Karl Radek 19110913 Marokko in Jena

Karl Radek: Marokko in Jena

(September 1911)

[Bremer Bürger-Zeitung, Nr. 214, 13. September 1911, gezeichnet K.R.]

Die Debatte des Parteitages über die Haltung des Parteivorstandes am Anfang der Marokkokrise werden wohl noch Anlass geben zu Erörterungen über die Freiheit der Kritik in der Partei und die Art, in der sie von der Parteileitung aufgefasst wird. Wir wollen uns heute bei einer anderen Frage aufhalten: bei der Auffassung von den Aufgaben der Sozialdemokratie während internationaler Spannungen, wie sie in den Ausführungen der Parteivorstandsmitglieder zutage getreten ist. Wir glauben, dass die Sache eine dauernde, prinzipielle Bedeutung hat und dass ihre Besprechung noch vor dem Referat des Genossen Bebel, an das sich die meritorische Diskussion über die Marokkofrage knüpfen soll, von Nutzen sein wird.

Um den Vorwurf der Genossin Luxemburg abzuweisen, dass der Parteivorstand eine internatonale Manifestation gegen die Kriegsgefahr am Anfang der Marokkokrise abgelehnt hatte, wurde von Molkenbuhr, Bebel und Müller darauf hingewiesen, dass es sich doch um die Haltung des Parteivorstandes vor der Rede Lloyd Georges gehandelt hat. Dieser Hinweis soll bedeuten: damals war von einer Kriegsgefahr keine Rede, weil man doch nicht wissen konnte, dass sich England einmischen würde, um Revanche zu nehmen für die Niederlage bei der englisch-österreichischen Krise von 1908; “erst durch seine Beteiligung wurde ja die Marokkokrise erst zu einer akuten Kriegsgefahr”, führte der Genosse Molkenbuhr aus: Wir lassen die Tatsache beiseite, dass nach der Rede des englischen Schatzkanzlers vom 21. Juli, die englische Einmischung signalisierte, volle zwei Wochen verstrichen sind, bis der Parteivorstand mit seinem Aufruf erschien. Wir lassen auch die Tatsache beiseite, dass es eine einfache Ausrede ist, wenn ein Parteivorstandsmitglied erklärt, der Augenblick des Eingreifens des Parteivorstandes sei speziell gut gewählt gewesen, weil die “Nationalliberale Korrespondenz” damals die Kriegshetze verstärkte. Es ist doch klar, dass die Gefahr der Beeinflussung der Regierung durch die Kriegshetze am stärksten war, bevor die Regierung Frankreich gegenüber ihre Karten aufgedeckt hatte, also am Anfang der Krise, und nicht einen Monat nach der Absendung des “Panther” nach Agadir. Lassen wir aber diese Motivierungen, die nur beweisen, in wie schlechter Position sich der Parteivorstand befindet, beiseite und prüfen wir die Auffassung, die hinter dieser Verteidigung steckt.

Es ist nicht richtig, dass vor der Rede Lloyd Georges mit der Einmischung Englands nicht gerechnet werden konnte. Seit 1904 gibt es keine einzige europäische Spannung, in der England nicht bemüht wäre, dem deutschen Imperialismus ein Bein zu stellen. Es gab also überhaupt gar keinen Grund zu der Annahme, dass es jetzt anders sein sollte. Und dass es dazu keiner spezieller Nachrichten “aus der unterrichteten Quellen” bedurfte, sondern nur der Prüfung der Sachlage, das beweist die Tatsache, dass mit der Möglichkeit einer solchen Einmischung sowohl der Schreiber dieses Artikels wie der Genosse Beer (London) in ihren Artikeln in der Parteipresse vor der Rede Lloyd Georges gerechnet haben, obwohl wir diese Einmischung keinesfalls für identisch mit einer Kriegsdrohung usw. hielten. Aber was ermöglicht dem Genossen Molkenbuhr die Behauptung, dass die Kriegsgefahr nur dank der englischen Einmischung entstand? Die Kriegsgefahr konnte an jedem Zwischenfall entbrennen, d.h. seit dem Erscheinen des deutschen Kriegsschiffes in Marokko an jedem Zufall. Denn es ist ein Irrtum sondergleichen, der die Grundlage der Molkenbuhrschen Auffassung bildet: Die Identifizierung des Imperialismus mit der Kabinettspolitik. Molkenbuhr meint so: da aller Wahrscheinlichkeit nach weder die deutsche Regierung noch die französische Krieg will, so gibt es keine Kriegsgefahr, bis eine dritte Macht hinzutritt, die eventuell an einem kontinentalen Krieg Interesse hätte. So steht aber die Sache nirgends, die Regierungen beherrschen nicht ihren Willen, sie beherrschen nicht ihre gemeinsamen Beziehungen. In dieser Auffassung äußert sich derselbe Schematismus, der den Genossen Molkenbuhr zu der Meinung verleitete, die deutsche Marokkopolitik sei nicht ernst zu nehmen, weil Krupps und Thyssens Interessen die Mannesmannschen Wühlereien paralysierten. Als ob sich die auswärtige Politik der deutschen Regierung in einer Retorte kristallisierte, in der nur diese zwei Faktoren wirken! Als ob neben vielen Friedensmomenten nicht ein solches für den Krieg ausschlaggebend sein könnte, wie der an einem Zwischenfall entfachte nationale Ehrenfuror des in Deutschland immer mehr erstarkenden und auf dem Weltmarkt bedrängten Kapitals! Diese Argumente von Parteivorstandsmitgliedern beweisen, dass sich der Parteivorstand in der Beurteilung der internationalen Lage von Augenblicksstimmungen, von der Berücksichtigung nur einzelner Momente bestimmen lässt.

