Karl Radek 19230300 Von Haag nach Essen

Karl Radek: Von Haag nach Essen

[Die Kommunistische Internationale, Heft 24/25, März 1923, S. 1-7]

I.

Die Geschichte rennt jetzt wie ein durchgehendes Pferd, Eine ganze Epoche war notwendig, damit sich die Hannibalsrufe der 2. Internationale zum Kampf gegen den Krieg als Betrug erwiesen. Knapp ein Monat genügte, damit auch der letzte Arbeiter auf die anschaulichste Weise belehrt wurde, wie schlechte Komödianten die Herren der 2. und 2½ Internationale, die in Den Haag zum Weltfriedenskongress zusammen kamen, gewesen waren, damit auch der letzte Arbeiter einsah, wie unnütz die Komödie gewesen war, die die Helden der 2. und 2½ Internationale und die Amsterdamer Helden in Den Haag gespielt hatten.

Die Konferenz in Den Haag versammelte sich unter Umständen, die selbst einen Blinden zum Aufschauen und Sehen bringen mussten. In Lausanne hatte eben erst die Konferenz über die Ostfragen begonnen. Die Vertreter der Entente versuchten dort dem erwachenden Osten Friedensbedingungen aufzubürden, die nur die Bedingungen eines neuen Krieges festgelegt hätten, falls die Türkei, durch den langjährigen Krieg erschöpft, gezwungen gewesen wäre, die ihr von Lord Cherson diktierten Bedingungen anzunehmen. Denn die türkischen Volksmassen hätten sich früher oder später gegen die Bedingungen erhoben, da sie nicht dafür im Jahre 1908 ihr Blut vergossen hatten, da sie nicht dafür nach dem vierjährigen Krieg aufs neue zu den Waffen gegriffen hatten, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, um nunmehr dem Sieger zu gestatten, ihr das Joch der Kapitulation und Finanzkontrolle aufzuerlegen, um den Herren Kapitalisten Englands und Frankreichs zu gestatten, auf dem von ihrem Blut benetzten Boden zu wirtschaften.

Während die Haager Konferenz sich versammelte, kamen gleichzeitig in London die Herren Poincaré, Bonar Law und Mussolini zusammen, um die verhängnisvolle Frage zu entscheiden, was mit Deutschland geschehen solle? Sechs Monate der Bezahlung der Abgabe hatte den Verbündeten genugsam bewiesen, dass Deutschland unter der Herrschaft der Bourgeoisie entweder unfähig ist, die Versailler Bedingungen zu erfüllen oder sie nicht erfüllen will. Für jeden war es klar, dass der entscheidende Moment herannahe, dass die Reparationsfrage einem neuen Wendepunkt entgegengehe, dass die Frage des Friedens in Zentraleuropa neuerdings auf der Schneide des Schwertes gestellt werde.

Bezüglich Sowjetrusslands nahmen die kapitalistischen Mächte die Position „Weder Krieg noch Frieden“ ein. Die Genueser Konferenz endete mit einem vollständigen Misserfolg, der durch die Resultate der Haager Konferenz über die russische Frage verstärkt wurde. Die Verbündeten, die ein Jahr lang über den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft gesprochen hatten, bewiesen auf diesen Konferenzen der ganzen Welt, dass der Wiederaufbau Europas für sie gleichbedeutend ist mit der Wiedergutmachung der Verluste der Kapitalisten durch die Revolution. Im Krieg kamen Millionen Arbeiter um. Sie hinterließen Millionen Witwen und Waisen, die in Not leben und nicht wissen, wovon sie sich morgen ernähren werden, aber an die Wiedergutmachung ihrer Verluste denkt in der kapitalistischen Welt niemand. Mögen neue Millionen Menschen in Russland vor Hunger sterben, wenn sie das Eigentum der ausländischen Kapitalisten dort nicht wiederherstellen wollen, wenn sie diese für ihre Verluste nicht entschädigen wollen.

