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III. Bourgeoisie, Miliz und Militarismus

1. Das bürgerliche Milizideal.

Die 25 Jahre an der Schwelle des 19. Jahrhunderts, die die Zertrümmerung der stehenden Söldnerheere, den Sieg von Volksaufgeboten, das Entstehen des Heeres, der allgemeinen Wehrpflicht, sahen, mussten natürlich aufs tiefste sowohl die Ansichten der Berufsmilitärs wie der breiteren Kreise der politisch denkenden Öffentlichkeit beeinflussen. Karl von Clausewitz, der geniale Theoretiker, der in seinem im Jahre 1832 erschienenen Werk „Vom Kriege“ das Fazit dieser Umwälzung auf dem ganzen Gebiete des Kriegswesens zog, schrieb, Preußen habe im Jahre 1813 gezeigt, „dass plötzliche Anstrengungen die gewöhnliche Stärke einer Armee auf dem Wege der Miliz versechsfachen können“.1 Er stellte gegen alle, die in der Volksbewaffnung ein revolutionäres, also verabscheuenswertes Mittel sahen, fest, dass, wer das Requisitionssystem, das System der Massenheere, wie sie während der Revolutionskriege entstanden sind, als historisch gegeben betrachtet, „in dieser Richtung nun auch der Aufruf des Landsturms oder die Volksbewaffnung liegt. Sind die ersten dieser neuen Hilfsmittel eine natürliche und notwendige Folge niedergeworfener Schranken und haben sie die Kraft dessen, der sich ihrer zuerst bedient hat, so gewaltig gesteigert, dass der Gegner mit fortgerissen wurde und sie auch ergreifen musste, so wird dies auch der Fall mit dem Volkskriege sein. Im Allgemeinen würde dasjenige Volk, welches sich desselben mit Verstand bedient, ein verhältnismäßiges Übergewicht über diejenigen bekommen, die ihn verschmähen“.2 So Clausewitz. Und der österreichische Feldherr Radetzky schrieb im Jahre 1828 in seiner „Militärischen Betrachtung“ über die Lage Österreichs:3

Die stehenden Heere haben in dem neueren Europa den Glanz der Landwehren gänzlich verdunkelt, Dadurch sind in neuester Zeit alle Erfahrungen, die uns bei Beurteilung des Wertes von Landwehren leiten könnten, verloren gegangen. Und doch beruht die zuverlässigste Stärke eines Staates auf zweckmäßig gebildeten Landwehren. Diese Einrichtung ist die natürlichste und deshalb auch die beste. Sie liefert dem Staat im Verhältnis seiner Bevölkerung die größte Anzahl Streiter; sie erhält im Volk das Bewusstsein lebendig, dass es sich selbst verteidigt, eben dadurch also einen kriegerischen Geist, der nicht leicht ausarten wird, weil diejenigen, welche er erlebt, niemals aufhören, Bürger zu sein. Ein solcher Geist auf einer solchen Höhe aber macht ein Volk unüberwindlich. Man wird es nicht unterjochen, viel weniger ausrotten können.“

