IV

IV. Die Tendenzen des modernen Militarismus.

1. Die Folgen der allgemeinen Wehrpflicht

Seit dem Deutsch-Französischen Kriege eroberte sich die allgemeine Wehrpflicht ein Land nach dem andern. Keines konnte hinter dem andern zurückbleiben, weil dies die Minderung des politischen Einflusses nach sich ziehen würde. Selbst halbagrarische Länder wie Österreich und Russland mussten mitmachen, obwohl die finanzielle Last der allgemeinen Wehrpflicht zu schwer war für ihre schwachen Schultern. Am energischsten holte Frankreich das Versäumte nach. Bei seinen 38 Millionen Einwohnern brachte es im Jahre 19l0 die Aushebungsquote von 256.000 Mann auf. Und wie sehr diese Quote die militärische Kraft Frankreichs überstieg, das zeigt die Tatsache, dass in diesem Jahre 28.273 ausgehobene Rekruten wegen ihrer mangelhaften Körperbeschaffenheit wieder entlassen werden mussten, dass 18.738 Mann wegen derselben Ursache nicht zu dem Dienst unter Waffen, sondern zu den Hilfsdiensten beordert wurden, gar nicht davon zu reden, dass 16.000 Mann sich nach der Aushebung und vor der Einstellung durch Desertion entzogen haben, was als Beweis dafür gelten muss, dass durch die Aushebungsbehörden der Bogen überspannt wurde. Die Ansprüche, die Frankreich an die Diensttauglichkeit stellt, sind viel niedriger als in Deutschland, weshalb auch die Gesundheitsverhältnisse dort viel ärger sind als hier. Die allgemeine Dienstpflicht wird in Frankreich so aus dem Mittel, die ganze Wehrkraft des Landes dienstbar zu machen, zu einem Mittel, seine Wehrmacht durch Arsenikeinspritzungen momentan zu beleben, die Wehrkraft aber dauernd zu schädigen. Deutschland hat bisher das Beschreiten dieses Weges vermieden. Sein viel größeres Menschenmaterial erlaubte ihm durchschnittlich, nur wirklich ganz Taugliche einzustellen. Nach der „Übersicht der Ergebnisse des Heeresergänzungsgeschäftes für das Jahr 1911“ waren dienstpflichtig 1.271.000 Mann, davon 563.000 im Alter von 2O Jahren, endgültig wurden davon 565.000 abgefertigt. Von diesen wurden 826 als Zuchthäusler usw. nicht eingestellt, 35.500 als dauernd untauglich ausgemustert, d. h. 6,28 Prozent; 141.759 dem Landsturm I als dauernd mindertauglich oder als bedingt tauglich zugewiesen, 85.193 der Ersatzreserve einverleibt. Von 302.242 Tauglichen wurden 292.155 eingestellt, d. h. 51,7 Prozent aller Dienst pflichtigen und 96,7 Prozent aller Tauglichen. Nach den Berechnungen des Infanteriegenerals v. d. Boeck, des Verfassers des bekannten Werkes über Deutschlands Landmacht, werden in Deutschland jährlich wirklich militärisch ausgebildet 241.000 Mann, während es in Frankreich nur 176.000 sind („Tag“ vom 4. Oktober 1912). Das Gegengewicht davon auf Frankreichs Seite ist die 11-jährige Dienstzeit in der Reserve, während Deutschland nur eine 7-jährige besitzt, und die sorgfältigere Ausbildung der Reserven. Jetzt schreitet Deutschland dazu, zirka 70.000 Rekruten jährlich mehr einzustellen, die sonst der Ersatzreserve zufallen würden, und Frankreich will zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts seine Truppen drei Jahre bei den Fahnen halten. Während die Maßregel Frankreichs einen rein reaktionären Schritt darstellt, wird die Vermehrung des Rekrutenstandes in Deutschland einen solchen Schritt nur dann bedeuten, wenn es sich zeigen würde, dass auch Deutschland, um diese Vermehrung des Friedensstandes der Armee zu ermöglichen, nicht ganz taugliches Material zur aktiven Dienstpflicht herbeizieht. Aber wenn es diesmal auch nicht geschehen sollte, kommen wird es zu dieser Überspannung der Wehrpflicht auch in Deutschland, wenn Russland dem französisch-deutschen Rüstungsringen folgt und mit finanzieller Hilfe Frankreichs seine Dienstschraube scharf anzieht. So sehen wir, dass die Tendenz zur Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht schon überspannt wird und zur Einstellung eines Menschenmaterials zu führen beginnt, das die Schlagkraft der Armee schließlich mindern wird. Jedenfalls muss man jetzt, wenn man vom Heere spricht, als fundamentale Tatsache im Auge behalten, dass durch seine Cadres alles hindurchgeht, was in einer Nation wehrfähig ist. Der Militarismus sucht in die Linie neben den sich unter den Waffen befindenden nur die jüngsten gedienten Elemente für den Kampf hineinzuziehen; da er aber diese Elemente bis zum letzten Mann heranziehen müsste, so würden während eines Krieges alle anderen bis in die letzten Jahrgange im Lande unter Waffen stehen. So verwirklicht der moderne Militarismus die Parole: Das Volk in Waffen! vollauf. Was früher nur Tendenz war, ist jetzt Tatsache.

