Karl Radek 19230713 Das Abflauen der Offensive des Kapitals und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale.

Karl Radek: Das Abflauen der Offensive des Kapitals und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale.

(Rede in der Sitzung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Jugend-Internationale. Moskau, 13. Juli 1923)

Genossen! Wir haben in der Sitzung der Erweiterten Exekutive im Referat über die weltpolitische Lage die zwischenstaatlichen Beziehungen des letzten halben Jahres geschildert. Ich will hier nur ein paar Ergänzungen zu diesem Referat geben, soweit sich die Situation seit der Sitzung der Erweiterten Exekutive weiter entwickelt hat.

1. Die internationale Lage.

Die drei neuen Tatsachen, die man ergänzend hinzufügen muss, sind folgende: der englisch-französische Kampf um Deutschland, die englischen Luftrüstungen gegen Frankreich und die dritte Tatsache, dass sich die Bedeutung des Ausbaus der englischen Marinebasis in Singapur immer mehr klärt. Ändern diese Tatsachen das Bild der Situation, das während der Sitzung der Erweiterten Exekutive vor uns lag? Genossen, diese Tatsachen ändern das Bild keinesfalls, sondern verschärfen es. Wenn wir dies in einigen Worten charakterisieren, so weisen wir einerseits auf die Verschärfung der englisch-französischen Gegensätze hin, die heute größer sind als jemals, zweitens auf den vollkommenen Ruin Mitteleuropas, drittens auf die Verschärfung der Lage im Fernen Osten. Das sind die drei Merkmale der internationalen Beziehungen der kapitalistischen Staaten zueinander.

Der englisch-französische Kampf, der sich in den letzten Wochen in der Öffentlichkeit in sehr scharfer Form abspielt, erweckt in Deutschland wieder einmal die Hoffnung, dass die englische Bourgeoisie Deutschland zu Hilfe eilen wird. Dieser Kampf scheint gegen das zu sprechen, was ich in meinem Referat ausgeführt habe, dass England auf Deutschland verzichtet hat, dass es Deutschland an Frankreich ausgeliefert hat. Ein solcher Schluss wäre ein schlechter. Die englische Regierung kämpft nicht für die Rettung Deutschlands, sondern dafür, dass bei der bevorstehenden deutschen Kapitulation auch die englischen Interessen in Rechnung gezogen werden. Der Kampf der englischen Regierung geht darum, dass, wenn der Moment der deutschen Kapitulation erfolgt, nicht Frankreich allein der deutschen Bourgeoisie seine Bedingungen auferlegt, sondern dass es genötigt sein wird, auch die Interessen der englischen Industrie und Bourgeoisie zu berücksichtigen. Wie weit kann England in diesem Kampfe gehen? Die Antwort darauf gibt die Forderung der englischen Regierung im Parlament, neue große Kredite für den Ausbau der englischen Luftflotte zu bewilligen. Die englische Regierung gesteht in dieser Forderung ihre Inferiorität auf dem Gebiete des Luftschiffbaues ein, und da der Kampf in der Luft das entscheidende Mittel des Krieges zwischen Frankreich und England sein wird, bedeutet dies, dass die englische Regierung in diesem Moment nicht imstande ist, mit Frankreich zu brechen. Das ganze diplomatische Hin und Her bedeutet Kampf um Berücksichtigung der englischen. Interessen, nicht aber den bevorstehenden Bruch zwischen England und Frankreich. Wie weit dieser Kampf sich auswirken wird, welche Formen er annimmt, kann man in diesem Moment nicht voraussehen. Wir müssen jedenfalls daran festhalten, dass wir nicht vor einem Ausbruch des Krieges zwischen England und Frankreich stehen, sondern in einer Periode diplomatischer Konflikte und Rüstungen, die eventuell in Zukunft zum Krieg führen werden. Die Tatsache, dass während eines Monats der Dollar in Berlin wieder um 100 Prozent gestiegen ist, zeigt, wie wenig Deutschland von diesem Kampf zu erwarten hat. Er bedeutet nur die Verlängerung der Zerrüttung Deutschlands. In der Zeit, wo die beiden um die Hegemonie kämpfenden Mächte sich in den Haaren liegen, ist die deutsche Bourgeoisie nicht imstande, sich auch nur auf der Basis der Versklavung an Frankreich zu konsolidieren.

Was die dritte Frage, die Lage im Fernen Osten, anbetrifft, so zeigen die Diskussionen in der englischen Presse über den Ausbau der Flottenbasis in Singapur sehr klar, dass diese neue Flottenbasis gegen Japan gerichtet ist. Der Oberst Repington erklärt in einem Artikel im „Daily Telegraph“ in dürren Worten, dass der theoretisch angenommene Feind Japan ist, wobei er, wie es diplomatische Militärs gewöhnlich tun, der Hoffnung Ausdruck gibt, dass die Freunde in Japan England niemals in die Lage bringen werden, diese Basis gegen sie zu benutzen. Diese klare Enthüllung der Tatsache, dass England eine Basis gegen Japan baut, hat große Bedeutung für die Beurteilung der allgemeinen Weltlage. Wie Sie wissen, fand die letzte große Kräftemessung im Fernen Osten auf der Washingtoner Konferenz statt. Das Verhältnis Englands zu Japan war, dass England das Bündnis gekündigt, aber keinesfalls irgendwelche Verpflichtungen gegenüber Amerika übernommen hatte. In Washington verlangte die amerikanische Regierung als Zugeständnis dafür, dass sie die Marinebasis in den Philippinen nicht verstärken werde, dass auch England seine Marinebasis in Hongkong nicht verstärke. Hätte damals schon ein Abkommen über gemeinsames Auftreten gegen Japan bestanden, so würde Amerika nicht gefordert haben, dass England seine Marinebasis nicht verstärke. Wenn England jetzt in Singapur seine Basis gegen Japan verstärkt, so ist das ein Beweis eines weiteren Fortschrittes der englisch-amerikanischen Annäherung gegen Japan.