Dieser Auffassung der hervorragenden Theoretiker wie Praktiker des Kriegswesens entsprach die Auffassung des Bürgertums, soweit es in der Stille der Restaurationszeit über diese Fragen nachdachte. Da es überhaupt in sehr geringem Grade die Möglichkeit hatte, die konkreten Staatseinrichtungen einer Kritik zu unterziehen, so äußerte sich diese Auffassung bis zum Jahre 1848 nicht so sehr in dem Aufdecken des immer mehr überwuchernden Geistes der Soldateska im neuen Heeressystem, als in der Bewertung der Landwehr als des wichtigsten Teiles des Wehrsystems. Als im Jahre 1848 das Heer der allgemeinen Wehrpflicht sich als Stütze des Absolutismus bewährte, der Sieg der Konterrevolution jedoch nicht mehr imstande war, die Friedhofsruhe der vormärzlichen Zeit wieder herzustellen, fanden die Auffassungen des Bürgertums ihren Ausdruck in einer weit verbreiteten Agitations- und wissenschaftlichen Literatur über die Fragen der Heeresorganisation Die Agitationsliteratur popularisiert die Gedanken, dass das Heer mit langer Dienstzeit eine Waffe in der Hand des Absolutismus werden kann, selbst wenn es nicht aus angeworbenen Söldnern, sondern aus Volkskindern besteht, die ihre Wehrpflicht erfüllen; sie beweist, dass die lange Dienstzeit gar nicht geeignet ist, die militärische Tüchtigkeit des Heeres zu heben und sieht die Quelle derselben im kriegerischen Volksgeist, der ausbricht, wenn die Interessen des Volkes vom Feinde angetastet werden. Die Stärkung dieses Volksgeistes und des Volkskörpers durch körperliche Jugendausbildung, durch Turnvereine,4 die Übung der Kriegsbereitschaft durch Schützenvereine, das sind die Hauptargumente dieser Agitationsliteratur. In welcher Form aber die Organisation dieser Kriegsbereitschaft im Frieden stattfinden soll, tritt in dieser Literatur oft nicht mit genügender Klarheit hervor, was gewissermaßen den Ausspruch berechtigt, das Bürgertum der fünfziger und sechziger Jahre habe dem Bürgergardistenideal gehuldigt, dem Ideal jener vorübergehenden, zufälligen Organisationen, die während der Revolution oft entstanden als Mittelding zwischen einer freiwilligen Polizei, Feuerwehr und Barrikadenkämpferarmee. Aber in der wissenschaftlichen Literatur, in der die Milizidee fachmännische Vertreter fand, wie Rüstow, in dessen Werken5 sie den Charakter eines absoluten Begriffs verliert und geschichtlich begründet wird, verschwinden diese Mängel. Rüstow unterscheidet das Milizheer, das stehende Heer und das Cadresheer. Beim ersten gilt es nur, „im Frieden die Männer auszuwählen, welche im Kriege das Heer bilden sollen, sie für diesen Beruf durch Übung tüchtig zu machen, sie aber nicht beständig als Heer versammelt zu haben, sondern nur in bestimmten Zeiten und für kurze Dauer zusammen zu berufen.“ Das zweite, wenn „so viele Truppen, als sie den regelmäßigen Bedürfnissen der Kriegführung entsprechen, beständig als Heer versammelt sind“…

Mitten zwischen diesen beiden Extremen steht das Cadresheer. Dieses soll den Bedürfnissen einer teilweisen beständigen Kriegsbereitschaft und der Einübung der bewaffneten Mannschaft zugleich entsprechen. Eine verhältnismäßige große Anzahl von Männern wird also beständig bei den Fahnen gehalten; nach einer gewissen Dienstzeit, deren Dauer sehr verschieden ist, in der Regel zwischen 3 bis 15 Jahren, werden die Leute von den Heeresverbänden entlassen, während an die Stelle der jedes Mal ausscheidenden neue — Rekruten — treten; die Entlassenen sind aber der Heerespflicht nicht gänzlich ledig, sondern werden beim drohenden Ausbruche eines Krieges einberufen und verstärken nun das Heer. Dies System herrscht jetzt in den meisten Staaten Europas.“6