Im Fernen Osten bereiten sich neue Ereignisse vor. Ihre Vorboten sind das Sieden in dem revolutionären Kessel des 400-Millionen-Chinas, das fortwährende Rüsten Japans, das unter dem Druck der Washingtoner Konferenz auf den Bau von Dreadnoughts verzichtet hat und dafür unentwegt Unterseeboote und Schnellkreuzer baut.

Oder wie der amerikanische Schriftsteller Turner in seinem prächtigen Buch über die Rolle Amerikas im Weltkrieg sagt: Wenn die Kriegsgefahr im Vergleich zu der Zeit vor dem großen imperialistischen Krieg nicht gewachsen wäre, wie wäre es dann zu erklären, dass die Rüstungen aller kapitalistischen Mächte gewachsen sind?

Der in diesem Augenblick zusammengetretene Kongress, der nicht nur die 2. und 2½ Internationale, sondern auch die mächtige Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale vertrat, die Internationale, die tagtäglich allen die Ohren voll schreit, dass sie 30 Millionen organisierter Arbeiter vertrete, hatte nur eine Aufgabe: in den einfachsten Worten mit vollständigster Klarheit sich und der ganzen Arbeiterwelt zu sagen, dass der letzte Krieg nicht der letzte gewesen sei, dass man die Arbeiter und Bauern aufs neue in einen Krieg für die Sache des Weltkapitals jage, wenn die Arbeiterklasse nicht alle ihre Anstrengungen darauf vereint, der verbrecherischen Bourgeoisie die Macht aus den Händen zu reißen. Denn was konnte der Haager Kongress anderes sagen? Die mit jedem Tag wachsende Gefahr eines neuen Weltkrieges leugnen, wo die gewesenen Minister Lloyd George und Nitti Tag für Tag davon in die Welt posaunen, wo die Tatsachen täglich laut davon sprechen? Und wenn die Sache wirklich so steht, was konnten die Herren der Amsterdamer, die Herren der 2. und 2½ Internationale den Proletariern vorschlagen, die unter der Drohung stehen, dass man sie morgen in einen neuen Krieg hetzt? Auf die Demokratie zu vertrauen? Auf dieselbe Demokratie, die 1914 in Frankreich, England und Amerika die Arbeiter wie Vieh zur Schlachtbank geführt hat, ohne sie zu fragen, ob sie kämpfen wollten, ohne ihnen sogar zu sagen, wofür sie kämpften. Selbst angenommen, dass sich in Frankreich die Mehrzahl der Bevölkerung unter der Drohung des deutschen Imperialismus im Augenblick der Kriegserklärung ihrer kapitalistischen Regierung anschloss, was besagt dies aber für Amerika, „dieser größten der großen Demokratien“, wo es mit Tatsachen belegt ist, dass dort die Finanzoligarchie diesen Krieg insgeheim vorbereitet hat, dass, nachdem die Massen sich bei den Wahlen 1916 für die Erhaltung des Friedens ausgesprochen hatten, sie in den Krieg geworfen wurden, damit die Herren Morgan, Rockefeller und Schwab Zahlungsgarantien für die Schulden Englands und Frankreichs erhielten, dafür, dass das, große amerikanische Syndikat zur Zerstörung Europas weiterhin goldene Gewinne abwerfe. Welche bessere bürgerliche Demokratie können die Herren der 2. und 2½ Internationale ausdenken als jene berühmte amerikanische Demokratie, deren Lob hundert Jahre lang nicht nur alle europäischen Liberalen gesungen haben, sondern von der selbst der hanswurstige Kautsky, der. Pontifex Maximus der 2½ Internationale, in einer gelehrten Dissertation bewiesen hat, dass sie die Arche Noahs des gegenwärtigen Pazifismus sei. Welchen anderen Rettungsanker außer der systematischen Vorbereitung der proletarischen Weltrevolution konnten die Priester aller dieser drei Lügen-Internationalen dem europäischen Proletariat zeigen? Der Völkerbund? Jenes ehrenwerte Mädchen, das sich immer zufrieden gibt, wenn es die Giganten des Weltkapitals vergewaltigen, die dabei nur sorgfältig acht geben, dass nach jedem dem französischen Kapital gewährten Zugeständnis auch das englische ein gleichwertiges erhält.

