Karl Radek 19111027 Reichstag, Regierung und die Marokkoverhandlungen

Karl Radek: Reichstag, Regierung und die Marokkoverhandlungen

(Oktober 1911)

[Freie Volkszeitung (Göppingen) Nr. 251, 27. Oktober 1911, gezeichnet “K.R.”]

Der Reichstag war in den Ferien, als der Panther nach Agadir geschickt wurde. Das Bürgertum war in allen seinen Schattierungen damit einverstanden, dass seiner Vertretung die Beeinflussung der Regierungstaten versagt worden ist. Es konnte durch das Pressegeheul die Regierung unterstützt werden, und nur darum ging es ihm. An einen Widerstand gegen den neuesten Vorstoß des deutschen Imperialismus dachten die Bürgerlichen nicht, wozu also die Einberufung des Reichstags fordern? So standen die Dinge, als die besitzenden Klassen annahmen, die Regierung strebe nach der Besetzung Südmarokkos. Bald stellte es sich heraus, was von Anfang an bei aufmerksamer Lektüre der offiziösen Presse eigentlich klar war, dass die große Geste von Agadir nur zur Einleitung der Unterhandlungen über die Entschädigungen dienen sollte. Die Gewissheit, dass Marokko nur für den Preis eines Krieges zu erringen sei, dass dieser Krieg als Angriffskrieg in einer für Deutschland diplomatisch höchst schwierigen Situation stattfinden würde, dass er als Angriffs- und direkter Kolonialkrieg die Volksmassen zum entschiedensten Protest reizen müsste, all diese Erwägungen — und nicht eine Friedensliebe des Kaisers, wie die ultraimperialistische Presse faselt — bestimmten dieses Fallenlassen des Gedankens an Südmarokko.

Ein Teil der besitzenden Klassen war mit dieser Politik einverstanden. Es waren in erster Linie die Junker. Wie sehr auch die Interessiertheit der Aristokratie an den Kolonialunternehmungen in den letzten Jahren gewachsen ist, für die Masse der Junker handelt es sich bei der imperialistischen Politik mehr um eine Stärkung der Regierungsmacht den anderen Mächten gegenüber als um die wirtschaftlichen Erfolge des Imperialismus. Der Unterschied zwischen den wirtschaftlichen Aussichten der Besetzung Südmarokkos oder irgendeines Sumpflandes musste für sie verschwinden angesichts der Tatsache, dass die Regierung einer Kraftprobe mit England aus Anlass Marokkos aus dem Wege gehen wollte. Die Junkerpresse stimmte also der Kompensationspolitik der Regierung zu, nur hielt sie daran fest, dass die äußeren Formen dieser Politik den Eindruck des Erfolges erwecken: also kein Schachern, sondern feste Preise und unter keinen Bedingungen Abtretungen an Frankreich. Zu dieser Haltung des Junkertums trug die Tatsache bei, dass die Junker die Regierung und speziell Kiderlen-Wächter für die Ihrigen betrachten, dass die angesichts der nahenden Wahlen es mit ihr nicht verderben wollten.

Aus anderen Gründen zogen an dem gleichen Strange die Freisinnigen. Ihre Haltung war ökonomisch durch die Interessen der Börse und des Handelskapitals bestimmt. Der Börse sind Schwierigkeiten während der Marokkokrise entstanden. Obwohl der Abfluss des französischen Kapitals durch die Marokkospannung nur mitbestimmt, nicht verursacht wurde, kühlte er ihren Marokkoenthusiasmus, der dabei von Haus aus nicht sehr hoch war. Denn die Haltung der Finanz in der Marokkokrise war von Anfang an nicht einheitlich. Der Teil, der mit Krupp, Thyssen und anderen mit dem französischen Kapital in Marokko haltenden Firmen geht, machte die Geschichte überhaupt nicht mit. Dazu kommt noch der Teil der Finanz, der ihre Profite nicht aus der Speisung der Industrie zieht, sondern aus der Spekulation mit Börsenpapieren. Für sie macht es keinen Unterschied, was die Papiere darstellen: Kongo oder Marokko. Mit Hilfe der Regierung, wie sie Herr [Kolonial-Staatssekretär] Dernburg zu organisieren so kunstvoll verstand, ließen sich die faulsten südwestafrikanischen Papiere an den Mann bringen, warum sollte es nicht mit Kongo gehen? Die Handelskreise wieder, die sich für den Imperialismus enthusiasmieren, wenn die Wogen hoch gehen, fürchteten Störungen, als sie sahen, dass die Franzosen nicht ohne weiteres zu Kreuz krochen und die Krise zu einer Auseinandersetzung mit England anzuwachsen drohte, als dem Handel, mit welchem sie einstweilen viel mehr Nutzen ziehen als aus allen Kolonialländern zusammengenommen.

Den Junkern und den Freisinn gesellte sich das Zentrum. Auch in seinen Reihen sitzen Kolonialinteressenten, die die Politik des Durchhaltens befürworten, auch ihm ist ein Erfolg in der auswärtigen Politik schon aus Rücksicht auf die kommenden Wahlen sehr nötig; auch die Masse der Zentrumskleinbürger ist von dem Imperialismus verseucht. Und schließlich musste es, unlängst noch als nichtnational gescholten, seinen Patriotismus hervorkehren, um den verbündeten Junkern die schwierige Wahlposition zu verbessern. Als aber die Regierung offen den Weg des Schachers betrat, das Säbelrassel ihr ungemütlich wurde, bäumte sich das Zentrum nicht auf. Erstens als Regierungspartei, zweitens als Partei mit junger imperialistischer Vergangenheit und kolonialer Interessiertheit. Drittens brachte der Sommer neue Sorgen: die Verschärfung der Teuerungsnot. Jetzt galt es mit Junkern und Regierung den Sturm auf den heiligen Brotwucher abzuwehren, nicht gegen sie zu frondieren.

