Karl Radek 19220000 Nach Genua und Haag

Karl Radek: Nach Genua und Haag

(1922)

[Kleine Bibliothek der Russischen Korrespondenz, Heft 75/76, 1922]

1. Von Brest-Litowsk bis Genua.

Die siegreiche Oktoberrevolution hatte kaum ihr Haupt erhoben, als sie sich auch schon Auge in Auge einem erbitterten Feinde gegenübersah — dem in Waffen starrenden und bis an die Zähne bewaffneten deutschen Imperialismus. Die Monarchie der Hohenzollern, ein Feind selbst der gewöhnlichen bürgerlichen Demokratie, war gezwungen, mit der jungen, noch nicht erstarkten Arbeiterrepublik in Unterhandlungen einzutreten, denn die Sowjet-Republik, die das Band mit der Entente zerrissen hatte, bedeutete die Beendigung des Krieges im Osten. Und wie der deutsche Imperialismus die siegreiche Revolution auch hasste, seine schwierige wirtschaftliche Lage zwang ihn, schweren Herzens einen Kompromiss mit ihr zu schließen. Während die hohenzollernschen und habsburgischen Diplomaten, die Herren Kühlmann und Czernin, das wilde Tier zu liebkosen suchten und in einem Tone zu ihm sprachen, der bei Naiven den Eindruck erwecken konnte, dass sie mit der Revolution einen Vergleich einzugehen gedächten, drohte General Hoffmann, der wirkliche Vertreter des imperialistischen Deutschland, dem siegreichen russischen Proletariat mit der bewaffneten Faust. Durch seine hasserfüllte Rede gegen die proletarische Diktatur gab er das wahre Verhältnis des imperialistischen Deutschland zu Sowjet-Russland zu verstehen. Doch auch die glatten Reden Czernins und Kühlmanns waren nicht nur diplomatische Phrasen, — sie waren der Ausdruck der für den deutschen Imperialismus verhängnisvollen Tatsache, dass er Sowjetrussland mit gebundenen Händen entgegentrat. Wohl konnte er seine gepanzerte Faust gegen Sowjetrussland erheben, doch er konnte sie nicht niederfallen lassen, da er für seinen Kampf gegen seine Konkurrenten im Westen, im Osten Ruhe brauchte.

Wir erwähnen diese Tatsache, wo wir die Bilanz von Genua und Haag ziehen wollen, weil sie die Spaltung im Lager des Imperialismus und die Fesselung des einen Feindes Sowjet-Russlands durch die Hände des andern der Hauptfaktor der ganzen Geschichte der äußeren Politik Sowjet-Russlands ist. Sie steht an seiner Wiege und ist auch heute eines der entscheidenden Momente seiner äußeren Lage. Aus den Memoiren des Generals Ludendorff, aus den Dokumenten der deutschen Regierung über die Ereignisse vor der deutschen Kapitulation geht klar hervor, dass der deutsche Imperialismus bis auf seine letzten Tage immer noch hoffte, von der Notwendigkeit befreit zu werden, mit Sowjet-Russland rechnen zu müssen, seinen Klassengelüsten Spielraum verschaffen und seinen revolutionären Feind niederschlagen zu können. Ludendorff bereitete die Finkreisung Sowjet-Russlands vor: aus Helsingfors sollten die Landsknechte von der Goltz‘ gegen Sowjetrussland ausrücken; aus Kiew sollte Eichhorn mit Skoropadskj gegen Moskau marschieren; in Zaryzyn arbeiteten deutsche Verbindungsoffiziere und bereiteten den Angriff Krassnows vor; in Pleskau befand sich das Hauptquartier der russischen Freiwilligen-Armee und selbst noch in dem Augenblick als die Geschichte schon ihr Todesurteil über den deutschen Imperialismus gesprochen hatte, versuchte General Hoffmann die deutsche Regierung zu überzeugen, dass es ihm mit den Kräften, die sich an der Ostfront befanden, gelingen würde, Moskau und Petrograd zu nehmen und den Verbündeten zu den Friedensverhandlungen die Vernichtung Sowjetrusslands darzubringen als Lösegeld für alle Verfehlungen des deutschen Imperialismus und als Möglichkeit einer Kompensation für seine Verluste im Westen: für die Herausgabe Belgiens, für den Verzicht auf die Kolonien sollten die Verbündeten Deutschland Russland zur Ausplünderung überlassen Der Plan war unausführbar nicht nur darum, weil das Schwert des Feldmarschalls Foch, das seit Juli 1918 über dem Haupt des deutschen Imperialismus schwebte, zum vernichtenden Schlage ausholte, nicht nur darum, weil die Auslieferung Russlands an Deutschland zur Ausbeutung die Wiederherstellung des deutschen Imperialismus für die Zukunft bedeutete, sondern auch darum, weil die Entente nach einem vierjährigen Krieg, den sie unter der Losung der Vernichtung des deutschen Imperialismus geführt hatte, diesen nicht zum Vollstrecker der Entente-,,Demokratie“ in Russland machen konnte. Das Schwert denkt nicht, und dem Kapital ist es gleichgültig, wer ihm den Weg säubert, doch die Massen, in deren Hände das Kapital das Schwert des imperialistischen Krieges gelegt hatte, denken, und aus ihren Köpfen darf man nicht die Gedanken herausreißen, die für sie die Triebkraft ihrer Handlungen waren.

Der deutsche Imperialismus wurde zertrümmert und seinen Platz nahm der siegreiche französische und angelsächsische Imperialismus ein. Mit tiefer Unruhe blickte der siegreiche Imperialismus der Verbündeten auf Sowjetrussland. Am deutlichsten kommt diese Unruhe in dem dem Versailler Viererrat ausgehändigten Memorandum Lloyd Georges vom 25. März 1919 zum Ausdruck, in dem er erklärte: „Die Revolution ist noch in ihrer Kinderzeit; in Russland herrscht noch der äußerste Terror. Europa ist erfüllt von revolutionären Gedanken. Ein tiefes Gefühl, nicht der Missstimmung, sondern der Wut und Auflehnung lebt in der Brust der Arbeiterklasse gegen ihre Lebensbedingungen vor dem Kriege. Alle heutigen Einrichtungen auf politischem, sozialem, ökonomischem Gebiet werden von der Bevölkerung in ganz Europa in Frage ges stellt. In einigen Ländern, wie in Deutschland und in Russland, drängt. diese Unruhe zu offener Empörung; in anderen Ländern, in Frankreich, England, Italien, macht sie sich in Streiks, in einer allgemeinen Unlust zur Arbeit bemerkbar; alles Zeichen, die ebenso sehr auf den Wunsch nach sozialen und politischen Änderungen, wie auf das Verlangen nach einer Erhöhung der Löhne hindeuten.

Ein guter Teil dieser Unruhe ist sehr heilsam: wir kommen niemals zu einem Dauerfrieden, wenn wir die Wiederherstellung der Lebensbedingungen von 1914 versuchen. Damit laufen wir nur Gefahr, die Masse der Bevölkerung in Europa den Extremen in die Arme zu treiben, deren Grundidee in der Wiedergeburt der Menschheit durch die völlige Zerstörung der heutigen Gesellschaftsordnung besteht. In Russland haben diese Leute den Sieg davongetragen. Aber der Preis dieses Sieges war fürchterlich. Hunderttausende von Menschen sind nicht mehr am Leben. Eisenbahnen, Städte, das ganze organisierte Leben Russlands ist fast völlig zerstört; jedoch in mancher Beziehung ist es ihnen gelungen, ihre Macht über die Masse des russischen Volkes zu behaupten, und was noch bezeichnender ist, es ist ihnen gelungen, ein großes Heer zu organisieren, das anscheinend gut geführt und diszipliniert und zum großen Teil bereit ist, sich für seine Ideale zu opfern. Noch ein Jahr, und Russland, von einer neuen Begeisterung beseelt, wird sein Friedensbedürfnis vergessen haben, weil ihm das einzige Heer zur Verfügung steht, das Vertrauen zu den Idealen hat, für die es kämpfen soll.

Die größte Gefahr, die ich in der jetzigen Lage erblicke, liegt darin, dass Deutschland sein Schicksal mit dem der Bolschewisten vereinigen und seine Reichtümer, seinen Geist, seine großartige Organisationskraft diesen revolutionären Fanatikern zur Verfügung stellen könnte, die von einer Eroberung der Welt durch den Bolschewismus träumen, und zwar mittels Waffengewalt. Diese Gefahr ist kein leeres Phantom. Die jetzige deutsche Regierung ist schwach; sie hat kein Prestige; ihre Autorität ist gering; dennoch hält sie sich, weil sonst keine andere Wahl als der Spartakismus bliebe, für den Deutschland noch nicht reif ist. Aber das Argument, das die Spartakisten in diesem Augenblick mit großem Erfolg anführen, ist, dass sie allein imstande wären, Deutschland aus der unerträglichen Lage zu befreien, in die der Krieg es stürzte. Sie erbieten sich, Deutschland von jeder Verpflichtung gegenüber den Alliierten, von jeder Verpflichtung gegen seine eigenen besitzenden Klassen zu befreien. Sie bieten den Deutschen die vollständige Kontrolle über ihre Geschäfte an, sie eröffnen ihnen die Aussicht auf ein neues Paradies, auf eine bessere Welt. Freilich, der Preis wäre hoch. Zwei bis drei Jahre herrschte Anarchie, vielleicht Blutvergießen, aber zum Schluss bliebe das Land, es blieben die Menschen, die meisten Häuser, die Fabriken, Straßen, Eisenbahnen; und Deutschland von seinen Unterdrückern befreit, könnte einer neuen Ära entgegengehen.

Wenn sich Deutschland dem Spartakismus ergibt, ist es unvermeidlich, dass es sein Schicksal mit dem der russischen Bolschewisten verknüpft. Wenn dies geschähe, würde ganz Osteuropa in den Strudel der bolschewistischen Revolution hineingerissen und nach Ablauf eines Jahres befänden wir uns fast 300 Millionen Menschen gegenüber, die von deutschen Generalen, von deutschen Instruktoren zu einer Roten Riesenarmee geformt wären, ausgerüstet mit deutschen Maschinengewehren und bereit, den Angriff auf Westeuropa zu erneuern.“*

So schätzten Lloyd George und Wilson die Lage ein, und darum forderten sie Unterhandlungen mit Sowjetrussland, mit dem einzigen Ziel, es zu entwaffnen (die Mission Bullits diente diesem Zweck). Wie in vielen anderen Fragen, mussten Wilson und Lloyd George dem siegestrunkenen französischen Imperialismus nachgeben, der auch die Sowjetarmee zu vernichten hoffte. Sie mussten nachgeben, denn die hinter ihnen stehenden öffentlichen Kreise, die der Großbourgeoisie, hatten beschlossen, die Revolution niederzuschlagen, nicht aber ihr Konzessionen zu machen. Die Verbündeten erkannten Koltschak als Oberhaupt Russlands an und übernahmen die Ausführung des Programms des Generals Ludendorff und des Generals Hoffmann. Doch sie waren nicht in der Lage, ihren Beschluss auszuführen. Ursachen ihres Bankrotts gibt es viele. In der Hauptsache sind es zwei: die erste Ursache muss in dem Nachkriegsverhältnis des Proletariats zur Bourgeoisie gesucht werden; die zweite in dem gegenseitigen Misstrauen der russischen und ausländischen Weißen, die dritte in der Konkurrenz der Verbündeten, die mit dem Augenblick ihres Sieges über Deutschland beginnt.