Der Schluss aus dieser allgemeinen Charakteristik der Lage, soweit es sich um das Verhältnis zwischen den kapitalistischen Staaten handelt, ist also, dass wir uns in der Periode einer steigenden Zerrüttung des kapitalistischen Weltsystems befinden: einerseits eine Verschärfung des englisch-französischen Gegensatzes, andererseits eine Verschärfung des englisch-amerikanischen Gegensatzes zu Japan.

Was das Verhältnis des kapitalistischen Weltsystems zu Sowjetrussland betrifft, so habe ich zu meinem Referat eine Kleinigkeit nachzutragen. Als ich mein Referat hielt, hatten wir schon die Nachricht, dass die englische Regierung trotz unserer Ablehnung die Abberufung der Sowjetgesandten in Kabul und in Teheran fordert. Dazu ist heute noch zu bemerken, dass die Sowjetregierung von der englischen Regierung eine kurze Note erhalten hat, in der die englische Regierung erklärt, Lord Curzon möchte den einzigen Gewinn, den er in dem Konflikt errungen hatte, auch einkassieren, nämlich 13.000 Pfund, die Sowjetrussland für den erschossenen Spion und den verhafteten Spion zu bezahlen hat. Die 13.000 Pfund bekommt Lord Curzon, aber der Gang der Dinge in Persien schon in den letzten paar Wochen zeigt ihm, dass er nicht mehr bekommt.

Der Träger der nationalen Bewegung in Persien, die junge Bourgeoisie, die Kaufmannschaft, hat durch den Empfang, den sie dem Vertreter Sowjetrusslands, dem Genossen Malischew, bereitete, der dorthin kam, um diese persischen Kaufleute zur Messe in Nischni-Nowgorod einzuladen, am besten gezeigt, dass sich die Autorität Sowjetrusslands im Orient nicht gemindert hat, sondern dass dort die Massen der jungen Bourgeoisie verstehen, dass Sowjetrussland ein Hort ihrer nationalen Befreiungsbewegung ist.

Genossen, diese paar Ergänzungen habe ich zu meinem Bericht auf der Erweiterten Exekutive zu machen, und jetzt kann ich an die Hauptaufgabe meines jetzigen Referats gehen, Euch die zweite Seite der Medaille zu zeigen, nämlich ein Bild der internationalen inneren Lage, ein Bild der internationalen Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital und der Beziehungen im Lager der Bourgeoisie selbst.

2. Der Kampf im Lager der Bourgeoisie.

Genossen, Sie werden mir erlauben, zuerst dieses Bild zu geben in der Form einer einfachen Feststellung der wichtigsten Tatsachen, wobei die Schlüsse sich in dem weiteren Teil des Referats ergeben werden, Dieses Bild, ich möchte sagen, das kaleidoskopische oder kinematographische Bild der Beziehungen zwischen den Klassen ist darum so wichtig, weil die internationale Arbeiterklasse ein zu schematisches Bild dieses großen Kampffeldes hat.

Ich beginne mit der stärksten kapitalistischen Macht der Welt, den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Sie wissen, dass der Sieg der Republikanischen Partei in Amerika einen Sieg der Reaktion bedeutete, Nicht darum, weil die demokratische Partei und Wilson etwas anderes darstellen als die Interessen des Kapitals. Es gibt keine prinzipiellen Gegensätze zwischen den Demokraten und den Republikanern. Aber in Amerika werden immer nach der Reihe einmal die Demokraten, einmal die Republikaner zum Exponenten der aktuellen Interessen der kapitalistischen Bourgeoisie. Das Regime der Republikaner äußerte sich in der Durchführung des Fordney Tarifs, der den amerikanischen Trusts Schutz vor der Schmutzkonkurrenz der europäischen Bourgeoisie gewährte. Die Schutzzolltarif-Bewegung war immer eng verbunden mit den stärksten amerikanischen Trusts. Und da die Regierung Hardings in Amerika einen Schutzzoll durchführt, wie ihn Amerika niemals gekannt hat, hat sie sich als die Regierung der stärksten Trusts in Amerika entpuppt. Das Regime Harding war das Regime der amerikanischen Reaktion, die sich auf die Trusts stützt. Wenn man aber die Lage in Amerika nicht, wie sie beim Beginn der Regierung Harding war, sondern wie sie jetzt ist, betrachtet, so sieht man ein neues Moment, nämlich die starke Farmer-Bewegung. Diese Bauernbewegung in Amerika, die sich gegen die Politik der Trusts richtet, gegen die Auswucherung des Dorfes, der Farmer durch das Großkapital, ist ein Faktor von außerordentlicher Bedeutung. Erstens ist sie ein Beweis dafür, dass in der Front der amerikanischen Reaktion ein großer Riss entstanden ist. Nach dem Kriege war Amerika ein Lager der wütendsten chauvinistischen Reaktion. Das Land, das der einzige Sieger im Weltkriege war, verstand alle Schichten der Bourgeoisie um das gesprenkelte Banner zu sammeln, in erster Linie gegen die Arbeiterklasse. Und Sie wissen, wie nach dem Kriege die wildesten Verfolgungen gegen die junge Kommunistische Partei und die revolutionären Gewerkschaften einsetzten, die unsere Partei illegal gemacht haben. Die anschwellende Farmerbewegung, die zur Zersetzung der beiden kapitalistischen Parteien führte, die Bildung der „Non-Partisan League“, die zur Ausbildung eines linken Flügels der Farmer führte, der beginnt, sich mit der Arbeiterklasse zu alliieren, — zeigen, dass die Herrschaft der amerikanischen kapitalistischen Reaktion geschwächt ist, und der beste Beweis dafür ist eben die Tatsache, dass die Kommunistische Partei aus ihrem unterirdischen Unterschlupf herauskommen, dass sie sich in der Form der Workers Party legal konstituieren konnte, und dass die bisherigen Prozesse, die die Workers Party zerschlagen sollten, der Prozess gegen Foster und Ruthenberg, einen starken Widerstand sogar bei dem Teil des Bürgertums ausgelöst haben, der zu diesen Prozessen gegen die Kommunisten hinzugezogen wird. Wenn die Kommunisten in Amerika nicht gelyncht und nicht geteert werden, so ist das schon ein Beweis, dass in diesem Lande der Demokratie die Dinge nicht gut aussehen, dass die Kraft der Reaktion geschwächt ist.