Was bedeutet diese Tatsache, welche Folgen muss sie haben? „Die allgemeine Wehrpflicht beiläufig die einzige demokratische Institution, welche in Preußen, wenn auch nur auf dem Papier besteht — ist ein so enormer Fortschritt gegen alle bisherigen militärischen Einrichtungen, dass, wo sie einmal, wenn auch nur in unvollkommener Durchführung bestanden hat, sie auf die Dauer nicht wieder abgeschafft werden kann“, — schrieb Friedrich Engels im Jahre 1865 in seiner schon einmal angeführten Schrift „Die preußische Militärfrage und die deutsche Sozialdemokratie“. Und 28 Jahre später, im Jahre 1893, schrieb er in seiner Artikelserie „Kann Europa abrüsten?“: „Nun besteht gerade die moderne, die revolutionäre Seite des preußischen Wehrsystems in der Forderung, die Kraft jedes wehrfähigen Mannes für die ganze Dauer seines wehrfähigen Alters in den Dienst der nationalen Verteidigung zu stellen. Und das einzig revolutionäre, das in der ganzen militärischen Entwicklung seit 1870 zu entdecken ist, liegt eben darin, dass man — oft genug wider Willen — sich genötigt gesehen hat, diese bisher nur in der chauvinistischen Phantasie erfüllte Forderung mehr und mehr wirklich durchzuführen“.1 Worin der militärische Fortschritt der allgemeinen Dienstpflicht bestand, glauben wir durch die bisherigen Ausführungen schon genügend gezeigt zu haben. Worin die revolutionäre Bedeutung dieses Fortschrittes besteht, lässt sich leicht erklären. Solange das Heer aus Söldnern bestand, für die der Kriegsdienst Lebensaufgabe war, kümmerte sich das Heer gar nicht um die Ursachen und Ziele des Krieges. Auch das Volk kümmerte sich um ihn nur auf dem begrenzten Landstrich, auf dem er sich abspielte. Es wurde zwar für die Kriegskosten geschröpft, was aber als normale Erscheinung nicht aufrüttelnd wirkte, aber es fehlte das Moment, das jetzt in erster Linie ins Gewicht fällt: dass jede Familie ein Mitglied auf dem Kampffelde hat. Der Wunsch Friedrichs II., „der friedliche Bürger soll es gar nicht merken wenn sich die Nation schlägt: wurde zu einer reaktionären Utopie“. Die Nation fühlt den Krieg in allen Gliedern, und ihr Verhältnis zum Kriege, d. h. das ihrer einzelnen Klassen, schafft den Geist, der das Heer erfüllt. Von der Bedeutung dieser Tatsache legte Bismarck Rechnung ab, als er davon sprach, dass der Krieg jetzt nur wegen hoher nationaler Ziele geführt werden kann. Wir werden später zu der Frage zurückkehren, ob jetzt noch nationale Ziele, d. h. solche existieren, die mehr oder weniger im gleichen Interesse aller Klassen liegen, ob es also einen Krieg, der den allgemeinen Enthusiasmus erweckt, im kapitalistischen Europa geben kann. Hier handelt es sich um die Feststellung der Tatsache, dass die allgemeine Wehrpflicht die Volksstimmung zum ausschlaggebenden Faktor macht. Das wissen die Vertreter des modernen Militarismus vortrefflich. General v. Bernhardi sagt darüber in seinem Werke, einem Standardwerk nicht nur des deutschen Militarismus: „Dieses Massenaufgebot hat zur nächsten Folge, dass der kriegerische Wert der Heere sehr viel mehr wie früher durch den Charakter und das Wesen der Nationen selbst bedingt wird. Je weitere Schichten der Bevölkerung in der Kriegsarmee eingestellt werden, desto mehr wird der Geist der so gebildeten Truppen bestimmt werden durch die physische Kraft, wie durch den politischen und sozialen Geist des Volkes selbst“.2 Das Volk aber, dessen Geistesverfassung so ausschlaggebend ist, ist ein ganz anderes als das des Jahres 1813, in dem die allgemeine Wehrpflicht in Preußen zuerst durchgeführt wurde; und die Aufgaben, die die herrschenden Klassen Deutschlands eventuell auf kriegerischem Wege durchzuführen hätten, sind ebenfalls ganz anders geartet, als die, die ihnen bis zum Jahre 1871 bevorstanden. Das Volk ist von der Scholle weggerissen und in die Großstädte getrieben worden. Die Hungerprügel des Kapitals sind zwar nicht minder schmerzlich als die Stockprügel, mit denen der Junker sein Gesinde bearbeitet hatte, nur dass sie ganz andere Gefühle in den in Fabriken und Mietskasernen zusammengepferchten Massen wecken, nicht Gefühle der Unterwürfigkeit und Hilflosigkeit, sondern die des proletarischen Hasses gegen die Unterdrücker, die der proletarischen Solidarität der Unterdrückten. Aus ihnen entspringt ein Kampf, der immer gewaltiger und schärfer wird und sich gegen alle herrschenden Schichten und ihre Herrschaftsorgane richtet. Er ist organisiert, um zweckmäßiger geleitet werden zu können, wo ihm aber die Organisation fehlt oder genommen wird, brandet er nur wilder auf, denn er beruht auf den tiefsten Interessen und Regungen der Volksmassen, auf dem instinktiven Fühlen von Millionen, auf dem klaren Wissen von Hunderttausenden, dass die Reife der ökonomischen Verhältnisse die Änderung der menschenunwürdigen Lage des Proletariats erlaubt. Je mehr die allgemeine Wehrpflicht durchgeführt wird, desto mehr wächst das Übergewicht dieser Massen des lndustrieproletariats im Heere. Im Jahre 1910 war das Verhältnis schon folgendes: 82.310 neu Eingestellter waren im landwirtschaftlichen, 203.195 in anderen Berufen tätig. Unter den aus der Landwirtschaft Stammenden gehörte ein größerer Teil den proletarischen und halbproletarischen Schichten an. Darum sagt auch der Generalmajor v. d. Lippe mit Recht in seinem zwar konfusen, aber sehr charakteristischen Buche: „Gedanken über eine neue Wehrverfassung“: „Die sozialistische Propaganda kann sich gar nichts Besseres wünschen als die Kaserne, um ihre Lehren ohne Druckkosten im Lande zu verbreiten“.3

