Karl Radek 19230501 Ruhr und Hamburg

Karl Radek: Ruhr und Hamburg

[Die Kommunistische Internationale, Heft 26, Juni 1923, S. 1-5]

Wenn diese Zeilen in die Hände des Lesers gelangen, werden bereits 4 Monate des Krieges an der Ruhr vorüber sein. Diese vier Monate des Kampfes einer großen Okkupationsarmee gegen eine halbe Million waffen- und wehrloser Proletarier geben den Vertretern des Kapitals Anlass zu weitgehenden Betrachtungen, die, je nach dem Lager, aus dem sie hervorgehen, ein Stück der Wahrheit sagen.

Die deutsche Bourgeoisie feiert in ihren Reden die moralische Kraft des Widerstandes, den die deutsche Arbeiterklasse dem bewaffneten französischen Imperialismus leistet. Die französische Bourgeoisie verhöhnt die deutschen Arbeiter, dass sie ihre eigenen Ketten verteidigen, und sie sieht in den Ruhrereignissen einen Beweis, wie sehr noch die Proletarier Deutschlands sich im Banne des Nationalismus befinden. Der kommunistische Teilnehmer der Zeitgeschichte muss feststellen, dass sich an der Ruhr ein Kampf abspielt, der auch ihn zum größten Nachdenken zwingt. Es ist nicht wahr, dass der Kampf an der Ruhr eine neue siegreiche Waffe erfunden hat, die Waffe, die über Bajonette und Maschinengewehre siegt, wie es „The New Leader“, das Organ der englischen unabhängigen Arbeiterpartei, behauptet. „The New Leader“ macht aus der Not eine Tugend. Weil er nicht eingestehen will, dass die Arbeiterklasse Deutschlands unfähig ist, die Verteidigung ihres Landes in ihre Hand zu nehmen, weil er nicht eingestehen will, dass sie von den Entente-Arbeitern, mit Ausnahme der kommunistischen, im Stiche gelassen worden ist, muss der englische USP-Mann Brailsford in seinem „New Leader“ das Lob der neuen Waffe singen. Ist sie so neu? Herr Brailsford weiß besser als wir, dass seine Behauptung unwahr ist. In Indien, das von dem Vaterlande des Herrn Brailsford unterdrückt wird, kann man seit Jahren eine Welle des passiven Widerstandes nach der andern fluten sehen. Bald werden von der indischen Bevölkerung Waren boykottiert, bald stehen zum Protest die Fabriken still. Die versklavten Inder, die nicht die Kraft haben, sich aufzubäumen gegen die englische Herrschaft, die aber diese Herrschaft tief hassen, sagen ihr den Kampf an durch den passiven Widerstand. Sie sagen ihr: Mit Waffen kannst du uns nicht zwingen, deine Waren zu kaufen, Das deutsche Proletariat demonstriert durch seinen passiven Widerstand auf den Gruben, dass man mit Bajonetten keine Kohlen graben kann. Das deutsche Kleinbürgertum, das die Läden vor den Franzosen abschließt, zeigt an, dass sie in diesem Lande als Feinde gehasst werden. Deutschland, hinab geworfen von der Höhe eines imperialistischen Herrschervolkes in die Niederungen einer kapitalistischen Kolonie, Deutschland, das früher in Waffen starrte und nun entwaffnet dem bis an die Zähne bewaffneten imperialistischen Gegner ausgeliefert ist, proklamiert die „Revolution der gekreuzten Arme“. Der passive Widerstand an der Ruhr ist kein Fortschritt des proletarischen Kampfes. Er ist ein Teil der Tatsache, dass Deutschland zur Kolonie geworden ist.

Der passive Widerstand kann keine siegreiche Waffe sein. Der deutsche Arbeiter kämpft, unterstützt durch das deutsche Kapital, auf Reichskosten; d. h. auf Kosten der großen Masse der Steuerzahler bekommen die Unternehmer die. Milliarden, die sie als Arbeitslosenunterstützung an die Arbeiterschaft verteilen, obwohl auf den Zechen und Fabriken nur zum Teil nicht gearbeitet wird. Die. deutsche Bourgeoisie, die aus eigener Tasche dem Staate nur die Lappalie von 12½ Millionen Dollar vorgeschossen hat, spart die Groschen des Proletariats und des Kleinbürgertums nicht, wenn es sich um die Auslagen handelt, die notwendig sind, um die 10 Prozent ihrer Teilnahme an dem deutsch-französischen Kohlensyndikat zu retten, die ihr die französischen Kapitalisten bestreiten. Der passive Widerstand der deutschen Arbeiter ist solange möglich, solange die Bourgeoisie auf Kosten der Verschlechterung ihrer zukünftigen Lage heute die Löhne an der Ruhr bezahlt. Wenn die Reformisten schreien, an der Ruhr ist eine neue siegreiche Waffe des Proletariats erfunden worden, so loben sie dadurch nur den spartanischen Adel, der, wenn Gefahr am Mann war, seinen Heloten die Waffe in die Hand drückte, damit sie für ihn kämpften.