Das Weltproletariat, durch den Krieg geschwächt und durch die Politik der Reformisten demoralisiert, war nicht in der Lage, das Banner der Revolution gegen die Bourgeoisie zu erheben. Doch die Bourgeoisie konnte es nicht zwingen, gegen Sowjetrussland zu kämpfen; die Verbündeten waren nicht in der Lage, ihre Truppen gegen die Rote Armee zu schicken. Der erste Versuch, dies zu tun, endete mit einem Aufstand in der französischen Flotte. Die Verbündeten waren gezwungen, sich darauf zu beschränken, den Weißen Geld und Waffen zu schicken. Doch indem sie dies taten, untergruben sie gleichzeitig jedes Vertrauen der Weißen zu sich. Frankreich, in tödlicher Angst vor der Möglichkeit eines künftigen russisch-deutschen Bündnisses, schuf das Weiße Polen. England, in dem Bestreben, seine asiatischen Pläne zu verwirklichen, besetzte während der Abwesenheit Russlands Konstantinopel — das Ziel der Bemühungen der russischen Weißen; es bürdete Persien einen Vertrag auf, der dieses Land zu einem Vasallen des englischen Imperialismus machte. Nicht genug damit um seine künftige Wirtschaftshegemonie in Russland vorzubereiten, unterstützt es scheinbar die baltische Kleinbourgeoisie in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen, — in Wirklichkeit, um Riga und Reval zu englischen Häfen zu machen. Dies ruft unter den Weißen Erregung hervor und veranlasst sie, sich auf die deutschen Weißen zu stützen, zu ihnen eine Brücke zu schlagen, damit in Zukunft ein Weißes Russland den siegreichen Verbündeten nicht ausgeliefert würde (der Feldzug Bermonts mit von der Goltz). Das gegenseitige Misstrauen zwischen den russischen Weißen und den Verbündeten verschärft sich, als die Verbündeten unter sich den Kampf um die Vorherrschaft auf dem Kontinent zu führen beginnen. Der Versuch Englands, in den baltischen Provinzen festen Fuß zu fassen, ruft bei Frankreich das Bestreben hervor, aus Polen einen ausschließlich französischen Waffenplatz zu machen. England blickt auf Polen mit feindlichen Augen. In dem oben zitierten Memorandum spricht Lloyd George von Polen als von einem Lande, das „in seiner ganzen Geschichte noch nicht ein einziges Mal die Fähigkeit zu einer tatsächlichen Selbstverwaltung bewiesen habe“. Gleichzeitig sehen sich die von England unterstützten baltischen Republiken lange einem feindlichen Verhalten Frankreichs gegenüber. Die Einheitsfront der Verbündeten gegen Russland stützt sich auf ein sehr schwaches Fundament. Die Widersprüche im Lager der Verbündeten schwächen ihren Kampf gegen Sowjetrussland und verringern das Ausmaß dieses Kampfes. Und als Sowjetrussland Koltschak und Denikin besiegt, verzichtet Enge land auf den weiteren bewaffneten Kampf.

Das ganze Jahr 1920 bis zum März 1921, bis zum Abschluss des Handelsvertrages zwischen England und Sowjetrussland, ist ein Jahr des Kampfes zwischen der Tendenz, Sowjetrussland zu vernichten, und dem Bestreben, es von innen heraus zu entwaffnen. Schon im Sommer 1920 unterstützt Frankreich Polen in dessen bewaffneten Kampf gegen Sowjetrussland und erkennt offiziell Wrangel an. Doch schon während der Rigaer Verhandlungen, nach der Zertrümmerung Wrangels durch die Rote Armee, erkennt Frankreich innerlich seine Niederlage im bewaffneten Kampf gegen Sowjetrussland. Briand und Barthou treten öffentlich für Unterhandlungen mit Sowjetrussland ein. Der Briefwechsel Briands mit der englischen Regierung vom November 1920 bis zum Abschluss des englisch-russischen Handelsvertrages ist der Ausdruck dieser neuen Tatsache, die von nun an eine bedeutende Rolle im Kampfe um das Verhältnis der kapitalistischen Welt zu Sowjetrussland spielt. Briand sieht die Notwendigkeit ein, mit Sowjetrussland in Friedensverhandlungen einzutreten, und will eine allgemeine Front der Verbündeten für die Unterhandlungen schaffen. Doch die englische Regierung zieht die Antwort auf diesen Vorschlag hinaus, um schließlich kühl zu antworten: Wir schließen einen Handelsvertrag ab, und wenn Frankreich will, kann es ihm beitreten. Der englische Kapitalismus versucht die Tatsache auszunutzen, dass er als erster den Friedensweg beschritten habe und will die Früchte dieses Vorrangs ernten. Lloyd George tritt öffentlich als Friedensengel auf, predigt dem ganzen Volk den Frieden mit Sowjetrussland. Doch die englische Diplomatie unternimmt nicht nur nichts, um Frankreich den Friedensschluss mit Sowjetrussland zu erleichtern, sondern sie strebt im Gegenteil nach einem Separatabkommen mit Russland.

Die an Frankreich ergehende Einladung, sich in der russischen Frage auf das englische Schiff zu setzen, ist ein Versuch, Frankreich zu erniedrigen und so den Abschluss eines franko-russischen Abkommens hinauszuschieben. Das englische Spiel ist von Erfolg gekrönt, denn ihm hilft die Unentschlossenheit der französischen Politik, einer Politik voller Widersprüche, einer Politik, die sich nicht entschließt, der französischen Bourgeoisie zu sagen, dass sie den bewaffneten Kampf gegen Sowjetrussland verloren hat.

Der Handelsvertrag mit England, die Friedensverhandlungen mit Estland, Lettland, Finnland, Polen, die Handelsverträge mit Deutschland, Norwegen, der Schweiz sind ein Waffenstillstand mit Sowjetrussland, kein Frieden. Er eröffnet dem Handel mit Sowjetrussland den Weg für bares Geld, einem Handel, der bei dem Umfang des russischen Goldvorrats nicht bedeutend sein kann. Alle diese Verträge lassen alle Fragen offen, ohne deren Lösung ein fruchtbringender und dauernder Warenaustausch zwischen dem ersten proletarischen Staat und der kapitalistischen Welt unmöglich ist. Doch das Jahr 1921 fördert neue Faktoren zutage, die das Begreifen der Notwendigkeit eines gründlicheren und dauernderen Abkommens mit Sowjetrussland fördern. Der erste dieser Faktoren ist die wirtschaftliche und politische Lage Europas in den drei Jahren nach dem Versailler Friedensvertrag, der zweite — die neue Wirtschaftspolitik Sowjetrusslands.

Die französisch-englische Konkurrenz, die während des bewaffneten Kampfes der Verbündeten gegen Sowjetrussland in Erscheinung zu treten begann, gestaltete sich zu einem englisch-französischen Wettbewerb in der ganzen Welt, der Europa in einen neuen Krieg zu stürzen droht. Beide Mächte, die den Versailler Frieden unterzeichnet haben, treten in Bezug auf Deutschland nicht in einer Front auf, sondern als potenzielle Gegner. Jede von Frankreich vorgeschlagene Maßnahme, die Deutschland zur Erfüllung der Beschlüsse des Versailler Friedensvertrages zwingen soll, stößt auf eine Gegenhandlung seitens Englands, da die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Friedens sich für den englischen Handel und die englische Industrie als vernichtend erwiesen haben, während Frankreich, das vom internationalen Handel weniger abhängig ist, diese Folgen leichter erträgt. Damit nicht genug: das, was als Irrsinn der französischen Politik erscheint, die systematische Senkung des Kurses der deutschen Mark durch die gewalttätige Politik Frankreichs, ist in Wirklichkeit das Mittel zur Erreichung der weitgehenden Pläne des französischen Imperialismus. Der wirtschaftliche Zerfall Deutschlands gibt Frankreich die Möglichkeit, die Rheinprovinz abzutrennen und sie in eine wirtschaftliche Verbindung mit Frankreich hineinzuziehen.

Gleichzeitig eröffnet er Frankreich die Möglichkeit, das Ruhrgebiet zu besetzen, und das mit die Grundlage für eine Vereinigung der deutschen Kohle mit dem französischen Erz und die Basis für die wirtschaftliche Vorherrschaft auf dem Kontinent zu schaffen. Wenn die Vernichtung der Kaufkraft Deutschlands eine Verstärkung der Arbeitslosigkeit in England nach sich zieht, so schafft die Ausführung der weiteren Pläne des französischen Imperialismus die Gefahr einer wirtschaftlichen und politischen Hegemonie Frankreichs auf dem ganzen Kontinent, eine Gefahr, die in Frankreich einen zehnmal stärkeren Konkurrenten entstehen lässt, als es das besiegte Deutschland war. Im nahen Osten untergräbt Frankreich mit allen Kräften den Einfluss des englischen Imperialismus; es unterstützt die Wiedergeburt der Türkei und droht damit, eines der wichtigsten Ergebnisse des Krieges für England zunichte zu machen: die Zersplitterung des letzten unabhängigen mohammedanischen Staates in Europa und die Herstellung einer territorialen Verbindung zwischen Ägypten und Indien. Durch die Schaffung einer Unterseebootflotte bedroht Frankreich die Seeherrschaft Englands, das auch so schon seine Herrschaft auf dem Meere auf der Washingtoner Konferenz verloren hat. England ist gezwungen, eine Stärkung Russlands als der Frankreich feindlichen kontinentalen Macht anzustreben. Es will in Russland die Basis nicht nur für einen wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands, sondern auch für eine politische und militärische Wiedergeburt schaffen. Diese Lage drängt England zur Anerkennung der Sowjetregierung und zum Friedensschluss mit Russland. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Änderung der englischen Politik nicht das Ergebnis eines plötzlich gefassten Entschlusses sein kann; England versucht, in allen strittigen Punkten mit Frankreich im voraus zu einer Verständigung zu kommen, es versucht, eine neue Entente unter Berücksichtigung der neuen Verhältnisse und neuen Widersprüche zu schaffen. In dem Memorandum, das die englische Regierung der französischen Regierung in Cannes am 4. Januar 1922 übergab,* bietet England Frankreich eine völlige Revision der Beziehungen beider Länder an. Es bietet ihm auf 10 Jahre Garantien an für den bewaffneten Schutz gegen eine Revanche Deutschlands, es bietet ihm ein Abkommen auf Kosten eines gemeinsamen Friedensschlusses mit Sowjetrussland an, wobei beide Mächte die Interessen der alten Gläubiger Russlands, wie auch der ausländischen Kapitalisten, die durch die Revolution gelitten haben, wahrnehmen sollen. Als Gegenleistung fordert es den Verzicht auf die England feindliche Politik im Fernen Osten, den Verzicht auf den Bau von Unterseebooten, in denen England eine Bedrohung für sich selbst sieht, und eine Herabsetzung der Forderungen gegenüber Deutschland. Trotzdem die Regierung Briands ihre Einwilligung zu diesem Programm mit ihrer Demission bezahlen musste, zwingt England Frankreich, in Genua zu erscheinen.

Ein treibender Faktor für den Versuch, die russische Frage zu lösen, ist außer den oben genannten Momenten die neue Wirtschaftspolitik. In der neuen Wirtschaftspolitik sieht England den Verzicht der Sowjetregierung auf jeden sozialistischen Aufbau. Als Lloyd George im Parlament den englisch-russischen Handelsvertrag begründete, wies er darauf hin, dass Revolutionen aus der Not und dem Elend der Massen geboren werden. Sowjetrussland aus seiner betrüblichen wirtschaftlichen Lage zu helfen, würde bedeuten, die Periode der revolutionären Erschütterung in Russland zu beendigen und eine Periode der Überleitung der Sowjetregierung in das Fahrwasser der kapitalistischen Entwicklung zu eröffnen. In seiner Rede vorn August 1921, die dem Hunger in Russland gewidmet war, entwickelt Lloyd George ein Bild von der Durchdringung Russlands mit englischem Handelskapital, das die Rückkehr Russlands zu einer normalen kapitalistischen Wirtschaft beschleunigen soll.

Die Unmöglichkeit, der politischen und wirtschaftlichen Zerrüttung als Folge des Krieges Herr zu werden, zwang die Verbündeten, den Versuch zu machen, den Knoten auf der Genueser Konferenz zu lösen. Wir wollen sehen, ob sie bereit waren, die für einen doppelten Kompromiss notwendigen Opfer zu bringen: einen Kompromiss zwischen sich und mit Sowjetrussland, dem neuen revolutionären Staat, der die erste Welle der durch die imperialistische Epoche hervorgerufenen internationalen Revolution ist.

2. Das Genueser Programm des europäischen Kapitalismus.

Die Genueser Konferenz wurde formell einberufen, um die Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaues ganz Europas zu lösen. Sie ist ein Glied in der Kette der Versuche der Handels- und Industrie-Weltbourgeoisie, den schnellen wirtschaftlichen Zerfall aufzuhalten, das Erbe Versailles als Siegeswaffe einer Militärclique zu liquidieren, ohne den Forderungen des Wirtschaftslebens Rechnung zu tragen. Der erste Schritt auf diesem Wege war die Washingtoner Konferenz, deren Ziel die Schaffung eines Kompromisses im Fernen Osten war, eines Kompromisses auf Kosten des japanischen Imperialismus zugunsten der Industrie- und Handels-Bourgeoisie Amerikas und Englands. in Washington kam das Kompromiss nicht zustande, doch gaben sich die imperialistischen Konkurrenten eine Atempause. Die zweite Etappe sollte Genua sein. Doch schon vor Beginn der Genueser Konferenz war das allgemeine Ziel durch die Widersprüche aufgehoben, die im Lager der Imperialisten herrschen. Die Abwesenheit Amerikas in Genua bedeutete, dass, wenn das englische Industrie- und Handelskapital, dessen Interessen die Politik Lloyd Georges widerspiegelt, die Frage über die Revision des Versailler Friedensvertrages in den Vordergrund rücken wollte, wenn es, um Frankreich zu Konzessionen zu bewegen, an den Geldbeutel Amerikas appellieren wollte, Amerika dies glatt abschlagen würde. Es wollte nicht nach Genua kommen, um nicht gezwungen zu sein, die Streichung der Schulden der Verbündeten abzulehnen. Als es sich herausstellte, dass Amerika sich an der Genueser Konferenz nicht beteiligen werde, legte Frankreich sein Veto ein gegen jede Behandlung der Frage über die deutschen Reparationszahlungen - der Kernfrage der europäischen kapitalistischen Politik. Denn jede Lösung dieser Frage bedeutete, solange Amerika keine Konzessionen machte, dass der Preis der Wiedergeburt der deutschen Bourgeoisie von der französischen Bourgeoisie zu zahlen wäre. Ohne die finanzielle Hilfe Amerikas und ohne das Recht, den Versailler Friedensvertrag anzutasten, konnte sich die Genueser Konferenz in der Tat nur mit der russischen Frage beschäftigen. Alles Übrige wären nur Gespräche über kaufmännische Moral gewesen, um die Worte des italienischen Premierministers Facta zu gebrauchen. Ohne den Versuch gemacht zu haben, seine Interessen in Einklang zu bringen, ohne die riesigen Widersprüche im Lager der kapitalistischen Welt beseitigt zu haben, unternahm das europäische Kapital den Versuch, die Widersprüche zwischen dem kapitalistischen Europa und Sowjetrussland zu überbrücken.