Und welche Aufgaben stellt die Bourgeoisie diesem so gearteten Heer der allgemeinen Dienstpflicht? Es soll im Frieden — je mehr sich die Klassengegensätze verschärfen und die Klassenkämpfe an Umfang gewinnen — als Garde des Kapitals zur Niederwerfung der kämpfenden Brüder dienen. Mansfeld und das Ruhrgebiet zeigen, wohin der Marsch geht. Und ähnlich ist es mit den äußeren Aufgaben des Heeres. Die Massen, die sich in den Kriegen von 1866 und 1871 schlugen, waren entweder gefügige Bauernmassen oder städtische Volksmassen, die dumpf fühlten, dass aus der Misere der damaligen Verhältnisse der Weg nur durch die Vereinigung Deutschlands führe. Gab es doch in jener Zeit in einem Teile selbst des sozialistischen Proletariats preußischen Patriotismus. Die Einigung Deutschlands sollte die Herrschaft der Bourgeoisie verwirklichen, ohne diese gab es keinen Fortschritt, auch für die Arbeiterklasse nicht. Wie anders ist jetzt die Lage. Deutschland wird, wenn es sich mit dem, was es hat, begnügt, von niemandem bedroht. Der einzige Grund der sich verschärfenden Gegensätze unter den Staaten ist der Appetit auf koloniale Gebiete. Die Verteidiger des Kapitalismus können dem Proletariat mit Engelszungen die wundertätigen Einflüsse der Kolonialpolitik schildern, alles das zerschellt, wie die Meereswoge am Granitfelsen, an dem Bewusstsein, dass selbst in der größten Prosperitätsperiode eine immer größere Teuerung Platz greift; an der Erkenntnis, dass die Kartelle und Trusts mit allen Kräften den Aufstieg der Arbeiterklasse hemmen. Und sollte der Arbeiter sich durch eine koloniale Fata Morgana auf einen Augenblick irreführen lassen, so stellt ihn die erste diplomatische Spannung vor die Frage: wirst du Kanonenfutter werden, dein Leben und das deiner Brüder auf die Hoffnung hin opfern, dass für dich ein Knochen vom Tische der Mächtigen abfällt, wo doch die Ernte reif ist und den Schnitter erwartet, um seine Arbeit reichlich zu belohnen? Und wer diese Gedanken noch nicht selbständig erzeugte, dem sagt es die in Millionen Exemplaren verbreitete sozialdemokratische Presse, dem sagen es die Arbeitskollegen.

Die allgemeine Wehrpflicht gewinnt also die Tendenz, das Heer sozial zur Erfüllung der Aufgaben, vor die es der Kapitalismus jetzt stellt, immer untauglicher zu machen. Es büßt auf die Länge die Fähigkeit ein, ein Mittel der kolonialen Expansion und der Niederhaltung des Volkes zu werden. Wie sich dagegen der Kapitalismus wehrt, ergibt sich aus der Untersuchung der Fragen der militärischen Dienstzeit.

2. Die Absonderung des Heeres vom Volke.

Das moderne Heer besteht in seiner überwältigenden Mehrheit aus Volkskindern. Es soll aber zur Niederhaltung der Volksmassen im Innern und zum Kampfe nach außen, also volksfeindlichen Interessen, dienen, Interessen, die in letzter Linie auf die Verlängerung der Kapitalherrschaft und Volksknechtschaft hinauslaufen. Darum sucht das Kapital den Zusammenhang des Heeres mit dem Volke zu zerstören und in ihm die Erinnerungen an alle die Objekte, um welche und gegen welche das Volk kämpft, auszulöschen. Dieselben Mittel, durch die das Volksheer in eine Knüppelgarde des Kapitals im Innern umgewandelt werden soll, sollen es auch zu einem Söldnerheer degradieren, das gedankenlos um alles kämpft, was die besitzenden Klassen des Massenmordes für wert halten.