Wenn Sie, Genossen, von Amerika nach Europa gehen und mit England die Rundschau beginnen, so haben wir im Spätherbst des vorigen Jahres einen Sieg der englischen Konservativen bei den Wahlen erlebt. Die englischen Konservativen haben zwar nur ein Drittel der englischen Wähler um sich gesammelt, aber sie haben eine relative Majorität erobert und sind damit als stärkste Partei zur Regierung Englands geworden. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, was dieser Sieg bedeutet. Er ist entstanden in erster Linie durch die Zermürbung des Liberalismus. Geschlagen wurden im Kampf die Liberalen, die Vertreter des Handelskapitals, die einen Wiederaufbau Europas erstreben. Gesiegt haben die Vertreter der englischen Schwerindustrie, die sich um die Konservativen sammeln, und zusammen mit den Junkern, die dort in erster Linie die Rentnerklasse vertreten, bilden sie jetzt die Regierung. Diese Rentner-Schwerindustriellen haben über die Bemühungen des Wiederaufbaus Europas ein Kreuz gestellt. Sie versuchen die englische Politik zu konzentrieren auf die gesteigerte Entwicklung der wirtschaftlichen Kräfte der Kolonien, auf die gesteigerte Ausbeutung Indiens und Ägyptens und auf die gesteigerte Ausbeutung der englischen Arbeiterklasse. Während die Koalitionsregierung im Jahre 1919, wie Sie wissen, angesichts des Ansturms der Arbeiter sogar mit der Idee der Nationalisierung der Minen und Eisenbahnen kokettiert hat, ist die jetzige Regierung die Regierung der rücksichtslosen Herrschaft des Kapitals, der Abschaffung aller Überreste jedes Schutzes der Arbeiterklasse. Der erste Premier der konservativen Regierung, Bonar Law, fasste sein Programm in der Losung „Quiety and Tranquility“ (Ruhe und Ordnung) zusammen. Der zweite Premier, der ihm nachfolgte, Herr Baldwin, wird in dem Orientorgan der englischen Regierung, dem „Near East“, in einer Weise charakterisiert, die sehr bezeichnend für die ganze Politik der englischen Konservativen ist. Dieses Blatt sagt, Herr Baldwin habe sich nie mit Politik befasst, er sei ein nüchterner Mensch, der sehr gut seine Geschäfte kenne, und eben dieser Herr Baldwin, der, bevor er zum Premierminister ernannt wurde, erklärte, er möchte sich nun, da er seine Verbindung mit der Firma Baldwin Ltd. aufgelöst habe, am liebsten auf seinem Gut mit der Schweinezucht befassen, ist berufen worden, sich zu befassen nicht nur mit den Geschicken von 50 Millionen Einwohnern Englands, mit den Geschicken des englischen Volkes, sondern mit den Geschicken der halben Milliarde von Menschen, die unter englischem Szepter stehen. Er ist berufen, die Hälfte der Welt zu regieren, und er wird versuchen, sie zu regieren nach den Grundsätzen der Schweinezüchter.

Aber, Genossen, gleichzeitig damit sehen wir, dass die Ruhe und Ordnung, die Herr Bonar Law gefordert hat, in England nicht eingezogen ist. Nachdem Herr Bonar Law, d. h. die Konservativen, zur Macht gekommen sind, haben sie die russisch-englische Krise und die große Ruhrkrise erlebt, die sie nicht lösen können. Sie haben sich gezwungen gesehen, an Amerika die Schulden zu bezahlen, und sie erleben jetzt einen großen Streik nach dem andern. Sie haben gegen sich eine erwachende Arbeiterklasse, die 4 Millionen Stimmen bei den Wahlen für die Vertreter der Arbeiterpartei abgegeben hat. Sie haben gleichzeitig einen zerklüfteten, geschlagenen Liberalismus, was ihnen momentan die Lage im Parlament erleichtert, was aber — historisch genommen — ihre Lage aussichtslos macht. Denn in der komplizierten Lage, in der sich England befindet, werden große Teile des Bürgertums damit einverstanden sein, dass das große Reich zu führen sei nach den Prinzipien von Baldwin Ltd. plus Schweinezucht. Die Zersetzung des englischen liberalen Bürgertums ist ein Faktor der wachsenden Kraft der Arbeiterklasse.

