Karl Radek 19230820 Die Regierung Stresemann. Die Lehren der Demokratie.

Karl Radek: Die Regierung Stresemann. Die Lehren der Demokratie.

[Internationale Pressekorrespondenz, Nr. 135, 20. August 1923, S. 1173-1175]

Am Mittwoch, den 8. August, trat im deutschen Parlament der deutsche Reichskanzler Cuno mit einer großen Rede auf. Die Kommunisten empfingen ihn mit einer Demonstration:

Nieder mit dem Bankrotteur! Lebender Leichnam!” — schallte es von den Bänken der kleinen kommunistischen Reichstagsfraktion. Der Reichstag hörte die Rede des Reichskanzlers stillschweigend an, denn wie sollte er auf die Worte, Worte und nochmals Worte reagieren, die sich von dem Rednerpult ergossen, und an die keiner glaubte. Der Reichskanzler sprach gegen die Hoffnungen auf die Hilfe Englands. Doch wer anders als seine Regierung erweckte diese Hoffnungen? Der Reichskanzler sprach davon, dass Deutschland sich selbst durch eine aktive Politik helfen müsse. Er hatte kein Programm einer aktiven Politik. Der Reichskanzler sagte, dass die besitzenden Klassen für die Rettung der Nation große Opfer bringen müssten und legte ein Programm vor, das wie Hohn auf die Leiden Deutschlands, auf seinen Zerfall klang.

Nach dem Reichskanzler ergriffen Vertreter aller bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie das Wort. Sie wiederholten in den verschiedensten Tonarten dasselbe, was der Reichskanzler gesagt hatte. Kein einziger ihrer Redner wagte selbst das zu wiederholen, was gegen die Regierung Cuno alle bürgerlichen Zeitungen ohne Ausnahme geschrieben hatten. Denn wenn der Schriftsteller schreibt, liest der Leser, und es geschieht weiter nichts. Wenn man aber im Parlament gegen die Regierung stimmt, kann sie stürzen. Und wen soll man dann auf ihren Platz stellen? Keiner keine einzige der bürgerlichen Parteien weiß, wie aus der Lage herauszukommen, und deshalb wollte keine einzige der bürgerlichen Parteien die Initiative zum Sturz der Regierung Cuno ergreifen.

Die sozialdemokratische Presse heult gegen Cuno. Einige Tage vor der Eröffnung des Reichstags beschloss ein Teil der sozialdemokratischen Fraktion auf der Weimarer Konferenz, den Rücktritt Cunos zu fordern. Doch die Mehrheit der Reichstagsfraktion lehnte diese Forderung ab. Die Regierung Cuno, das war die Regierung des rechten Flügels der Stinnespartei, des rechten Flügels der Zentrumspartei und der Demokraten, bei denen sich der rechte Flügel durch nichts vom linken unterscheidet. Sollte man Cuno beseitigen und durch eine andere Person; den Vertreter einer anderen Kräftekombination, ersetzen, so waren für die bürgerlichen Parteien nur zwei Kombinationen möglich: entweder tritt in den Stinnes-Zentrum-Demokraten-Block auch die Sozialdemokratie ein; das fürchteten die Sozialdemokraten, da sie wussten, dass mindestens die Hälfte der Arbeiter ihrer Partei gegen eine Koalition mit Stinnes ist. Die zweite Kombination die Schaffung eines Blocks der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Demokraten war unmöglich, da sowohl die Zentrumsleute, als auch die Demokraten sich von der Stinnes-Partei, der Deutschen Volkspartei, nicht trennen wollten.

