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V. Die sozialdemokratische Milizforderung.

1. Die Miliz als Entwicklungsresultat des Militarismus.

Es ist überhaupt nichts so wichtig im Leben, als genau den Standpunkt zu ermitteln, aus welchem die Dinge aufgefasst und beurteilt werden müssen, und dann an diesem festzuhalten; denn nur von einem Standpunkte aus können wir die Masse der Erscheinungen in ihrer Einheit auffassen und nur Einheit des Standpunktes kann uns vor Widersprüche sichern.“

Clausewitz: Vom Kriege, Buch 8, Kap. 6 B, S. 642 (Ausgabe 1912)

Von welchem Standpunkt aus begründet die Sozialdemokratie ihre Milizforderung? Die Antwort auf diese Frage versuchten wir in unseren bisherigen Ausführungen zu geben, indem wir die Entwicklung der Heeresorganisation von den feudalen Heerhaufen bis zu der jetzigen Mischung zwischen Volksheer und Söldnerheer so kurz wie irgend möglich geschildert haben. Der Altmeister des Marxismus, Friedrich Engels, der sich sein Leben lang intensiv mit Militärwissenschaften befasste, lehrte die Sozialdemokratie die Milizforderung begreifen. Er suchte nicht in seinem Kopfe einen Plan der Militärorganisation zu entwerfen, der als Banner im Kampfe voran getragen werden sollte, sondern er untersuchte, wie sich der Militarismus gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung veränderte. Er zeigte in der Entwicklung des Militarismus die sich immer mehr durchsetzende Tendenz zu seiner Demokratisierung. An der Schwelle der modernen Entwicklung steht das Heer der „Auserwählten“ der Nation, des feudalen Adels, der allein die Interessen der feudalen Gesellschaft mit Waffen in der Hand vertritt. Als dieses Heer unter den Schlägen des kleinbürgerlichen Fußvolkes, das seine Interessen im Gegensatze zu denen des Feudalismus verficht, geschlagen wird, das ländliche und städtische Kleinbürgertum aber nicht imstande ist, die Herrschaft an sich zu reißen und ihr entsprechend auch das Wehrsystem auszugestalten, geht dennoch die demokratische Institution des Fußvolkes mit allen den Änderungen, die es auf dem Gebiete der Militärtechnik und Technik herbeigeführt hat, nicht zugrunde. Sie wird von der aufsteigenden sozialen Gewalt, dem Fürstentum, als Söldnerheer der Erfüllung der historischen Aufgabe der des fürstlichen Absolutismus dienstbar gemacht. Demokratisch durch seine Rekrutierung auf der Straße, wird das Söldnerheer durch die allmählich ihm aufgedrängte eiserne Disziplin, den Drill, den Stock in eine widerstandslose Waffe des Absolutismus verwandelt, bis die Not der Revolutionsriege Frankreich veranlasste, breite Massen des Volkes unter die Waffen zu stellen. Nachdem Preußen sein Söldnerheer im Kampfe gegen die bewaffneten Volksmassen verloren hat, muss es die Institution des Volkes in Waffen noch schärfer, tiefer und breiter ausbilden. Das so entstandene Heer der allgemeinen Wehrpflicht wird zur Institution aller kapitalistischen kontinentalen Staaten. Der Kapitalismus fürchtet das von ihm geschaffene Werk, da er das ganze Volk wehrhaft macht, und einer der besten deutschen Theoretiker des modernen Militarismus, der Feldmarschall Colmar von der Golz „ahnt“ schon den Moment — der Wunsch ist der Vater des Gedankens — wo

ein neuer Alexander wird entstehen, welcher mit einer kleinen Schar trefflich gerüsteter und geübter Männer die kraftlosen Massen vor sich hertreibt, wenn diese, in dem Bestreben immerfort anzuwachsen, die innere Tüchtigkeit verloren und sie sich, wie das Grünbannerheer der Chinesen zu einem zahllosen, aber friedfertigen Spießbürgerschwarm verwandelt haben.“1

