Karl Radek 19110731 Was steht auf dem Spiele?

Karl Radek: Was steht auf dem Spiele?

[„Bremer Bürger-Zeitung” Nr. 170, 31. Juli 1911]

[Unser Berliner K.R.-Mitarbeiter schreibt uns:]

Die Rede des englischen Ministerpräsidenten bestätigt unsere Ausführungen über die Rolle Englands in der Marokkokrise im vollen Umfange, obwohl sie der Ausdrucksweise nach beschwichtigend erscheint. Ihr Schwerpunkt liegt auf den folgenden Feststellungen: der Stand der deutsch-französischen Verhandlungen erregt Besorgnisse, d.h. de deutsche Regierung hat Forderungen gestellt, die Frankreich zu bewilligen für unmöglich hält. Weiter: Die Forderungen bewegen sich nicht auf dem Gebiete Marokkos, sondern der Entschädigungen, England kann also so lange an den Verhandlungen nicht teilnehmen, als es sich nicht herausstellt, dass die Art oder der Umfang der Kompensationsgeschäfte den englischen Interessen zuwiderläuft, oder dass die beiden Mächte die Bemühung um die Lösung der Frage in dem Rahmen des deutsch-französischen Abkommens einstellen. In diesem Falle greift England ein. Zum Schluss: England hält es für nötig schon jetzt zu erklären, dass es Augenblicke gab, wo es annahm, dass seine Interessen geschädigt werden. Jetzt nimmt es dies nicht an, aber sein Urteil muss es bis zu dem Auenblick für sich behalten, wo Ergebnisse der deutsch-französischen Verhandlungen vorliegen werden.

Wie wir sehen, spricht Asquith in allgemeiner Form dasselbe, was wir in konkreter als den englischen Standpunkt hier geschildert haben. Er kann diesen Standpunkt darum nicht in konkreter Form klarlegen, er kann nicht erklären: bei diesen oder jenen Forderungen greifen wir zum Schwert, — weil England offiziell an den Verhandlungen zwischen Berlin und Paris nicht beteiligt ist. Dass aber seine Rede keine Friedensfanfare ist, ergibt sich nicht nur aus ihrem Inhalt, sondern auch aus der Erklärung Balfours, des Führers der Imperialisten, dass diese durch dick und dünn mit der Politik des liberalen Kabinetts gehen werden. Diese Erklärung des Führers der englischen Alarmisten, abgegeben im Moment, wo der Kampf zwischen den Liberalen und Unionisten am schärfsten geführt wird, ist vielleicht noch charakteristischer als das, was Asquith auszuführen für nötig hielt. Denn wenn die Imperialisten von der Politik der Liberalen befriedigt sind, so haben ganz gewiss nicht die Imperialisten nachgegeben.

Was ist also das Kennzeichen der Marokkolage? Krieg in Sicht, ein englisches Ultimatum an Deutschland, wie schon eine englische sozialdemokratische Korrespondenz zu melden wusste? Jedenfalls die Möglichkeit der Verschärfung der Lage bis hin zu Kriegsdrohungen und die Notwendigkeit der proletarischen Protestation.

Ein Blick auf die Lage beweist das. Wir halten uns an die jetzt gegebene Situation, wo das Spiel zwischen zwei direkt und einer indirekt mitwirkenden Macht vor sich geht. Aus allem, was über die Verhandlungen hervorsickerte, kann man die Position Deutschlands folgendermaßen charakterisieren: Deutschland leistet Verzicht auf politische Festesetzung in Marokko, wofür es Minenkonzessionen in Sus, Freiheit wirtschaftlicher Betätigung in ganz Marokko und Entschädigung aus den französischen Kolonien im übrigen Afrika fordert. Frankreich will diese Forderungen prinzipiell gewähren, aber es will in der Praxis die kolonialen Abtretungen auf das Minimum herunterdrücken. England unterstützt, wie schon ausgeführt, diese Politik Frankreichs und wacht dabei über seine maritimen Interessen. Wir nehmen also die friedlichste von allen möglichen Situationen, d.h. wir abstrahieren von dem Bestehen einer Richtung in England, Deutschland und Frankreich, die der Meinung ist, es sei besser heute als morgen vom Leder zu ziehen; wir abstrahieren von der Möglichkeit, für deren Annahme selbst in der jetzigen Situation Anzeichen bestehen, dass England an dem Nichtzustandekommen eines deutsch-französischen Abkommens gelegen ist, nicht nur weil dann Frankreich bei einer internationalen Lösung der Marokkofrage auf die Unterstützung seitens Englands angewiesen ist, sondern auch, weil England hofft, dann trotz einer politischen Desinteressierung an Marokko im Jahre 1904 aus der Chose noch Kapital für sich zu schlagen. Das alles lassen wir beiseite und halten uns in der Beurteilung der Lage neben den tatsächlichen Hauptmomenten an die bestimmenden taktischen Momente.