Somit verweigerte keine einzige bürgerliche Partei das Vertrauen, das Cuno in seiner Rede forderte. Die Sozialdemokraten versuchten lediglich, hinter den Kulissen Cuno zu bewegen, ihnen keine Unannehmlichkeiten zu machen und keine formelle Abstimmung in der Vertrauensfrage zu verlangen. “Der Wille der Nation” erklärte sich somit durch den Mund des Reichstages für die Cuno-Regierung, da wie bekannt, nach der demokratischen Theorie, das “demokratische Parlament der beste Ausdruck des Willens der Nation” ist. Dieser Ausdruck des Willens der Nation gelangte in Widerspruch zu einer anderen Abstimmung der Nationsvertreter. Die Börse senkte tagtäglich den Wert der Mark und stimmte so unausgesetzt für das Misstrauensvotum gegen die Cuno-Regierung. Die Arbeiter stimmten für das Misstrauensvotum, indem sie aufs energischste demonstrierten und streikten. In Chemnitz allein demonstrierten 150.000 Arbeiter, Kommunisten und Sozialdemokraten, die den Rücktritt der Cuno-Regierung forderten. Da aber das Parlament nicht wusste, was zu tun, so beschloss es, dass für diesen Zweck am besten Herr Cuno taugte, der ebenfalls nicht wusste, was zu tun sei. Am Freitag verkündeten die Zeitungen, dass es keine Regierungskrise gebe, dass vielleicht gewisse Änderungen in der Zusammensetzung der Cuno-Regierung vorgenommen werden, aber nicht mehr. Das Zentralorgan der Sozialdemokratie erklärte am Freitag, dass in der Person des Herrn Hermann Müller, der im Namen der Sozialdemokratie gesprochen hatte, das “Gehirn der Arbeiterklasse” zu Worte gekommen sei.

Doch das Gehirn der Arbeiterklasse in der Person des Herrn Müller sagte nicht das, was die Arbeiter sagten. Am Sonnabend begann der Buchdruckerstreik, der Streik der Straßenbahner und Eisenbahner. Das “Gehirn” der Arbeiterklasse bekam auf diese Weise neue Impulse. Der Streik der Buchdrucker war am fühlbarsten. Deutschland deckt gegenwärtig zwei Prozent seiner Ausgaben (wir wiederholen: zwei Prozent) durch Steuern. Der Buchdruckerstreik stellte die Reichsbank vor die Unmöglichkeit, weiter ‘Papiergeld‘ auszugeben. Die Geschäfte waren geschlossen. Die Polizei unternahm einen Angriff gegen die Redaktion des Zentralorgans unserer Partei, das zur Ausdehnung des Streiks aufforderte. Doch die Redaktion des Zentralorgans unserer Partei druckt kein Geld. Deshalb konnte das Verbot der Zeitung auf einen Tag und der Prozess wegen Hochverrats den Sturz der Regierung nicht aufhalten. Die Sozialdemokraten entschlossen sich zum Sprung. Sie stellten die Forderung des Rücktritts Cunos. Cuno reichte seinen Abschied ein. Deutschland und die ganze Welt erhielten eine handgreifliche Lehre, dass die berühmte Demokratie und der Parlamentarismus in unseren Tagen der schweren Not und der großen Gegensätze eine Wand sind, auf der Schatten tanzen.

Die Regierung Cuno

Was stellte die Regierung Cuno vor? Sie war die Regierung der deutschen industriellen Bourgeoisie. Sie wurde nicht von Herrn Cuno, sie wurde von Herrn Becker geleitet. Eine Vereinigung des Junkers, des Kapitalisten mit dem Bürokraten. Becker war der Vertreter Stinnes‘ in der Regierung. Herr Cuno, der von der Beamtenkarriere in den Dienst der größten deutschen Dampfschifffahrtsgesellschaft der so genannten Hamburg-Amerika-Linie, übergetreten ist, stand persönlich im Gegensatz zu Stinnes. Er ist gerade deshalb vorgeschoben worden, um die Tatsache zu verschleiern, dass seine Regierung die Politik Stinnes vertritt. Er ist ein Mann ohne irgendwelche politische Erfahrung. Ohne Unterstützung einer bestimmten politischen Partei, war er ein Spielzeug in den Händen Beckers, hinter dem die Volkspartei stand. Die zweite Geige spielte in der Regierung Herr Hermes, ein Mann der Börse.