Aber trotz ihres Grauens vor der Entwicklung des modernen Militarismus, trotz der schlotternden Angst vor seinen Folgen,2 müssen die kapitalistischen Staaten immer mehr die allgemeine Wehrpflicht durchführen, immer mehr sich in entscheidenden Momenten von dem Volk, dem das Gewehr in die Hand gegeben wird, abhängig machen. Diesen Folgen sucht man durch den Drill zu entgehen, der den Massen den eigenen Gedanken, den eigenen Willen austreiben soll. Aber je mehr die jetzige gefechtsweise „einer jägerlichen und sportlichen Betätigung als der Kampfweise früherer Zeiten“3 dank der Wirkung moderner Feuerwaffen gleicht, desto mehr muss auf den ertötenden Drill verzichtet werden, d.h. desto mehr kommt der demokratische Volkscharakter des modernen Heeres zum Durchbruch. „Die Ansprüche, die der Krieg an die Truppen stellt, sind maßgebend für ihre Ausbildung im Frieden“, lautet es in der Einleitung zur deutschen Felddienstordnung, und das Exerzierreglement besagt:

Ihre (der Infanterie) Ausbildung ist nach richtigen Gesichtspunkten erfolgt, wenn das das kann, was der Krieg erfordert, und wenn sie auf dem Kriegsfelde nichts von dem wieder abzustreifen hat, was sie auf dem Exerzierplatz lernte.“

Wenn auch noch viel Wasser ins Meer fließen wird, bis diese Forderung verwirklicht ist, so bildet sie eine starke Tendenz zur weiteren Demokratisierung des Heeres und der Staat, der, zwecks Stärkung seiner Kriegsbereitschaft, in ihrer Verwirklichung einen Vorsprung vor anderen gewinnen wird, wird einen Anstoß zur weiteren Entwicklung der Heeresorganisation in der Richtung der Miliz eben.

Nach der Schlacht bei Coulmiers, Mitte November 1870, sagte Moltke:

Gelingt es den Franzosen, uns aus Franreich heraus zu werfen, führen alle Mächte ein Milizsystem ein, bleiben wir Sieger, dann machen uns alle Staaten die allgemeine Dienstpflicht beim stehenden Heere nach“.4

Die Volksheere Gambettas, deren Widerstand Moltke dese Gedanken einflößte, waren eine Miliz. Sie waren nur aus dem Boden gestampfte, militärisch nicht ausgebildete Volksmassen. Der Sieg der deutschen Heere über sie war kein sieg über ausgebildete Milizheere und das Geschick der Heere Gambettas konnte natürlich de demokratischen Tendenzen im Militarismus nicht ersticken. Umgekehrt: der deutsch-französische Krieg bildete durch seine taktischen Lehren den Ansporn zur Verkürzung der Dienstzeit, der mehr kriegsmäßigen Ausbildung der Soldaten. Wenn also die Sozialdemokratie für die konsequente Demokratisierung der Armee eintritt — und nichts anderes bedeutet unsere Milizforderung —, so kann sie sich dabei auf die ganze Entwicklung des modernen Heerwesens stützen, denn sie ist die Verfechterin seiner bezeichnendsten Tendenz. Diese Begründung der Milizforderung erübrigt ein eingehen auf fragen, wo der jetzige Militarismus endet und die Miliz beginnt.

Es handelt sich vielmehr darum, dass der Antrag auf internationale zweijährige Dienstzeit nur der erste Schritt sein soll zu einer allmählichen weiteren Herabsetzung der Dienstzeit — sage zunächst auf sechzehn Monate, zwei Sommer und einen Winter, dann ein Jahr — dann ein Jahr — dann …? Hier fängt der Zukunftsstaat an, das unverfälschte Milizsystem, und davon wollen wir weiter reden, wenn die Sache erst wirklich in Gang gebracht ist.“5

führte Engels aus. Jeder Schritt auf dem Wege zur Demokratisierung des Heeres ist für ihn ein Schritt zur Miliz, obwohl ihm die Miliz, die „unverfälschte“ nämlich, wie sie als Aufhebung aller Funktionen des Militarismus in den Köpfen der kleinbürgerlichen Demokratie lebte, schon zum Zukunftsstaat zu gehören schien, in dem wahrscheinlich auch die Miliz — unnötig sein wird.