Die Haager Konferenz hat die schlimmsten Befürchtungen gerechtfertigt. Sie stellte das Bild eines Friedhofes dar, eines Friedhofes, auf dem längstverfaulte Leichen aus ihren Gräbern heraus gekrochen waren, um ruhigen Mutes Bier zu trinken und Gespräche über den Nutzen des Friedens und das Unheil des Krieges zu führen. „Die alten Führer des Proletariats, wie sie sich selbst rühmen, in Wirklichkeit nur Leute, die ihr Jahrhundert um mindestens dreihundert Jahre überlebt haben, saßen zusammen mit den nicht weniger veralteten Damen des Pazifismus und hörten, sich das Mittagessen nachkauend, Referate über die Rolle des Kinos im Kampf gegen den Krieg an und wie man die neuen Geschlechter in einem Geiste erziehen müsse, der Kriege unmöglich mache, Dann schüttelten so wackere Burschen wie Fimmen auf der Tribüne ihre Löwenmähne und schrieen in drei Sprachen: einen solchen Friedenskongress hat die Welt noch nicht gesehen, und drohten der Bourgeoisie für den Kriegsfall mit einem allgemeinen Streik. Im Saale saßen alle die Großmütter des Sozialpatriotismus, die Renaudel, Henderson, Wels und Vandervelde, und hörten diese Propaganda ihrer „neutralen Freunde“ zum Verzicht auf die Verteidigung des Vaterlandes ohne ein Wimperzucken an; als aber der Vorhang fiel und man in kleinem Kreise, in den Kommissionen an die endgültige Herausarbeitung heranging, erklärte Herr Huysmans, ehemaliger Sekretär der in den Umarmungen des Imperialismus verschiedenen 2. Internationale gesegneten Angedenkens mit der Unschuld eines Kindes: das ist alles Unsinn. Wenn ein neuer Krieg ausbricht, werden wir noch einmal alles das tun, was wir während des großen imperialistischen Krieges getan haben. Als ich diese Erklärung Huysmans in der Plenarsitzung mitteilte, erhob sich keineswegs ein Sturm der Entrüstung. Niemand stellte den Antrag, Huysmans aus dem Sitzungssaal zu entfernen, da alle fühlten, Huysmans habe Recht. Und Herr Vandervelde erklärte mit jener ehernen Stirn, die ihn sogar in dieser ehrenwerten Falschspielergesellschaft auszeichnet, dass er für die Resolution, die die Weltbourgeoisie mit dem allgemeinen Streik bedroht, stimme, aber mit dem Vorbehalt, dass, wenn sein „Vaterland“ von neuem angegriffen würde, er bereit sei, von neuem in das Kriegskabinett Seiner Majestät des englischen Königs einzutreten. Und dieser, Held wurde mit Beifall begrüßt, als er auf der Tribüne erschien und mit lautem Beifall begleitet, als er sie verließ.