Welche Linie hatte die Regierung Cuno? Sie gelangte zur Macht als eine Folge einerseits des Erstarkens der deutschen Trusts, die sich auf die faschistischen Organisationen stützten, und andererseits als Folge der wachsenden Gegensätze zwischen den Alliierten. Die deutsche Bourgeoisie spekulierte auf die Versumpfung, auf die Inaktivität der Sozialdemokratie und auf die Gegensätze zwischen England und Frankreich und beschloss, die Revision des Versailler Friedens und eine neue Abmachung mit der Entente zu erreichen, die es erlauben würde, die Reparationsfrage auf Kosten der deutschen werktätigen Massen zu lösen, auf dem Wege der Verlängerung des Arbeitstagen und der Herabsetzung des Reallohnes. Als es aber zu keiner Verständigung zwischen England und Frankreich in Bezug auf die neue Festsetzung des deutschen Zahlungsbetrages kam, und die Regierung Cuno, die so große Hoffnungen auf eine feste Politik gegenüber der Entente erweckt hatte, ihrerseits keine Frankreich zufrieden stellende Vorschläge zu machen wagte, beschloss Poincaré, zu handeln. Er besetzte das Ruhrgebiet. Es begann ein Ringen, das den ganzen Streit zwischen Deutschland und Frankreich zugunsten des ersteren entscheiden konnte. Dazu war nur erforderlich, dass die Regierung Cuno sei es auch nur zeitweise, auf die Verschlechterung der Lage der Arbeiterklasse verzichtete und die Kapitalisten, um Mittel für den Ruhrkampf zu mobilisieren, mit Steuern belegte, und Frankreich gegenüber bewies, dass es durch Gewaltanwendung kein Geld bekommen könne. Die Regierung Cuno befand sich in einer außergewöhnlichen, historischen Lage; Eine Regierung der Feinde der Arbeiterklasse, genoss sie tatsächlich eine gewisse Zeit im Kampfe gegen den französischen Imperialismus die Unterstützung der gesamten Arbeiterklasse. Denn, obgleich die Kommunisten eine Agitation gegen die Regierung führten, die auf keinen Augenblick vor den Volksmassen das Wesen dieser Regierung verschleierte, so traten auch sie für den Widerstand gegen den französischen Imperialismus ein. Sie taten das nicht zugunsten von Herrn Cuno und seiner Regierung. Sie gingen dabei von dem Interesse des Vortrupps der deutschen Revolution aus, das darin bestand, das Herz der Revolution das Ruhrbecken, nicht dem französischen Imperialismus auszuliefern. Sie taten das, in der festen Überzeugung, dass die Bourgeoisie nicht verstehen würde, das Ruhrgebiet zu verteidigen, und dass die Führung im Kampfe In die Hände der revolutionären Arbeiterklasse übergehen wird. Welches auch ihre Beweggründe und Berechnungen waren. Herr Cuno und die deutsche Bourgeoisie hätten sich darauf Stützen können, dass die Interessen der beiden feindlichen Klassen Deutschlands vorübergehend gleichgerichtet waren, wenn nur die deutsche Bourgeoisie es verstanden hätte, für ihre gemeinsamen weiteren Interessen, wenn auch nur für ein Jahr, den Gewinn zu opfern.

Im Frühjahr 1924 sind in Frankreich Wahlen, und wenn Poincaré bis dahin es nicht verstehen wird, aus der Ruhr Kohle und Eisen zu bringen, sondern selbst gezwungen sein wird, ungeheure Summen für die Ruhrexpedition zu verausgaben, so wird er und mit ihm der Nationale Block gestürzt. Das ist klar. Doch die deutsche Bourgeoisie, die während des Krieges die Volksmassen ausraubte, die mit dem Geschrei von der Verteidigung des Privateigentums gegen den Bolschewismus es nach dem Kriege so gut verstanden hat, das deutsche Kleinbürgertum so gründlich auszuplündern, wie es keine Arbeiterrevolution getan hätte die deutsche Bourgeoisie wollte auch den Ruhrkrieg auf dem Rücken und auf Rechnung der Arbeiterklasse gewinnen. Statt ein, finanzielles Steuerprogramm durchzuführen, das der Regierung aus den Profiten der Bourgeoisie die Mittel für die Zahlung des Lohnes, den Arbeitern im Ruhrgebiet die Mittel für den Kampf gegen die Teuerung geliefert hätte, begann die deutsche Regierung, eine Billion nach der andern zu drucken, um den Industriellen, denen die Franzosen die Warenausfuhr aus dem Ruhrbecken verboten hatten, Mittel für den Unterhalt der Arbeiter zu geben, eine Billion nach der andern, um den Industriellen Mittel zu geben zum Einkauf ausländischer Valuten, die, ihnen zum Kauf von Kohle und ausländischen Rohstoffen nötig waren. Infolgedessen hat sich die im Umlauf befindliche Geldsumme von April bis Juli von 2000 auf 70 000 Milliarden Mark erhöht, und der Dollarkurs sprang von 20 000 Mark auf 7 Millionen.