Die Auffassung, das jeder Schritt auf dem Wege der Demokratisierung der Armee in der Richtung auf die Miliz liegt, verdient besonders hervorgehoben zu werden, weil dank verschiedener Momente, auf die wir noch zurückkommen werden, die Milizorganisation oft als eine so ganz vom heutigen Militarismus verschiedene Organisation aufgefasst wurde, dass alle schrittweisen Reformen des Militarismus als ihr entgegengesetzt betrachtet wurden. Natürlich machen einzelne militärische Reformen die volle Demokratisierung der Armee nicht aus und wir haben die Pflicht, jede einzelne in dieser Richtung gehende Forderung mit der allgemeinen Milizbeleuchtung zu verknüpfen. Aber nur wer jede Milderung der Absonderung des Heers vom Volke als einen Schritt in der Richtung auf die Miliz zu würdigen weiß, führt den Kampf um die Miliz in sozialdemokratischem Sinne. Jeder Fortschritt in der Ausmerzung des Drills, in der Verkürzung der Dienstzeit, in der Aufhebung der besonderen Militärjustiz, schwächt den Einfluss der Bourgeoisie auf das Heer, hebt die Selbständigkeit der Soldaten. In dem Moment, wo diese Entwicklung so weit gediehen wäre, dass der Arbeiter in dem bunten Tuch sich als Arbeiter fühlen würde, wo der Soldat nur solange in der Kaserne verweilen würde, wie es seine militärische Ausbildung erfordert, könnte man von dem Bestehen der Miliz sprechen, wie sie zweifellos heute in der Schweiz besteht. Wenn im Gegensatz zu dieser Auffassung die Behauptung aufgestellt wird, die Miliz bedeute die Entscheidung des bewaffneten Volkes über die Wahl der Offiziere, die Abstimmung über Krieg und Frieden, so sind solche Auffassungen Überbleibsel der kleinbürgerlichen Epoche der Milizforderung, wie weiterhin gezeigt werden soll. —

2. Miliz, Demokratie und Klassenkampf.

Die Behandlung der Milizforderung als der Zusammenfassung der Tendenzen zur Demokratisierung der Heeresorganisation, die sich aus der allgemeinen wie aus der Militärentwicklung ergeben, ist von großer Bedeutung zunächst für die Erfassung der Miliz als einer Heeresform, die sich organisch aus der heutigen entwickelt. Von diesem Standpunkte aus lässt sich die allgemeine Milizforderung in der Agitation verwirklichen als Forderung militärischer Jugenderziehung, kurzer Dienstzeit, Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit, mit einem Worte: die Forderung der Miliz wird durch diese ihre Behandlung vom Himmel der Abstraktion auf den Boden der praktischen Agitation gestellt. Von demselben historischen Standpunkt gesehen, enthüllt die Miliz uns ihr rätselhaftes politisches Antlitz.

Die Miliz ist die demokratische Form der Heeresorganisation, wie das Parlament des allgemeinen Wahlrechts mit verantwortlicher Regierung die demokratische Form der Regierung eines Landes ist. Aber nur kleinbürgerliche Demokraten aus der alten Zeit, wo ihnen die schmutzige Praxis der kapitalistischen Politik den Selbstbetrug demokratischer Illusionen nicht in den bewussten Betrug anderer verwandelt hat, glaubten, dass im Kapitalismus volle Demokratie möglich ist, dass die Demokratie die Klassenherrschaft aufhebt. Und wie sie von der Demokratie diese Wunderwirkungen erwarteten, so auch von ihrer Teileinrichtung, von der demokratischen Wehrorganisation: der Miliz. Die Miliz sollte dem Volke mechanisch die Entscheidung über die innere und äußere Politik des Landes geben. Die Regierung würde dank der Miliz zu einem wirklichen Ausführungsorgan der Mehrheit des Volkes. Sie könnte nichts gegen das Volk im Innern vornehmen, weil sie in der Miliz auf einen unüberwindbaren Widerstand gestoßen sein würde. Sie müsste auf jede Eroberungspolitik verzichten, denn die Miliz ließe sich nicht zur Unterdrückung anderer Völker gebrauchen. Sie würde sich desto weniger missbrauchen lassen, da doch in einem demokratischen Staate die Entscheidung über Krieg und Frieden beim gesamten Volke liegen würde, das kleinbürgerliche Volk sich aber für ein Lämmlein hielt, das niemandem das Wasser trübt. Diese kleinbürgerliche Auffassung der Miliz war in den Anfängen der Arbeiterbewegung auch von ihr akzeptiert, denn, obwohl äußerlich sich von der kleinbürgerlichen Demokratie schon trennend, war die damalige sozialdemokratische Arbeiterschaft noch stark durch die kleinbürgerliche Ideologie beeinflusst. Wie frei von ihr in der Milizfrage damals auch schon ein Engels war, die Masse der sozialdemokratischen Arbeiterschaft schöpfte ihre Auffassung über die Milizfrage nicht aus den aphoristisch durch Engels hingeworfenen Andeutungen, aus denen erst eine marxistische Auffassung der Milizfrage zu entwickeln war, sondern aus den bürgerlichen Milizschriften. Und wie wenig sie sich des Gegensatzes zu ihnen bewusst war, beweist das Referat Liebknechts, das er auf dem fünften Vereinstag der deutschen Arbeitervereine zu Nürnberg im Jahre 1868 über Wehrfragen hielt. Das Referat begann mit der Feststellung der Gleichartigkeit der Milizforderung bei der bürgerlichen und Arbeiterdemokratie:

Sie werden nicht von mir verlangen“ — führte Liebknecht aus — „dass ich die vorliegende Frage nach allen Seiten hin theoretisch erschöpfend behandle. Es ist dies in neuerer Zeit von der demokratischen Tagespresse in Broschüren und in Volksvertretungen so gründlich geschehen, dass man mit Recht sagen kann: Die Wehrfrage ist theoretisch entschieden und bedarf nur noch der praktischen Lösung“.6

Gemäß dieser Einleitung bewegt sich das ganze Referat Liebknechts in rein demokratischen Gedankengängen, es fehlt in ihm auch der leiseste Hinweis auf das Verhältnis des Kapitalismus zur Milizfrage. Als Gegner der Miliz werden nur der Absolutismus und die Junker genannt.

Aber die soziale Entwicklung schritt über diese kleinbürgerlichen Illusionen hinweg. Die Bourgeoisie wurde zu einem rabiaten Verfechter des Militarismus als der Waffe gegen das Volk, und die Praxis der demokratisch entwickeltsten Staaten zeigte, dass das Kapital der demokratischen Entwicklung Schranken zu setzen und die bestehenden demokratischen Institutionen in seine Herrschaftsmittel zu verwandeln weiß. Die Politik der kapitalistischen Klassen in demokratischen Staaten beweist, dass der Kapitalismus jeden konsequenten Ausbau der Demokratie, der den Massen eine ruhige Entscheidung über ihre Geschicke überlassen würde, nicht vertragen kann. Wie er in Deutschland das allgemeine Wahlrecht bedrohte für den Fall, dass die Arbeitermasse zum ausschlaggebenden Faktor im Reichstag werden könnte, wie er in England und Frankreich in Oberhaus und Senat ein Gegengewicht gegen das Parlament schafft und der konsequenten Demokratisierung des Parlamentswahlrechts entgegentritt, so wird der Kapitalismus bis aufs äußerste den Tendenzen auf volle Demokratisierung des Heeres, auf die Verwirklichung der „unverfälschten“ Demokratie sich widersetzen. Die Miliz als Wehrorganisation, die auch formell dem Volke die Entscheidung über Krieg und Frieden gibt, ist im Rahmen des Kapitalismus ebenso wenig zu verwirklichen, wie die volle Demokratie überhaupt. Und es ist eben der Glaube an die Vereinbarkeit der Demokratie mit dem Kapitalismus, der Bestandteil einer kleinbürgerlich-demokratischen Ideologie, die unserem französischen Genossen Jean Jaurès seine Milizauffassung diktiert hat. Wenn er in seinem äußerst interessanten Werke „L‘armee nouvelle“7 die Milizidee mit der völligen Abkehr Frankreichs von den Bahnen der imperialistischen Politik verknüpft, an die Möglichkeit einer nicht nur prinzipiell friedlichen, sondern reinen Verteidigungspolitik Frankreichs glaubt, so hat diese Auffassung der Miliz nichts mit der kapitalistischen Wirklichkeit zu tun. Sie ist eine Utopie, denn der französische Kapitalismus wird ebenso an der imperialistischen Politik festhalten, wie jeder andere, bis das Proletariat ihm das Ruder aus den Händen nimmt. Wenn wir aber mit Engels die unverfälschte Miliz auf die Zeit des Zukunftsstaates verschieben, für den sie auch nur als Übergangsmaßregel in Betracht kommt, da eine stabilisierte sozialistische Gesellschaft, die nur international möglich ist, keine Wehrorganisation braucht, so bedeutet das keinesfalls einen Verteidigungsnihilismus, keinen Verzicht auf die Milizforderung, als eine heute schon zu verwirklichende Forderung. Es steht um sie ebenso, wie um andere unserer im Rahmen des Kapitalismus verwirklichbaren Forderungen. „Es sind lauter Forderungen, die, soweit sie nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisierbar sind“ — sagt Marx.8 Die Bourgeoisie wird niemals die konsequente Durchführung der Miliz zulassen, solange sie die Macht in den Händen hat, aber sie wird nicht umhin können, unter dem Druck der Massen und der militärischen Notwendigkeiten sie stückweise zu verwirklichen und so den entscheidenden Einfluss der Massen zu steigern. „Soweit sie nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben“, ist die Milizforderung verwirklichbar.