Rüstow teilt also die Heeresformen nach ihrem Zweck: beim stehenden Heere ist er sofortige Kriegsbereitschaft der ausgebildeten Soldaten, bei der Miliz die Ausbildung der Soldaten zum zukünftigen Krieg, bei den Cadresheeren ist er die Vereinigung beider Ziele durch Ausbildung der Soldaten, die eine Zeitlang nach ihr noch bei den Fahnen bleiben, um so die Kriegsbereitschaft zu erhöhen, während andere ausgebildet werden, die aber auch nach der Entlassung aus dem Dienste zum Kriege gebraucht werden können. Aber der begreifliche Unterschied zwischen dem Miliz- und Cadresheere verwandelt sich bei ihm nicht in eine steife, hölzerne Scheidung der Cadresheere und der Miliz, wie er zwischen der Miliz und dem alten stehenden Heere bestand. Je kürzer die Dienstzeit bei dem Cadresheere ist, desto mehr nähern sie sich der Miliz: „Je kürzer die Dienstzeit, je ausgedehnter das Beurlaubungssystem, je öfter das Heer sich aus dem Volke erfrischt und in das Volk ausgebildete Krieger entsendet, desto mehr soldatischer Sinn, Kenntnis der Erfordernisse des militärischen Lebens, Geschick und Mut zum selbständigen militärischen Organisieren wird sich in dem Volke finden,“ — was alles in voller Ausbildung eben das Resultat der Miliz ist. Das Milizsystem und das Cadressystem mit kurzer Dienstzeit und starker Beurlaubung bilden also für Rüstow keine absoluten Gegensätze. „Das Ideal, dem in dieser Richtung die Cadresheere zustreben müssen, ist das Milizheer mit seinen temporären Dienstübungen für kurze Dauer, Aber es wäre falsch, anzunehmen, dass Rüstow das Milizheer mit den unausgebildeten Volksaufgeboten gleichstellt:

Es ist ebenso gefährlich, die Notwendigkeit der militärischen Bildung zu unterschätzen, als sie zu überschätzen. Diejenigen, welche das letztere tun, glauben, dass nur in einer langjährigen Dienstzeit der Mann die erforderliche Ausbildung zum Soldaten erlangen könne. Ihre Staaten haben fast alle Mannschaften, welche überhaupt für das Waffenhandwerk bestimmt sind, bei den Fahnen; einen kleinen Bruchteil der Nation. Dieser zieht in den Krieg, erliegt zum größten Teil den Beschwerden der Märsche und Lager, den Waffen des Feindes. Ergänzung wird unvermeidlich, sie kann aber, da die Waffenübung des größten Teils der Nation verabsäumt ward, nur in ungeschulten Rekruten bestehen, Mit welchem Vertrauen werden nun dieselben Männer, welche so große Ansprüche an die Ausbildung des Soldaten erhoben, diese Stoffe in die Schlacht führen? Werden sie nicht den Sieg verloren geben, ehe sie versuchten, ihn zu erringen?

Diejenigen aber, welche die Notwendigkeiten der militärischen Bildung unterschätzten, behaupten, dass es genüge, dem Manne eine Waffe in die Hand zu geben, um ihn zum Soldaten zu machen. Für sie ist alle Waffenübung überflüssig, sie sehen bei einem feindlichen Einbruch bewaffnete Scharen von Hunderttausenden aus dem Boden erstehen und siegreich in der Verteidigung des Heimatlandes kämpfen. Welcher Irrtum! Wer hat denn jemals zu behaupten gewagt, dass es gleichgültig sei, ob man die Schneide oder den Rücken des Messers gebrauche? Aber selbst mit dem Aufstehen nur jener Hunderttausende, abgesehen davon, welchen Gebrauch sie von ihren Waffen machen, welche Erfolge sie erzielen, wird es sehr schlimm bestellt sein, wenn es an soldatischem Geiste in der Nation, wenn es an den Einrichtungen fehlt, welche allein ihn schaffen könnten?“

So sieht die militärische Seite der Begriffe Miliz, stehendes Heer und Cadresheer bei dem führenden bürgerlichen Theoretiker der Milizidee aus. Sie ist klar durchdacht und gibt nicht den geringsten Anlass zu dem Gespött, das sich die Kasernenhoffachmänner ihr gegenüber erlauben. Das Milizideal Rüstows steht auf dem Boden der Wirklichkeit und ist keine Spekulation, sondern ein EntwickIungsziel. Mochte Rüstow zu wenig die politischen Hemmungen des Siegesganges der Milizidee übersehen haben, militärisch hatte er recht, wenn er schrieb: „in allen Staaten der kultivierten Welt ist tatsächlich die Tendenz vorhanden, dem Beurlaubungs-, d. h. dem Milizsystem eine immer weitere Ausdehnung zu geben.“