Der passive Widerstand der Volksmassen in Indien ist ein revolutionärer Faktor. Er bringt den Volksmassen Indiens die Gemeinsamkeit ihrer Interessen zum Bewusstsein. Er mobilisiert sie zur Anwendung höherer Formen des Kampfes, er mobilisiert sie für den zukünftigen Aufstand. Ist das der Fall an der Ruhr? Wenn es von den Sozialdemokraten, den Verkündern des passiven Widerstandes, abhängen würde, so würde der passive Widerstand die einzige Waffe des Ruhrproletariats sein. Feige, wie sie ihrer eigenen Bourgeoisie gegenüber sind, sind sie auch Gegner jedes entschiedenen Kampfes gegen den fremden Imperialismus. Und wenn der große Prophet des internationalen Menschewismus, Herr Kautsky, die Kommunisten Deutschlands einer hochnotpeinlichen Untersuchung unterwerfen will, so fragt er sie mit gerunzelter Stirn: Wollt ihr die Ruhrfrage mit friedlichen oder kriegerischen Waffen lösen? Das soll in seinen Augen nicht bedeuten, dass, da heute‚ im April des Jahres 1923, der revolutionäre Krieg gegen das Weltkapital unmöglich ist, wir ihn also unermüdlich für später vorbereiten müssen. Im zahnlosen Munde des Herrn Kautsky bedeutet das: schlagt denjenigen tot, der an andere Waffen denkt als an die durchschlagende Kraft der Argumente Kautskys.

Der passive Widerstand an der Ruhr trägt auch auf Seiten des Proletariats außerordentlich widerspruchsvolle Gesichtszüge. Neben proletarischem Rebellentum, das sagt: wir haben nicht kapituliert vor der deutschen Soldateska, wir haben gegen sie wie gegen den deutschen Imperialismus gekämpft, und wir wollen nicht kapitulieren vor den französischen Bajonetten — neben diesem proletarischen Rebellentum, das, heute den französischen Bajonetten Widerstand leistend, morgen die Frage aufrollen wird, dass die Gruben weder den deutschen noch den französischen Kapitalisten sondern dem Proletariat zu gehören haben, kämpft auch der deutsche Sklave, der seinen deutschen Sklavenhalter nicht verlieren, ihn nicht durch einen französischen ersetzt sehen will. Deshalb wird die Frage, ob der passive Widerstand an der Ruhr gegen den französischen Imperialismus sich verwandeln wird in einen aktiven Kampf des Proletariats nicht nur gegen die fremde Okkupation, sondern auch für die Eroberung der Fabriken durch das Proletariat, nur von der Geschichte beantwortet werden. Diese Antwort wird gleichzeitig eine Antwort über den Zustand der revolutionären Masse in Deutschland sein.

So stehen die Dinge. Nur die Französische Kommunistische Partei ist es, die dagegen ankämpft. Nur sie ist es, die die Massen zu mobilisieren versucht zum Kampfe gegen Poincaré. Die 2. und 2½ Internationale dagegen sind mit der dankbaren Arbeit beschäftigt, für Herrn Poincaré eine vernünftigere Plattform zu finden, auf der er sich besser mit der deutschen Bourgeoisie einigen könnte. Sie sind beschäftigt mit der Sabotage der ersten Schritte der Verbrüderung des französischen und deutschen Proletariats, die von der Kommunistischen Internationale und der Roten Gewerkschaftsinternationale unternommen wurden. Es wird in die Annalen der Geschichte eingetragen werden, dass, während die Boten der 2. und 2½ Internationale in aller Herren Länder herumreisen, um. sich darüber zu verständigen, wie man am besten Herrn Poincaré mit Herrn Cuno aussöhnt, die deutschen und französischen Sozialdemokraten sich mit allen Mitteln dagegen gewandt haben, dass deutsche und französische Proletarier in Essen zu einer gemeinsamen revolutionären Kundgebung zusammenkamen.

Für Ostern haben sie ihren Einigungs­kongress vorbereitet. Am Tage der Auf­erstehung des Rebellen der Christuslegende sollte die Auferstehung der Internationale gefeiert werden. Das wurde abgemacht in Den Haag, auf dem Kongress, auf dem sie die noch nicht geborene neue Internationale begraben haben. Inzwischen ist, dank dieser Politik der Krieg wieder auf erstanden. Herr Poincaré hat seine Zuaven nach der Ruhr gesandt. Während die französischen Maschinengewehre den Essener Arbeitern lustig die Meinung des Herrn Poincaré über die Kraft der Internationale vorpfeifen, während die Zuaven des Herrn Severing in Mülheim einem Proleten den Leib durchbohren, um dem Proletariat die Bedeutung der sozialdemokratisch-volksparteilich-zentrümlichen Demokratie vorzudemonstrieren, ist es schwer, in Hamburg den Hochzeitsmarsch anzustimmen. Trotzdem soll am Pfingsttage diese Hochzeit der 2. und 2½ Internationale stattfinden. Aber die Pfingsten sind vorüber, Malbrough kehrt nicht zurück.