Als wir diese Verteidiger des Friedens darauf hinwiesen, man könne doch nicht über die Kriegsgefahr schwätzen und dem Kapital mit der Faust in der Tasche drohen, man könne doch nicht versprechen, irgend einmal einen heroischen Tod zu sterben und gleichzeitig dabei zu den Lausanner Vorbereitungen für einen Krieg im Nahen Osten und zu der vorbereiteten Ruhrbesetzung, schweigen, bellte uns kein Hund zur Antwort, — oder, richtiger gesagt, die Hunde bellten wohl, aber gegen Sowjetrussland, der bekanntlich imperialistischsten Macht der Welt. Und erst nach der Sitzung erschien bei uns finsteren Gesichts Mr. Charles Roden Buxton, der alte, ehrliche, liberale, englische Pazifist, der, am Pazifismus des englischen Liberalismus verzweifelnd mit der Miene eines Menschen, der im Klosett erstickt, in die Arbeiterpartei eingetreten war. Buxton sagte zu uns: „Sie haben ganz Recht, so geht es nicht.“ Und mit der Lampe des Diogenes machte er sich auf, unter seinen Freunden eine Gruppe zu suchen, die unsere bescheidensten Forderungen unterstützt hätte, eine unverzügliche Agitation einzuleiten gegen die drohende Gefahr und einen eintägigen Streik zu organisieren, um dem Weltkapital die werdende Bereitschaft des Proletariats, sein Leben gegen die Kriegsbestie zu verteidigen, zu demonstrieren. Aber Diogenes kam mit erloschener Hoffnungslampe zurück und zog aus der Tasche nur einen Resolutionsentwurf, in dem der verehrliche Kongress Herrn Poincaré und den übrigen Halunken mitteilt, dass er durchaus nicht einverstanden sei mit den neuerlichen Versuchen, das deutsche Volk zu erwürgen, und dass, falls Herr Poincaré trotzdem auf diesen Versuch nicht verzichte, er den Unwillen alles in Den Haag versammelten Herrschaften auf sich lade. Und der Haager Kongress lehnte ohne Abstimmung alle unsere bescheidensten Forderungen ab, die darin gipfelten, dass, wenn man gegen die Gefahr eines Weltkrieges kämpfen wolle, man wenigstens nicht die Arbeiter in den Koalitionsstall mit der zum Kriege rüstenden Bourgeoisie hineinziehen dürfe, sondern sie im Gegenteil jetzt schon lehren müsse, täglich gegen Imperialismus und Militarismus zu kämpfen. Der Kongress hinterließ einen Sack voll ungenießbarer Resolutionen, die die Arbeiterbewegung noch hinter die Position zurückversetzten, die die 2. Internationale vor dem Kriege eingenommen hatte. Trotzdem aber hatte der Haager Kongress eine ganz gewaltige Bedeutung. Er war, die Generalprobe für den neuen unerhörten Verrat, der die Arbeiterklasse im Falle eines Weltkrieges erwartet. Er war der Beweis, dass die 2., die 2½ und die Amsterdamer Internationale an einen Kampf gar nicht denken, da sie durch die Ablehnung unserer Resolutionen ihren Willen zur vollständigen Passivität dokumentiert haben. Wir haben dem Kongress keinerlei Heldentaten vorgeschlagen. Wir haben nichts davon gesagt, die Herren sollten bei Kriegsgefahr Revolutionen machen. Im Gegenteil, wir sagten, wenn der Krieg ausbricht und die Arbeiterklasse nicht imstande ist, ihm Widerstand entgegenzusetzen, so wird sie in den Krieg gehen, und dann besteht die Aufgabe darin, alles zu tun, damit dieser Krieg mit der sozialen Revolution endet. Aber diese Aufgabe ist eine Aufgabe des morgigen Tages nach der neuen großen Niederlage des Proletariats. Die jetzige Aufgabe besteht darin, diese große, furchtbare Niederlage, dieses furchtbare Unheil für die Arbeitermassen und für die ganze Welt nicht zuzulassen, besteht darin, die Arbeiterklasse zum täglichen hartnäckigen Kampf gegen den Krieg zu mobilisieren. Nur dann können wir hoffen, dass es gelingen wird, den Krieg zu verhindern. Mit der Ablehnung dieses unseres Gesichtspunktes und der aus ihr folgernden Anträge setzten die 2. und die 2½ Internationale sich ihr Grabkreuz als einer aktiven, gegen den Krieg kämpfenden Macht. Die Ablehnung der Einheitsfront mit den Kommunisten zum Kampf gegen die Kriegsgefahr war nur eine Folge des Verzichts auf den Kampf gegen die Kriegsgefahr selbst. Gleichzeitig eine Folgeerscheinung war auch das Bündnis mit den bürgerlichen Pazifisten, die sich genau wie die Amsterdamer mit Deklamationen gegen den Krieg beschäftigen. Warum sollten sie sich nicht zur Deklamation im Chor vereinigen — klingt es doch eindrucksvoller?