Die dementsprechend steigende Teuerung hatte eine Streikwelle zur Folge, und die Regierung, die unter der Losung der Verteidigung Deutschlands gegen die Entente zur Macht gelangt war, wandte sich im Briefe Dr. Lutterbecks an den Befehlshaber der französischen Okkupationstruppen General Degoutte, mit der Bitte, ihr die Einführung deutscher Truppen zur Unterdrückung eines nicht existierenden Arbeiteraufstandes zu genehmigen. Dieser Brief war nicht nur der Ausdruck des Bankrotts der Politik Cunos, er war die Folge des Wunsches, zu kapitulieren, nachdem man sich orientiert hatte, dass in dieser Lage ein weiterer Kampf an der Ruhr unmöglich sei. Der Wirtschaftsminister, Herr Becker, stelle einen sehr geistreichen Plan auf: Eine große Streikbewegung hervorzurufen, die Faschisten gegen sie zu werfen, in ganz Deutschland das Geschrei zu erheben, dass die Kommunisten durch ihren Aufstand den Franzosen die Frönt geöffnet haben, und dass die Regierung dadurch gezwungen sei, den Widerstand an der Ruhr aufzugeben und zu einer Abmachung mit den Okkupanten zu gelangen.

Die Zentrale der Kommunistischen Partei zwang die Regierung Cuno, die Vorbereitungen zum Aderlass einzustellen, der gegen die Ruhrarbeiter geplant war. Von diesem Augenblick an verstand es die Regierung Cuno nicht, irgendetwas Neues auszudenken. Einfach kapitulieren konnte sie nicht, denn die faschistischen Organisationen, die sie unter der Losung der Verteidigung der Ruhr zum Handeln aufgerufen hatte, würden angesichts der Kapitulation aufhören, ihre Waffe zu sein. Die deutschen weißgardistischen Kreise sahen in der Regierung Cuno ihr Aushängeschild. Sie strebten nicht zur Machtergreifung, da sie fürchteten, dass die Entente und in erster Linie Frankreich ihnen noch schwerere Bedingungen, als der Regierung Cuno, diktieren würde, und dass sich die Arbeiterklasse gegen die offene Diktatur Ludendorffs, Stinnes und Helfferichs erheben würde. Doch die weißen Organisationen Deutschlands bestehen außer aus den Elementen, die bewusst im Interesse der Großgrundbesitzer und der Schwerindustrie handeln, aus der Masse des proletarisierten und aus der Bahn geschleuderten Offiziersstandes, des Studententums, des Kleinbürgertums, die von dem leidenschaftlichen, brennenden Wunsche erfüllt waren, das Land gegen den siegreichen französischen Imperialismus zu verteidigen. Dieser Tage erzählte einer von den führenden Schriftstellern des deutschen Nationalismus, Möller van den Bruck, dass zu Beginn der Ruhrereignisse Dutzende junger Leute zu ihm kamen und erklärten, dass, wenn die Bourgeoisie Verrat üben würde, sie zu den Kommunisten gehen würden. Herr Cuno und seine Regierung fürchteten den Aufstand der nationalistischen Organisationen und verwickelten sich im Netze ihrer eigenen Widersprüche. Während dieser Zeit fiel die Mark katastrophal, die Not der Arbeiter und der kleinbürgerlichen Massen wuchs. Der Versuch, die nationalistischen kleinbürgerlichen Massen gegen die Arbeiterschaft zu werfen, gelang bis zu dieser Zeit nicht, dank der geschickten Politik der Kommunistischen Partei, die es verstanden hat, die Mobilisierung der Arbeitermassen gegen die Gefahr der bewaffneten nationalistischen Organisationen mit der Politik der Agitation unter dem proletarisierten nationalistischen Kleinbürgertum zu verbinden, einer Politik, die beginnt, den kleinbürgerlichen Massen die Augen über die tatsächliche Lage Deutschlands zu öffnen, darüber, dass sie nicht der Befreiung Deutschlands von dem Joche der ausländischen Kapitalisten dienen, sondern der Verständigung der deutschen Kapitalisten mit den französischen auf Rechnung des deutschen Volkes. Herr Cuno wurde bankrott. Jetzt ist er vom Kanzlerposten beseitigt.