Ihre Folgen werden aber ganz andere sein, als sich die demokratischen Illusionisten sie vorgestellt haben. Sie hofften, dass die Miliz die ruhige Abkehr der Staaten von der Reaktion im Innern und der Eroberungspolitik nach außen hin herbeiführen wird. Diese Hoffnung ist trügerisch. Die Bourgeoisie findet immer Mittel, eine demokratische Institution zu missbrauchen. Es genügt ihr, im Innern die Milizen aus wenig entwickelten, also reaktionären Gegenden zu verwenden, — worauf schon im Jahre 1898 Genosse Schippel in seiner interessanten Auseinandersetzung mit Kautsky hinwies — was die Praxis der Schweizer Bourgeoisie trefflich bestätigt. Sie wird bei der Demokratisierung des Heeres gleichzeitig sich Polizeisöldnertruppen schaffen, was ihr von bürgerlichen Milizanhängern schon zugestanden wird, die, durch militärische Notwendigkeiten zur Verfechtung der Milizforderung getrieben, gleichzeitig nach Garantien gegen das Volk suchen. Was die äußere Politik betrifft, so wird die Bourgeoisie selbst bei der weiteren Demokratisierung der Heeresorganisation am Imperialismus festhalten. Erstens hofft sie dabei auf die Einwirkung der nationalistischen Idee, dieser letzten Lebenslüge des Kapitals. Zweitens: wie sehr sie auch den Moment des Kriegsausbruches fürchtet, so hofft sie durch das Herrschen des Kriegsterrorismus über ihn hinwegzukommen, und im Kriege rechnet sie auf den Selbsterhaltungstrieb der Soldaten, der jeden von ihnen angesichts der Todesgefahr zur höchsten Anstrengung aller Kräfte führen wird. Über die Haltung des Volkes im Lande selbst, über die Haltung der Soldaten in den langen Stockungen, die ein Krieg z. B. gegen die französischen Festungsgürtel verursachen muss, über die Haltung des ganzen Volkes nach dem Weißbluten im Kriege, wie über die Möglichkeit der Massenaktionen vor dem Kriege setzt sie sich hinweg, und sie würde sich selbst bei dem weiteren Ausbau des Heeres in der Richtung der Demokratie darüber hinwegsetzen, weil sie es muss. Keine Klasse verzichtet von selbst auf ihre Politik. Welche Bedeutung besitzt angesichts dessen die Milizforderung? Dieselbe, wie alle unsere demokratischen Forderungen. Sie bewirken keine Milderung der Klassengegensätze, sie schaffen keinen einzigen Gegensatz der kapitalistischen Gesellschaft aus der Welt; aber sie steigern die Macht des Volkes. Je mehr die Armee demokratisiert ist, je mehr sie sich mit den wehrhaften Männern des Volkes deckt, desto mehr nötigt sie das Kapital, solange es sich nicht um seine Lebensinteressen handelt, dem Volke Zugeständnisse zu machen, und wo es aufs Biegen oder Brechen ankommt, dort hebt sie die Fähigkeit des Volkes, dem Klassengegner die Spitze zu bieten. Je mehr die Demokratisierung des Volkes fortgeschritten ist, desto mehr werden die Großmächte auf das Aufbauschen jedes kleinen Gegensatzes verzichten; wo sie aber hart auf hart aneinander geraten, wird bei allen den günstigen Momenten, die die Bourgeoisie in ihrem Selbsttäuschungsdrang übersehen muss, die jedoch der Arbeiterklasse die Möglichkeit des Vorstoßes gewähren, die Macht der Arbeiterklasse, des Volkes in Waffen, zum Kampfe für ihre Interessen wachsen. Nicht eine ruhige Entwicklung, ein Hineinwachsen in alle Wohltaten der Demokratie, sondern die Verschärfung der Klassenkämpfe bis zum heißesten Kampf um die Macht wird die Folge der Demokratisierung des Heeres sein.