Die Konferenz war dem wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas gewidmet. Sie beschäftigte sich nur mit einem Teil dieser Frage, der Frage über die wirtschaftliche Annäherung an Sowjetrussland, mit der Frage des wirtschaftlichen Wiederaufbaus dieses ungeheuren Landes, das vor dem Kriege mit jedem Jahr mehr und mehr Waren verschlang und das eine immer mehr wachsende Rohstoffquelle war. Die Verbündeten erschienen auf der Konferenz mit so genannten Vorberichten der Sachverständigen,* die Ende März in London für Vorschläge ausgearbeitet worden waren, um einem Kompromiss zwischen Sowjetrussland und den kapitalistischen Mächten die Wege zu ebnen. Die Regierungen der Verbündeten erklärten bei den weiteren Gesprächen mit den Vertretern Sowjetrusslands in der Villa Alberti, dass diese Vorschläge der Sachverständigen für die verbündeten Regierungen nicht verpflichtend seien, dass sie eben nur Vorschläge der Sachverständigen seien, die als Ausgangspunkt für die Diskussionen dienen sollten. In Wirklichkeit jedoch waren diese Vorschläge der Sachverständigen, wie die Unterhandlungen in Genua und in Den Haag zeigten, das faktische Maximalprogramm der Verbündeten. Es ist darum sehr interessant, auf diese Vorschläge einzugehen, da sie ein klares Licht darauf werfen, wie die Verbündeten sich den Wiederaufbau der russischen Wirtschaft vorstellten.

Artikel 1 des ersten Abschnittes des Berichts der Sachverständigen stellt fest: „Die russische Sowjetregierung muss die finanziellen Verpflichtungen ihrer Vorgänger, das heißt der Russischen Kaiserlichen Regierung und der Provisorischen Russischen Regierung gegenüber den ausländischen Mächten und ihren Untertanen übernehmen.“

Artikel 2 bestimmt: „Die russische Sowjetregierung muss die finanziellen Verpflichtungen, die alle früheren Behörden in Russland, die provinzialen wie die örtlichen, bis heute eingegangen sind, wie auch die Verpflichtungen der öffentlichen Institutionen gegenüber anderen Mächten und ihren Untertanen anerkennen und ihre Ausführung garantieren.“

Artikel 3 bestimmt: „Die Sowjetregierung muss sich verpflichten, die Verantwortung auch für alle indirekten, materiellen Schäden, unabhängig davon, ob ihnen ein Vertrag zugrunde liegt oder nicht, anzuerkennen, wenn diese Schäden durch Handlungen oder durch Fahrlässigkeit der Sowjetregierung, oder der ihr vorangegangenen Regierungen oder der Provinzial- und Lokalbehörden, oder der Agenten dieser Regierungen oder Behörden entstanden sind.“

Die wirtschaftliche Wiederherstellung Russlands sollte also mit der Anerkennung der Schulden und die Entschädigung für alle dem ausländischen Kapital durch die Revolution verursachten Verluste beginnen. Da es sich hier nicht nur um eine moralische Anerkennung handelte, das war aus den weiteren Punkten des Berichtes der Sachverständigen ersichtlich, die die Ernennung einer Kommission für die russischen Schulden forderten und Russland die Verpflichtung auferlegten, die Zahlungen im Jahre 1927 zu beginnen. Damit nicht genug, in der zweiten Anlage zu diesen Forderungen wurde vorgesehen: „im Bedarfsfalle die Einnahmeposten Russlands festzusetzen, die speziell für die Bezahlung der Schuld bestimmt werden müssen, wie z. B. die Abführung einiger auf die Unternehmungen in Russland fallenden Steuern oder Abgaben; wenn es die Kommission für notwendig erachtet, eine Aufsicht über die Erhebung aller dieser Summen oder ihrer Teile einzusetzen, und sie in eigene Verwaltung zu nehmen.“ Die Errichtung einer Kontrolle über die russischen Finanzen war nicht die letzte Anmaßung der Verbündeten. Russland sollte sich nicht nur verpflichten, die alten Schulden zu bezahlen, es sollte auch die ausländischen Kapitalisten wieder in ihr altes Eigentum einsetzen.

Der 7. Paragraph des zweiten Anhangs stellt fest: „Antragsteller erhalten das Recht, die Rückgabe des Eigentums, der Rechte und Interessen zu fordern. Wenn das Eigentum, die Rechte und die Interessen noch bestehen und ihre Zugehörigkeit festgestellt werden kann, werden sie zurückgegeben. Die Entschädigungssumme für deren Benutzung und die Verluste, die der Eigentümer durch die Entziehung seines Nutzrechts erlitten hat, wird, soweit keine Vereinbarung zwischen der Sowjetregierung und der beteiligten Person vorliegt, durch gemischte Schiedsgerichte festgesetzt.

Wenn das Eigentum, die Rechte und die Interessen nicht mehr bestehen oder die betreffende Person ihr Eigentumsrecht darauf nicht nachweisen kann, oder wenn die Person, die die Forderungen stellt, die Rückgabe nicht wünscht, kann ihre Forderung befriedigt werden, entweder durch Vereinbarung zwischen ihr und der Sowjetregierung, Zuweisung gleichwertigen Eigentums, gleichwertiger Rechte und Interessen nebst einer entsprechenden Entschädigung nach beiderseitigem Übereinkommen oder, wenn eine solche nicht zustande kommt, durch

Beschluss der gemischten Schiedsgerichte oder durch andere nach Übereinkunft zu treffende Maßnahmen.“

Nachdem die Verbündeten so die ausländischen Kapitalisten in ihr Eigentum wiedereingesetzt und Sowjetrussland die Verpflichtung auferlegt hatten, alle Schulden zu bezahlen, brauchten sie sich nur noch um das Regime der Kapitulation zu bekümmern.

Im Anhang 3 des Sachverständigenberichts schrieben die Verbündeten der Sowjetregierung die Durchführung folgender „Prinzipien“ der Rechtspflege“ vor: 1. die Unabhängigkeit der Gerichtsbehörden von der ausübenden Macht. 2. Ein von unabhängigen und unabsetzbaren Berufsrichtern bestelltes öffentliches Gericht. 3. Die Anwendung von im Voraus veröffentlichten Gesetzen, die für alle gleich sind und keine Rückwirkung haben. Diese Gesetze müssen den Ausländern alle notwendigen Garantien gegen willkürliche Verhaftungen und Zerstörungen und für die Unantastbarkeit des Wohnorts gewährleisten. 4. Der freie Zutritt der Ausländer zum Gericht, denen als solche keine Beschränkungen auferlegt werden dürfen; den Ausländern wird das Recht eingeräumt, auf dem Gericht durch Rechtsanwälte nach eigener Wahl vertreten zu sein. 5. Die in den Gerichten zur Anwendung kommende Gerichtsprozedur muss eine richtige und schnelle Verwaltung der Rechtspflege erleichtern, es muss das Recht auf Berufung und Revision der Prozesssache garantiert. werden. 6. Die vertragschließenden Parteien müssen das Recht haben, in Verträgen die Anwendung des ausländischen Gesetzes vorzusehen, und das Gericht ist in solch einem Falle verpflichtet, dieses Gesetz zur Anwendung zu bringen.“ Alle diese Vorschläge der Sachverständigen bedeuten entweder die Forderung nach Einführung allgemeiner, den Interessen des ausländischen Kapitals entsprechender Gesetze in Russland oder aber sie fordern offen die Anwendung der ausländischen Gesetze in Russland.

Das Memorandum der Sachverständigen verdient die größte Beachtung, denn es ist das Programm, das die Verbündeten in Russland in die Tat umsetzen wollen und das sie bei einem Sieg der Weißen in Russland Verwirklichen würden.

Bevor wir zu dem Kampf übergehen, den die Sowjetdelegation gegen diese Vorschläge führte, müssen wir mit einigen Worten auf die wirtschaftlichen Folgen der Forderungen der Verbündeten, wie sie in dem Antwortmemorandum der Sowjetdelegation festgestellt wurden, eingehen, denn diese einfachen, von der Sowjetdelegation festgestellten Tatsachen zeigen, wie die Forderungen der Verbündeten nicht nur den Interessen der russischen Arbeiterklasse und Bauernschaft widersprechen, sondern, dass es auch Forderungen sind, die ohne die völlige Versklavung Russlands absolut nicht verwirklicht werden können.

In dem Memorandum wird die mögliche Höhe der Schuld Russlands, die sich aus allen Verpflichtungen aus den alten Schulden und den Privatansprüchen er gibt, nicht erwähnt, doch muss sie nach Berechnungen, die in der ausländischen Wirtschaftspresse angestellt wurden, für alle in dem Memorandum auf gezählten Kategorien ungefähr 18 Milliarden Goldrubel betragen. Nach Abzug der Kriegsschulden ergibt sich als Summe der Vorkriegsschulden und Privatansprüche nebst Zinsen bis zum 1. Dezember 1921 ein Betrag von ungefähr 11 Milliarden, mit Zinsen bis zum 1. November 1927 von ungefähr 13 Milliarden. Angenommen die Sowjetregierung würde sich zur völligen Abtragung dieser Schuld innerhalb der gestellten Frist bereit erklären, so würde die erste Zahlung einschließlich der Zinsen und bei einer Amortisation von 1/25 des Schuldbetrages ungefähr 1,2 Milliarden ausmachen. Die arerz-Regierung, die die Zahlkraft der Bevölkerung auf das äußerste anspannte, war auf Grund der Vorkriegsproduktion in der Wirtschaft und des Vorkriegsumfangs des Außenhandels, dessen Ausfuhr die Einfuhr in den letzten 5 Jahren durchschnittlich um 366 Millionen jährlich überstieg, in der Lage, jährlich ungefähr 400 Millionen an Zinsen und Schuldentilgung zu bezahlen. Um die Möglichkeit zu haben, die erwähnte Summe von 1,2 Milliarden jährlich zu bezahlen, müsste Russland bis zum Jahre 1927 nicht nur die Vorkriegsproduktion erreichen, sondern sie sogar noch verdreifachen. Da das jährliche reine Nationaleinkommen Russlands vor dem Kriege 101 Rubel auf den Kopf der Bevölkerung betrug, gegenwärtig aber nur ungefähr 30 Rubel pro Kopf ausmacht, d. h. sich um mehr als zwei Drittel verringert hat, so scheint das Memorandum der Sachverständigen damit zu rechnen, dass unser Nationaleinkommen in 5 Jahren um das Neunfache wächst. Wie wenig diese Annahme der Wirklichkeit Rechnung trägt, ist daraus zu ersehen, dass das Nationaleinkommen Englands, Frankreichs, Deutschlands und Russlands von 1894 bis 1913 auf den Kopf der Bevölkerung durchschnittlich um 60 Prozent gewachsen ist oder sich um 3 Prozent jährlich erhöht hat. Die russische Delegation ist bereit zuzugeben, dass sich die Produktivkräfte Russlands unter dem Sowjetregime bedeutend schneller entwickeln werden, als sie sich in den kapitalistischen Ländern Europas und — unter dem zaristischen Regime — in Russland vor dem Kriege entwickelten, sie ist weiter bereit zuzugeben, dass dieses Einkommen auf das Doppelte steigen wird. Trotzdem jedoch hält die Delegation, wie schmeichelhaft dies für die Sowjetmacht auch sein mag, die Annahme für unbegründet, dass das jährliche Einkommen mit dem Wachstum der Bevölkerung in den Jahren 1922 bis 1927 sechzig Mal schneller wachsen wird als vor dem Kriege. Die Produktion in Russland ist stark zerrüttet. Das reine jährliche Nationaleinkommen des Landes ist von 12 Milliarden vor dem Kriege auf vier Milliarden — nach optimistischen Berechnungen — gesunken. Wenn unser Nationaleinkommen doppelt so schnell wachsen wird wie vor dem Kriege und sich in 16 Jahren verdoppelt, so braucht das Land 25 Jahre, um die Vorkriegsproduktion wieder zu erreichen. Da das Land jedoch in erster Linie und mit größter Pünktlichkeit Zinsen und Amortisation der neuen Anleihen, die beim wirtschaftlichen Aufbau helfen sollen, bezahlen muss, und diese Zahlungen bedeutend früher als zu dem oben genannten Termin beginnen müssen, so gibt es für die Zahlungen auf andere Verpflichtungen in Russland auf einigermaßen absehbare geschichtliche Zeit überhaupt keine Ressourcen und wird es auch nicht geben. Dies könnte eine beliebige unparteiische und wissenschaftlich gewissenhafte Kommission von wirtschaftlichen Sachverständigen bestätigen, die Gelegenheit hätte, den Zustand unserer Volkswirtschaft kennen zu lernen.