Für jeden auf der Konferenz anwesenden Revolutionär erhob sich nur eine quälende Frage: wozu sind diese Leichname aus ihren Gräbern gekrochen? Wozu haben sie sich zu dieser Konferenz versammelt? Die Erklärung besteht darin, dass die hinter ihnen stehenden Massen voll Unruhe sind, dass diese Massen, die heute noch nicht gegen die Kriegsgefahr kämpfen, doch die kommende Katastrophe spüren und bei dem Gedanken an sie zittern. Diese Massen musste man irgendwie trösten, beruhigen und ihnen irgend einen Hoffnungsstern zeigen. Die Amsterdamer beruhigen sie durch das Trugbild jenes Bündnisses mit der liberalen Bourgeoisie, wie es der Jude tat, der sich im dunklen Wald vor den Räubern fürchtete, sein Käppchen auf die Hand setzte und schrie: wie sind unser zwei, wir fürchten niemanden. Ein solcher Rettungsstern sollte der Völkerbund sein. „Hat etwa“, fragte uns in der Kommission der alte Vliegen, der einst bessere Zeiten gesehen hat, „hat etwa der Völkerbund nicht den Krieg zwischen Schweden und Finnland wegen der Aalandinseln verhindert?“ „Quatsch!“ antwortete ihm sein schwedischer Genosse, der Reformist Engelberg von seinem Platz aus, „weder Schweden noch Finnland haben je daran gedacht, miteinander wegen der Aalandinseln Krieg zu führen,“ Aber dies wird hinter den Kulissen gesprochen, und für die Massen bleibt das Trugbild des Völkerbundes; vielleicht, dass sie daran glauben.

II.