Dass diese Tendenz für eine Zeitlang zurückgeworfen wurde und überhaupt je länger, desto mehr sich nur sehr widerspruchsvoll, in Stößen und Gegenstößen äußerte, das hängt in erster Linie von der Änderung der Haltung des Bürgertums dem Junkerstaate gegenüber und von dessen Umwandlung in den kapitalistischen Staat ab, die sich eben in der Zeit vollzog, in der Rüstow seine Werke schuf. Der Widerspruch zwischen dieser Entwicklung und dem Milizgedanken wird klar zutage treten, wenn wir die Ausführungen Rüstows über den politischen Charakter der Miliz mit der politischen Situation der siebziger Jahre in Deutschland vergleichen.

2. Die Bourgeoisie gegen die Miliz.

Der wesentliche Unterschied zwischen dem Milizsystem und dem stehenden Heere, sowie zwischen allen, die in der Nähe des einen oder des anderen stehen, ist die größere Ausgiebigkeit, die größere Leichtigkeit neuer Organisationen, namentlich für den Verteidigungskrieg bei dem ersteren, die größere Unabhängigkeit der Staatsgewalt in der Verfügung über die Streitkräfte bei dem letzteren. Kleinere Staaten haben nur in dem Milizsystem die Möglichkeit, den größeren annähernd gleiche Heere entgegenzustellen, also ihre Selbständigkeit zu verdienen. Damit aber diese Stärke, welche das Milizsystem ihnen gibt, nicht illusorisch werde, muss die Staatsgewalt eine durchaus volkstümliche sein, darf ihre eigenen Bahnen nicht gehen, wenn dieselben von denen des Volkes abweichen“,7 heißt es bei Rüstow. Während aber Rüstow dies niederschrieb, rüstete die preußische Regierung zur Lösung der deutschen Frage mit Blut und Eisen. So sehr auch die Volksmassen für die Vereinigung Deutschlands waren, so waren sie gleichzeitig gegen den Bruderkrieg. Diese Stimmung hat die preußische Regierung, die wie jede andere ganz- oder halbabsolutistische Regierung das Maß der Widerstandskraft des Volkes unterschätzte oder überschätzte, aber niemals richtig einzuschätzen wusste, zu hoch angeschlagen. Sie konnte also das zur guten Hälfte aus Landwehren zusammengesetzte Heer, mochte es sich auch noch so gut in einem Verteidigungskrieg gegen einen nationalen Feind schlagen, nicht als genügend zuverlässiges Kampfmittel gegen Österreich betrachten. Die Heeresorganisation Roons lieferte die Massen mehr in die Hand der Regierung. Aber selbst, wenn diese militärische Erwägung nicht in Betracht kommen würde, so umso mehr die politische; selbst bei dem mit reaktionären Elementen durchsetzten Landwehrsystem würde ein Krieg eine politische Durchrüttelung des Volkes bedeuten, die dem Liberalismus zugute kommen musste. Ein Volksenthusiasmus, wie im Jahre 1813, würde bei dem im Jahre 1860 viel höheren Bildungsgrade des Volkes, seiner höheren wirtschaftlichen Entwicklung, schon anders dafür sorgen, dass der innere Feind, das Junkertum, samt dem äußeren die Zeche zu bezahlen habe, als es im Jahre 1813 der Fall war.

Die Regierung hielt an der Militarisierung Deutschlands fest, sie wollte sich eben in ihrer Politik von der Bourgeoisie unabhängig machen.