Stresemann

Nicht nur Cuno hat bankrott gemacht, Bankrott gemacht hat seine Politik. Aber was für eine neue Politik kann Herr Stresemann zusammen mit der Sozialdemokratie führen, die sich entschlossen hat, Herrn Cuno zu ersetzen? Eine Antwort darauf gibt die Vergangenheit des Herrn Stresemann.

Herr Stresemann, der Sohn eines kleinen Berliner Kaufmanns, begann nach Beendigung des Universitätsstudiums seine politische Karriere auf dem linken Flügel der deutschen Bourgeoisie. Er gehörte zur kleinen Partei des Pastors Naumann, zur so genannten national-sozialen Partei. Diese Partei wollte die Unterstützung des deutschen Imperialismus vereinigen mit einer Politik weitgehender sozialer Reformen. Naumann war nicht nur der beste Redner des deutschen Parlaments, sondern auch ein genügend verständiger Mensch, um zu begreifen, dass es unmöglich war, eine Politik der imperialistischen Expansion, die mit dem Weltkrieg drohte, zu führen, ohne gleichzeitig eine Arbeiter-Aristokratie zu schaffen, die an der Unterstützung des Imperialismus interessiert sein würde. Und er stellte in seinem bekannten Buche “Demokratie und Kaisertum”, in seiner Zeitschrift “Die Hilfe” und in seinen Jahrbüchern “Das Vaterland” Programme auf, die den Imperialismus, der durch den Kaiser verkörpert war, und die Arbeiterklasse verbinden sollten. Er strebte nach einer Demokratisierung der Staatsformen, nach sozialen Reformen und führte auf dieser Grundlage eine breite Agitation, vor allen Dingen unter der Intelligenz. Seine Politik erlitt Schiffbruch; denn die Sozialdemokratie die in der Zeit des Krieges in der Tat die Politik Naumanns durchführte, war damals für diese Politik noch nicht reif. Er erlitt auch deshalb Schiffbruch, weil die alte Junkerklasse an keine Demokratie glaubte und mit allen Kräften alle Vorrechte des junkerlichen kapitalistischen Deutschlands verteidigte. Herr Stresemann verließ bald die Reihen der Naumannschen Gruppe und gab jedes Spielen mit der Demokratie und mit Reformen auf; er trat in die Nationalliberale Partei ein, die Hauptpartei des deutschen Imperialismus vor dem Kriege. Noch ganz jung, wurde er Sekretär der Gesellschaft der sächsischen weiterverarbeitenden Industrie und mit ihrer Hilfe kam er als Kandidat der Nationalliberalen Partei ins Parlament.

In der Partei der Nationalliberalen ging ein Kampf zwischen der Schwerindustrie und der verarbeitenden Industrie vor sich. Stresemann war der Hauptvertreter der Interessen der letzteren. Da vor dem Kriege die Eisen- und Kohlenkönige die mittlere Industrie noch nicht vollkommen überflügelt hatten, trat Stresemann mit jedem Jahre mehr hervor und wurde nach dem Tode Bassermanns, des Führers der Partei, ihr parlamentarischer Führer.

Während des Krieges gehörte Stresemann zu den entschiedensten Vertretern des Kampfes bis zum Ende und war Verfechter des Unterseebootkrieges gegen England, wie er überhaupt zu der England feindseligsten Richtung des deutschen Kapitalismus gehörte.