Die Probe aufs Exempel ließ nicht auf sich warten. Am 13. Januar besetzten die französischen Okkupationstruppen unter dem lautlosen Schweigen des internationalen Proletariats das Ruhrbecken, das Herz der deutschen Industrie, das Herz des deutschen Proletariats, das der Druck der französischen Okkupationsarmee zusammenpresst. Der Versailler Vertrag wurde umgestoßen, von neuem werden alle Fragen der europäischen Lage aufgerollt, denn nur ein Dummkopf kann auch nur für einen Augenblick glauben, die Sache werde mit der oder jener Änderung in der Reparationsfrage zu Ende sein. Die Besetzung der Ruhr bildest das Resultat nicht nur der katastrophalen Finanzlage Frankreichs, sondern auch die Folge davon, dass die Franzosen wissen und spüren, die Entente nähere sich ihrem Ende; sie besteht nur mehr infolge der Furcht aller Regierungen vor dem Sprung ins Ungewisse, sie ist jetzt schon zu irgend welchen gemeinsamen Aktionen auf der alten Basis unfähig. Und man fragt sich, was weiter geschehen soll. Kommt ein anglo-amerikanisches Bündnis zustande, das die ganze Welt ökonomisch beherrscht, drücken der siegreiche Dollar und das Pfund den Franc auf das Niveau der Mark herunter, dann fragt man sich in Frankreich, was erst werden wird, wenn England, das gewohnt ist, mit fremden Kräften Krieg zu führen, Deutschland helfen sollte, seine Kriegsmacht wieder aufzubauen. Die Entwicklung der Rolle der Chemie im Kriege ermöglicht die Wiederherstellung der militärischen Macht Deutschlands, sobald es aus seiner Isolierung herauskommt. Man fragt sich, was werden wird, wenn in Deutschland die Revolution siegt und sich die Reihen des deutschen und russischen Proletariats verschmelzen. Und man sucht in Frankreich eine Rettung gegen diese Möglichkeit in der Zerstückelung Deutschlands. In Versailles hat Frankreich auf die Abtrennung der Rheingebiete von Deutschland verzichtet gegen das Versprechen eines Bündnisses mit Amerika und England, das es vor neuen Umgruppierungen der Kräfte sichern sollte. Aber Amerika lehnte die von Wilson eingegangenen Verpflichtungen ab; und die französische Bourgeoisie stellt wiederum die Frage der Zerstückelung Deutschlands auf die Tagesordnung. Für die breitesten Schichten der französischen Kleinbourgeoisie erscheint der Marsch nach Essen nur als ein Mittel, um die deutschen Industriekönige zur Bezahlung der Reparationen zu zwingen. Für die französischen Militärkreise jedoch ist dieser Marsch eine militärische Aktion, deren Resultat die endgültige Verschreibung der Rheinlinie an den französischen Militarismus, sowie die Besetzung des Ruhrbeckens unter der Mündung der Geschütze bilden soll; für die französischen Stahlkönige, für die Leiter des Komitees de Forges ist der Einmarsch in das Ruhrbecken eine Maßnahme, um die Stinnes zur Unterwerfung unter die Loucheurs zu zwingen. Die Zerstückelung Deutschlands, wie auch die Schaffung eines deutsch-französischen Kohlen- und Eisentrusts bedeutet nicht mehr und nicht weniger als ein neues Kapitel in der Geschichte Europas, bedeutet eine derartige Umgruppierung der Kräfte, dass sie trotz aller Versuche der Meister der Diplomatie, die Folgen dieser Umgruppierung abzuschwächen, sich als Neugruppierung für einen künftigen Krieg darstellt.

Die Ruhrbesetzung bedeutet in erster Linie nicht nur die völlige Versklavung von 500.000 deutschen Kohlenbergleuten und Metallarbeitern, des Vortrupps des internationalen Proletariats, sondern sie bedeutet gleichzeitig auch eine katastrophale Verschlechterung der Lage der Arbeiter in ganz Deutschland, und zwar sowohl in ökonomischer als auch politischer Beziehung. Der durch die Bedrohung der nationalen Existenz Deutschlands hervorgerufene Aufflammende Nationalismus in den Massen des Kleinbürgertums bildet die beste Grundlage für die Entwicklung des Faschismus, der heute gegen Frankreich rüstet, um morgen die Waffen gegen die Arbeiter zu kehren.

In ihrer weiteren Entwicklung bedeutet die Ruhrbesetzung einen Versuch, das in Versailles begonnene Werk zu Ende zu führen, einen Versuch, das Schicksal Deutschlands als Kolonie endgültig zu besiegeln. Frankreich stellt seine Forderungen auf, damit die erste Hypothek auf diese Kolonie ihm gehöre. Ob nun diese Angelegenheit in einem bestimmten Stadium mit einem englisch-französischen Vertrag, dessen Folge die Aufteilung des Ertrags der kolonialen Ausbeutung Deutschlands zwischen Frankreich, England und Amerika sein wird, oder ob Frankreich im Ruhrbecken allein bleibt und sich die deutsche Bourgeoisie unterordnet, oder ob Frankreich im Ruhrbecken ohne Kompromiss mit England oder der deutschen Bourgeoisie bleibt, auf jeden Fall geben diese Ereignisse den Anstoß zu neuen ganz gewaltigen politischen, vielleicht aber auch kriegerischen Erschütterungen.