Und die Bourgeoisie? Ihre demokratischen Elemente agitieren in kleinen Broschüren für das Milizsystem, sie sehen in der Frage von Militarismus und Miliz die „wichtigste der sozialen Fragen“,8 sie glaubten, dass der Aufhebung des stehenden Heeres allgemeiner Wohlstand, dem Verschwinden des Junkermonopols auf Offiziersstellen die Demokratie folgen wird. Aber die ausschlaggebenden Elemente der Bourgeoisie ließen schon vor dem Jahre 1871 das Milizsystem fahren. Aus diesen Kreisen wurde an Rüstow geschrieben:

Wenn Sie glauben, dass Ihre Milizideen in Preußen schon Grund und Boden haben, so befinden Sie sich in einem gewaltigen Irrtum, Sie könnten es daher wohl unterlassen, diese Dinge vorzutragen, mit denen Sie ja doch nichts nützen. Den Abgeordneten wäre es jedenfalls viel lieber, wenn Sie ihnen eine Anweisung gäben unter Beibehaltung des Systems im allgemeinen, nur etwa mit Führung der zweijährigen Dienstzeit, die Alles in Preußen befriedigen würde, einzelne Ersparnisse zu beantragen.“

Es entsprach dem Willen der führenden Schichten der Bourgeoisie, die preußische Regierung bei der Lösung der deutschen Frage, die revolutionär zu lösen das Bürgertum verpasst hatte, nicht zu stören. Ihr ganzer Kampf gegen die Roonsche militaristische Reorganisation, die die Milizelemente aus dem preußischen Heereswesen ausmerzte, war nur ein Kampf um politische Entschädigungen, wegen welcher die liberalen Führer durch den Herzog von Coburg, dem „Schützenfürsten“, mit dem Hofe verhandelten.9 Da sie aber auf einer Seite den Kampf nicht offen unter der richtigen Flagge führten — um nicht in Gegensatz zu der demokratischen Anhängerschaft zu geraten — auf der andern Seite in der Sache selbst auf ihn sofort verzichteten, indem sie provisorisch die Kosten der Reorganisation bewilligten, mussten sie ihn verlieren. Am charakteristischsten für diesen Kampf ist, dass während der Konfliktsperiode, selbst in der Hitze des Gefechts niemals, im Landtage das Kampfobjekt auf die Parole: Hie Miliz — hie Militarismus! zugespitzt wurde. Nachdem der Bourgeoisie die Felle weg geschwommen waren und der durch den inneren wie äußeren Sieg gestärkte Absolutismus sie verächtlich zu behandeln begann, konnte sie nicht mehr gegen seine wichtigste Stütze, den Militarismus, auftreten, wurde er doch auch ihre Stütze.

Die alten Demokraten verlangten die Miliz, weil das Cadresheer mit dreijähriger Dienstzeit und junkerlichem Offizierkorps eine Waffe des Absolutismus und Junkertums gegen das Volk war, sie sich aber als Vertreter des Volkes fühlten. Anders die liberale Bourgeoisie nach dem Jahre 1866. Der junkerliche Staat begann sich in den kapitalistischen zu verwandeln, indem er unter der Kleinstaaterei, der Reaktion auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik, aufräumte, und so der Bourgeoisie ein einheitliches Ausbeutungsgebiet schuf. Gleichzeitig entwickelte sich die selbständige Arbeiterbewegung und weckte in der Bourgeoisie das Bewusstsein ihres Gegensatzes zum arbeitenden Volke. Nicht gegen den Absolutismus, gegen die Junker, sondern umgekehrt, mit dem konstitutionell ausgeschmückten, auch bürgerliche Interessen vertretenden Absolutismus und mit dem Junkertum, gegen das Volk — das wurde die neue politische Orientierung des Bürgertums, die erst nach dem Jahre 1871 zur vollen Entfaltung kam. Ihren Ausdruck fand sie in der Nationalliberalen Partei, die in den Zutreiberdiensten für den Militarismus, in der Verteidigung seiner reaktionärsten Konsequenzen mit den Junkern konkurrierte. Der kleinbürgerliche Teil des Liberalismus sprach zwar von der „Umgestaltung des Heereswesens im volkstümlichen Geiste“, aber im Kampfe gegen den Militarismus wusste er nichts weiter, als über seine Kosten zu jammern. Die Milizidee verschwand gänzlich aus seiner Literatur und fand nur noch Befürworter in krausen Eingängern wie Carl Bleibtreu.10