Dass eine so orientierte Politik die Lage nicht übersehen kann, ist klar. Aber nicht nur diese Tatsache ergibt sich aus den Molkenbuhrschen Ausführungen. Angenommen, dass die internationale Situation nicht so gefährlich aussah, dass die gemütlichsten Mitglieder des Parteivorstandes, die vielleicht in der Hetze ein Moment gegen den Krieg sahen, recht hätten. Folgt daraus, dass es nicht nötig war, internationale Demonstrationen einzuberufen? Beginnen wir unsre Aktion erst dann, wenn es feststeht, dass morgen die Kanonen losgehen? Eine solche Auffassung von der Sache könnte nur dann begründet sein, wenn ähnliche Aktionen eine unangenehme Pflicht oder nur in Ausnahmefällen durchführbar wären. Und hier liegt eben der Hund begraben. Ein Teil des Parteivorstandes fürchtete, die Aktion könne an der Teilnahmslosigkeit der Arbeitermassen scheitern. Die beiden Anschauungen zeigen wieder, wie wenig die führenden Parteikreisen sich des Einflusses der äußeren Politik auf die innere, ihrer Verflechtung bewusst sind — (Man kann keine Agitation gegen die Marokkopolitik führen, ohne alle wichtigsten inneren Fragen aufzurollen!) und wie niedrig sie die Stimmung der Massen einschätzen.

Und diese Tatsache steht in direktem Zusammenhang mit der nicht genügenden Übersicht über das Gebiet der auswärtigen Politik. Dass dies noch möglich ist bei der Partieleitung, erklärt sich aus der Tatsache, dass die kurze Geschichte des deutschen Imperialismus in der Mehrheit unserer Parteigenossen das Gefühl von seiner Bedeutung für die jetzige Phase der kapitalistischen Entwicklung noch nicht zu wecken vermochte. Darin liegt das Schwergewicht der Debatten über die Marokkosünden des Parteivorstandes, wie der weiteren über die auswärtige Politik, dass sie im ganzen Proletariat das Interesse für dese Fragen schärfen müssen. Mag auf dem Parteitag auf die unliebsamen Mahner noch so geschimpft werden, der Parteivorstand wird sich in Zukunft hüten, wieder anderthalb Monate bei einer internationalen Spannung zu — ruhen. Und nicht nur der Parteivorstand: Die Debatte, die noch viele Fragen aufwerfen dürfte, wird der Parteipresse zeigen, dass man die Fragen, die vielleicht den Anstoß zu den wichtigste Fragen, die vielleicht den Anstoß zu den wichtigsten Schlachten des Proletariats geben werden, nicht sorgfältig genug studieren und dem Proletariat näher bringen kann.

Das ist schon ein Gewinn, auf den die radikalen Sünder mit Genugtuung schauen können, selbst wenn sie alle Tugenden, von der in der Debatte offenbarten Wahrheitsliebe bis hin zur ehemäßigen Behandlung der “Parteigeheimnisse”, ihren Gegnern und Richtern lassen müssten. Wie es aber um diese Tugenden bestellt ist, darüber wird die “Bremer Bürger-Zeitung” sich wohl noch auszulassen haben. —

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