Wenn Sie von England über den Kanal nach Frankreich gehen, was sehen Sie dort? Herr Poincaré bekommt bei allen Abstimmungen der Kammer eine große entschiedene Mehrheit für sich, aber diese Mehrheit in der Kammer beweist nur, dass die französische Bourgeoisie nicht imstande ist, den Versailler Frieden zu retten, dass die französische Bourgeoisie bereit ist, um den Versailler Frieden zu retten, auf Abenteuer auszugehen. Doch dass sie gezwungen ist, das zu tun, ein Beweis, dass die Herrschaft des siegestrunkenen französischen Kleinbürgertums, das gehofft hat, Deutschland werde alles zahlen, tief erschüttert ist. Im Frühjahr 1924 kommen in Frankreich die Wahlen, und die Regierung wird sagen müssen, in welcher Weise sie das wachsende Defizit decken will, in welcher Weise sie das Loch im Budget stopfen will. Die Regierung des Nationalen Blocks versprach, dass die Deutschen alles zahlen würden. Würde Frankreich im Ruhrgebiet bleiben, so würde es in ein paar Jahren, falls sich der Kapitalismus dann im Weltmaßstabe stärkte, natürlich große Profite daraus ziehen. Aber einstweilen würde das nur große Auslagen und keinen Groschen Einnahmen bedeuten, Es würde bedeuten, dass die französische Bourgeoisie genötigt sein wird, die Steuerschraube bei den Bauern noch fester anzuziehen.

Noch trauriger würde die Lage des Nationalen Blocks sein, wenn er aus dem Ruhrgebiet wegziehen müsste, ohne irgendetwas erreicht zu haben.

Das bedeutet die Zersetzung des Nationalen Blocks, der zwar die Interessen der großen Banken und der Schwerindustrie vertritt, aber rechnen muss mit den Interessen der Mehrheit der Wähler, und das sind die Bauern. Die kommenden Monate werden die Zersetzung des Nationalen Blocks mit sich bringen, sie werden das Wachsen der Bauernopposition in Frankreich zur Folge haben.

Genossen, wenn wir unsere Blicke von Frankreich nach Italien richten, so sehen wir ein Bild, das Sie ausführlich dargestellt finden in der ausgezeichneten Broschüre des Genossen Giulio Aquila, die in diesen Tagen erschienen ist, über den italienischen Faschismus.* Eine Broschüre, über deren taktische Einstellung ich noch sprechen werde, die aber als Tatsachendarstellung der Aufmerksamkeit jedes Kommunisten bestens empfohlen sei.

Was zeigt dieses Bild? Der Faschismus ist nicht imstande, auch nur ein Atom der Versprechungen, die er gemacht hat, zu erfüllen. Nun, Genossen, jede Revolution und jede Konterrevolution beginnt mit der Ausstellung von Wechseln, die später zu zahlen sind. Wenn wir die Bilanz der russischen ‚Revolution ziehen, so unterliegt es gar keinem Zweifel, dass sie einstweilen nur einen Teil der ökonomischen Wechsel gezahlt hat; sie hat einstweilen nur den Bauern den Grund und Boden gegeben. Sie hat zwar den Arbeitern die Fabriken gegeben, aber sie war bisher nicht imstande, diese Fabriken zu Zentren pulsierenden Lebens zu machen, die der Arbeiterklasse wachsenden Wohlstand sichern.

Aber der Unterschied zwischen den in 6 Jahren bezahlten Wechseln der russischen Revolution und den Wechseln des faschistischen Regimes ist folgender: die russische Revolution hat die Wechsel ausgestellt an zwei Klassen, deren Interessen prinzipiell nicht entgegengesetzt sind, obwohl es nicht dieselben Interessen sind: an die Arbeiter und die Bauern. Der Aufstieg der Bauern ist eine der Bedingungen des Aufstieges der Arbeiterklasse in Sowjetrussland. Und dieser Aufstieg ist schon jetzt der Boden, auf dem sich die Lage der russischen Arbeiterklasse zu heben beginnt. Die russische Revolution musste von ihren Trägern die Prolongierung ihrer Wechsel fordern, Aber diese Träger haben das feste Gefühl, dass die Wechsel bezahlt werden.

Die faschistische Konterrevolution stellte Wechsel an Klassen mit entgegengesetzten Interessen aus. Sie versprach den Arbeitern Arbeit und sichere Existenz; sie versprach den Kapitalisten steigende Profite und die Herrschaft in den Fabriken; sie versprach dem Kleinbürgertum, den Intellektuellen eine wachsende Bedeutung ins sozialen Leben Italiens, einen wachsenden Wohlstand, sie versprach der ganzen italienischen Nation die Politik der Kraft, die die Bedeutung Italiens in der ganzen Welt erhöhen würde. Und was sehen wir? Die faschistische Regierung war bisher nur imstande, die Arbeiterbewegung niederzuwerfen, die Arbeiter zu zwingen, in die faschistischen Gewerkschaften einzutreten. Und was war das Resultat? Sie liefert die Eisenbahnen und die Rüstungsindustrie an das Privatkapital aus, sie drückt die Löhne der Arbeiter (durchschnittlich ist das schon um 30 Prozent geschehen). Und was gibt sie den Bauern? Sie gibt ihnen nichts. Ihre Steuern werden immer mehr erhöht, und die Lohnsteuer wurde eingeführt.