Herr Friedrich Adler stellt das in seiner melancholischen Rede über die Besetzung des Ruhrgebiets und die Internationale fest. Dieser Held, der als sein ganzes Kapital eine verschossene Revolverpatrone aufzuweisen hat, der Gründer der 2½ Internationale, die die Brücke bilden sollte zwischen der 2. und 3. Internationale, der Mann, der fast für die Rätediktatur des Proletariats war, erklärt im Namen seiner bankrotten Firma: „Wenn es zur Vereinigung unserer Arbeitsgemeinschaft mit der 2. Internationale kommt, ist dies von unserer Seite bei weitem keine Liebesheirat, sondern eine reine Vernunftehe“. Ja, zur Liebesheirat langt es nicht. Aber um die Vernunft ist es auf der Seite des ausgerupften Adler schlecht bestellt. In seiner Rede muss er feststellen: „Die französischen und belgischen Sozialisten haben die Eierschalen des Sozialpatriotismus noch nicht abgeworfen und hängen daher noch immer an der Legende, die den Annexionswahnsinn als spezifisch deutsche Kraft ausgibt…“ Besonders deutlich wurde das in der Konferenz in Amsterdam am 25. Januar d. J., die von der Gewerkschaftsinternationale einberufen war und an der die Vertreter der 2. Internationale und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien teilnahmen. Die letzteren beantragten, in die Resolution noch folgenden Satz einzufügen: „Denselben Frevel, den die deutschen Schwerindustriellen begingen, als sie den Krieg verlängerten, um in den Besitz von Briey und Longwy zu gelangen, verüben nun die französischen Schwerindustriellen, die das Ruhrgebiet ihrer Ausbeutung unterwerfen wollen.“ Die Aufnahme dieses Satzes, auch in dieser, gegenüber der ursprünglichen abgeschwächten Form, scheiterte vor allem an dem belgischen Vertreter, der unter keinen Umständen eine Analogie zwischen den deutschen Annexionisten und den Herrschenden in Frankreich zulassen wollte.

Über den belgischen Parteitag berichtet Adler, dass „nationalistische Gesichtspunkte in voller Reinkultur in den Reden von Boulonge, Destrée, Hubin, Pierard offen vertreten wurden“, und sogar über die Resolution Vanderveldes sagt er, sie zeige, „wie tief auch er noch immer den opportunistischen Bedürfnissen durch die Überordnung des Reparationsproblems Belgiens über das Invasionsproblem der Ruhr Rechnung trägt und sich nicht aufraffen kann zur Bekundung des wirklich internationalen Gesichtspunktes“. Über den Appell der Amsterdamer Konferenz der 2. und 2½ Internationale an den Völkerbund sagt Adler: „Der tiefste Grund dafür, dass bei den Sozialisten der Siegerstaaten so viel von dem Appell an jene Internationale der kapitalistischen Imperialisten, die der Völkerbund darstellt, die Rede ist, liegt darin, dass die Internationale der Proletarier so kraftlos ist.“

Diese Rede des braven Mannes kann und muss ergänzt werden durch eile Rede Fimmens‚ der sich genötigt sah, den deutschen Gewerkschaftlern vorzuhalten, dass sie die Pflicht haben, gegen die deutschen Kapitalisten zu kämpfen, aber für diese unverfrorene Forderung vom Organ des ADGB angeschnauzt wurde. Die Vereinigung der 2. und 2½. Internationale in Den Haag wird diese Internationale noch kraftloser machen, denn sie wird sogar den bleichsüchtigen Internationalismus eines Adlers dem vollblütigen Sozialpatriotismus eines Renaudel, eines Vandervelde, eines Henderson und eines Wels unterordnen. Die Herren von der 2. und 2½ Internationale sind keine unschuldigen Jungfrauen, die von gierigen Eltern an einen reichen Greis verkuppelt werden. Sie verkuppeln sich selbst, und der Greis, an den sie sich verkuppeln, stellt eine Firma dar, die langsam, aber sicher, dem Bankrott entgegengeht. Zu ihrer Verteidigung können die schlechten Geschäftsleute aus der 2½ Internationale im besten Falle nur das sägen: Wir riskieren dabei nichts, denn wir haben schon früher, schon im Kriege, unsere Unschuld und später unser Kapital verloren.

Die internationale Arbeiterklasse nähert sich dem niedrigsten Punkte, dem Wellental der Revolution und der Konterrevolution. Bald wird der 10. Jahrestag ihrer Bankrotterklärung kommen. Er wird nicht ihr Auferstehen sehen. Möge dieser Tag uns das Recht geben, zu sagen, dass wenigstens die Vorderreihen des internationalen Proletariats endgültig die letzte Lehre des Bankrotts vom 4. August verstanden haben.

Moskau, am 1. Mai 1923.

Karl Radek.

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