Wie ungeheuerlich groß die uns gestellten Zahlungsforderungen sind, geht aus folgenden Daten hervor: die Zarenregierung zahlte vor dem Krieg auf ihre Schulden eine Summe, die 3,3 Prozent des ganzen Staatsbudgets Russlands ausmachte. Das Memorandum der Sachverständigen hält es für möglich, von Russland nach 5 Jahren die Bezahlung einer Summe zu fordern, die gleich 20 Prozent des ganzen um 30 Prozent gewachsenen Nationaleinkommens und ungefähr 80 Prozent des ganzen heutigen Staatsbudgets Russlands ist, wobei die Zahlung an solche Länder zu erfolgen hat, deren jährliches Nationaleinkommen auf den Kopf der Bevölkerung sieben- bis neunmal größer ist als das Nationaleinkommen Russlands.“

Selbstverständlich hätten auch die Sachverständigen der Verbündeten ganz leicht dieselbe Rechnung aufstellen können und sicher wissen müssen, dass die wirtschaftlichen Forderungen der Verbündeten in der Form, in der sie die Verbündeten stellten, nicht erfüllbar waren. Doch sie stellten diese Forderungen, weil sie in der Form eines Memorandums der Verbündeten die wirklichen Ziele der Ententepolitik maskierten. Wenn Russland nicht in der Lage ist, die von dem Ententekapital geforderten Summen in Gold oder Waren zu bezahlen, so mag es den Verbündeten die nicht gehobenen Reichtümer Russlands abtreten und ihnen als Kompensation Erzfelder, Kohlengruben, Naphthaquellen, Wälder und Eisenbahnen geben. Um ihrem räuberischen Plan den Charakter einer „Wiederherstellung der russischen Wirtschaft“ oder wenigstens den Charakter „gerechter Forderungen“, „Entschädigungen“ zu geben, stellten die Verbündeten die unmöglichen Forderungen der Bezahlung der Schulden und der Entschädigung für Verluste, damit Russland, sollte es erklären, dass es diese Lasten nicht tragen könne, ihnen eine Entschädigung durch Überlassung riesiger Konzessionen an das ausländische Kapital anböte. Der Sinn des Vorschlags der Verbündeten war klar: Die Wiederaufrichtung des europäischen Kapitals durch Abwälzung eines bedeutenden Teils der Kriegslasten auf Russland als besiegtes Land.

Doch Russland erschien in Genua nicht als besiegtes Land, und die Sowjetdelegation, die hinter den Kulissen der Genueser Konferenz in der Villa Alberti Unterhandlungen pflog, rückte mit ihrem Standpunkt hervor. Sie stellte erstens ihre Gegenforderungen auf Schadenersatz für die Intervention, die ein Krieg der Verbündeten gegen Sowjetrussland war. Lloyd George versuchte diesen Hieb zu parieren, indem er darauf hinwies, dass während der englischen Revolution Frankreich die englischen Royalisten unterstützt habe, während der französischen Revolution Pitt die französischen Royalisten, dass aber weder England noch Frankreich einander Schadenersatzansprüche für die Zerstörungen des Bürgerkrieges gestellt hätten. Lloyd George hatte, wie ihm Tschitscherin dies in seiner Antwort bewies, in seiner Analogie eine wesentliche Tatsache außer Acht gelassen. Während nämlich Karl 1. eine eigene royalistische Armee hatte, während die französischen Royalisten an die Spitze des großen Aufstandes der Vendée traten, wurden die Armeen der russischen Weißen von den verbündeten Regierungen geschaffen. Die verbündeten Regierungen erkannten Koltschak und Denikin an. Die Armee Koltschaks war, wie dies aus Dokumenten, die Koltschak abgenommen wurden, klar hervorgeht, dem französischen Kommando des Generals Jeanette unterstellt. Die weißen Armeen waren somit Armeen der Verbündeten. Doch ganz unabhängig von diesen oder jenen geschichtlichen Analogien und Ereignissen sind bei der Beurteilung der Forderungen der Verbündeten über die Bezahlung der Schuld und des Schadenersatzes der entscheidende Faktor die Folgen dieser Forderungen. Die Erfüllung dieser Forderungen würde zur Folge haben die Versklavung einer ganzen Generation der russischen Bevölkerung, die Abgabe der Reichtümer Russlands an die Verbündeten und die Errichtung eines Kolonialregimes in Russland. Wenn sich Lloyd George gegen jedwede Anerkennung der Verpflichtung der Verbündeten wandte, die Verluste Russlands zu ersetzen, oder sogar die Verluste der ausländischen Kapitalisten mit den Verlusten, die Russland dank der Intervention der Verbündeten erlitten hat, zu kompensieren, so bedeutet das nicht mehr und nicht weniger als die Forderung, dass Russland, das die weißen Armeen der Verbündeten besiegt hat, sich als besiegt erklären und die Rolle einer Ententekolonie auf sich nehmen solle. Diese Tatsache lässt sich durch keine Liebenswürdigkeiten Lloyd Georges, durch keine Früchte seines Scharfsinns, deren es in den Protokollen der Unterhandlungen in der Villa Alberti so viele gab, aus der Welt schaffen. Barthou, der Vertreter Poincarés, hatte völlig recht, als er in seiner Polemik gegen Tschitscherin feststellte, dass sowohl England wie Frankreich in dieser Frage als eins auftraten, dass das Memorandum der Sachverständigen ein gemeinsames Memorandum ist, für das alle verbündeten Regierungen verantwortlich sind.

Nach der Antwort Tschitscherins forderten die Verbündeten eine gemeinsame Revision der Stellung beider Parteien in ihrem Verhältnis zu der Frage über das Privateigentum wie auch über den Schadenersatz und die Schulden. Die Ansichten der Verbündeten führten, wie dies die Protokolle der Diskussionen zeigen, in ihrer Endrechnung zu folgendem: Ohne Russland das Recht auf Entschädigung für die ihm durch die Intervention der Verbündeten verursachten Verluste zuzugestehen, da, wie Lloyd George erklärte, die Verbündeten sich damit für besiegt erklären würden, waren sie in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage Russlands bereit, einen unbestimmten Teil der Schuld von ihren Forderungen abzuschreiben, bestanden jedoch auf der Anerkennung der Vorkriegs- und Kriegsschulden. Nur Schanzer, der italienische Minister des Äußern, wies darauf hin, dass die Kriegsschulden eine allgemeine Lösung erfordern würden und dass, sobald der Augenblick dieser allgemeinen Lösung, d. h. des gegenseitigen Verzichts der Verbündeten auf die gegenseitigen Verpflichtungen eintrete, auch die Frage über die Kriegsschuld Russlands gelöst werden könne. Was die Frage über die Wiederherstellung des Privateigentums anbelangt, so kam diese Frage nicht einen Schritt vorwärts, da die Formel der unbedingten Verpachtung des ganzen den Ausländern früher gehörenden Eigentums auf 99 Jahre, die die Engländer aufstellten, nur eine maskierte Formel der Rückgabe des Privateigentums darstellte. Wollten die Verbündeten die Sowjetregierung verpflichten, jedem Besitzer die früher innegehabten Kohlen- oder Naphthadistrikte als Eigentum zurückzugeben oder ihn dafür zu entschädigen, so würden sie, wie Krassin ganz richtig sagte, alle Maßnahmen der Sowjetregierung, die die Hebung der Wirtschaft Russlands zum Ziel haben, unmöglich machen. In der Naphtha- und Kohlenindustrie sind die untereinander verbundenen Wirtschaftskomplexe so stark verflochten und in Stücke zerschnitten, dass eine Rückgabe der kapitalistischen Streuländereien, wie sie vor dem Kriege bestanden, das Aufhalten eines jeden technischen Fortschritts bedeutet, ohne den Russland aus seiner trübseligen Lage nicht herauskommen kann. Die Forderung einer völligen Entschädigung der Privatkapitalisten in dem Fall, wo ihnen ihr alter Besitz nicht zurückgegeben werden kann oder wo dies die Sowjetregierung im Interesse ihrer künftigen wirtschaftlichen Maßnahmen nicht für möglich befindet, würde für die Sowjetregierung bedeuten, dass sie tatsachlich alles zurückgeben müsste. Dadurch, dass diese Rückgabe nicht Restauration des Privateigentums der Ausländer, sondern Verpachtung auf 99 Jahre genannt wird, wird an der Sache nichts geändert. Was die dreisten Forderungen eines Regimes der Kapitulation vor den ausländischen Kapitalisten anbelangt, so waren die Verbündeten bereit, auf sie nur unter der Bedingung zu verzichten, dass Sowjetrussland überhaupt vor den Kapitalisten kapitulierte und in allgemeinen, auch für die russischen Kapitalisten verbindlichen Gesetzen das gäbe, was sie im Memorandum nur für die ausländischen Kapitalisten zu erreichen suchten.

Als Gegenleistung für die Wiedereinsetzung der ausländischen Kapitalisten in ihr Eigentum, als Gegenleistung dafür, dass Russland die ungeheuren Lasten der Schulden und Entschädigungen auf sich nehmen und dass in Russland in der Tat kapitalistische Verhältnisse wiederhergestellt würden, versprachen die verbündeten Mächte ein internationales Syndikat zur Ausbeutung Russlands zu schaffen. Von irgendwelchen Krediten für die Sowjetregierung war nicht die Rede. Gesprochen wurde nur von Krediten an die ausländischen Kapitalisten, die in Russland arbeiten werden. Jeder Hinweis auf die einfache Tatsache, dass die Sowjetregierung ohne ausländische Kredite auf längere Zeit weder in der Lage sei, den Transport zu heben, ohne den eine schnelle Wirtschaftsentwicklung Russlands nicht möglich ist, noch das Geldsystem wiederherzustellen, blieb seitens der Verbündeten ohne Antwort. Doch ihr Schweigen drückte keine theoretische Hilflosigkeit aus. Lloyd George versteht sicherlich sehr gut, dass ohne Eisenbahnen, Telegraphen und ein festes Geldsystem weder Handel getrieben, noch die Industrie wiederaufgebaut werden kann. Er schwieg hierüber aus dem einfachen Grunde, weil sein Schweigen ein politisches Programm darstellte, ein Programm, das darin besteht, dass die Sowjetregierung, wenn sie keine Kredite für die Schaffung der für die Entwicklung der Industrie notwendigen Transport- und Finanzbedingungen erhielte, gezwungen wäre, Konzessionen auf Eisenbahnen, Post und Telegraph zu geben, wie auch dem Auslande das Emissionsrecht in Russland zu gewähren. Das in der Villa Alberti entwickelte Programm, das später seinen Ausdruck in dem Memorandum der Verbündeten vom 2. Mai fand, ist das Programm der ganzen europäischen kapitalistischen Welt. Tatsache ist, dass mit diesem Programm auch Jaspar, der Vertreter Belgiens, und Barthou, der Vertreter Frankreichs, einverstanden waren. Wenn deren Regierungen in der Folge ihre Unterschriften für dieses räuberische Programm nicht gaben (einige Punkte, wie z. B. den Punkt über die Wiederherstellung des Privateigentums fanden sie zu maskiert), so ist dies das Resultat des Kampfes der widerstreitenden Interessen, der sich um die Genueser Konferenz abspielte.