Und was gibt sie den Industriellen? Sie gibt ihnen keine Stärkung ihrer Position in der Welt. Mussolini hat während des Krieges und nach dem Kriege eine scharfe antienglische Stellung eingenommen und musste sie einnehmen: England beherrscht Italien schon durch die bloße Tatsache, dass es die herrschende Macht im Mittelmeer ist. Wenn Mussolini, der Träger des Machtgedankens der imperialistischen Intellektuellen, sich ein starkes Italien dachte, so musste er die Fahne der Revolution gegen England schwingen. Mussolini, der seinen „Popolo“ mit französischem Gelde gegründet hat, ist vollkommen im englischen Schlepptau; aber mehr noch: er muss, um seine Macht im Innern zu stärken, auf jeden Gedanken eines Kampfes gegen Jugoslawien verzichten.

Der „Daily Telegraph“ hat dieser Tage indiskret erzählt, dass die italienische Regierung über den bevorstehenden Umsturz in Bulgarien sehr gut Bescheid wusste und dass die italienische Spionageabteilung mit diesem Umsturz in naher Verbindung stand. Ich weiß nicht, ob das Organ Mussolinis in den nächsten Tagen erzählt hat, welche Rolle das Intelligence Service des Lord Curzon bei den bulgarischen Dingen gespielt hat; jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, dass Mussolini nicht imstande ist, gegen Jugoslawien vorzugehen, das durch Frankreich, von dem es Kriegsschiffe bekommt, gestützt wird. Er ist darauf angewiesen, Umgehungsmanöver vorzunehmen, in Bulgarien die Gegner Jugoslawiens zu stützen, damit Jugoslawien die Sporen im Leibe fühlt.

Das Versprechen Mussolinis, dass der Faschismus eine starke, gerechte und sparsame Regierung darstellen wird, hat sich in Nichts aufgelöst. Die sparsame Regierung ist genötigt, das Heer, die Polizei zu verstärken. Sie spart nur an den Arbeitern und Bauern. Weil dem so ist, fühlt Mussolini, dass seine Herrschaft immer mehr beginnt, bedroht zu sein. Das beste Beispiel dafür ist das Verhältnis der Partei der Popolari, der großen Bauern- und Kleinbürgerpartei, die im Parlament Mussolini unterstützt, die aber auf ihrem Kongress es nicht nur abgelehnt hat, die Geschichte ihrer Partei mit dem Faschismus zu identifizieren, sondern sogar eine Oppositions-Stellung gegen den Faschismus einnahm. Die Tatsache, dass in den Kreisen des italienischen Liberalismus — der sich von Mussolini mit einem Fußtritt auf den Misthaufen der Geschichte werfen ließ — Unruhe herrscht, dass der „Corriere della Sera“ Stellung gegen die faschistische Regierung nimmt, zeigt, dass die Bourgeoisie einzusehen beginnt, dass das faschistische Regime nicht von Dauer ist, dass es nicht imstande ist, die Ruhe, Sicherheit und Ausbeutung zu gewährleisten. Und dieses Gefühl, das sowohl in den kleinbürgerlichen Massen wie in den Spitzen der Bourgeoisie vorhanden ist, beginnt die faschistische Partei zu zersetzen. Wenn man von der Zersetzung des Faschismus liest, sind wir russische Kommunisten in erster Linie geneigt, vorsichtig zu sein. Seit 5 Jahren lesen wir in den bürgerlichen Zeitungen, bald dass Lenin, bald dass Trotzki verhaftet ist und dass unsere Partei jeden Tag in 10 Stücke zerfällt. Ich glaube nicht, dass der Faschismus morgen zerfällt. Aber es ist Tatsache, dass Mussolini genötigt ist, den Kampf gegen den agrarischen Flügel der Faschisten zu führen, dass er gleichzeitig schon großen Widerstand findet im Lager seiner kleinbürgerlichen und Arbeiteranhänger, dass schon hervorragende Führer des Faschismus öffentlich in der Presse erklären, dass die Kapitalisten, wenn sie annehmen, die faschistische Revolution habe stattgefunden, um ihnen das Heft in die Hand zu geben, sich irren, dass der Faschismus auch einen Druck auf die Kapitalisten erfordert. Wenn wir weiter sehen nicht nur die Gegensätze im Lager des Faschismus, sondern wie Mussolini genötigt ist, Provinzkonferenzen der Faschisten aufzuheben, wenn wir sehen, dass in Rom und in Provinzstädten Teile der Faschisten bewaffnet einander gegenüber stehen, so zeigt sich, wie in das Lager des Faschismus schon das Gefühl der Unsicherheit eingedrungen ist. Dabei darf man nicht vergessen, dass, während die Russische Kommunistische Partei auf eine 25-jährige Geschichte zurückblickt, die sie zu einem Stahlblock zusammengeschmiedet hat, der italienische Faschismus ein junges, schwaches Gebilde darstellt, Der italienische Faschismus, der in der Weltbourgeoisie die Hoffnung erweckt hat, es beginne mit ihm eine Periode der siegreichen, eisernen Faust, die den Kapitalisten erlauben werde, den Kapitalismus auf dem Rücken und den Knochen der Arbeiter zu restaurieren, wird diese Hoffnungen nicht verwirklichen. Und wenn Mussolini, Lenin nicht nachahmend, sondern nachäffend, erklärt hat, im Januar habe die zweite Periode des Faschismus begonnen, die Aufbauperiode nach der Zertrümmerung des alten Staates, so können wir sagen: Der Faschismus hat niemals die erste Periode durchgemacht; er hat den alten Staat nicht zertrümmert, nur desorganisiert. Und die zweite Periode hat nicht begonnen; es beginnt umgekehrt eine andere Periode, nicht des Aufbaus, sondern der Dekomposition, der Zersetzung des Faschismus.