Der Krieg endigte mit der Auflösung des deutschen Imperialismus durch die deutsche Revolution und mit einer Umgruppierung der Parteien. Aus der alten Nationalliberalen Partei wurde die Volkspartei geschaffen. Stresemann tauchte an ihrer Spitze auf. Doch während dieser Zeit hatte sich das Schwergewicht in ganz unerhörtem Maße auf die Seite der Schwerindustrie, mit Stinnes an der Spitze, verschoben. Einige große Trusts begannen über dem ganzen ökonomischen und politischen Leben der deutschen Bourgeoisie zu herrschen. Stinnes erobert nicht nur eine ökonomische Stellung nach der anderen, sondern auch eine Zeitung nach der anderen. Er diktiert der Volkspartei ihre anti-republikanische, anti-demokratische Linie, er ist umgeben von einem Stab ehemaliger See- und Landoffiziere, seiner hauptsächlichsten politischen Berater, und lehnt die Politik der Erfüllung des Versailler Vertrages ab, in der Hoffnung, dass, wie jeder Koalitionskrieg, so auch der durch die anglo-französische Koalition errungene Sieg schließlich zum Kampfe zwischen den früheren Verbündeten führen werde, der es dann erlauben werde, die Lasten, die Deutschland durch die Entente auferlegt wurden, zu verringern.

Stresemann bläst in Stinnes Horn. Aber der Raubzug der Trusts der Schwerindustrie, die Steuern, die sie der Arbeiterklasse und der Kleinbourgeoisie, aber auch der weiterverarbeitenden Industrie auferlegen, zwingen diese, zur Verteidigung ihrer Interessen aufzustehen. Exponent dieser Politik ist wiederum Stresemann. Er sucht Unterstützung in den neuen Gruppierungen der Kapitalisten, die im Prozess des ökonomischen Zusammenbruchs Deutschlands entstanden waren, eines Prozesses, der auch gleichzeitig zur Entstehung einer ganzen Reihe neuer größerer und kleinerer Trusts führte, die mit den alten Magnaten, wie Haniel, Krupp und dem während des Kriegs zur Macht gelangten Stinnes konkurrierten. Stresemann stützt sich auf den Konzern Otto Wolff, einen Konzern, an dessen Spitze der russische Jude Litwin steht, der ihm die Mittel zur Herausgabe von Zeitungen, die von Stinnes unabhängig sind, gibt. Es ist selbstverständlich, dass Stresemann genügend Verstand hatte, um zu begreifen, dass er sich im Falle eines Kampfes mit Stinnes auf die demokratischen Massen stützen müsse, dass er eine auswärtige Politik befürworten müsse, gegen die die Sozialdemokratie eine Partei, die vor jeder Erschütterung zurückschrickt nicht aufstehen würde. Stresemann beginnt seine Agitation auf dem Boden zu führen, dass der Staat wichtiger als die Wirtschaft sei und dass es, wenn es zur Rettung Deutschlands notwendig sei, der Entente mehr zu zahlen, dann gar keinen Sinn habe, es wegen der einen oder anderen Milliarde zu Konflikten zu bringen.

Er beginnt von Opfern zu sprechen, die das Kapital bringen müsse. Gleichzeitig sucht er Annäherung an England, wo er als Gegengewicht gegen den Reichskanzler Wirth gilt, den der englische Imperialismus für einen Verfechter einer französisch gerichteten Politik hält. Aber in dem Maße, wie es für jeden klar wird, dass England sich Deutschlands wegen mit Frankreich nicht schlagen wird, beginnt Herr Stresemann auch für einen Kompromiss mit Frankreich einzutreten. Die letzten Gedanken Stresemanns kann man nicht in seinen Artikeln suchen, sondern in Artikeln Georg Bernhards, des Redakteurs der “Vossischen Zeitung”, eines Organs, das die so genannte Kontinental-Politik predigt, eine Politik des Zusammenschlusses der europäischen Staaten gegen England. In dieser Zeitung, die formell zur Demokratischen Partei gehört, bringt Herr Stresemann von Zeit zu Zeit seine Artikel unter. In dieser Zeitung erschien auch ein Artikel des Kommerzienrats Litwin, in dem ein Programm entwickelt wurde, nach dem Deutschland einen Teil seiner Industrieaktien an Frankreich abtreten sollte. Die Presse Stinnes, die die letzten Gedanken Stresemanns gut kennt, hat schon die Hetze gegen ihn als Kapitulanten vorbereitet; denn Herr Stinnes hofft immer noch, zu einer solchen Vereinbarung mit Frankreich zu kommen, durch die er zum Herrn des französisch-deutschen Kohlen- und Stahltrustes werden wird. In der faschistischen Presse wird Stresemann als neuer Erzberger dargestellt und man bedroht ihn mit dem Schicksal dieses Finanzministers, der von den Nationalisten ermordet wurde. In seiner Rede, die Herr Stresemann am Donnerstag im Reichstag hielt, erklärte er sich für die weitere Verteidigung des Ruhrbeckens und für eine Besteuerung der Bourgeoisie, um die Mittel zur Verteidigung zu erlangen. Aber gleichzeitig versuchte er, wie er das mehrmals tat, in seinem Artikel den Weg zu Verhandlungen mit Frankreich zu öffnen.