3. Der amerikanische Naphtha-Trust sabotiert die Genueser Konferenz.*

Nachdem Frankreich den Versuch, mit Russland in ultimativer Form zu sprechen, aufgegeben hatte, erscheint es in Genua mit demselben Wirtschaftsprogramm in Bezug auf Russland, wie es auch England aufgestellt hatte. Es unterscheidet sich von England nur dadurch, dass es entschieden bei seinen Forderungen verharrt, dass in Genua keine andere Frage außer der russischen behandelt werden dürfe. Die französische Regierung weiß sehr wohl, dass die russische Politik Lloyd Georges ein Splitter seiner Gesamtpolitik ist. Innerlich entschlossen, die Interventionspolitik in Bezug auf Russland aufzugeben, wenn Russland die Schuh den anerkenne und sich den Verbündeten unterwerfe, kann Frankreich sich in Genua auf keine Unterhandlungen über irgend welche anderen Fragen der europäischen Politik einlassen aus dem einfachen Grunde, weil zwar in der russischen Frage schon in London die Einheitsfront Frankreichs und Englands geschaffen wurde, die ihren Ausdruck in dem März-Memorandum der Sachverständigen fand — Forderungen, die evtl. etwas anders formuliert, doch nicht abgeändert werden konnten —‚ aber in der Frage der Reparationsentschädigungen und der Einschränkungen der Rüstungen irgend ein Einverständnis zwischen England und Frankreich nicht bestand. Die Washingtoner Konferenz ließ sogar die Frage des Baues von Unterseebooten durch Frankreich ungelöst. Das Memorandum Lloyd Georges in Cannes forderte den Verzicht Frankreichs auf den Bau von Unterseebooten. Diese Frage ist jedoch für Frankreich Gegenstand eines langen Feilschens, ihre Lösung von dem Gang der Entwicklung des englisch-französischen Konflikts abhängig. Die Frage über die Veränderung in der Reparationspolitik ist nicht lösbar ohne Veränderung der Frage über die Schulden Frankreichs gegenüber England und Amerika. Der Vorschlag der Sowjet-Delegation, auf die Tagesordnung die Frage über die Abrüstung zu stellen, welche durch die Rede Briands in Washington, in der er die Rote Armee als eine der Ursachen bezeichnete, die Frankreich die Abrüstung nicht ermöglichte, angeschnitten wurde, stellte für Frankreich eine ungeheure Gefahr dar, denn dieser Vorschlag erlaubte England, diese Frage auf der Konferenz ohne vorherige Aussprache mit Frankreich aufzugreifen und es so als Befürworter der Bewaffnung hinzustellen. Doch die scharfen Zusammenstösse zwischen Barthou und Tschitscherin auf der ersten offenen Sitzung der Konferenz, Zusammenstösse, die es Lloyd George nochmals erlaubten, als Friedensstifter aufzutreten, sie konnten nicht die Tatsache des völligen Einvernehmens Frankreichs und Englands in der russischen Frage verdecken, wie dies in der Sitzung in der Villa Alberti und in der persönlichen Bereitschaft Barthous und Jaspars, das ~Memorandum, das später die Bezeichnung „Memorandum vom 2. Mai“ erhielt, zu unterschreiben, zum Ausdruck kam. Die Weigerung Frankreichs und Belgiens, dieses Memorandum zu unterschreiben, lässt auf dem Genueser Schauplatz einen neuen Faktor erscheinen, — die Vereinigten Staaten von Nordamerika oder konkreter gesprochen, die Naphthafrage.

Der Kampf zwischen dem amerikanischen Trust „Standard Oil“, und dem anglo-holländischen Trust „Shell & Dutch“‘ der in den letzten Jahren wegen der Frage der Naphthaausbeutung in den Kolonien, die England durch den Versailler Friedensvertrag auf Grund von Mandaten übergeben wurden, wie auch in den holländischen Kolonien entbrannt war, ein Kampf, der durch das Naphthaabkommen zwischen England und Frankreich in San Remo 1920 verschärft wurde, war in den Unterhandlungen der Vertreter der beiden englischen und amerikanischen Trusts, die vor und während der Washingtoner Konferenz geführt wurden, beigelegt worden. Wie dies der englische Vertreter John Cadman in einer Anzahl Interviews wie auch in einem Artikel in der dritten Nummer der Beilage des „Manchester Guardian“, der den Fragen des Wiederaufbaus der europäischen Wirtschaft zwischen der „Standard Oh“ einerseits und der „Shell & Dutch“ andererseits gewidmet war, eingestand, wurde eine provisorische Vereinbarung erzielt, der zufolge die Engländer in ihren Kolonien und Mandatgebieten Amerika gestatten sollten, Naphtha in einer Menge bis zur Hälfte der englischen Ausbeutung und in jedem Falle nicht weniger als dies irgend einem anderen Lande zugestanden werde, zu gewinnen. Dieses dritte Land war nach dem Abkommen in San Remo Frankreich. Wie dies jedoch bei Abkommen kapitalistischer Trusts vorkommt, wird solch ein Vertrag, bevor er noch verwirklicht ist, für ungültig erklärt, das heißt jede Partei ist überzeugt, dass die andere bei veränderten Verhältnissen ihn nicht erfüllen wird. Bis zum Augenblick der Verschmelzung zweier Trusts beseitigt keine Vereinbarung die Tatsache ihrer Konkurrenz. Bestand kein Abkommen zwischen der „Shell & Dutch“ einerseits und der „Standard Oil“ andererseits in der Frage des russischen Naphthas oder glaubte der amerikanische Trust, dass der englische Trust dieses Abkommen nicht erfüllen werde, die Tatsache bleibt bestehen, dass der amerikanische Trust die Konferenz in Genua mit dem größten Misstrauen betrachtete in der Furcht, dass sie zu einer Vereinbarung der „Shell & Dutch“ mit der Sowjetregierung führen könne, die die Arbeit der „Standard Oil“ in Russland ausschließen oder sehr erschweren würde. Wie das englische Naphthaorgan „Oil-News“ bemerkt, „war die Genueser Konferenz bemerkenswert durch die große Zahl der in der Umgebung von Genua wellenden prominenten Vertreter der Naphthainteressen, von denen jeder einzeln und alle zusammen sich zu erklären beeilten, dass sie in diese Gegend nicht etwa gekommen seien, um mit jemandem über Naphtha zu sprechen“. Der „Palazzo Doria“, in dem sich die Agenten der „Standard Oil“ niedergelassen hatten, spielte in der Geschichte der Genueser Konferenz eine größere Rolle, als die Villa Alberti, in der Lloyd George wohnte, oder das Hotel Astoria, der Wohnsitz Barthous. Als am 30. April die Nachricht verbreitet wurde, dass Barthou mit Lloyd George über die Forderungen übereingekommen sei, die Russland gestellt werden sollten, gerieten die Vertreter der „Standard Oil“, die überzeugt waren, dass Russland auf die ihm gemeinsam von Frankreich und England gestellten Forderungen eingehen würde, in große Erregung. Die Ursachen ihrer Erregung waren folgende: Amerika stand in keiner Verbindung mit Sowjetrussland. Amerika nahm an der Genueser Konferenz nicht teil. Die Politik der amerikanischen Regierung gegenüber Russland wurde bis dahin durch drei Tatsachen bestimmt. Die amerikanischen Farmer, die unter dem Zusammenschrumpfen des Absatzmarktes in Zentraleuropa leiden, fürchten eine schnelle Rückkehr des russischen Getreides auf den Weltmarkt. Die amerikanischen Industriekreise waren vor dem Kriege an der russischen Industrie verhältnismäßig wenig interessiert. Die amerikanischen Handelskreise waren nur wenig mit Russland verbunden. Bei der allgemeinen Vorsicht des amerikanischen Kapitals in Bezug auf Investierungen im Ausland, kann es sich vorläufig nicht entschließen, in Russland, dem Lande der Revolution, Investierungen zu machen. Die Frage des Verhältnisses zu Russland ist für das amerikanische Kapital eine Frage der Konkurrenz mit England und Japan. Würden sich England und Frankreich dazu entschließen, in Russland Kapitalien in großem Umfange anzulegen, so müsste sich auch das amerikanische Kapital dazu entschließen. Es könnte dies jedoch nicht so schnell tun, da eine Änderung der Front eine gewisse Vorbereitung erfordert. Darum hätte sich die „Standard Oil“, die sich bis zu dieser Zeit aus den oben genannten Gründen zu irgend welchen Schritten in Bezug auf das russische Naphtha nicht entschlossen hatte, trotzdem sie Aktien der russischen Naphthagesellschaften aufgekauft hatte, in weniger günstigen Verhältnissen befunden als die „Shell & Dutch“-Gesellschaft.

Schon diese einfache Tatsache war hinreichend für sein feindliches Verhalten gegenüber einem Erfolg der Genueser Konferenz. Doch die Agenten der „Standard Oil“ waren überzeugt, dass sich hinter den veränderten Formeln des Sachverständigen-Memorandums der Verbündeten eine große Hinterlist Lloyd Georges verbarg. Wenn, so urteilten sie, die Verbündeten nicht die bedingungslose Rückgabe des früheren Eigentums an die Ausländer fordern, sondern der Sowjetregierung, wenn diese es für nötig erachtet, erlauben, die ausländischen Kapitalisten für die Nationalisierung zu entschädigen, anstatt ihnen ihr altes Eigentum zurückzugeben, so kann die Sowjetregierung die Naphthadistrikte, die früher den einen kapitalistischen Gruppen gehörte, anderen übergeben und die Leidtragenden mit einer Entschädigung abfinden. Auf diese Weise ist die Shell & Dutch“ in der Lage, eine große Anzahl der Naphthadistrikte in ihre Hände zu bekommen. Um dies unmöglich zu machen, verbreitete die „Standard Oil“ die Nachricht über ein angeblich zwischen der Sowjetregierung und der Shell & Dutch-Gesellschaft schon getroffenes Abkommen, das die Engländer in den fast völligen Besitz des russischen Naphthas setzte. Hierdurch brachte die „Standard Oil“ die französische und belgische Regierung auf die Beine, da, abgesehen davon, dass die Frage über das Naphtha für Frankreich als ein Land, das über eine große Flotte verfügt, von riesiger Bedeutung ist, eine solche Machenschaft in der Frage des Naphthas, wenn sie möglich ist, auch in allen anderen Fragen, die das französische und belgische Eigentum betreffen, nicht ausgeschlossen ist. Die Bezahlung der Schulden ist, selbst bei einer Übergabe von Konzessionen, eine Frage der Zukunft. Die Rückgabe der Fabriken und Werke, die Rückgabe der Gruben und Naphthaquellen ist das Objekt eines sofortigen Gewinns, in jedem Falle ermöglicht sie aber ein gewinnbringendes Börsenspiel. Alle diese Erwägungen waren von entscheidender Bedeutung für die Weigerung Frankreichs und Belgiens, das Memorandum vom 2. Mai zu unterschreiben. Wäre also selbst die russische Regierung auf die Forderung dieses Memorandums eingegangen, auf die sie nicht eingehen konnte, ohne ihr Wesen aufzugeben, so hätte ihre Kapitulation ihr nicht nur keine Kredite, sondern auch nicht einmal ein Abkommen mit dem kapitalistischen Europa gebracht. Es hätte ihr nur ein Abkommen mit England und seinen Vasallen gebracht. Die „Standard Oil“ und mit ihr die amerikanische Regierung — denn die Standard Oil wurde in ihren Machinationen von dem amerikanischen Gesandten in Rom, Childon, unterstützt — spielte in Genua die Rolle eines Hundes, der auf die Bühne gesetzt ist und niemanden heran lässt. Die Genueser Konferenz endete damit, dass alle von ihr aufgerollten Fragen der Sachverständigen-Kommission in Den Haag übergeben wurden. So gewannen einerseits die Naphthakönige und die Verbündeten Zeit, untereinander zu verhandeln, während sie andererseits überzeugt waren, dass sie der Sowjetregierung Zeit zum Rückzug gaben. Das, was die Sowjetregierung in Genua auf der Konferenz, an der die Vertreter von 40 Völkern teilnahmen, und die unter der Aufsicht von 500 Journalisten stattfand, nicht zugestehen wollte, dem wird sie wahrscheinlich in der Stille des Friedenspalastes in Den Haag in sachlichen Gesprächen mit den Sachverständigen zustimmen.

4. Die Perspektiven Lloyd Georges.

In seiner der Genueser Konferenz gewidmeten Rede, die Lloyd George am 25. Mai vor dem englischen Unterhaus hielt, zog er die Bilanz der Genueser Konferenz und gab die Gründe an, weshalb er glaube, dass die Haager Konferenz besser enden würde als die Genueser. Seine Rede Verdient Beachtung, denn sie liefert den Schlüssel zum Verständnis von vielem, was ohne sie unverständlich ist.