Der italienische Faschismus wurde gefeiert vom englischen König, von Lord Curzon, von dem amerikanischen Gesandten Child. Die Vertreter des Landes, das darauf stolz ist, dass es die Mutter der Parlamente sein eigen nennt, die Vertreter der englischen Demokratie und die Vertreter des Landes, das in der Konstitution von Jefferson die erste Urkunde der bürgerlichen Demokratie geschaffen hat, sie beide neigen ihre Fahne vor dem Faschismus, der, wie Sie wissen, in seinen Vorschlägen der Neuorganisation des Parlaments dem Parlamentarismus und der Demokratie den Garaus macht. Sie haben es getan in der Hoffnung, dass durch den Faschismus die europäische Arbeiterbewegung niedergeschlagen wird. Vor kurzem aber wurde Mussolini von seinen eigenen Anhängern mit dem Rufe empfangen: Es lebe die Freiheit! Worauf er ihnen antwortete: Lassen Sie das dumme Zeug! — Nun, wir glauben, dass Herr Curzon und der englische König, der auf den Porträts so sehr Nikolaus II. ähnelt, und der amerikanische Gesandte Child sich etwas kindisch zu früh gefreut haben. Am italienischen Faschismus werden sie ihre Freude im Weltmaßstabe nicht erleben.

Genossen, wenn wir nach dem Norden gehen, nach Deutschland, so sehen wir, wie sich der Kampf um das Ruhrgebiet zum Ausgangspunkt eines neuen großen Krieges der Klassen in Deutschland auswächst. Die deutsche Bourgeoisie ging in den Ruhrkampf in der Überzeugung, dass es ihr gelingen würde, die Lasten des Versailler Friedens so weit zu mindern, dass sie dann imstande sein würde, ihre Wirtschaft wiederaufzubauen auf Kosten der Arbeiterklasse. Diese Rechnung hat sich als falsch erwiesen. Das halbe Jahr der Ruhrbesetzung bedeutet eine katastrophale Zerstörung der deutschen kapitalistischen Wirtschaft mit dem Resultat, dass sich in Deutschland drei entscheidende Gruppierungen bilden, die in absehbarer Zeit in der einen oder anderen Kombination ihre Kräfte messen werden:

1. Das Lager der mittleren Bourgeoisie, des gesättigten Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie, das unter der Losung steht: „quieta non movere“, d. h. „Lasst die Dinge sein, wie sie sind“, rührt das schöne Ding nicht an, das sich die deutsche Republik nennt. Dieses Lager, das, sozial genommen, aus der deutschen verarbeitenden Industrie, aus den deutschen Handelskreisen, aus einem Teil der pazifistischen und demokratischen Intellektuellen, aus den reichen katholischen Bauern und aus der Arbeiteraristokratie besteht, wird mit jedem Tage schwächer. Schon die letzten Gemeinde- und Landtagswahlen — nehmen Sie nur den Ausgang der Wahlen in Mecklenburg-Strelitz — zeigen das Zusammenschrumpfen der Anhänger dieses mittleren Lagers. Dieses mittlere Lager, das das Resultat der Novemberrevolutionstage stabilisieren will, wird berannt von zwei Seiten: erstens von der Arbeiterklasse, die in diesen Zuständen nicht länger leben kann; zweitens vom Kleinbürgertum, von den Beamten, den Technikern, den kleinen Handwerkern, die sozial vom Kapitalisten zertreten werden. Dieses Lager leidet materiell noch tausendmal schwerer als die Arbeiterklasse. Wenn Sie die letzte Nummer der Zeitschrift von Parvus, der „Wiederaufbau“, nehmen, so werden Sie dort den Artikel eines Arztes, Dr. Mamlock, über die Lage der deutschen Ärzte finden. Nehmen Sie gleichzeitig die Arbeiten des Vereins für Sozialpolitik über die Lage der deutschen Intellektuellen, so werden Sie sehen, wie diese Stehkragen-Proletarier, die früher schon nicht sehr gut lebten, jetzt viel schlechter als die Arbeiter leben. Ein Teil dieser Klasse sucht sich zu retten, durch vollkommene Verlumpung, durch Schiebereien, ein anderer Teil durch die Flucht zur manuellen Arbeit, der dritte sinkt ins tiefste Elend. Er kann auch nicht so weiter leben, und er versucht, das jetzige Regime über den Haufen zu rennen unter der Flagge des Nationalismus, unter der Flagge der Rückkehr zu den Zeiten, wo ein Kaiser da war, ein Traum von der Herrschaft über die Welt, und wo der Intellektuelle und der Kleinbürger jeden Tag ein Stück Fleisch aßen.

Diese Bewegung wird niemals imstande sein, das alte Deutsche Reich wieder herzustellen, aber sie wird eine große Bedeutung haben in der Zerstörung dieses neuen deutschen Reiches der Reichen, wie es sich ausgebildet hat auf Grund der deutschen Revolution. Diese Masse ist das Kanonenfutter der einzigen realen Kraft, die versucht, die alten kapitalistischen Zustände wieder herbeizuführen: der Junker und der Schwerindustrie, der Stinnes und Westarp, die zwar persönlich keinen Anteil an den geheimen Organisationen des deutschen Nationalismus nehmen, aber sie finanzieren und unterstützen, weil sie ebenso wie die italienische Schwerindustrie, wie die Banca Disconto usw. hoffen, dass sie auf dem Rücken der Rebellion des Kleinbürgertums ihre Herrschaft vollkommen herstellen werden. In Deutschland sehen Sie so einen Knäuel neuer großer Kämpfe, und wenn früher der gute Deutsche die Bolschewiki beschuldigte, dass sie das Wort Bürgerkrieg ausgedacht haben, so produziert jetzt Deutschland alle Formen des Bürgerkrieges, die man sich nur denken kann. Beginnend mit der geheimen Organisation, mit einer geheimen Feme, die politische Attentate organisiert, durch den passiven Widerstand, der eine Kampfesform unterdrückter orientalischer Völker ist, bis zum offenen Klassenkampfe stellt jetzt Deutschland eine geographische Karte aller Formen des Bürgerkrieges dar, und die Zeit, da Heine sagte, dass das brave Deutschland keine Mördergrube sei, ist vorüber. Es gibt kein Land, in dem einzelne Teile des Bürgertums so gegeneinander und gegen die Arbeiterklasse wüten wie in Deutschland.