Wenn diese Frontänderung der breiten Kreise des Bürgertums durch die allgemeine Änderung seiner sozialen und politischen Kampfposition bestimmt war, so kamen für die wirtschaftlich führenden Kreise der Bourgeoisie noch das Industrie- und Bankkapital als direkte wirtschaftliche Momente in Betracht. Der Militarismus wurde zu einem Massenwarenabnehmer des Kapitalismus und durch die immer weiter fortschreitende Vergrößerung der Staatsschulden ein Mittel der Schröpfung der Volksmassen zugunsten des kapitalistischen Publikums, das in ihm die sichere Anlage sah, und des Bankkapitals, das aus der Vermittlerrolle große Verdienste zog.

Ohne jeden inneren Gegner — die Arbeiterklasse war schwach und an Händen und Füßen durch das Sozialistengesetz gefesselt — konnte der deutsche Militarismus ungehindert seine Flügel ausbreiten. Die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht in Russland nach dem Krimkriege und der Bauernbefreiung in Frankreich im Jahre 1874 gibt ihm einen Ansporn. Früher hieß es: Es gilt zu rüsten zum Kampf um die Vereinigung Deutschlands; jetzt ist die Verteidigung Elsass-Lothringens der Schlachtruf. Dazu kommt eine Reihe von Umwälzungen auf dem Gebiete der Kriegstechnik, die zusammen mit politischen Verschiebungen immer eine wichtige Quelle der Rüstungen bildete. Das Zündnadelgewehr, das den Deutschen Krieg im Jahre 1866 zum guten Teil herbeiführte, macht auf Grund der Erfahrungen des Jahres 1871 dem Gewehrmodell 71 von 11 mm-Kaliber im Jahre 1875 Platz; es tritt die Einteilung in Feld- und Festungsartillerie ein, die Kavallerie bekommt einen Karabiner ; es werden Telegraphen- und Eisenbahnabteilungen geschaffen; technische Änderungen, die nicht nur große Kosten, sondern auch organisatorische Änderungen erfordern, die sich schließlich immer mit der Vergrößerung der Soldatenzahl ändern. Die Änderungen im Festungsbau, die der Betonzement und die Panzerung verursachten, wirkten in derselben Richtung. Der durch den Deutsch-Französischen Krieg erweiterte Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, wie die technischen Umwälzungen im Kriegswesen sorgten für ein ununterbrochenes Rüsten, als in den letzten zwei Jahrzehnten ein neues Moment hinzukam, das den Militarismus in Deutschland mächtig stärken musste. Es ist der Imperialismus. Obwohl sein eigentliches Instrument zur Beherrschung der Meere und der überseeischen Länder die Flotte ist, die er mit großer Energie schuf, und über deren Verhältnis zu den uns hier beschäftigenden Prägen wir noch kommen werden, so bildet er in kontinentalen Ländern eine Quelle der Rüstungen zu Lande. Zum Teil, damit die sich im Kampfe um Kolonien, um weltpolitischen Einfluss in den Haaren liegenden Staaten als Kontinentalmächte vermittels der Landheere die weltpolitischen Händel auskämpfen können, zum Teil, weil die Bündnisse der Staaten untereinander dafür sorgen, dass ein Gegensatz zu einem nur vermittels der Flotte erreichbaren Gegner das Verhältnis zu einem kontinentalen Nachbarn verschärft. Aber nicht nur in der Notwendigkeit, die Heeresmassen zu vergrößern, d. h. die allgemeine Wehrpflicht immer schärfer durchzuführen — was auch eine revolutionäre Seite hat — äußert sich der Einfluss des Imperialismus auf das Heerwesen. „Großmächte und große Handelsstaaten“ — schrieb schon vor über sechzig Jahren Rüstow — „welche einen Welteinfluss suchen, werden wenigstens für einen Teil ihrer Truppen immer das System des stehenden Heeres oder eines ihm angenäherten annehmen müssen, weil sie oft gezwungen sind, zu demonstrieren und notwendig Staatszwecke zu verfolgen haben, welche, wenn auch keineswegs unvernünftig, doch der Masse des Volkes ferner liegen, namentlich muss auf einen Teil der Flotte das System des stehenden Dienstes angewendet werden.“ Wir lassen diese Frage einstweilen beiseite, wie wir hier nicht nötig haben, zu beweisen, dass die Kolonialpolitik, die vom Standpunkte des bürgerlichen Demokraten — wie Rüstow, trotz seiner Feindschaft mit Lassalle, einer war — zwar vernünftig, vom Standpunkte des Proletariats jedoch zu bekämpfen ist. Es genügt für uns, festzustellen, dass die imperialistischen Staaten ebenso angesichts dessen, dass ihre imperialistischen Ziele, die Ausbeutung fremder Länder, im Proletariat einen ernsten Feind gefunden haben, alles zu tun suchen, um die demokratischen Tendenzen im Heere zurückzudämmen und die reaktionären zu stärken, was die Gegnerschaft des Bürgertums zum Milizgedanken noch vergrößert, und das Proletariat im Kampfe für die Miliz noch mehr vereinsamt. Aber eine Prüfung des Gesamtcharakters des Militarismus, wie er sich seit dem Jahre 1871 gestaltet hat, wird zeigen, dass er trotz alledem in der Richtung auf die Demokratisierung treibt.