In dieser Situation ist die deutsche Sozialdemokratie, die eine der Stützen der 2. Internationale und der Amsterdamer Internationale bildet, neuerdings gänzlich unter die Führung der Bourgeoisie gekommen. Wie sehr es auch ein Teil der deutschen sozialdemokratischen Presse leugnet, die deutsche Sozialdemokratie hat neuerdings den Burgfrieden mit ihrer Bourgeoisie proklamiert. Aber was haben die Parteien der 2. Internationale in England und Frankreich getan? Sie erschütterten die Luft mit Protesten gegen die Aktionen Poincarés, aber weder die mächtige englische Labour Party, noch die Partei Longuets entschlossen sich auch nur zur gemeinsamen Massendemonstration mit der deutschen Sozialdemokratie, entschlossen sich nicht einmal zu den bescheidensten Versuchen eines internationalen Auftretens. Der Führer der Amsterdamer, Fimmen, reist in Deutschland und in anderen Ländern umher und erklärt der Welt, die auf ein neues Wort von der Arbeiterklasse wartet, dass die Arbeiterklasse machtlos sei, irgend etwas zu tun. Über 20 Millionen organisierte Arbeiter, erklärt Herr Fimmen, sind machtlos, irgend etwas zu tun. Weshalb sind sie machtlos, etwas zu tun? Herr Fimmen weist auf die Spaltung der Arbeiterbewegung hin, aber Herr Fimmen spricht die Unwahrheit. Trotz des Abgrundes, der die Kommunistische Internationale von den Lügen-Internationalen trennt, schlugen und schlagen wir der 2. und 2½ Internationale einen gemeinsamen Kampf gegen die drohenden Gefahren vor. Die deutsche Sozialdemokratie hat im Parlament der Regierung der Schwerindustrie das Vertrauen ausgesprochen, aber sie lehnt kommunistische Arbeiter zum gemeinsamen Kampf ab. Herr Jouhaux und Herr Blum lenken die Blicke des französischen Proletariats nach dem Genfer See, auf dessen Wellen die ‚Jacht der spazieren fahrenden Diplomaten des Völkerbundes schaukelt, aber sie weisen die ihnen von den französischen Kommunisten und revolutionären Syndikalisten entgegen gestreckte Hand zurück, da sie nicht gegen den Imperialismus Poincarés kämpfen wollen. Falls Poincaré stürzt, hoffen sie auf einen Block mit dem bürgerlichen Kapital, mit der Gruppe Herriot und Painleve. Wenn die bürgerlichen Radikalen auch nicht an den Erfolg der Anschläge Poincarés glauben, so wollen sie sich doch dem Nationalismus nicht entgegensetzen, nicht den Vorwurf auf sich laden, sie hätten Herrn Poincaré bei seinem Raubzug gehindert. Sie waschen sich die Hände wie Pontius Pilatus. Die Herren Blum und Jouhaux tun dasselbe, um sich nicht die Möglichkeit eines künftigen Abkommens mit den bürgerlich Radikalen zu verderben. Und in England, wo die Arbeiterpartei wenigstens neun Zehntel der Arbeiter in ihren Reihen hat? Nichts hindert sie, den Kampf aufzunehmen, nur eines: ihr eigener Charakter. Sie entschließt sich nicht einmal, den Bruch mit Frankreich zu fordern, das Aufhören der Unterstützung des französischen Imperialismus, die sich in der Belassung der englischen Truppen am Rhein ausdrückt. Die Belgische Sozialistische Partei diskutierte angesichts der verbrecherischen Beteiligung ihrer Regierung an dem Ruhreinfall viele Tage lang darüber, ob sie sich mit ihrer Regierung gänzlich oder bedingt solidarisch erklären solle.