Genossen, ich gehe von Deutschland nach Süden, wo wir den bulgarischen Umsturz hatten. Was bedeutet der bulgarische Umsturz? Der bulgarische Umsturz ist der Sieg der kleinen Clique städtischer Intellektueller, Bürokraten und Offiziere; nicht eine Massenbewegung, sondern ein militärisches Komplott, an dem eine Junkerschule und ein Kavallerie-Regiment teilgenommen haben, hat gesiegt über die Bauernregierung, und es wird sein Regime zu sichern suchen im Interesse der städtischen Bourgeoisie, die sehr schwach ist, der Bürokratie und des Militärs. In Bulgarien herrschte vor dem Kriege nicht die Bourgeoisie, es herrschte die schwache Schicht der bürgerlichen Intellektuellen im Interesse der im Werden begriffenen Bourgeoisie, und diese Schicht hat wieder ihre Regierung über das Bauerntum hergestellt.

Genossen, nachdem wir dieses Bild der Lage in den bürgerlichen Staaten vor unseren Augen vorüberziehen ließen, so bitte ich Sie, sich jetzt zu erinnern an die Charakteristik der Lage, die auf dem Hamburger Kongress Herr Otto Bauer‚ der vereidigte Marxist der Zweiten Internationale, gegeben hat, Herr Otto Bauer, der dort auftrat als der Jeremias an den Ufern der Alster, hat Tränen vergossen und gesagt, die Zeiten nach dem Wiener Kongress seien wiedergekommen. So wie der Wiener Kongress die Periode der revolutionären Erschütterungen beendet hat, so leben wir jetzt in einer Zeit der siegreichen Konterrevolution.

Nach dem Wiener Kongress aber haben wir bis in die 30er Jahre die Todesruhe in Europa gehabt: das Metternichsche System in Mitteleuropa, das Regime der Bourbonen, die nichts gelernt und nichts vergessen hatten, in Frankreich, das Regime der Reaktion in England, das mit Feuer und Schwert die luddistische Bewegung unterdrückt hat, das mit Feuer und Schwert die erwachende junge Arbeiterbewegung zu unterdrücken suchte. Und außerhalb Europas hatten wir Völker und Länder, die damals gar keine Rolle in der Geschichte spielten, die nur ein Gegenstand der Bemühungen der englischen Kaufleute waren, die ihre Baumwoll-Manufakturwaren an die Vertreter dieser Länder verkaufen wollten. Leben wir jetzt in solchen Zeiten? Wir haben es nicht mit dem Sieg der Konterrevolution nach der Periode der Revolution zu tun, sondern mit dem Kampf der jungen, wachsenden Revolution und der Konterrevolution. Wir leben in einer Periode, wo die Bourgeoisie eine unmögliche Aufgabe zu lösen versucht: die zerschlagene kapitalistische Welt wiederherzustellen.

Wir sehen, wie im Lager der Bourgeoisie selbst Kämpfe entstehen, die ihre Macht zersetzen, die ihr nicht erlauben, zum Alter zurückzugehen, um schön gar nicht davon zu reden, dass dies ökonomisch unmöglich ist. Der beginnende Kampf der Kleinbourgeoisie, der Kampf in Amerika gegen die Trusts, in England der Kampf der Liberalen mit den Konservativen, was bedeutet er? Was bedeutet es, wenn ein Mann, der gestern Englands Premierminister war — und nicht der dümmste —‚ wenn Lloyd George heute in der ganzen Welt der Ankläger seines eigenen Werkes ist, des Friedens von Versailles? Was bedeutet es, wenn in Frankreich, dem Lande des Sieges, die französische Bourgeoisie sagen muss: Vier Jahre nach dem Kriege müssen wir einen neuen führen, oder der „Frieden“ von Versailles ist tot? Was bedeutet es, wenn im Zentrum Europas, in der größten industriellen Macht des europäischen Kontinents nicht nur Krieg zwischen Arbeiterklasse und Kapital besteht, sondern die Vertreter der bürgerlichen Klasse gegeneinander mit Waffen kämpfen? Was bedeutet es, wenn in dieser Situation gleichzeitig ein konsolidierender Faktor sich befindet, der erste Staat des Proletariats? Und damit beginne ich einen kurzen Überblick über die Entfaltung der Kämpfe der Arbeiterklasse in den letzten sechs Monaten. Ich beginne mit Sowjetrussland.