Als solches Mittel kommt in erster Linie eine lange Dienstzeit in Betracht. Je länger, desto angenehmer wäre sie ihnen. In den Kasernenmauern soll der Arbeiter vergessen, dass er je gegen die überlange Arbeitszeit und den kargen Lohn gestreikt hat. Schickt man ihn mit Maschinengewehren gegen Streikende, so soll er nicht auf den Gedanken kommen: womit heute diese Hungerleider niedergeknüppelt werden, damit werde ich morgen niedergerungen, wenn ich das bunte Tuch ablege. Schickt man ihn mit gefälltem Bajonett gegen die Massen, die für ein demokratisches Wahlrecht demonstrieren, so soll er nicht daran denken, dass auch er, der bereit sein muss, für das „Vaterland“ zu sterben, morgen, wenn er die Kaserne verlässt, ein entrechteter Helot sein wird. Vergisst er das alles, so wird er sich auch auf dem Schlachtfelde nicht erinnern, dass es höhere Ziele gibt, für die es wert ist, Blut zu verspritzen, als der Kampf des deutschen Kapitals um die Ausbeutungsmöglichkeit in fremden Ländern.

Aber dieser Wunsch des Kapitals nach einer möglichst langen Dienstzeit kann nicht restlos erfüllt werden. Eine Dienstzeit, wie sie im Söldnerheere herrschte, wäre eine offene Sklaverei, gegen die die Massen rebellieren würden. Aber selbst eine vier- und fünfjährige Dienstzeit lässt sich wegen der enormen Kosten nicht lange halten. Ein halbasiatischer Staat wie Russland, der keine Funktionen eines modernen Staates, wie Sozialpolitik, Bildungswesen, hygienische Maßregeln usw. kennt, kann alles dem Volke abgepresste Geld dem Militarismus in den Rachen werfen. Der entwickelte kapitalistische Staat jedoch muss — schlecht oder recht — für die Schulen und für die Arbeiter sorgen; denn bei der Intelligenz der Arbeiter, bei ihrer Rührigkeit brennt ihm die sozialdemokratische Gefahr auf den Nägeln. Wie sehr auch der kapitalistische Staat alle diese notwendigen Tätigkeiten vernachlässigt, sie erfordern trotzdem Hunderte von Millionen. Er hat trotz des besten Willens nicht die Möglichkeit, die Dienstzeit über alle Grenzen hinaus auszudehnen. Eine dreijährige Dienstzeit erklärten darum die Verfechter des Militarismus für genügend. Aber unter dem Druck der arbeitenden Massen und dank der Notwendigkeit, die allgemeine Wehrpflicht immer schärfer durchzuführen, mussten sie sich schließlich mit der zwei jährigen Dienstzeit begnügen. Sie wurde in Deutschland im Jahre 1893, in Frankreich 1905, in Österreich im Jahre 1911 (trotz vieler Lücken) durchgeführt.

Die Einführung der zweijährigen Dienstzeit stieß sogleich auf eine heftige Gegnerschaft, und zwar gerade dort, wo man zumeist die Wurzeln der staatserhaltenden nationalen Kraft zu suchen hat“ —‚ schreibt der alte Haudegen, der Generalleutnant von Bogueslawski.4 Trotzdem zeigte sich, dass darunter die Ausbildung der Mannschaften gar nicht gelitten hat, denn sonst könnten die hohen Herren Militärs mit der Schlagfertigkeit der deutschen Armee nicht so prallen, wie sie es tun.

Gegen die weitere Verkürzung der Dienstzeit wehren sie sich aber mit Händen und Füßen. Jeder, der sie fordert, wird als Hetzer, Trottel oder weltfremder Idealist dargestellt, denn zwei Jahre sind nach ihrer Meinung für die Ausbildung absolut notwendig. Auf die fachmännischen Beschwörungen der Verfechter des deutschen Militarismus ist aber verteufelt wenig zu geben. Erklärten sie doch seinerzeit die Einführung der zweijährigen Dienstzeit für den Anfang vom Ende der Welt, und selbst gegen die unschuldigsten Reformen, wie das Tragen des zusammengerollten Mantels am Tornister, wehrten sie sich jahrelang wie besessen.

Heutzutage ist es jedermann geradezu unverständlich, warum nicht schon früher die jetzt übliche Tragweise des Mantels, um den Tornister gelegt nämlich, eingeführt wurde. Wie viel Papier ist verschrieben worden, und welche Mühe hat es einsichtige Offiziere und Truppenärzte gekostet, ihre praktischen Vorschläge durchzusetzen. Ich selbst erinnere mich noch ganz deutlich, dass ich wegen meiner, damals als fortschrittlich bezeichneten Ansichten, ganz gehörig gerüffelt wurde,“ schreibt der Hauptmann M. Schneesieber in seiner barmherzigen Schrift über die Lage der Soldaten.5 Ja, lange Kämpfe gab es, bis der Soldatenstiefel dem viel bequemeren Schnürschuh Platz machte, wobei es jedoch die Knasterbärte nicht übers Herz bringen konnten, dass die Schuhbekleidung der Soldaten der eines jeden Menschenkindes gleiche, was schließlich zu dem Unikum der an der Seite zu schließenden Schnürstiefel führte. Angesichts solcher Blüten des „fachmännischen“ Geistes braucht man die absoluten Urteile der Militärs nicht tragisch zu nehmen.