Aber bezeichnender als alle diese Vorfälle im Lager der 2. und 2½ Internationale ist die Tatsache, dass die Herren Jouhaux und Vandervelde mit großer Energie und Schaum vor dem Munde über die ersten Versuche einer tatsächlichen revolutionären Bewegung gegen die drohenden Gefahren hergefallen sind, über die Streiks der Kohlenbergleute in Frankreich und Belgien, die trotz der Beschränktheit ihrer. Ziele für die Anstifter des imperialistischen Abenteuers einen Schlag in den Rücken bedeuteten. Sie können nicht einmal sagen, sie hätten dies getan, um nicht Stinnes und Krupp zu unterstützen, denn sie wissen genau, dass die deutsche revolutionäre Bewegung stärker ist als die französische und belgische, und dass die geringste Hoffnung auf einen Ausweg aus der internationalen Isolierung genügt hätte, um den Kampf der deutschen Arbeiter zu verschärfen und über das ganze Reich auszubreiten.

Die 2. und 2½ Internationale müssen rasch ihre Hochzeit feiern, die Musikanten des Reformismus haben zu diesem Fest schon die Pauken bereitgestellt, aber keine Pauken überdröhnen die Worte Fimmens von der Machtlosigkeit dieser Internationalen, keine Festlichkeiten verhüllen das Bild ihrer verräterischen Untätigkeit angesichts der nahenden Katastrophen.

III

Die Kommunistische Internationale und die Profintern haben sich keinen Augenblick einer Illusion bezüglich des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in Europa hingegeben. Der vierte Kongress der Komintern hat offen ausgesprochen, dass wir uns in einer Periode der Offensive des Kapitals befinden, d. h., dass bei dem Kampf die Initiative in den Händen unserer Feinde liegt. Aber keinen Augenblick haben Komintern und Profintern von der Machtlosigkeit der Arbeiterklasse gesprochen, weil diese Phrase der Wirklichkeit nicht entspricht und den Willen zur Untätigkeit verbirgt. Die Ruhrereignisse waren nur infolge der Untätigkeit der Arbeiterklasse möglich. Sie verschärften den Zerfall des internationalen Kapitalismus derart, dass sie den Grund zum Beginn neuer Aktionen der proletarischen Massen legen. Sie machen diese Aktionen nicht nur mit jedem Tag notwendiger, sondern auch mit jedem Tage möglicher, Die Kommunistische Internationale hat versucht, den ersten gemeinsamen Kampf der deutschen und französischen Arbeiter zu organisieren, und wenn sich dieser Kampf auch erst im Anfangsstadium befindet, stellt er doch einen wichtigen Schritt nach vorwärts dar, der in sich die größten Möglichkeiten und Folgen birgt. Die französischen und die deutschen Kommunisten haben eine gemeinsame prinzipielle Position eingenommen und unternehmen alles, um den gemeinsamen Kampf sowohl gegen den deutschen als auch gegen den französischen Kapitalismus zu verschärfen. Sie sind bereits zur praktischen, gemeinsamen Arbeit im Ruhrgebiet zusammengekommen, zu einer Arbeit, die sich verstärken und ausdehnen wird und die gegen den Block Stinnes und Loucheur den Block der französischen und deutschen Arbeiter schaffen wird, den Block, der auch für den Fall, dass Stinnes und Loucheur es vorziehen sollten, zu kämpfen, sich als eisern erweisen wird. Gleichzeitig aber wendet sich die Komintern bei ihrer Arbeit an die Arbeitermassen und ruft die Sozialdemokraten und Parteilosen zum gemeinsamen Kampf mit ihr, zur Einheitsfront gegen die Bourgeoisie auf.

Wir sind überzeugt, dass, wie sehr auch die verräterischen Führer der 2. und 2½ Internationale unsere Vorschläge gemeinsamer Aktionen ablehnen mögen, unsere nachdrücklichen Anträge zu einer selbständigen Aktion der Komintern in naher Zukunft ihre Früchte tragen werden. Auf jeden Fall muss man jetzt schon sagen: die Periode des Aufschiebens selbständiger Aktionen, der Propaganda der Einheitsfront halber, ist vorbei.

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