg zur Nation nur durch den Sozialismus führt. Denn, ist die Nation eine Gemeinsamkeit von Menschen, die an einem Kulturleben teilnahmen, so muss erst der Kapitalismus aus der Welt geschafft werden, der den Massen den Zutritt zu jedem Kulturleben sperrt, bevor die Massen an der nationalen Kultur teilnehmen können. Und weil die Arbeitermasse mit jedem Jahre diese Zusammenhänge besser übersieht, hat sie für das nationale Kesseltreiben der Imperialisten nur ein verächtliches Lächeln. Würden die Imperialisten sie an den imperialistischen Wagen selbst unter dem Rufe zu spannen versuchen, dass es sich um die Vereinigung mit den deutschen Volksgenossen in Österreich handle, so würde die Arbeiterklasse es abzulehnen, unter solcher Führung in den Kampf zu ziehen; sie würde antworten: “Damit sich die deutschen Volksgenossen in einem Hause vereinigen können, als freie Männer, müssen sie zuerst das kapitalistische Joch abschütteln; bis zu dieser Zeit gibt es kein einiges deutsches Volk, und eine größere Kaserne zu bauen, dafür Schweiß und Blut zu vergießen, fällt uns nicht ein. — und wie müssen angesichts dessen die Arbeiter den Falschmünzern antworten, die ihnen einzureden suchen, es gelte ein einzig Zelt über Deutschen und Marokkanern zu wölben, und die das nationale Politik nennen? Hohn und Spott haben klassenbewusste Proletarier für diese falschen Propheten!

Aber es gibt im Lande noch unaufgeklärte Arbeiter. Ihnen die Augen über die Heuchelei des imperialistischen Nationalismus zu öffnen, ihr Gefühl des Mistrauens gegen die nationalistische Hetze in bestimmtes sozialistisches Wissen zu verwandeln, das ist die Aufgabe, die diese Stunde erfordert. —

Karl Radek.

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