Anfangs tritt er für den Gedanken des Friedens mit Sowjetrussland ein. Er stellt fest, dass sich die Sowjetregierung Russland tatsächlich untergeordnet hat. Sie ist „Herrin der Lage ohne Konkurrenz“. Mit Russland kann man nur über die Sowjetregierung arbeiten. Unter Bezugnahme auf die Politik Pitts gegenüber der französischen Revolution stellt er fest, dass unabhängig davon, wie man die Politik, die die Sowjetregierung führt, einschätze, man mit der Tatsache ihrer Macht rechnen und mit ihr Frieden schließen müsse. Die kapitalistischen Mächte haben drei mögliche Wege in Bezug auf Sowjet- Russland. Der erste Weg ist die bewaffnete Auseinandersetzung. Dieser Weg, der schon versucht wurde, endete mit einem Bankrott. Niemand sah ihn in Genua vor, wie feindlich man sich auch zu Russland verhielt. Der zweite Weg ist, — Russland sich selbst zu überlassen. Niemand hat dies in Genua vorgeschlagen, denn „Russland würde nicht ruhig auf seine sterbenden Kinder blicken. Ist jemand imstande, Europa den Frieden zu sichern, indem er Russland sich selbst überlässt?“. Es bleibt nur der dritte Weg — der Weg der Abkommen, der um so notwendiger ist, als, wenn Russland sich selbst überlassen bleibt, bei der sich verschlechternden Lage Deutschlands eine Vereinigung des zur Verzweiflung getriebenen Russland mit Deutschland eine europäische Katastrophe bedeuten würde. Deutschland besitzt nicht genügend Kapital, um Russland wirtschaftlich aufzubauen, doch es kann in Russland eine drohende Militärmacht schaffen. Doch wenn ein Abkommen mit Sowjetrussland nötig ist, sagt Lloyd George, so ist die Frage, worauf es gegründet sein muss. Grosse Revolutionen, sagt Lloyd George melancholisch, haben u. a. die Beschlagnahme des Privateigentums zur Folge. „Ich muss leider hinzufügen, eine Beschlagnahme ohne Entschädigung.“ Der zweite charakteristische Zug der Revolution ist der, dass die Revolution die Schulden der alten Regierung nicht anerkennt. So hat es auch die französische Revolution gemacht, sie enteignete das Land der Gutsbesitzer ohne Entschädigung. Doch sie forderte keine Kredite. Die russische Revolution dagegen befindet sich in einer solchen Lage, dass sie ohne ausländische Kredite ihre Wirtschaft nicht wiederherstellen kann. „Die Führer Russlands verstehen dies sehr wohl. Wie man sie auch beurteilen mag, sie sind Leute mit ganz besonderen Fähigkeiten und hervorragender Kenntnis der internationalen Lage.“ Und wenn die Vertreter Sowjetrusslands sehr scharfsinnig beweisen, warum die Schulden nicht bezahlt werden müssen, so unterliegt es keinem Zweifel, dass, je scharfsinniger sie sprechen, sie um so weniger die Kapitalisten überzeugen können, dass sie ihnen Geld leihen müssen, und darum wird sich schließlich zwischen den Führern Sowjetrusslands und der kapitalistischen Welt eine Basis finden, auf der sie zusammenkommen. Sowjetrussland erkennt die alten Schulden an, erkennt die Entschädigung der Verluste an und die Rückgabe des Privateigentums an die Ausländer in der einen oder anderen Form, worauf ihm ein Zahlungsaufschub gewährt wird, die Schulden werden in gewissem Masse herabgesetzt, wie dies immer bei einem finanziellen Bankrott eines Staates geschieht. Mit dieser Politik, erklärt Lloyd George, waren die Vertreter der Verbündeten einverstanden. Es entsteht nun die Frage, warum in Genua kein Einverständnis erzielt wurde. Aus dem einfachen Grunde, weil jede Regierung unter dem Einfluss ihrer öffentlichen Meinung steht. Zwischen der fast erzielten Verständigung in der Villa Alberti am 30. März und der Weigerung Sowjetrusslands, die Bedingungen der Verbündeten anzunehmen, eine Weigerung, die am 11. Mai als Antwort auf das Memorandum der Verbündeten vom 2. Mai erfolgte, zwischen diesen beiden Daten fand die Feier des 1. Mai statt. In Russland fanden riesige Demonstrationen statt, die die Forderung aufstellten, sich nicht zu ergeben, und dies beeinflusste den Standpunkt der Sowjetdelegation. „Es wäre ein großer Fehler, wollte man annehmen, dass autokratische Regierungen nicht dem Einfluss der öffentlichen Meinung unterliegen. In Russland besteht eine öffentliche Meinung, wenn auch nicht der Mehrzahl der Bevölkerung. Die einzige öffentliche Meinung, die dort Einfluss hat, ist die Meinung der städtischen Arbeiter, die nur wenige Prozent der Bevölkerung darstellen. Doch die Sowjetregierung und die Rätemacht stützt sich auf die Arbeiter. Das ist nicht Demokratie, das ist Oligarchie.“ Und dieser öffentlichen Meinung der Arbeiter unterordnete sich die Sowjetregierung, wenn auch die große Mehrzahl der Bevölkerung — die bäuerlichen Eigentümer — mit der Idee des Kommunismus oder der Nationalisierung durchaus nicht verbunden sind. Doch der Goldvorrat Sowjetrusslands ist seiner Erschöpfung nahe und die Sowjetregierung wird gezwungen sein, ein Abkommen zu schließen. Mit dem Glauben an die Kapitulation Sowjetrusslands, mit dem Glauben, dass es 90 Proz. des ausländischen Eigentums zu solchen Bedingungen in Konzession geben wird, dass dies der Rückgabe des Eigentums an die Ausländer gleichkommt, berief man die Konferenz in Den Haag ein.

5. In Den Haag.

Der Genueser Konferenz ging die Bildung des Französisch-Belgischen Naphtha-Syndikats voraus, dessen Aufgabe der Schutz der Naphthainteressen Frankreichs und Belgiens vor einem Sonderabkommen der Sowjetregierung mit dem englischen Syndikat war, eine Aufgabe, über die die Presse während der Genueser Konferenz wie über eine vollendete Tatsache so viel Lärm schlug. Die Bildung des Französisch-Belgischen Syndikats beeinflusste ihrerseits die englische Regierung in dem Sinne, dass sie seit Beginn der Konferenz den Versuch machte, mit der französischen Regierung wegen der in Bezug auf Sowjetrussland eingenommenen Position zu einem Einverständnis zu kommen. Dies kam schon allein in der Tatsache zum Ausdruck, dass zum Führer der Unterhandlungen Lloyd Grim, der Leiter des englischen Überseehandels : Departements, ernannt wurde, der seine unversöhnliche Stellung zu Sowjetrussland schon auf der dem Hunger in Russland gewidmeten Haager Konferenz genügend zu erkennen gegeben hatte. Die Unterhandlungen in Den Haag führten zur zweiten Formulierung der Stellung der Verbündeten, die nach der März-Formulierung der Sachverständigen erfolgt war.

Drei der von den verbündeten Sachverständigen angenommenen Grundresolutionen und die Rede des englischen Delegierten erlauben jetzt, diese Position in klaren Umrissen darzustellen.*

Diese Resolutionen sind negativen Charakters. Oft kann man erst aus den in diesen Resolutionen den Vertretern der Sowjetmacht gemachten Vorwürfen entnehmen, was die Vertreter der kapitalistischen Länder positiv zu erreichen suchen.

In der Resolution über das Privateigentum besteht der Hauptvorwurf der Verbündeten darin, dass die vom Genossen Litwinow überreichte Liste über das ausländische Privateigentum, das die Sowjetregierung bereit ist in Pacht zu geben, nur einen Teil des früheren Privateigentums der Ausländer umfasst, und dass die Mehrzahl dieses Eigentums in den Händen der Sowjetmacht bleiben soll. Weiter stellen die Sachverständigen der Verbündeten fest, dass dieser Teil, den die Sowjetregierung zu verpachten bereit ist, von ihr nicht bedingungslos vergeben wird, sondern dass sie fordert, dass jeder frühere Eigentümer, der darauf Anspruch erhebt, sein Eigentum in Pacht zu bekommen, Sonderunterhandlungen mit der Sowjetregierung führt, und dass er nur bei einem entsprechenden Ausgang dieser Unterhandlungen ein Abkommen erreichen kann. In den Fragen über die Kompensation, erklären die Sachverständigen, macht die Sowjetregierung Konzessionen von dem Erhalt von Krediten abhängig. Die kapitalistischen Länder, erklären die Sachverständigen, sollen also selbst ihre Kompensationen an die von der russischen Revolution in Mitleidenschaft gezogenen Bürger zahlen.

In der Resolution über die Schulden stellen die Sachverständigen fest, dass die Sowjetregierung die Anerkennung der Schulden von dem Erhalt einer wirtschaftlichen Hilfe seitens der ausländischen Mächte abhängig macht. In Anbetracht dieses Standpunktes erklären die Sachverständigen: „es kommt vor, dass der Schuldnerstaat nach vorübergehender Zahlungseinstellung eine neue Vereinbarung mit den Gläubigern zu erreichen sucht, um das Vertrauen zu sich wiederherzustellen. Ganz anders ist jedoch die Lage, wenn der bankrotte Staat sich weigert, die Verpflichtungen seiner Vorgänger anzuerkennen. Angesichts eines solchen Präzedenzfalles muss gefragt werden, welche Garantien die Gläubiger des neuen Kapitals gegen eine neue Revolution und eine erneute Weigerung der Bezahlung der von der gegebenen Regierung gemachten Schulden haben werden. Nur die Praxis kann die Sowjetregierung lehren, dass sie, solange sie nicht bereit ist, die Verpflichtungen ihrer Vorgänger bedingungslos anzuerkennen, keine ausländische Anleihe erhalten wird, die sie, nach ihrer eigenen Behauptung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Russlands dringend benötigt“.

Ihre Ansicht in der Frage über die Kredite brachten die Sachverständigen in folgendem Schlusswort zum Ausdruck:

1. Die Sowjetregierung kann unmittelbar von den europäischen Regierungen weder eine Anleihe noch Kredite bekommen. 2. Europa kann zum Wiederaufbau der russischen Wirtschaft nur durch Mittel des Privatkapitals beitragen. 3. Die Garantien, die die ausländischen Regierungen dem Kapital geben können, sind nicht in der Lage, die Gesetze, die die Bewegung des Privatkapitals regulieren, zu beseitigen und können nicht an ihre Stelle treten. Russland hat die Möglichkeit, durch ein Abkommen in anderen Fragen, die Sache der Beurteilung der anderen Kommissionen sind, wieder eine Atmosphäre zu schaffen, die es erlaubt, nach Russland das exotische Gewächs, genannt Kapital, zu bringen, auf dass es zum Wiederaufbau Russlands beitragen kann.“

Diese Beschlüsse kommentierte der englische Delegierte, der u. a. folgendes sagte: „Die russische Delegation fordert, dass andere Regierungen ihr zu Krediten verhelfen, die zum Wiederaufbau Russlands unentbehrlich sind. Sie erklärte, dass es keinen Sinn habe, die russische Regierung zum Privatkapital zu schicken. Erlauben Sie mir, meine Meinung auszusprechen, dass es zwecklos wäre, anders zu handeln, denn es handelt sich nicht darum, was wir oder unsere Regierung darüber denken. Unsere Regierungen haben kein eigenes Kapital für Investierungen in Russland. Dies wurde seit Beginn der Unterhandlungen gesagt. Doch selbst wenn sie Geld hätten, so wäre dies Geld das Geld der Steuerzahler, und es wäre absolut unzulässig für die Regierung, diese Gelder für Investierungen zu verwenden, für die sie die Steuerzahler selbst nicht verwendet haben. Nicht die Regierung kontrolliert das Geld, das Russland nötig hat, sondern die Privatkapitalisten und nur sie besitzen dieses Kapital. Und darum soll sich die Sowjetregierung nicht an die Meinung der Regierungen wenden. Es soll sich an die Privatkapitalisten wenden und nur mit ihren Anstrengungen rechnen. Ich muss dabei eine Einschränkung machen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Regierungen etwas tun können, um Russland auf der Suche nach Krediten zu helfen; doch sie selbst können diese Kredite nicht suchen, können jedoch in gewissen wenigen Fällen helfen, eine Brücke zwischen dem Schuldner und Gläubiger zu schlagen. Die Regierungen können helfen, die Türen zu öffnen, doch man muss verstehen, dass selbst, wenn die Türen geöffnet sind, niemand gezwungen werden kann, einzutreten. Es wäre nutzlos, wenn die Regierung die Gewährung von Krediten an Russland erleichtern würde, wenn die Kapitalisten des Landes diese Kredite nicht geben wollen. Doch die Kapitalisten werden nicht bereit sein, Kredite zu geben, solange nicht das Vertrauen wiederhergestellt ist, dass eine vernünftige Basis für Kredite besteht. Sie besitzen jetzt dieses Vertrauen nicht. Zur Wiederherstellung dieses Vertrauens bedarf es einer wesentlichen Bedingung: Russland muss die Grundlage wiederherstellen, auf die sich stets und überall Kredite stützen, und die bindende Kraft der eingegangenen Verpflichtungen anerkennen. Ich bin überzeugt, dass, solange dies nicht getan ist, die Regierungen nicht die geringste Möglichkeit haben, zu helfen, denn die Privatkapitalisten würden auf ihre Regierungen nicht hören, selbst wenn diese sie zu überreden suchten, Russland Kredite zu geben. Wenn die britische Regierung z. B. formell die Wirkung ihrer verschiedenen Gesetze, die der Unterstützung des ausländischen Handels dienen, auch auf den Handel mit Russland erweitern würde, so hätte doch die Erweiterung der englischen Gesetze auf Russland solange nur eine formale Bedeutung, als die Sowjetregierung ihre jetzigen Ansichten über die Verpflichtungen gegenüber den Ausländern in der Frage über die Schulden und das Privateigentum beibehalten würde. Sie könnte Russland nicht helfen, denn die Privatkapitalisten würden sich gleichgültig verhalten und darauf verzichten, sich der ihnen von der englischen Regierung eingeräumten Erleichterungen zu bedienen. Erlauben Sie mir klar auszusprechen, dass der Gedanke, dass eine Finanzblockade Russlands im Sinne eines von den Regierungen erlassenen Verbots, Kredite zu geben, eine völlige Illusion ist. Die einzige Regierung, die eine Finanzblockade Russlands durchführt, — ist die russische Regierung.“