So verkörpert Stresemann in sozialer Hinsicht die deutsche mittlere Bourgeoisie. Politisch verkörpert er den Versuch einer Finanzreform auf dem Weg einer Besteuerung der Bourgeoisie, den Versuch eines neuen Kompromisses mit der Sozialdemokratie. Außenpolitisch verkörpert er den Versuch, aus der Sackgasse herauszukommen durch Verhandlungen mit Frankreich.

Die Große Koalition

Die Sozialdemokraten haben sie schon lange vorbereitet, gleichzeitig mit einer Stresemann-Regierung. Rudolf Hilferding, das augenblickliche Gehirn der deutschen Sozialdemokratie, befindet sich in engen Beziehungen zu Stresemann. Die Sozialdemokraten hoffen, dass es Stresemann gelingen wird, dem Einfluss von Stinnes entgegenzuwirken, dass infolgedessen diese Koalition mit allen Parteien der Handels- und Industrie-Bourgeoisie nicht einen so odiosen Charakter haben wird, wie das der Fall wäre, wenn nicht Stresemann Reichskanzler wäre. Die Sozialdemokraten hoffen, dass bestimmte Finanzreformen jetzt den Fall der Mark und die wachsende Teuerung aufhalten und die elektrisierte Atmosphäre entladen würden, dass Stresemann den Kampf mit den nationalistischen Organisationen aufnehmen und zu Vereinbarungen mit Frankreich kommen werde. Sie verknüpfen mit Stresemann eben dieselben Hoffnungen, die sie im Herbst 1918 mit der Regierung des Prinzen Max von Baden verknüpften. Sie benützten den Moment einer neuen revolutionären Welle, um die Regierung Cuno, die sie noch gestern retten wollten, um nicht in eine Koalition gehen zu müssen, über Bord zu werfen. Damit beweisen sie, dass sie selber an rettende Maßnahmen, die Herr Stresemann ergreifen könnte, nicht glauben.

Herr Stresemann ist unbedingt als Politiker erfahrener als Cuno. Aber allein durch die Gewandtheit der Hände und der Zungen ist es schwer, Deutschland aus der Lage herauszureißen, in der es sich befindet. Wenn sich die Welle der Arbeiterbewegung, die Cuno fortfegte, auf, wenn auch nur kurze Zeit, legen wird, was ja möglich ist, dann werden Herr Stresemann und die Sozialdemokratie auf den wilden Widerstand der Schwerindustrie stoßen, die nicht zahlen will, und die es versucht, alle nationalistischen Leidenschaften gegen Stresemann, als den Politiker der Kapitulation, zu entfesseln. Die Sozialdemokratie hat schon bewiesen, dass sie keinen Druck ausüben und nicht kämpfen kann. Herr Stresemann aber war niemals der Mann eines entschlossenen Kampfes. Die Koalition mit Stresemann wird nicht das ergeben, was die Sozialdemokraten erhoffen, sondern nur das, was sie am meisten befürchtet haben. Sie wird die Gegensätze in den eigenen Reihen vertiefen. Es ist klar, dass man aus Moskau Umfang und Ausdehnung der Bewegung nicht genügend beurteilen kann. Es ist möglich, dass Herr Stresemann trotz alledem eine Etappe bedeutet, auf der die Bewegung eine bestimmte Zeitlang stillstehen wird. Diese Zeit werden die deutschen Kommunisten dafür ausnutzen, um sich besser zu organisieren, um die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erfassen, um Formen ihrer Einheit und Vereinheitlichung ihrer Aktionen zu schaffen und um zu den kleinbürgerlichen Massen durchzudringen und sie an das Proletariat zu ketten.

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