Zu welcher Zeit man die Soldaten eines auf gewisser Bildungshöhe stehenden Volkes ausbilden kann, das zeigt die Schweiz. Die Infanteristen und Geniesoldaten werden dort in 65, die Artilleristen in 75, die Kavalleristen in 90 Tagen ausgebildet, nachdem die Schule dafür sorgte, ihren Leib durch Gymnastik geschmeidig zu machen, nachdem ihnen in der Jugend die staatlich unterstützten Schützenvereine das Schießen beigebracht haben. Nach dieser kurzen Ausbildung hat der Artillerist, Infanterist und Geniesoldat noch 7, der Kavallerist 8 Jahre hindurch Waffenübungen zu machen, und zwar je 11 Tage, worauf der Soldat in der Landwehr noch zu 11 Tagen Waffenübung verpflichtet ist. Also alles zusammengenommen lernt der Soldat in der Schweiz das Kriegshandwerk in der Infanterie in 173, in der Artillerie in 183 und in der Kavallerie in 198 Tagen. Und dass trotz dieser kurzen Ausbildung der Schweizer Soldat in nichts jenem Milizsoldaten aus den „fliegenden Blättern“ gleicht, der jahrzehntelang die Herzen des Bürgertums erfreut, das bewiesen die vorjährigen Schweizer Manöver, an denen der Kaiser teilnahm. Aus der Masse der Urteile der stramm militaristisch-patriotischen Presse, die den Leistungen der Schweizer Miliz ihre Anerkennung aussprechen musste, greifen wir nur das Urteil des offiziellen Militärwochenblatts heraus, das in seiner letzten Septembernummer vorigen Jahres schrieb:

Unbestreitbar bleibt, dass es das schweizerische Milizsystem fertig gebracht hat, dass, rein äußerlich betrachtet, schweizerische Miliz in ihren Manöverleistungen den Vergleich mit verschiedenen Kaderheeren, gemischt mit Reservisten, sehr wohl und oft nicht zu ihrem Nachteil, aushalten kann. Die Leistungen der Truppen waren ausgezeichnet. Die Infanterie zeigt sich in Angriff wie in der Verteidigung gut ausgebildet. ihre äußere Haltung und die Besorgung des inneren Dienstes ließen wenig zu wünschen übrig. Die Artillerie ist eine gut disziplinierte Gruppe … Die Kavallerie, die in ihrer Einzelausbildung auf einer durchaus befriedigenden Stufe steht, trat in diesem Manöver als Gefechtsstruppe aus verschiedenen Gründen sehr wenig in Erscheinung. Sapeure und Telegraphenpioniere zeigten sich als zuverlässige Truppen ihren Aufgaben gewachsen. Erwähnung verdient noch die kriegsmäßige Organisation und Führung des Trains, dessen Ordnung allgemeine Anerkennung fand.“ So das Organ des deutschen Offizierkorps. Kann man eine schärfere Verurteilung der zweijährigen Dienstzeit mit dem Paradeschritt, dem Drill und allem Plunder, der im Krieg absolut unanwendbar ist, und nur beibehalten wird, um dem Paradesinn der besitzenden Klassen zu frönen, um den Geist im Soldaten zu ertöten, wünschen? Wie die besitzenden Klassen auf diesen öden Kram nicht verzichten wollen, so auch nicht auf die anderen Mittel der Trennung des Volksheeres vom Volke. Dies sind seine Abgeschlossenheit in der Kaserne, wodurch der Verkehr mit den früheren Arbeitskollegen erschwert wird. Ein Soldat, der im Lokal seiner Gewerkschaft, beim Feste seiner Arbeitsbrüder, bei der Lektüre seines Gewerkschaftsblattes, in dem er nach dem Austritt aus dem Militär die wichtigste Lebensstütze findet, ertappt wird, müsste schwer dafür büssen. Und weil kein bürgerliches Gericht ihn dafür verurteilen würde, muss eine besondere militärische Gerichtsbarkeit existieren, die den Offizieren das Recht gibt, hinter verschlossenen Türen über die Soldaten zu Gericht zu sitzen. Hinter diesen verschlossenen Türen wird er verurteilt für jedes Aufmucken gegen das Drillsystem, das ihn zur Maschine zu machen sucht. Wenn der Generalleutnant von Bogueslawski in der zitierten Schrift feststellt, dass sich nach der Einführung der zweijährigen Dienstzeit die Zahl der beim Militär Bestraften gemindert hat, so ist dies nur auf das Konto der Minderung der Drillzeit durch Kürzung der Dienstzeit zurückzuführen. Dass eine Unmasse von Sünden gegen das Volk immer noch im Heere bestehen, zeigen alle Schilderungen aus dem Soldatenleben, wie die publizierten militärischen Gerichtsverhandlungen.

Die Bourgeoisie muss aber an all den Folgen der langen Dienstzeit festhalten, weil sie fürchtet, ein Heer der allgemeinen Wehrpflicht, das nur kurze Zeit in den heiligen Kasernenräumen weilt, würde keine gefügige Waffe in ihren Händen bilden. Aber diese Tendenz zur Absonderung des Heeres vom Volke, die zur langen Dienstzeit führt, ist weit entfernt, das Ziel zu erreichen, das sich die Bourgeoisie steckt. Abgesehen davon, dass der Drill den Soldaten mit einem grenzenlosen Grimm gegen das System erfüllt — was in ernster Stunde für die herrschenden Klassen sehr gefährliche Erscheinungen zeitigen kann — so widerspricht er den Bedingungen, unter welchen der Soldat im Kriege seine Aufgaben zu lösen hat.

Das beweist einen Blick in den Charakter des heutigen Krieges.