Die Resolutionen der Haager Konferenz wurden nicht nur unter dem Einfluss der Konzessionen angenommen, die die englische Regierung der französischen machte, die an der Schuldenfrage mehr interessiert ist als die englische, sondern auch unter dem unmittelbaren Einfluss Amerikas. „Independence Belge“, das Organ der belgischen Industriellen, bringt am 7. August einen Artikel über die finanzielle Mitarbeit der Vereinigten Staaten in Europa, in dem erklärt wird, dass die amerikanische Regierung auf die Verbündeten in dem Sinne gewirkt hat, dass sie Russland solange keine Konzessionen machen, bevor es die Schulden und Entschädigungen nicht anerkannt habe. England und Frankreich schreibt diese Zeitung weiter werden diesen Wünschen Rechnung tragen, wie sie dies schon in Den Haag in Verbindung mit den Hinweisen Amerikas bezüglich der Stellung, die den Bolschewiki gegenüber eingenommen werden muss, getan haben.“

In dem Augenblick, wo sich die Frage der Sprengung der Konferenz entschied, nahm der belgische Delegierte Cartier, indem er sich für die Ablehnung des Kompromisses aussprach, Bezug auf den Ratschlag des amerikanischen Gesandten. Der Standpunkt Amerikas wurde außer den allgemeinen Motiven, auf die wir schon hingewiesen haben, noch durch folgende Erwägungen bestimmt. Die Bildung des Französisch-Belgischen Naphtha-Syndikats hat zu Konzessionen seitens der Shell & Dutch: Gesellschaft geführt. England hatte sich verpflichtet, die Wirkung des Vertrages von San Remo über die Nichtzulassung Frankreichs zur Ausbeutung des Naphthas in Mesopotamien und im Kaukasus zu erweitern. Dieses Abkommen führte einerseits zur Konsolidierung der Front der Verbündeten, andererseits jedoch konnte es zu einem allgemeinen Abkommen der europäischen Verbündeten mit Russland führen, einem Abkommen, das für Amerika viel gefährlicher gewesen wäre, als das nur durch England abgeschlossene. Die Shell & Dutch: Gesellschaft drückt auf Frankreich und Belgien. In Anbetracht der Abhängigkeit Frankreichs von Amerika bei der künftigen Lösung seiner finanziellen Schwierigkeiten, in Anbetracht des großen Interesses, das Belgien an der Wiedereinsetzung der Ausländer in ihr Privateigentum, oder an der unbedingten Verpachtung der Besitzungen an ihre früheren Eigentümer hat, gelang es Amerika auf diese Weise, die Stellung der Verbündeten so zuzuspitzen, dass keinerlei Abkommen möglich war.

6. Die Lehren von Genua und Haag.

Es ist von großer Wichtigkeit, die Ergebnisse von Genua und Haag in ihrem ganzen Umfange und möglichst kühl zu betrachten und dabei jedes agitatorische Element wegzulassen, das in diesem Falle, wo es sich um eine historische Beurteilung handelt, dem klaren Verständnis der Sachlage nur schaden kann. Für uns ist es jetzt viel wichtiger, die wirkliche Lage zu kennen, als anlässlich dieser Lage unwillig zu sein.

Was hat Genua als erstes bewiesen? Es ist die Tatsache, dass sich kein kapitalistischer Staat den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas als Aufbau neuer Wirtschaftsverhältnisse auf neuer, wenn auch kapitalistischer Grundlage denkt und sich nicht denken kann. Wenn wir von einem wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas sprechen, so denken wir hierbei an eine internationale Planwirtschaft, genau so, wie darüber die führenden bürgerlichen Wirtschaftler denken. Doch Europa und die Welt ist eine Abstraktion, deren Existenz negativ, doch nicht positiv gefühlt wird. Die Weltwirtschaft stellt einen einigen Organismus dar. Der wirtschaftliche Zerfall bedeutender Teile dieses Organismus zieht eine wirtschaftliche Krisis und den künftigen Verfall anderer seiner Teile nach sich. Doch weder die europäische noch die Weltwirtschaft haben irgendein leitendes Zentrum, das den Interessen der wirtschaftlichen Wiederherstellung Europas die Interessen der Privatkapitalisten und der ihrer nationalen Gruppierungen unterordnete. Der wirtschaftliche Wiederaufbau der Weitwirtschaft fordert in erster Linie die Liquidation der Staatsschulden. Die innere Schuld der besiegten Staaten, die von einem wirtschaftlichen Verfall ergriffen sind, ist spontan liquidiert durch die einfache Tatsache der Geldinflation. 200 Milliarden innerer Schuld in Deutschland stellt jetzt eine Arbeit der Notenpresse von einigen Tagen dar. In bestimmtem Masse ist auch die innere Schuld Frankreichs und Italiens verringert. Es blieben die äußeren Schulden Russlands an die Verbündeten, die Verpflichtungen Deutschlands gegenüber den Verbündeten und die Schulden der Verbündeten untereinander. Ohne Beseitigung dieser Lasten ist ein wirtschaftlicher Wiederaufbau Europas unmöglich. Nicht nur Deutschland ist nicht in der Lage, bei den Reparationszahlungen das Gleichgewicht seines Budgets herzustellen, sondern auch Frankreich kann es nicht ohne Verzicht Amerikas und Englands auf ihre Ansprüche ihm gegenüber. Trotz der Tatsache, dass dies von allen führenden Wirtschaftskreisen eingesehen wird, bleibt die Frage doch ungelöst. Erst vor einigen Tagen wies eine englische Zeitung darauf hin, dass nach den napoleonischen Kriegen acht Jahre nötig waren, um die Regulierung der damaligen Frage der zwischenstaatlichen Schulden durchzuführen. Heute sind mehr als vier Jahre seit Abschluss des Versailler Friedensvertrages vergangen. Die Politik der Verbündeten in der Frage der Schulden hat Deutschland an den Rand des Bankrotts gebracht. Die Unmöglichkeit einer wirtschaftlichen Lösung des Versailler Friedens wird von allen eingesehen und trotzdem kann niemand sagen, ob die Verbündeten einen für ihre eigene Rettung notwendigen Entschluss vor dem Bankrott der deutschen Bourgeoisie, der einen riesigen Schritt der Weltrevolution entgegen bedeuten würde, fassen werden oder nicht? Diese Lage lässt sich sehr leicht erklären. Die Liquidation der ausländischen Schuld würde es für Amerika, England und Frankreich nötig machen, nicht nur neue innere Steuerlasten auf sich zu nehmen, sondern auch das Mittel des politischen Drucks auf die Schuldner-Länder aufzugeben. Amerika hat nicht die Absicht, auf diese Waffe gegenüber Frankreich und England zu verzichten, da die Position Englands ein sehr wichtiges Moment in der Lösung der fernöstlichen Angelegenheiten und die Position Frankreichs in der Frage über das Duell zwischen England und Amerika ist. Frankreich verzichtet nicht auf seine Ansprüche gegenüber Deutschland, da diese Ansprüche es ihm erlauben, seine Grenzen bis zum linken Rheinufer vorzuschieben. Diese Lage entscheidet im Voraus negativ die Frage über den Wirtschaftsaufbau Europas wie über das Resultat der schöpferischen Wirkungen des kapitalistischen Staats.

Was die Kredite für die Wiederherstellung der Weltwirtschaft in den von der wirtschaftlichen Zerrüttung am meisten in Mitleidenschaft gezogenen Ländern anbetrifft, so steht die Sache hier noch schlechter. Nicht ein kapitalistischer Staat verfügt selbständig über Mittel, die er für den wirtschaftlichen Aufbau in anderen Ländern zur Verfügung stellen könnte. Alle durch den Krieg in ihren Grundfesten erschütterten Regierungen hängen mehr von den Kapitalkönigen ab, als sie auf diese Einfluss haben. Das Privatkapital Englands und Amerikas verfügt natürlich über die Mittel, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau Russlands in Angriff zu nehmen. In erster Linie ist es die amerikanische Industrie und die Finanzbourgeoisie, die über Kapital verfügt, doch führt das Finanzkapital Amerikas, selbst wenn wir die Frage über seine Einstellung zur russischen proletarischen Revolution außer acht lassen, eine Politik der Enthaltsamkeit gegenüber Europa. Der ungeheure innere Markt Amerikas, die Notwendigkeit, die Beziehungen zu Südamerika, wo das amerikanische Kapital das englische verdrängt, zu befestigen — dies alles genügt, um das amerikanische Kapital von Investierungen in Russland zurückzuhalten. Das amerikanische Kapital wird nach Russland nur dann kommen, wenn ihm dies vom Standpunkt seiner Konkurrenz mit dem englischen und japanischen Kapital als nötig erscheint. Das englische Kapital seinerseits sieht in Russland nicht die Bedingungen, die ihm eine Gefahrlosigkeit und einen riesigen Gewinn garantieren. Diejenigen seiner Teile, die dem Einfluss politischer Momente unterstehen, wollen nicht die wirtschaftliche Stärkung Russlands als einer Macht, die den Osten und Indien selbst unabhängig von dem Willen der Sowjetregierung revolutioniert.

Die Bedingungen der englischen und verbündeten Sachverständigen stellen seit dem März die Bedingungen dar, zu denen ein bedeutender Zustrom ausländischen Kapitals nach Russland gewährleistet werden könnte. Doch dieses. Russland wäre kein Sowjetrussland mehr, sondern eine Kolonie der ausländischen Bourgeoisie.

Wenn sich die Verbündeten die Sache so vorstellen, dass die prinzipielle Anerkennung der Schulden. und Kompensationen die Hauptbedingung für die Wiederherstellung des russischen Kredites ist, so ist das ebenso sehr eine Illusion wie ein Betrug. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich die Kapitalisten über eine solche Anerkennung sehr freuen würden, denn, wie prinzipienlos auch jeder Kapitalist ist, die Kapitalistenklasse hat ihre Prinzipien, ihre Symbole, und in ihrem Kampf gegen Sowjetrussland kämpft sie nicht nur für den Profit, den sie in Russland erhalten könnte, wenn dies nicht das Land der proletarischen Diktatur wäre, sondern gleichzeitig kämpft sie auch gegen Russland als dem Bannerträger der Weltrevolution, vor der sie im Jahre 1919 zitterte, die sie jedoch auch bis heute zu fürchten noch nicht aufgehört hat. Die bedingungslose Anerkennung der alten Schuldverpflichtungen der Zarenregierung und des Privateigentums würde einen prinzipiellen Sieg des Weltkapitals nicht nur über die russischen, sondern auch über die westeuropäischen und amerikanischen Arbeiter bedeuten. Es ist darum nicht verwunderlich, dass die Frage über die Schulden und die Wiedergutmachung am prinzipiellsten und schärfsten von der wohl prinzipienlosesten Regierung der Weit, der Regierung der amerikanischen Trusts, gestellt wird. Das stärkste kapitalistische Land, das Land des aufgeblähtesten bürgerlichen Individualismus, das Land ohne jede Traditionen, selbst ohne soziale Reformen, es ist gewissermaßen dazu berufen, der Champion des Privateigentums zu sein. Doch wie wichtig auch das Ziel des prinzipiellen Sieges über das russische Proletariat sein mag, für das ausländische Kapital ist viel wichtiger nicht die Anerkennung des Prinzips, sondern seine Erfüllung, die Bezahlung der Anleihezinsen und die Rückgabe des Privateigentums. Das erste — die Bezahlung der Zinsen und Schulden, ist für die nächsten 10 Jahre ein unausführbares Ding, unausführbar nicht nur für die Sowjetregierung, sondern auch für jede weiße Regierung Russlands. Und wie sehr die kapitalistischen Regierungen diese Forderungen als reale Forderungen aufstellen, sie halten, wie wir oben schon gesehen haben, andere Forderungen bereit, die die erste realisieren sollen, — die Forderung einer Reihe von Monopolen, die dem ausländischen Kapital als Sicherung für die Zinsenzahlung übergeben werden sollen. Was die zweite Forderung anbelangt, der Rückgabe des ausländischen Privateigentums oder, falls die volle Entschädigung unmöglich ist, die Gewährung neuer langfristiger Konzessionen als Äquivalent, so muss diese Forderung von der Sowjetregierung ultimativ abgelehnt werden. Die Liste der Konzessionen, die in Den Haag von Litwinow überreicht wurde, kann in dem einen oder anderen Punkte ergänzt werden, doch ist es nicht im geringsten zweifelhaft, dass die Sowjetregierung das ganze frühere ausländische Eigentum nicht in Pacht geben kann, ganz zu schweigen von dessen Rückgabe in Privateigentum.