3. Die Miliz und der Kampf um die Macht

Die Milizforderung hat die Sozialdemokratie von der bürgerlichen Demokratie geerbt, und trotzdem hat Karl Kautsky recht, wenn er einmal behauptet, dass bei keiner Forderung des Minimalprogramms der Sozialdemokratie so der ganze Gegensatz der Arbeiterklasse zum Kapital zutage tritt, als im Kampfe für die Miliz. In dieser Tatsache drückt sich das Gefühl der besitzenden Klassen aus, dass ihre Herrschaft mit der fortschreitenden Entwicklung immer weniger auf ökonomischer Notwendigkeit, immer mehr auf reiner Gewalt beruht. Aber diese Gewalt, auf die sich die Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse stützen will, ruht in den Händen der Arbeiterklasse, die als Heer gegen sich selbst kämpfen soll. Alle Zauberkünste, die das Kapital aus den Traditionen des Söldnerheeres schöpft und dem Volksheere aufzupfropfen sucht, werden nicht genügen, um die Arbeiterklasse dauernd zu ihrem eigenen Gefängnisaufseher zu machen. Wie die Tatsache, dass die gesellschaftliche Produktion immer mehr von der Person des Kapitalisten unabhängig wird, der als Aktienbesitzer zum bloßen Verzehrer des Arbeitsproduktes wird, während die Arbeiterklasse immer mehr zum einzig entscheidenden Faktor der Produktion wird, immer mehr den Klassengegensatz zuspitzt, so bringt die Tatsache, dass die Masse der Arbeiterklasse immer mehr zum entscheidenden Faktor im Heere wird, das Moment immer näher, wo das Heer als Mittel zur Beherrschung der Arbeiterklasse versagen muss. Die von der Bourgeoisie organisierte Gewalt wird zur Gewalt gegen die Bourgeoisie. Das wird kommen, ob die Bourgeoisie sich dem demokratischen Ausbau des Heeres widersetzt oder nicht. Denn schließlich lässt sich in zweijähriger Dienstzeit bei allem Drill das Volksbewusstsein der Masse im bunten Tuch nicht ausrotten. Die Demokratisierung der Armee ist nur ein Mittel zur Beschleunigung dieser Entwicklung, die auch ohne sie kommen muss. Da aber der Arbeiterklasse am möglichst schnellen Abwerfen des Joches gelegen sein muss, gewinnt für sie die Forderung der Miliz und der Kampf um sie mit jedem Jahre, mit dem die Herrschaft des Kapitals unerträglicher, weil historisch immer weniger notwendig wird, eine größere Bedeutung.