3. Die Bedingungen des modernen Krieges.

Das Heer ist ein Kriegsinstrument. Dies ist keine Einsicht, die man erst auf dem Wege tiefer Studien zu erringen hätte, und trotzdem fehlt sie besonders den Vertretern des Militarismus sehr oft. Der lange Friede nach dem Deutsch-Französischen Kriege weckte auch im Offizierskorps ein Gefühl der Sicherheit. Die Spannungen in dem Verhältnis zu Frankreich und Russland, wie sie in den Jahren 1878 und 1885 bestanden, verscheuchten es auf einen Augenblick; aber so recht glaubten auch die nicht an die Möglichkeit eines Krieges, die ihn immer wieder an die Wand malten. In einer solchen Geistesverfassung muss natürlich die innere Funktion des Heeres, seine Bedeutung als Unterdrückungsorgan, Oberhand gewinnen über seine Aufgabe im Kampfe nach außen hin. Seit dem französisch-russischen Bündnis, das den deutschen „Patrioten“ einen mächtigen Schrecken einjagte, und noch mehr seit dem Beginn der imperialistischen Ära, verschwindet dies Gefühl der Ruhe und macht einem entgegengesetzten Gefühl Platz: das Offizierkorps rechnet mit der Möglichkeit kriegerischer Erschütterungen. Die Marokkokrisen von 1905, 1907, 1911, die Balkankrisen von 1909 und 1912 halten das Gefühl wach. Ja, bei den jüngeren, unternehmungslustigen Elementen des Offizierkorps beginnt sich schon das Gefühl durchzusetzen: je eher, desto besser!

In dieser Situation wenden die Militärs ihre Aufmerksamkeit in viel höherem Maße als sonst den Bedingungen des modernen Krieges und den Schlüssen zu, die aus ihnen auf die Ausbildung des Soldaten gezogen werden müssen.

Friedrich Engels hat im Anti-Dühring die taktische Änderung, mit der jetzt in erster Linie zu rechnen sein wird, folgendermaßen dargestellt:

Im Deutsch-Französischen Krieg traten zuerst zwei Heere einander gegenüber, die beide gezogene Hinterlader führten, und zwar beide mit wesentlich denselben taktischen Formationen wie zur Zeit des alten glattläufigen Steinschlossgewehrs. Nur dass die Preußen in der Einführung der Kompagniekolonne den Versuch gemacht hatten, eine der neuen Bewaffnung angemessenere Kampfform zu finden. Als aber am 18. August bei St. Privat die preußische Garde mit der Kompagniekolonne Ernst zu machen versuchte, verloren die am meisten beteiligten 5 Regimenter in höchstens 2 Stunden über ein Drittel ihrer Stärke (176 Offiziere und 5114 Mann), und von da an war auch die Kompagniekolonne als Kampfform gerichtet, und minder als die Bataillonskolonne und die Linie; jeder Versuch wurde aufgegeben, fernerhin irgend welche geschlossene Truppe dem feindlichen Gewehrfeuer auszusetzen, und der Kampf wurde deutscherseits nur noch in jenen dichten Schützenschwärmen geführt, in die sich die Kolonne bisher unter dem einschlagenden Kugelhagel schon regelmäßig von selbst aufgelöst, die man aber von oben herab als ordnungswidrig bekämpft hatte; und ebenso wurde nun im Bereich des feindlichen Gewehrfeuers der Laufschritt die einzige Bewegungsart. Der Soldat war wieder einmal gescheiter gewesen als der Offizier; die einzige Gefechtsform, die bisher im Feuer des Hinterladers sich bewährt, hatte er instinktmäßig gefunden und setzte sie trotz des Sträubens der Führung erfolgreich durch“.6

Der Russisch-Japanische Krieg zeigte, wie sehr dank der viel größeren Schussweite des Gewehrs wie der Geschütze die Entwicklung die Auflösung der Militäreinheiten in der Schlacht bewirkt. Der jüngst verstorbene Chef des deutschen Generalstabes, von Schlieffen, entwirft auf Grund eben dieser Erfahrungen folgendes Bild der Schlacht:

Es ist nicht möglich, wie im 18. Jahrhundert in zwei Linien gegeneinander aufzumarschieren und bei nicht allzu großer Entfernung Salven auf den Feind abzugeben. Innerhalb einiger Minuten würden beide Armeen durch Schnellfeuer vom Erdboden vertilgt sein. Es ist ausgeschlossen, napoleonische Kolonnen, so tief wie breit, gegen die feindlichen Stellungen anstürmen zu lassen. Ein Schrapnellfeuer würde sie zerschmettern. Es ist auch nicht angebracht, wie noch vor kurzem beabsichtigt wurde, durch das Feuer direkter Schützenschwärme den Feind überwältigen zu wollen. Die Schützenschwärme würden baldigst niedergemacht werden. Nur unter Benutzung von Deckungen ‚ von Bäumen und Häusern, von Mauern und Gräben, von Erhöhungen und Vertiefungen vermag der Infanterist an den Feind heranzukommen, bald liegend, bald kniend, bald stehend muss er suchen, eine neue Deckung zu gewinnen … Um eine genügende Deckung zu gewinnen, muss der Infanterist Ellenbogenfreiheit haben — etwa ein Mann auf das Meter … Eine unmittelbare Folge der verbesserten Schusswaffe ist also eine größere Ausdehnung der Gefechts front“.7

Den daraus zu ziehenden Schluss formulierte General von Bernhardi in folgenden, dem Militarismus Unheil verkündenden Worten:

Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Anforderungen des modernen Gefechts, der beiden Hauptwaffen, und zwar vor allem in der Kampfart, die die Entscheidung gibt, im Angriff, ohne den ein Sieg kaum denkbar ist: in weit aufgelösten Linien geht die Infanterie vor. Der Einfluss der Führer, so weit er durch Befehle vermittelt wird, ist gering. Die Ausdehnung ist viel zu groß, der Gefechtslärm zu stark, die zitternde Erregung aller Nerven zu gewaltig, als dass die Stimme sich Geltung verschaffen könnte. Mühsam von Mann zu Mann werden die nötigsten Weisungen in den langen Linien weiter gerufen. Auf den näheren und entscheidenden Gefechtsentfernungen wirkt nur noch das Beispiel der Vorgesetzten. Aber die feindlichen Geschosse halten eine fürchterliche Auslese, denen vor allem die Führer zum Opfer fallen, die sich am meisten bloßstellen müssen. Da versagt jede Einwirkung auf die Mannschaften, die Verbände vermischen sich, jeder steht auf sich allein; der Mann als solcher tritt in die Erscheinung, nicht mehr der Mann, der zum Siege geführt wird, sondern der Mann, der selber siegen will.

Fast für die gesamte Gefechtstätigkeit ist er auf sich selbst angewiesen. Er muss selbst die Entfernungen schätzen, er muss selbst das Gelände beurteilen und benutzen, das Ziel wählen, das Visier stellen; er muss wissen, wohin er vorgehen soll, welchen Punkt der feindlichen Stellung er zu erreichen hat; mit unerschütterlichem eigenen Entschluss muss er diesem zustreben. In der feindlichen Stellung angekommen, muss er wissen, was er zu tun hat. Stockt der Angriff, ist es nicht möglich, gegen das feindliche Feuer vorwärts zu kommen, so muss er sich selbst Deckung schaffen. Kommt es zum Rückzuge, so muss er sich fechtend auf das Zäheste an das Gelände anklammern. So gut wie niemals kann er darauf rechnen, von Vorgesetzten Anweisung zu erhalten. Was aber für den gemeinen Mann gilt, das gilt umso mehr für alle niederen Führer. Auf Befehle können sie mitten im Kampfe nicht rechnen. Unmöglich ist es meistens, Weisungen von rückwärts her an die vordere Gefechtslinie zu bringen. Auf eine zuverlässige Verbindung durch Zeichen von rückwärts nach vorwärts zu rechnen, ist eine Einbildung, der sich kein ernster Soldat hingeben sollte. Sobald die Truppe einmal in den Bereich des wirksamen feindlichen Feuers eingetreten ist, hört alle zusammenhängende und zusammenfassende Befehlserteilung auf. Aller Erfolg beruht ausschließlich auf der zielbewussten Tätigkeit der einzelnen Gruppen und Leute, auf dem Beispiele der Führer oder derer, die sich zum Führen berufen fühlen. Das ist das Bild des modernen Infanteriegefechts; Selbständigkeit ist alles. In den letzten Stadien des Infanterie-Nahkampfes ist das in den letzten Kriegen zwar auch schon so gewesen. In Zukunft wird aber dieser Zustand der Selbständigkeit viel früher eintreten als bisher und von vornherein in viel ausgesprochenerer Weise.

Ähnliches wird sich auch im Artilleriekampf zeigen. Solange die Batterien versteckt stehen, indirekt schießen, und nur dem Streufeuer des Gegners ausgesetzt sind, wird sich allerdings eine geordnete Befehlführung auch in größeren Verbänden aufrechterhalten lassen. Wenn sie aber offen auffahren müssen und unter beobachtetes Feuer genommen werden können, wird nicht nur eine einheitliche Verwendung größerer Verbände, sondern auch die Befehlserteilung in den Batterien selbst sehr bald unterbrochen und unter Umständen unmöglich werden. Züge und einzelne Geschütze werden selbständig feuern müssen, wie das schon 1870/71 sehr oft der Fall war, denn die Stimme des Batteriechefs wird nicht gehört werden, ein Weitersagen der Befehle wird in dem Lärm des Kampfes ebenfalls unmöglich und bald werden zahlreiche Vorgesetzte gefallen sein. Es ist meiner Überzeugung nach eine Selbsttäuschung, wenn man unter solchen Umständen an die Möglichkeit eines schulmäßig geleiteten Feuers glaubt. Die Selbständigkeit der einzelnen Unterführer und Leute, nicht die gemeinsame Leitung wird in letzter Linie den Ausschlag geben“.8

Die Untersuchung der Bedingungen des modernen Krieges fordert also von den Militärs die möglichste Entwicklung der Selbständigkeit des Soldaten. Soweit sie überhaupt zu erreichen ist, kann sie nur bei Weglassung aller unnützen Paraden und Drillplackereien, bei völliger Konzentration auf kriegsmäßige Ausbildung erlangt werden. In dieser militärischen Notwendigkeit liegt die stärkste Tendenz zur Ausnutzung der Dienstzeit zu rein militärischer Ausbildung der Soldaten, die die Verkürzung der Dienstzeit nicht nur ermöglicht, sondern direkt erfordert. Aber der Verzicht auf den Drill fällt den Offizieren nicht leicht. Darum suchen sie mit allerlei psychologischen Mätzchen zu beweisen, dass eben angesichts der schrecklichen Bedingungen der modernen Schlacht die kriegsmäßige Ausbildung des Soldaten mit dem Drill vereinigt werden muss. Generalmajor von Zeppelins Arbeit: „Die Bedeutung des moralischen Elements in Heer und Flotte“9 wie er im Deutsch-Französischen Kriege in den gefährlichsten Situationen, als angesichts der näher rückenden Gefahr eine dumpfe, unsichere Stimmung die Soldaten zu ergreifen begann, ihre Aufmerksamkeit durch schlechte Witze und Exerzieren abzulenken suchte, und der Major Moraht, der an Stelle des Obersten Gaedke dem linksliberalen Bourgeois die Notwendigkeiten des Militarismus im „Berliner Tageblatt“ plausibel macht, schrieb aus Anlass der schweizerischen Manöver:

Unbestreitbar ist es, dass Drill und Erziehung in jeder für den Krieg vorhandenen Armee in Friedenszeiten deshalb zur Anwendung kommen müssen, um die moralische Kraft derart zu festigen, dass die Soldaten den Eindrücken des Schlachtfeldes nicht erliegen“.10

Darauf antwortet mit Recht Bleibtreu:

Was man hierbei auskünsteln möchte, geht im Wirrwarr des Ernstkampfes sofort verloren, wo der Kämpfer — gerade so wie der Lebenskämpfer den Ballast der Schule —, erst allen ihm eingepaukten Unsinn verlernen muss, ehe er sich praktisch zurecht findet … Gerade für das aufgelöste Gefecht müsste der ‚Mann‘ jahrelang gedrillt werden, um nicht der Hand der Führer zu entfallen? Frommer Wunsch! Bei Nervenzerrüttung und Todesgefahr versagt jede äußere Disziplin, kein Offizier reißt in Krisen die Mannschaft vom Boden auf, wenn sie nicht innerem Impuls gehorcht, nun vollends, wenn die meisten Offiziere gefallen“.11

Eben die Sorge um diese selbständigen Impulse ist es, die den Militärs keine Ruhe lässt. In ihr äußert sich dumpf das Gefühl, dass die politischen Bedingungen eines imperialistischen Krieges ganz anders sind als die eines Kampfes, von dessen Notwendigkeit der Soldat überzeugt ist. Und darum wird der Militarismus trotz der offenkundigen Aufforderungen des Krieges vom Drill nicht lassen. Aber eine solche Notwendigkeit, die in den grundsätzlichen Aufgaben des Heeres begründet ist, wird sich in dieser oder jener Form demnach den Weg bahnen.

So sehen wir den modernen Kapitalismus von einem Gegensatz beherrscht, wie er sich schärfer nicht denken lässt. Die Aufgaben des Heeres als Knechtungs- und Kampforgan stehen sich schroff gegenüber. Die eine fordert den weiteren demokratischen Ausbau des Volksheeres, die andere das krampfhafte Festhalten an den Überbleibseln des Söldnerheeres. Sich allein überlassen, würde der Kampf der beiden Tendenzen unausgefochten bleiben, würde der Gegensatz verkleistert werden. Aber der Militarismus ist kein Gebilde für sich, in den inneren Kampf seiner Tendenzen greift von der einen Seite das Gespenst des Krieges, von der anderen Seite der Klassenkampf des Proletariats ein. Indem das Proletariat die Losung der Miliz mit der vollen Energie in den Mittelpunkt der Erörterung rückt, unterstützt es die auf die Demokratisierung der Armee hinauslaufenden Tendenzen im Militarismus.

Die proletarische Milizforderung ist also keine auf dem Wege der Spekulation errungene, oder aus der Rumpelkammer der kleinbürgerlichen Illusionen mitgenommene Idee, sondern die sich aus der Entwicklung des Militarismus ergebende Formel seiner weiteren Entwicklung. Sie in ihrer Bedeutung zu zeigen, sie von dem illusionären Beiwerk ihrer kleinbürgerlichen Periode zu säubern, wird die Aufgabe der letzten Artikelserie sein.

1 ‚‚Vorwärts‘‘ 1891, später zu einer Broschüre abgedruckt, deren Zweitdruck sich im 5. Halbjahrband der schon einmal angeführten, von der „Frankfurter Volksstimme‘‘ herausgegebenen Sammlung befindet. Da er am leichtesten zugänglich ist, zitieren wir nach ihm. S. 106.

2 F. v. Bernhardi: „Von, heutigen Kriege“, Bd. I, S. 67. Berlin 1912, Mittlers Verlag.

3 Generalmajor A. v. d. Lippe: „Gedanken über ein neue Wehrverfassung.“ Berlin, Verlag SaIle 1912, S. 18.

4 v. Bogueslawski: „Die zweijährige Dienstzeit und ihre Ergebnisse.“ Berlin 1912. Militärische Zeitfragen, Heft 4.

5 M. Schneesieber: „Zwei Jahre Dienstzeit.“ Straßburg, Verlag Singer 1909, S. 32.

7 v. Schlieffen: „Der Krieg in der Gegenwart“. Deutsche Revue, Januar 1909.

8 v. Bernhardi, „Vom heutigen Kriege“, Bd. 1, S.344-46.

9 Berlin 1906.

10 „Berliner Tageblatt“ vom 9. September 1912.

11 Karl Bleibtreu: „Das Heer.“ Frankfurt a. M. 1911, S. 168/69.

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