Die Sowjetregierung besteht zu dem Zweck, um die russische Wirtschaft in der Richtung zum Sozialismus zu entwickeln. Ihre Arbeit geht unter unerhörten Schwierigkeiten des rückständigen bäuerlichen Landes vor sich, trotzdem hat sie jedoch bei den natürlichen Reichtümern alle Aussichten auf Erfolg, wenn sie einen genügenden Teil der russischen Schwerindustrie in ihren Händen behält. Da sie den größten Teil der Kohlen:, Naphtha: und Metallindustrie, die Eisenbahnen und die Möglichkeit, den Außenhandel zu regulieren, in ihren Händen hält, verfügt sie über mächtige Mittel, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu lenken. Der Kampf der ausländischen Regierungen, der Sowjetregierung die Eisenbahnen und die Industrie aus den Händen zu reißen, ist ein Kampf um die Rückkehr Europas zur Lage vor 1914. Die internationale Bourgeoisie, die in ihren Ländern den Kampf gegen ihre Arbeiterklasse, die nach der Nationalisierung der Schwerindustrie strebt, fuhren muss, will am russischen Beispiel die Unmöglichkeit der Staatsindustrie beweisen. Die Sowjetregierung kann in dieser Frage ihre Positionen nicht aufgeben, ohne vor dem Weltkapital zu kapitulieren.

Wir wiesen schon eingangs dieses Artikels darauf hin, dass eine der Ursachen der Einberufung der Genueser Konferenz in der Überzeugung der verbündeten Regierungen lag, dass die neue Wirtschaftspolitik eine maskierte Kapitulation der Sowjetregierung, ein Gleiten auf Bremsen sei, von dem Professor Ustrjalow in der „Smjena Wjech“ mit Begeisterung sprach. Diese Illusion schuf die Legende einer von Krassin angeblich Lloyd George gemachten Erklärung, dass die Sowjetregierung bereit wäre, 95 Proz. des früheren Eigentums der Ausländer in Pacht zu geben. Als es sich herausstellte, dass dies eine Legende war, verschwand der Boden für das Genueser und Haager Abkommen. Die Unversöhnlichkeit Frankreichs oder Amerikas war nur ein Element, das die Enthüllung dieser Tatsache beschleunigte. Die englische Regierung war mit der der englischen Politik eigenen Schmiegsamkeit bereit, eine Anzahl Konzessionen zu machen, um die Kapitulation der Sowjetregierung zu decken. Doch ihre Ziele waren die gleichen wie die Frankreichs und Amerikas, und als es sich klar erwies, dass die Sowjetregierung eine Kapitulation einzugehen nicht die Absicht hatte, da hatte England ebenfalls nicht die Absicht, auch nur unwesentliche Konzessionen zu machen, genau wie auch die übrigen kapitalistischen Mächte. Die wichtigste Tatsache Genuas und Haags besteht darin, dass, wenn die kapitalistischen Mächte nicht in der Lage sind, bedeutende Opfer für den Wiederaufbau der kapitalistischen Weltwirtschaft zu bringen, wenn sie nicht in der Lage sind, selbst unter sich zu einem Kompromiss zu kommen, sie um so weniger bereit sind, ein Kompromiss mit dem Lande der siegreichen proletarischen Revolution, ein Kompromiss auf Kosten des Kapitalismus einzugehen.

Ein solches Kompromiss ist nicht ausgeschlossen. Es ist Tatsache, dass seit fünf Jahren das Land mit der proletarischen Revolution existiert und dass das internationale Kapital nicht die Kraft hatte, es zu besiegen. Das Kapital ist noch nicht davon überzeugt, dass der Sieg der proletarischen Revolution in Russland eine endgültige Tatsache ist, die man nicht aus dem Buch der Geschichte herausreißen könnte. Die neue Wirtschaftspolitik die an sich eine Verquickung des Kapitalismus mit dem sozialistischen Aufbau ist, hat das Vertrauen des internationalen Kapitals in seine eigene Kraft, in seine eigene Zukunft gestärkt. Doch wenn das Proletariat in Russland die Macht auch in der Zukunft behält, wenn die neue Wirtschaftspolitik statt eines Elements, das, wie dies das internationale Kapital erwartet, die Kräfte des russischen Proletariats verkauft, zu einem Element wird, das seine Kräfte sammelt, so kann das Weltkapital, unter der Bedingung einer weiteren Krisis im Osten und eines weiteren Verfalls der kapitalistischen Wirtschaft im Westen, einer Verschärfung seiner internationalen Gegensätze, gezwungen sein, mit der Sowjetregierung einen modus vivendi einzugehen auf dem Boden eines gegenseitigen Kompromisses, nicht aber einer einseitigen Kapitulation.

7. Was weiter?

Hätten Genua und Haag nicht mit einem völligen Bankrott geendet, hätte sich, sagen wir, die Sowjetregierung zur prinzipiellen Anerkennung der alten Schulden und zur Anerkennung von Entschädigungen bereit erklärt, wobei die Festsetzung der Höhe unserer Verpflichtungen künftigen Unterhandlungen überlassen worden wäre, hätten andererseits die Verbündeten als Gegenleistung für diese Konzessionen die Sowjetregierung anerkannt — die letzte Formel Litwinows in Den Haag —‚ so hätte dies vielleicht einen günstigeren Boden für Privatabkommen der Sowjetmacht mit den verschiedenen kapitalistischen Gruppen geschaffen. Das würde die unaufhörliche Verleumdung Russlands erschweren, wäre jedoch kein entscheidender Faktor für die Heranziehung ausländischen Kapitals nach Russland. Es braucht nur auf folgendes Moment hingewiesen zu werden. Die Anerkennung der Schulden suchen vor allen Dingen die Länder zu erreichen, die vor dem Kriege hauptsächlich Gläubiger Russlands waren. Weder Amerika, noch England sind die Hauptgläubiger Russlands in der Vergangenheit. Der Hauptgläubiger des alten Russland war Frankreich, das nur im Falle einer Vereinigung mit der deutschen Schwerindustrie von neuem ein Gläubigerstaat werden kann. England und Amerika fordern die Anerkennung der Schulden entweder aus außenpolitischen Gründen — England sucht Frankreich im Fahrwasser seiner Politik zu halten und muss ihm daher Konzessionen machen — oder nehmen — wie Amerika — in der Schuldenfrage eine „prinzipielle“ Position ein. Müsste jedoch Russland in der Tat die Zinsen von den Schulden bezahlen, so würden sie dabei nichts gewinnen, sondern im Gegenteil die kapitalistischen Elemente verlieren, die an den alten Schulden nicht interessiert sind, die aber jetzt in Russland arbeiten können: denn es ist sonnenklar, dass die Bezahlung der Zinsen an die französischen Rentiers den Anteil der materiellen Konzessionen verringern würde, die die Sowjetregierung machen könnte, falls jene ihre Kapitalien in Russland investieren würden. Ebenso steht die Frage mit der Rückgabe des Privateigentums oder mit der Kompensation für seine Nationalisierung. Nicht alle alten Eigentümer sind in der Lage, von neuem ihre Arbeit in Russland zu beginnen. Viele von ihnen würden an der Börse ihr Recht auf die Rückgabe oder Entschädigung verkaufen. Doch die kapitalistischen Elemente, die entschlossen sind, jetzt in Russland zu arbeiten, würden die Möglichkeit verlieren, das Eigentum zu erhalten, das den alten Besitzern gehörte, sie könnten es nur an der Börse zu höheren Preisen kaufen als die Entschädigung, die sie, um sich jetzt zu sichern, den früheren Besitzern bei Erhalt der russischen Konzessionen zu zahlen bereit sind, um sich vor dem Vorwurf zu schützen, dass sie „Gestohlenes“ kaufen. Entscheidend sind bei der Beurteilung der Perspektiven und der Heranziehung des ausländischen Kapitals für die Arbeit in Russland folgende Momente. 1. An diese Arbeit gehen die kühneren Elemente heran, die nur mit der Höhe des Profits und dem Grad der Gefahrlosigkeit rechnen. 2. Darum ist für die nächste Zukunft nicht am wichtigsten das eine oder andere diplomatische Kompromiss mit den Mächten, sondern ein direktes Abkommen mit den verschiedenen Gruppen des internationalen Kapitals. Die Bedingung, die dieses Abkommen erleichtert, ist außer der Höhe des Gewinns die Schaffung größtmöglichster Garantien der persönlichen Gefahrlosigkeit der Konzessionäre durch die innere russische Gesetzgebung. Eine geschickte Konzessionspolitik, verbunden mit einer Reihe innerer Maßnahmen auf dem Gerichts:, Administrations- und Finanzgebiet, erlaubt Sowjetrussland trotz des Misserfolges in Genua und in Den Haag, eines Misserfolges, den die Sowjetmacht vorausgesehen hatte, einen gewissen Zustrom ausländischen Kapitals herbeizuführen. Doch die öffentliche Meinung Sowjetrusslands muss sich der Tatsache bewusst werden, dass dieser Zustrom in nächster Zeit verhältnismäßig nicht groß sein wird und dass darum die Hauptkräfte des wirtschaftlichen Aufbaus Russlands aus den eigenen Quellen geschöpft werden müssen, die die russische Landwirtschaft liefern wird, wenn in den nächsten Jahren keine Missernte und kein Krieg eintreten werden.

Der Augenblick für große Abkommen mit den ausländischen Regierungen tritt nur bei einem neuen revolutionären Umschwung im Osten und Westen oder bei einer Zuspitzung der Beziehungen zwischen den imperialistischen Mächten ein. Die Konsolidierung der Kräfte der chinesischen Revolution, die Zuspitzung der Klassenkrisis in Japan machen Russland, wenn wir es verstehen, eine kampffähige Armee zu bewahren, zu dem entscheidenden Element im Fernen Osten: für Japan und für Amerika. Die Verschärfung der Krisis in der mohammedanischen Welt des nahen und mittleren Ostens wird die Bedeutung Sowjetrusslands in Bezug auf England und Frankreich erhöhen. In der gleichen Richtung würde eine Verschärfung des englisch-französischen Konfliktes wirken. Der Sieg der proletarischen Revolution, wenn auch nur in einem Industrielande, würde den kapitalistischen Mächten die Notwendigkeit beweisen, Abkommen mit der proletarischen Revolution zu suchen. Bis zu diesem Umschwung wird die Arbeit der Sowjetdiplomatie, die vorwiegend mit den wirtschaftlichen Arbeiten des Landes verbunden ist, in einem ganzen System sich ergänzender diplomatischer Verschiebungen bestehen, wird jedoch keinen großen Umfang annehmen. Erst der Augenblick, in dem neue Umwälzungen in der Welt eintreten, wird sie von neuem beflügeln. Erst dann, wenn sie den Sieg der proletarischen und nationalen Revolutionen oder den Sieg der Roten Armee ausnutzen muss, wird sie sich von neuem in ihrem vollem Umfange entfalten.

* P. Nitti: „Das friedlose Europa“ (Seite 104/109), deutsche Ausgabe Frankfurt a. Main, Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH

* The Round Table, London, März 1922, Seile 270-278.

* Alle die Genueser Konferenz betreffenden Dokumente sind in Rom erschienen, Verlag Gianini. Siehe auch: J. Saxon Hill: „The Genua Conference“. London 1922, Hutchinson & Co., eine Apologie der Politik Lloyd Georges.

* Alle Daten über die Rolle des Naphthakapitals in Genua und Haag habe ich den Berichten des Genossen Ahrens entnommen, einen der wertvollsten beständigen Informatoren des Volkskommissariats des Äußern, die unter der Leitung des Genossen Lapinski an der wissenschaftlichen Beleuchtung der Ereignisse der internationalen Politik arbeiten. Es ist zu bedauern, dass diese Berichte nur einem beschränkten Kreise von Personen zugänglich sind.

* „Papers relating to the Fiagul Conference June—July 1922“ Presented to Parliament by Command of his Majesty, London 1922.

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