Jahrzehntelang war diese Bedeutung der Miliz als Kampfobjekt des Proletariats in unserem Bewusstsein zurückgedrängt. Keine einzige Forderung unseres Programms wurde so wenig in der sozialdemokratischen Literatur begründet, in der sozialdemokratischen Agitation berücksichtigt. Das hat seine sehr wichtigen historischen Gründe. Nach dem Jahre 1871 schien, trotz des fortdauernden Rüstens, der europäische Friede gesichert. Nur an den Grenzmarken der kapitalistischen Zivilisation donnerten die Kanonen. Das Militärwesen entwickelte sich langsam ohne Sprünge, was die Bedeutung der Heeresorganisationsfragen zurückdrängte. Und wie die Entwicklung des Militarismus, so schien auch die der Arbeiterbewegung zu sein. Allmähliches Kräftesammeln und Vordringen war ihr Charakter; weit und breit kam der Gedanke zum Durchbruch, ihr Sieg sei nur noch als allmählicher Aufstieg denkbar. Die Fragen des Kampfes um die Macht, von denen eben die Milizfrage einen Teil bildet, mussten an Bedeutung verlieren. Aber die kapitalistische Entwicklung zerschlug diese Illusionen. Staat gegen Staat, Klasse gegen Klasse — so heißt jetzt die Parole. Je mächtiger der Drang des Kapitals nach dem Profit, desto schärfer auf dem Weltmarkt, desto schärfer der Kampf um neue Ausbeutungsgebiete. Der Imperialismus hat die Gefahr eines europäischen Krieges akut gemacht. Er hat das Tempo der Rüstungen so beschleunigt, dass die Frage nach dem Kampfe gegen sie zur wichtigsten Frage der internationalen Arbeiterbewegung wurde. Gleichzeitig steigerte sich der Kampf des Kapitals und der der Arbeiterklasse immer mehr: den mächtigen Arbeiterorganisationen stehen mächtige kapitalistische Organisationen gegenüber. Der kapitalistische Staat wirft auf die Schale der kapitalistischen ökonomischen Machtmittel die Gewalt des Heeres. Sollen wir uns als Kanonenfutter gebrauchen lassen wegen afrikanischer und asiatischer Kolonien? Sollen wir uns als Büttel gegen unsere Brüder gebrauchen lassen? Diese Fragen tauchen immer hartnäckiger, immer stärker auf, und die Blicke der Arbeiterklasse wenden sich den Heeresfragen zu. Die Haltung der besitzenden Klassen zeigt ihnen, dass diese, solange sie am Ruder bleiben, auf das Rüsten nicht verzichten werden. Es gilt also, auf dem Boden der Rüstungen die Macht der Arbeiterklasse zu stärken. Ist das möglich? Das Studium der Heeresgeschichte zeigt die starke, dem Militarismus innewohnende Tendenz zur Demokratisierung, was nichts anderes ist als die Tendenz zur Stärkung der Macht des Volkes im Heere. Diese Tendenz mit allen Kräften unterstützen, heißt den Kampf um die Miliz führen. Die Demokratisierung des Heeres bedeutet nicht die Eindämmung der Rüstungen, nicht die Abschaffung der Möglichkeit der Niederhaltung des Volkes vermittels der Gewalt; aber sie wird das Nahen des Momentes beschleunigen, wo die Bajonette, auf denen die Bourgeoisie sitzt, sich zu rühren beginnen. Indem die Milizforderung so den Weg zur Macht zeigt, bildet sie unsere trefflichste Losung im Kampfe gegen den Imperialismus, das Losungswort des Kampfes unserer Tage. Das Kapital sucht den Kampf um neue Ausbeutungsgebiete in den Kampf um nationale Interessen umzulügen. Immer, wenn es durch seine imperialistischen Interessen in Gegensatz zu anderen kapitalistischen Mächten geraten ist, appelliert es an das Volk: verteidige deinen heimatlichen Boden! Die Forderung der Miliz wirft diesen Schwindel über den Haufen. Wir haben keinen heimatlichen Boden, weil wir besitzlose Proletarier sind, antworten die Verfechter der Milizidee. Aber gut, wir wollen der Bourgeoisie glauben, dass eine fremde Bourgeoisie uns noch ärger ausbeuten würde. Wir wollen also alle Wehrkräfte des Volkes mobilisieren: deshalb her mit der Miliz, die allein imstande ist, das zu bewirken! Aber die Bourgeoisie kämpft aus Leibeskräften gegen die Milizforderung. Und dadurch erlaubt sie uns dem Volke an offenkundigen Tatsachen zu zeigen, dass es sich für sie nicht um die Verteidigung des heimatlichen Bodens, sondern um den Raub fremden Bodens handelt. Es gibt keinen besseren Probierstein für den Imperialismus als die Milizforderung.