1 Carl von Clausewitz: „Vom Kriege“, S. 179, Berlin 1912, Verlag Dümmler.

2 Clausewitz, a.a.O., S. 493

3 Denkschriften militärisch-politischen Inhalts aus dem Nachlass des k. k. Feldmarschalls Grafen Radetzky. Stuttgart 1853, S.445-456. Da uns das Buch unzugänglich war, zitieren wir nach O. Fr. Kolb: „Die Nachteile des stehenden Heeres‘‘. Leipzig 1862.

4 Siehe: „Die Turnkunstbund-Wehrverfassung im Vaterlande.“ Eine Denkschrift des Berliner Turnrates, Berlin 1860.

5 Es kommen in der Hauptsache zwei Werke Rüstows in Betracht: „Untersuchungen über die Organisation der Heere.“ Basel 1855. Und: ‚‚Der Krieg und seine Mittel“, eine allgemein fassliche Darstellung der ganzen Kriegskunst. Leipzig 1856.

6 W. Rüstow: ‚‚Der Krieg und seine Mittel“, S. 50. Das Kapitel: Heeresformen (S. 49-60 dieses Buches), aus dem die folgenden Zitate entnommen sind, ist knapp und übersichtlich, und verdient ganz abgedruckt zu werden als gute wissenschaftliche Zusammenfassung der damaligen Auffassung der Milizfrage.

7 Rüstow: „Der Krieg“, S. 59.

8 G. Fr. Kolb: „Die Nachteile des stehenden Heeres und die Notwendigkeit der Ausbildung eines Volkswehrsystems.“ Leipzig 1862, S. 35.

9 Klein (Hattingen): „Die Geschichte des deutsches Liberalismus.“ Berlin 1911, S. 232.

10 Siehe sein Buch: „Zarbefreier“ (Stuttgart, Dietz, J. 1898) und seine neueste Arbeit: „Das Heer“ (Frankfurt 1912, Rittten-Löltning). Mit welcher Vorsicht Bleibtreus Arbeiten zu gebrauchen sind, zeigte Mehring in seiner Besprechung des letzten Buches Bleibtreus in der ‚‚Neuen Zeit“ (1913).

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