Die ganze jetzige Marokkokrise ist ein Produkt der serbisch-österreichischen Konflikte. Der damalige Sieg des Dreibundes bedeutete die Durchbrechung der englischen Einkreisungspolitik und brachte dem deutschen Imperialismus neben einigen namhaften Erfolgen ein gesteigertes Machtgefühl. Das musste bei der bevorstehenden offenen oder verhüllten Liquidation der Marokkofrage zum Ausdruck gelangen. Ein Zurückweichen würde hier ein Zurückgeworfenwerden bedeuten. Darum, will man den Ernst der Situation ermessen, darf man sich nicht mit Schlagworten wie Zickzackkurs oder Bluffpolitik beruhigen. Dem deutschen Imperialismus ist es bitter ernst um die Sache, denn es handelt sich für ihn nicht nur um den sachlichen Wert der zu erzielenden Erfolge, sondern auch um die Probe aufs Exempel, um die Ausmessung der Kräfteverhältnisse. Er setzt einen großen Einsatz auf die Karte, und es gilt damit zu rechnen, dass er gewillt ist, die Probe zu bestehen. In solchen politischen Wendepunkten kann die Lage die ernsteste Gestalt annehmen: denn selbst wenn die englische Regierung nicht mit demselben Ziel in die Kampagne eingetreten sein würde, kann sich eine Situation ergeben, wo sie den Handschuh aufzunehmen genötigt sein wird; andererseits wieder kann eine den deutschen Imperialismus reizende Form der englischen Einmischung eine ernste Wendung der Situation ergeben, die an und für sich lösbar ist.

Wir sagen also: es wäre ganz unbegründet, die Sache nur vom Standpunkt der in Marokko existierenden oder entwicklungsfähigen Interessen des deutschen Kapitals, der sich kreuzenden Einflüsse verschiedener Gruppen deutscher Kapitalisten auf die Haltung der Regierung zu betrachten. Sie ist viel ernster. Wir malen die Situation in dieser Farbe keineswegs aus agitatorischen Gründen. Die aktuelle Agitation gegen die Kriegsgefahr würde an Kraft einbüßen, wen die Kriegsgefahr nur in unserer Phantasie bestehen würde, und wir sind ganz mit dem Gen[ossen] Beer einverstanden, dem wir oft hier entgegentraten, wenn er in der Chemnitzer „Volksstimme“ erklärt, die Situation enthalte ernste Momente als die im Frühjahr 1909. Dem ist so, schon darum, weil während der serbisch-österreichischen Krisis ein Faktor, die Schwäche Russlands, exakt berechenbar war, während in der jetzigen Lage das Kräfteverhältnis sich nur im Kampfe messen lässt, und alle drei in erster Linie in Betracht kommenden Mächte annehmen können, dass die Gegenseite in letzter Stunde ausweichen wird. Wir lassen dabei natürlich die Gegentendenzen nicht aus dem Auge. Als solche ist die gute wirtschaftliche Konjunktur zu nennen und die Angst vor dem großen Ungewissen, wie es ein Zusammenprallen dreier Großmächte bedeutet, was verursachen kann, dass alle drei Mächte schließlich auf Kompromisse eingehen werden. Aber darum würden wir doch die Friedensseligkeit, wie sie manche Parteikreise charakterisiert, für gar nicht am Platze halten.

Wie hier schon mehr als einmal ausgeführt war, hat das Proletariat keine genügende Kraft, der Politik des Imperialismus Einhalt zu gebieten, weil in ihr die wichtigsten Interessen der einflussreichsten Schichten des Kapitals zum Ausdruck kommen, und weil sie geistig die Ideologie des ganzen Bürgertums mehr oder weniger beherrscht. Aber die Protestaktion des Proletariats ist einer der Faktoren, die den Kriegstendenzen entgegenwirken. Nur gilt es, den besitzenden Klassen die Einsicht einzuhämmern, dass es sich nicht um bloße Worte handelt, sondern um Worte, hinter denen der Wille zur revolutionären Tat steckt. Dieser Endruck kann natürlich nicht durch vereinzelte Versammlungen erreicht werden, sondern nur durch eine allgemeine Versammlungsaktion im ganzen Reiche, die in den zentralen Momenten durch international organisierte Proteste, verstärkt werden muss. Wenn darum die Genossin Luxemburg mit ihrem Vorwurf des Fehlens einer Initiative seitens des Parteivorstandes völlig Recht hatte, so kann man der Partei und ihren lokalen Organisationen nicht den Vorwurf ersparen, dass sie ihre Pflichten in der Frage zu wenig ernst und selbständig nehmen. Natürlich lässt das sich durch die Jugend des deutschen Imperialismus erklären, aber in diesem Augenblick handelt es sich nicht um die Erklärung der Fehler, sondern nur ihre Vermeidung.

Darum Agitation und Aktion gegen den deutschen Imperialismus auf der ganzen Linie!

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