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I. Die neuen Militärvorlagen und was weiter?

Deutschland greift zu neuen Rüstungen, nachdem erst vor zwei Jahren im Quinquennatsgesetz die Heeresstärke um 11.000 Mann, die Militärkosten um 140 Millionen Mark, nachdem erst im vorigen Jahre die Heeresstärke um 29.000 Mann, die Militärkosten um 650½ Millionen Mark vergrößert worden sind. In jähem Sprung soll jetzt das Heer um über 150.000 Mann vergrößern werden, was eine Milliarde einmaliger und eine Viertelmilliarde dauernder Kosten verursachen soll — zu der 1.576.326.000 Mark des bisherigen Militär- und Marineetats hinzukommen. Zirka 800.000 Mann (samt den Offizieren) sollen dauernd unter Waffen stehen.

Dem von Deutschland gegebenen Signal folgen alle anderen Staaten; Frankreich schraubt seine militärische Entwicklung zurück, revidiert das Gesetz vom Jahre 1905, das die zweijährige Dienstzeit eingeführt hat, führt die dreijährige Dienstzeit mit all ihren ungeheuren Lasten an Gut und Blut wieder ein, um nur ja, trotz seiner über ein Drittel schwächeren Bevölkerung dem Laufschritt des deutschen Militarismus folgen zu können. Der Verbündete Frankreichs, Russland, wird ihm folgen müssen, sei es in der Aufstellung neuer Armeekorps oder in der besseren Ausrüstung der bisherigen. Österreich, die Konkurrenzmacht Russlands auf dem Balkan, wird nicht im Hintertreffen bleiben; und obwohl es vor kurzem seine Heeresmacht um über 60.000 Mann erhöht hat, will es sie wieder um 30.000 Mann anschwellen lassen. Das wird Italien, seine verbündete Macht, auch zu neuen Rüstungen nötigen, denn die freundschaftlichen Verhältnisse erfordern in der kapitalistischen Welt, ebenso wie in der feindlichen, das stete Rüsten, während ihr Ziel bei gespannten Verhältnissen das Sich-nicht-erdrücken-Lassen bildet, müssen „befreundete“ Mächte rüsten, damit der Wert der „Freundschaft“ eines jeden gleich bleibe.

So beginnt ein Rüstungstanz von Schwindel erregendem Anblick. Nach sehr niedrig eingesetzten Schätzungen des offiziösen „Nauticus“ verschlangen die Rüstungskosten in den letzten zehn Jahren in den „zivilisierten“ Ländern über 65 Milliarden Mark: über 10 Milliarden in Deutschland, über 12 in England, über 9 in Frankreich, über 11 in Russland, über 4½ in Österreich, über 3½ in Italien, über 10 in Amerika, über 2½ in Japan; wobei die Schädigung der Wirtschaft durch die Entziehung der Arbeitskräfte gar nicht mitgerechnet ist. Die Kosten eines Jahres des bewaffneten Friedens berechnet Professor Kobatsch1 nur für Europa auf 18 Milliarden Mark: 7 Milliarden Mark die direkten Rüstungsausgaben, 5 Milliarden Mark Entgang der aktiv Dienenden (5 Millionen Mann à 1000 Mark), 6 Milliarden Mark der Dienst der Schuldenzinsen. In dem hoch gepriesenen Zeitalter der Sozialpolitik beträgt das Verhältnis aller Wohlfahrtsausgaben, von dem bisschen Wissen, das dem Volkskind zuteil wird bis zum Sterbegeld des invaliden Proletariers in Deutschland 1/28 der Rüstungsausgaben. (Nach einer Enquete des französischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten.)

Und das Resultat dieser ungeheuren Ausgaben, die, auf dem Wege der indirekten Steuern aus der Volksmasse herausgeholt, ihr Aufwärtsstreben vom Leben des Arbeitsviehs zu dem des Menschen gewaltig zurückdrängen, sie aller Kulturmöglichkeiten berauben? Sie sollen den Frieden sichern! Aber wie es selbst um diesen armseligen Frieden der in Knechtschaft und Not Lebenden dank den Rüstungen bestellt ist, das hat am 8. März dieses Jahres, Bezug nehmend auf die bevorstehenden Rüstungen, ein Rüstungspatriot, der frühere Diplomat und jetzige nationalliberale Parlamentarier Rath mit folgenden Worten im „Tag“ erklärt:

Es lässt sich nicht leugnen, dass die ungeheure Steigerung der militärischen Macht eine Gefahr für den Frieden bedeutet, dass die Lehre von der Versicherungsprämie in Gestalt der Rüstungskosten erschüttert wird, wenn die militärischen Anstrengungen ein gewisses Maß übersteigen. Die Schwere der Rüstung kann eines Tages unerträglich werden und zur kriegerischen Entscheidung drängen.“