Der Kampf für die Miliz bedeutet für das Proletariat den Übergang von der Verteidigung zum Angriff. Den Protesten gegen die Rüstungen wird der Angriff gegen die Rüstungspolitik folgen. Indem die Sozialdemokratie die Forderung der Miliz auf ihr Banner schreibt, gibt sie dem Proletariat ein greifbares, den Massen verständliches, nächstes Ziel. Miliz bedeutet nicht nur Protest gegen Rüstungen, sondern Kampf für einjährige Dienstzeit, Kampf gegen die militärische Justiz, gegen den Menschen tötenden Drill, gegen das Elend des Soldatenlebens. Wie sollten da nicht die Energien der Volksmassen im Kampfe für solche Ziele wachsen! Und da die Milizforderung gänzlich auf dem Boden der wirklichen Entwicklung ausgefochten wird, wie sie sich in den Rüstungen äußert, erlaubt sie, in alle Dunkelkammern und Schlupfwinkel des Kapitalismus hineinzuleuchten, die Fenster seiner Kasernen weit aufzureißen und dem Proletariat den Weg zum Kampfe um die Macht zu zeigen. Die Miliz wird zur Lösung der uns bevorstehenden Kämpfe. Diese Kämpfe aber werden nicht im Geiste der fruchtlosen, sentimentalen Utopistereien der nervenschwachen friedliebenden Teile der Bourgeoisie ausgefochten, sondern im Geiste des proletarischen Kampfes um den Sozialismus, im Sinne der kampfesmutigen Klasse der Zukunft, für die der kapitalistische Friede kein geringerer Gräuel ist als der kapitalistische Krieg.

1 Colmar v. d. Golz: Das Volk in Waffen, Berlin 1899, S. 5

2 Unsere Behauptung, der Militarismus fühle schlotternde Angst vor den eigenen Folgen, glaubte schon im vorigen Jahre der Stratege des “Vorwärts”, Genosse E[rnst] Däumig in folgender Weise in der “Neuen Zeit” (Band 2, S. 684 abkanzeln zu müssen: “Wie wenig klar man sich über diese Erscheinungen in unserer Partei ist, beweist die kuriose Tatsache, dass zur Zeit der Wehrvorlagenerörterung ein Artikel einer Korrespondenz durch einen großen Teil unserer Parteipresse ging, indem unter Berufung auf Bernhardi behauptet wurde, dass die Generale “schlotternde Angst” vor den Konsequenzen des Militarismus in einem Zukunftskriege hätten und dass dieser draufgängerische Kavalleriegeneral gewissermaßen für de sozialistische Milizidee eintrete. Wie man das aus Bernhardi herauslesen konnte, ist mehr als rätselhaft.” Um mit der letzten Behauptung anzufangen, so ist das Rätsel leicht zu lösen. “Man” behauptete nämlich gar nicht, dass Bernhardi für die Milizidee eintritt, hingegen suchte “man” auf Grund der Darstellung der Bedingungen des modernen Krieges durch Bernhardi und andere Fachmänner die Notwendigkeit der Verkürzung der Dienstzeit, der Abschaffung des Drills, mit einem Wirte der Demokratisierung der Armee zu beweisen. Was die Angst der Militärvertreter vor den Folgen des Militarismus anbetrifft, so findet man sie in allen ernsten militärischen Werken, obwohl die Herren Offiziere sie durch Sporen- und Phrasengeklirr zu betäuben suchen. Die Vertreter des Militarismus sind sich eben oft klarer über “diese Erscheinungen” als manche martialische Gestalt in unserer Partei.

3 Freiherr v. Freytag-Lorinhoven: Die Exerzier-Reglements der Infanterie von 1812, 1847, 1888 und 1906. Ein Jahrhundert taktischer Entwicklung. 1. Beiheft 1907 zum Militärwochenblatt S. 86.

4 Zitiert bei Hauptmann Kirsch: Wert und Bedeutung von Milizheeren. Vierteljahreshefte für Truppenführung und Heereskunde, herausgegeben vom Großen Generalstabe. Berlin 1907, Band 4, 1. Heft, S. 79

6 „Die ersten deutschen Sozialistenkongresse‘‘ Abgedruckt in der Sammlung: ‚‚Aus der Waffenkammer des Sozialismus.‘‘ 6. Halbjahrsband, S.101-105. Frankfurt 1906.

7 Paris 1911. Jules Rouff. Eine deutsche Übersetzung des Buches soll bei Diederich in Jena erscheinen.

8 Marx: „Zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms.“ Abgedruckt in der Sammlung: ‚Aus der Waffenkammer des Sozialismus.“ 10. Halbjahrsband, Frankfurt 1908.

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