Anders die Nationalliberalen. Sie sind Vertreter der schweren Industrie und der sie finanzierenden Banken. Diesen Kreisen ist aber an der Gewinnung von Kolonien sehr gelegen, in denen man Bahnen, Städte bauen kann. Dies aber sind nicht die tropischen Kolonien, in deren Hitze und Sümpfen die Europäer nicht wohnen können, sondern Kolonien mit einem gesünderen Klima, wie Südmarokko. Neben diesen Erwägungen kamen noch wahlpolitische in Betracht. Durch die nationalistische Hetze glaubten die Nationalliberalen in den kommenden Wahlkämpfen jenen nationalen Mischmasch von Gymnasiallehrern, Offizieren a.D. usw. zu bekommen, die unter der Fahne der Alldeutschen marschieren, das eigentliche Kriegsgeheul als Machtäußerung betrachtend. Keine Kompensationen, nur Marokko! riefen sie und forderten von Zeit zu Zeit die Einberufung des Reichstags. Durch eine einmütige Stellung sollte dieser den Rücken der Regierung steifen und eventuell zum Abbruch der Entschädigungsverhandlungen führen.

Inzwischen wurde nach langem Hin und Her das Abkommen über Marokko fertig. Obwohl es noch nicht veröffentlicht ist, weiß man, was es nach Lage der Dinge bedeuten kann: trotz aller Paragraphen, die die Freiheit des Verkehrs sichern sollen, muss und wird es Marokko dem französischen Kapital ausliefern. Kein Anlass zur Freude für das deutsche Kapital! Aber noch mehr: Frankreich weiß, dass obwohl das Abkommen erst nach der Einigung über die Entschädigung in Kraft tritt, es doch der deutschen Regierung schwierig wäre, jetzt zum alten Liede zurückzukehren. Sie hat zu häufig öffentlich durch ihre Trabanten die Schwierigkeiten der Fußfassung in Marokko dargestellt, um sich auf diese Position zurückziehen zu können, wenn die Kongoentschädigungen knapp ausfallen sollten. Die besitzenden deutschen Klassen sind schon zu sehr ermüdet durch die lange Dauer der Affäre, um von neuem vom Kriegsenthusiasmus ergriffen zu werden. Dazu hat das Tripolisabenteuer die internationale Lage Deutschlands geschwächt. Diese Gründe werden genügen, um das Angebot Franreichs zu vermindern. Die französische Regierung wird dazu aber noch durch innere Gründe bestimmt. Wenn der soziale Kampf einen Augenblick nachlässt, dann beginnt in Frankreich gewohnheitsmäßig ein erbitterter Cliquenkampf der Beutepolitiker. Für die Auslieferung des mit französischem Blut getränkten Kongo — lauten die Phrasen — soll jetzt das französische Kabinett bestraft werden und der Bankrottierer des bürgerlichen Radikalismus, Clemenceau, wie der Condottiere des Scharfmachertums, der Verräter Briand, versuchen dem Ministerpräsidenten Caillaux ein Bein zu stellen. In dem Kongoschacher ist also die deutsche Regierung in die Defensive hineingetrieben. Sie kämpft um den äußeren Schein des Erfolges.

In dieser Lage ist der Reichstag zusammengetreten. Die Regierung wollte ihm keine Erklärungen geben, weil sie zugestehen müsste, dass sie nicht einmal einen Sperling in der Hand hat. Die bürgerlichen Parteien, selbst die Nationalliberalen, haben keinen Versuch gemacht, eine Debatte durch einen Initiativantrag zu erzwingen, obwohl sie damit anfangs gedroht haben. Das bedeutet, dass angesichts der misslichen Lage die Feinde des Kongoabkommens auf den Versuch verzichten, den Abbruch der Verhandlungen herbeizuführen. Da Frankreich versucht, sein altes Kongoangebot zu vermindern, erfordert jetzt der “Patriotismus” — es ist nur eine ordinäre Prestigepolitik — dasselbe Kongo, das bis jetzt in der ganzen nationalistischen Presse für einen Sumpf galt, dessen Besitz Deutschland nur schwächen würde, zur gemeinsamen Parole aller bürgerlichen Parteien zu erheben. Am energischsten bekämpfte den Gedanken an die Kongoentschädigung die “Post” und jetzt heult sie aus vollen Lungen: Der ganze Kongo oder Tod und Verderben!

Es steht nicht in der Macht der sozialdemokratischen Fraktion, eine Debatte im Reichstag zu erzwingen, da ein Initiativantrag die Unterstützung der Reichstagsmehrheit erfordert. Aber es ist die Aufgabe der sozialdemokratischen Presse, die Triebkräfte der jetzigen Phase der Marokkokrise aufzudecken, zu zeigen, wie vorübergehend, mit Ausnahme der proletarischen Proteste, die Ursachen waren, die den Krieg wegen Marokko vereitelt haben, wie volksfeindlich diese “Friedensfreunde” sind, die jetzt wegen des Kongoschachers rumoren, wie völlig der Reichstag als Kampfmittel gegen den Imperialismus versagt hat. Wenn sie diese Pflicht erfüllt, dann wird der Marokkorummel, der die Position der Sozialdemokratie schwächen sollte, zur neuen Quelle, der die Volksentrüstung gegen das Regime der Kriegsgefahr, der kolonialen Abenteuer, des Volksschachers mit wachsender Kraft entströmen wird.

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