Wachsende Not, wachsende Kriegsgefahr, das ist die Bilanz der Rüstungen. Auf Jahre hinaus werden junge Volkssöhne, oft Ernährer der Familien, in der Zeit, wo sie am meisten lernen können, in der Zeit, wo selbst ihrer ärmlichen Jugend das Leben das Beste schenken kann, in die Kasernen gesteckt, jahrelang mit geisttötender Plackerei gedrillt, mit Rohheit behandelt, damit sie, wenn es gilt, auf Vater und Mutter oder ausländische Arbeitsbrüder schießen und selbst Kanonenfutter bilden. Alles bäumt sich im Proletariat instinktiv gegen diese Verschwendung an Gut und Blut, gegen die Gefahr der Verwandlung der zivilisierten Menschheit in Horden sich gegenseitig abschlachtender Barbaren auf. Nichts ist natürlicher als die Sehnsucht nach einem Ende dieser in den Abgrund treibenden Entwicklung. Das Herz und Gehirn der arbeitenden Volksmassen, ihre klassenbewusste Vorhut, die Sozialdemokratie, kann nicht ruhig, mit verschränkten Armen, diesem militaristischen Taumel zusehen, sie kann sich nicht mit seiner Kritik begnügen, sie muss einen Kampf gegen das Rüsten organisieren, die Kräfte des Volkes zu diesem Kampfe mobilisieren.

Gibt es aber ein Mittel zur Milderung dieser die Menschheit bedrohenden Verhältnisse und zu ihrer endgültigen Durchbrechung? Die Sehnsucht und die Erkenntnis der Massen weist auf den Sozialismus, der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, also auch die Konkurrenz der Ausbeutenden untereinander, ihren Kampf, zu dessen Mitteln die Rüstungen und der Krieg gehören, abschaffen wird. Als Weg zu diesem endgültigen Ziel aber zeigt die Sozialdemokratie auf das Volksheer. Indem sie auf dieses Ziel, als dem aus der Entwicklung des Militarismus sich ergebenden, Schritt für Schritt im Rahmen des Kapitalismus Verwirklichbare, bis es bei seiner vollständigen Verwirklichung diese Rahmen sprengen wird, hinweist, stellt sich die Sozialdemokratie nicht nur in einen Gegensatz zu den Fanatikern des Militarismus, sondern auch zu den bürgerlichen Friedensaposteln, die, Bourgeois bis in die Knochen, den Kapitalismus mit seiner Knechtschaft des Volkes erhalten und nur seine reifste Frucht, die der Kriegsbarbarei, beseitigen wollen.

Es gibt eine Anzahl von Ideologen bürgerlicher Herkunft und Denkart, die sich vom Egoismus ihrer Klasse frei wähnen und einen ehrlichen Hass gegen den Moloch in sich nähren, die sich durch eifrige Propaganda für die Abschaffung der stehenden Heere oder wenigstens für eine weitgehende Abrüstung betätigen. Sie glauben, dass es möglich ist, auf diese Weise den Würgengel des Krieges aus dem Paradiese unserer Kultur zu jagen und einen Zustand zu begründen, wo Machtfragen nicht mehr durch Blut und Eisen, sondern durch friedsame internationale Schiedsgerichte gelöst werden. Wenn nun an das Proletariat die Frage gestellt wird, ob es diesen Bestrebungen seine Unterstützung leihen soll, so kann es darauf nur die Antwort geben: Nein!“ — schreibt Hugo Schulz, der sozialdemokratische Geschichtsschreiber des Kriegs und Heereswesens.2 Und zwar erfolgt diese Weigerung aus mehrfachen Gründen. Die Arbeiterklasse ist in dem Kriege, unter dem sie vor allem zu leiden hat, und der selbst dann, wenn er eine Aktion notwendiger nationaler Verteidigung ist, mit seinen etwaigen günstigen Ergebnissen ihre Interessen weit weniger fördert als die der herrschenden Klassen, natürlich nicht weniger abhold als die utopischen Friedensfreunde. Sie wird sich aber dennoch sorgsam vor allem „Abschaffungswahn“ hüten und, geführt von dem ihr eigenen historischen Sinn, den Weg einschlagen, den ihr die klare Erkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge und Notwendigkeiten weist. Dieser Weg führt allerdings zu einem Ziele, hinter dem der Alpdruck der Kriegsfurcht nicht mehr auf der Menschheit lasten wird; denn: wenn einmal die sozialistische Organisation unserer Kulturwelt beendet sein wird, dann werden die Interessen der einzelnen Organisationsgebilde nur mehr parallel laufen; jedes sozialistische Gemeinwesen wird bei vollentwickelten Produktivkräften in sich selbst die Gewähr seiner Machtentfaltung finden und an keinem Punkt genötigt sein, die Wege des Nachbars zu kreuzen. Bis zur vollen Erfüllung dieser im Entwicklungsgange unserer Kultur gelegenen Tendenzen aber wird uns das Erbübel des Krieges noch erhalten bleiben, und das Interesse der Arbeiterklasse geht nur dahin, mit aller Macht jeden einzelnen Ausbruch des Geschwürs zu verhindern. Tatsachen von so eindringlicher Wucht und von so tiefer historischer Begründung wie die, als die uns der moderne Militarismus erscheint, lassen sich nicht abschaffen, sondern nur im Kampfe überwinden.

Es sei nur ganz nebenbei erwähnt, dass der Sehnsucht nach Abschaffung der großen Massenheere und nach Rückkehr zu den kleinen Söldner- oder Konskriptionsheeren auch eine gut bürgerliche Erwägung zugrunde liegt. Die herrschenden Klassen sind, wie bei all ihrem Tun auch damit, dass sie sich mittels der allgemeinen Wehrpflicht auch ein volkstümliches Bollwerk wider das Volk geschaffen haben, in eine Sackgasse geraten: sie brauchen wohl ihre Riesenarmeen, fürchten aber zugleich die demokratischen Geister, die in ihnen schlummern und nur zu erwachen brauchen, um das enge Gehäuse einer feudal-hierarchischen Organisation, in das sie gebannt sind, zu sprengen. Es gibt heute hohe Generäle, die es ganz offen aussprechen, dass die allgemeine Wehrpflicht die alte Kriegsherrlichkeit des privilegierten Soldatentums zugrunde richte und zur Demokratisierung der Armee führe.

Das aber ist eben, was die Arbeiterklasse anstrebt. Und die schwache Stelle ihres Systems, die die Bonzen des Molochs selbst mit klarem Auge erkennen, ist der archimedische Punkt, wo die Sozialdemokratie ihren Hebel ansetzen muss, um die Trutzburg der Klassenherrschaft aus den Angeln zu heben. Nicht Abschaffung der Armee, sondern Demokratisierung der Armee ist ihre Parole. Nicht Abrüstung der Massenheere und Rückkehr zu den kleinen Eliteheeren der Vergangenheit, die zwar kein so umfängliches, dafür aber ein um so präziseres, zuverlässigeres Instrument der Machthaber sind, kann unser Ziel sein, sondern alle Konsequenzen aus der allgemeinen Wehrpflicht wollen wir ziehen. Und wir wollen nicht nur, sondern es muss so kommen; seine eigene innere Dialektik bringt den Militarismus in Widerspruch mit sich selbst und löst ihn allmählich auf: Mit innerer Notwendigkeit bildet sich unter dem zersetzenden Einfluss der in ihm wirkenden Kräfte jener Geister, die es einst rief, um sie nimmer los zu werden — das herrliche Heer des Monarchen, des sporenklirrenden Junkertums, der um ihre Schätze zitternden Bourgeoisie, zur Miliz um, zum herrlichen Heere des Gesamtvolkes, das in ihm und über ihn herrscht. Diese Entwicklung ist es, die wir zu fördern haben. Wir sind darum nicht weniger friedliebend, nicht weniger mit Abscheu von aller militärischen Gloriole erfüllt, als die utopischen Friedensfreunde. Wir ziehen es nur vor, statt in den blauen Himmel hineinkonstruierte Luftschlösser zu ersinnen, auf dem Boden des historisch Gegebenen und historisch Notwendigen zu wandeln, statt in unserer Phantasie den Kriegsgott zu entthronen, eine Wirklichkeit zu schaffen, die sich gegen seine bösen Zauber zu wappnen weiß.

Dieser trefflichen allgemeinen Charakteristik des Standpunktes der Sozialdemokratie zufolge in der Schulz nur das ausdrückt, was auch immer unser Altmeister Engels, ein Fachmann auf diesem Gebiete, was Mehring, ein ausgezeichneter Kenner der älteren Militärgeschichte, was Bebel, ihr überzeugter Anhänger, vertraten, gilt es, unsere Milizforderung zu begründen, nicht als eine aus der schöpferischen Phantasie oder Spekulation gewonnene so genannte „nützliche“ Forderung, sondern historisch, das heißt: sie zu begründen als notwendige Folge der Entwicklung des Militarismus im Rahmen der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung. Zu dieser Begründung finden wir Bausteine nicht nur in den Arbeiten der genannten Vorkämpfer der Sozialdemokratie, deren Darstellung der Milizfrage zwar in den Grundfragen hieb- und stichfest ist, in einzelnen Argumenten aber nicht ganz dem jetzigen Zustand des Militarismus und dem Charakter des Imperialismus entspricht, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur des Militarismus selbst, beginnend bei ihren großen modernen Vertretern: von Clausewitz, Gneisenau, Scharnhorst, in ihren Denkschriften durch die bürgerlichen Milizvertreter Schulz-Bodmer, Rüstow, bis zu den heutigen Verfechtern des Militarismus, den Generälen v. Schlieffen, von der Golz, v. Bernhardi und den Göttern minderen Ranges des militärischen Olymps.

1 Prof. Dr. Rudolf Kobatsch: „Die volks- und staatswirtschaftliche Bedeutung der Rüstungen“, Wien 1911 Verlag K. Konegen, S. 54.

2 Hugo Schulz: Blut und Eisen, S. 16-18. Berlin, Vorwärts-Verlag.

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