3. Der wachsende Widerstand der Arbeiterklasse.

Jeder von Ihnen, der Gelegenheit haben wird, die Lage Russlands zu studieren, der sich umsieht in den Fabriken, der mit den Arbeitern spricht, der die Massen auf den Straßen sieht, nicht bei Demonstrationen, sondern auf den Boulevards, der ins Dorf hineingeht, der wird den Eindruck einer großen Stabilisierung der Verhältnisse bekommen, er wird sehen, wie sich die Arbeiterklasse hier auf einer aufsteigenden Linie befindet, wie heute schon materiell die Lage der Proletarier in den Fabriken Russlands besser ist als die Lage der deutschen Arbeiter. Sie werden sehen die Stärkung der Beziehungen zwischen Arbeitern und Bauern, obwohl die Last der Steuern noch sehr schwer auf dem Bauer lastet. Aber das bedeutet nicht, dass die russische Revolution über die Gefahr hinaus ist. Solange die russischen Fabriken nicht wenigstens auf der Höhe der Vorkriegszeit stehen, hat die russische Revolution ihre Gefahrenzone noch nicht überschritten, und solange sich nicht wenigstens noch ein industrieller Staat in den Händen des Proletariats befindet, befindet sich die russische Revolution noch in der Defensive. Wer aber das Russland des Jahres 1923 mit dem des Jahres 1920 und 1921 vergleicht, muss sagen: Es ist zehnmal stärker, als es damals war.

Damit ist gesagt, dass der grundlegende Zweck der Weltkonterrevolution nicht erreicht worden ist. Der Zweck der Offensive des Kapitals war: Zurück zur Zeit vor 1914. Wodurch unterscheidet sich in erster Linie das Weltbild von 1914, und das von 1923? Nicht dadurch, dass Deutschland entthront ist. Die kapitalistische Welt sah schon ein Auf- und Niedergehen einzelner kapitalistischer Staaten. Wenn Sie sich die Geschichte des früheren Kapitalismus ins Gedächtnis zurückrufen, so sehen Sie nicht mehr und nicht weniger als die wirtschaftliche Herrschaft der italienischen Städte, als die wirtschaftliche Herrschaft des jungen feudal-kapitalistischen Spaniens, die Herrschaft der holländischen Pfeffersäcke, die Herrschaft Englands, gegen sie rebellierte Frankreich, und in den 70er Jahren entstand die Macht des industriellen Deutschland. Dass Deutschland im Weltkrieg geschlagen worden ist, bedeutet keine grundsätzliche Änderung der Weltlage.

Und was sehen Sie jetzt? Sie sehen, dass gegenüber dem kapitalistischen Weltstaatensystem sich ein neues Staatensystem herausgebildet hat, das proletarische. Es ist die Föderation der Sozialistischen Staaten des früheren Russlands. Sie trägt nicht den Namen Russland, sondern den Namen „Verband der Sozialistischen Sowjetrepubliken“. Das Wort Russland fehlt darin. Manche Genossen trauern ihm vielleicht nach. Wir hoffen aber, dass dieser neue Name den Rahmen bilden wird für den Anschluss weiterer sozialistischer Staaten, die nicht auf‘ dem Territorium des früheren Russlands sind, so dass wir nicht genötigt sein werden, den Namen des sozialistischen Staatensystems zu ändern, wenn bald in ein paar Ländern Revolution gemacht wird.

Also: gegenüber dem kapitalistischen Staatensystem beginnt sich das proletarische Staatensystem herauszubilden zum Widerstand gegen die kapitalistische Welt. Letztere versuchte diesen Kern des neuen Staatensystems zu zertreten, es ist ihr nicht gelungen. Das ist ein Punkt der Bilanz, der größte Bedeutung hat und zeigt, wie unsinnig es ist, wenn Otto Bauer von Zeiten wie nach dem Wiener Kongress spricht

Aber das ist nicht der einzige Punkt unserer positiven Bilanz der letzten Monate. Die Offensive des Kapitals ist nicht zu Ende, aber wir haben den Höhepunkt überschritten. Der beste Beweis dafür ist neben der Stärkung Sowjetrusslands das beginnende Wiedererstarken der Gewerkschaften. Die Jahre 1921 und 1922 wurden am meisten dadurch charakterisiert, dass ein Abflauen der Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zu verzeichnen war. Wir sehen jetzt in Deutschland ein Steigen der Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, wir sehen denselben Prozess in England; mit der Besserung der wirtschaftlichen Konjunktur in Amerika und England begann ein großer Prozess der Amalgamierung der Gewerkschaften.

Wir sehen, wie die Arbeiterklasse jede Möglichkeit zu neuen Streiks ausnützt. Wir hatten den Streik der landwirtschaftlichen Arbeiter in England. Wir haben jetzt den Dockerstreik. Wir sehen das Wiederaufwachen des Streiks der Bergarbeiter in Amerika. Wir sehen eine ganze Reihe kleinerer Streiks. Wir sehen, wie die Bourgeoisie genötigt ist, in diesen Ländern von neuem die Löhne zu erhöhen. Die Arbeiterbewegung beginnt, von dem Punkt der tiefsten Depression des Jahres 1921 sich wieder zu heben.

Und wenn Sie, Genossen, sich fragen, was der Sieg der Labour Party in England bedeutet, so sagen wir trotz unseres großen Kritizismus gegenüber der Labour Party, die nicht einmal die alte Zweite Internationale, sondern, was ihre Führer anbetrifft, eine Neuausgabe der liberalen Arbeiterführer darstellt, wie sehr ihre Führer auch versuchen, sich jetzt als Sozialisten zu kostümieren: Es wäre verkehrt, über dem Zustand der Führer und sogar dem momentanen Zustand der Arbeiterklasse die große Wandlung zu übersehen, die sich darin äußert, dass 4 Millionen Arbeiter sagen: Wir geben unsere Stimme ab für einen Vertreter der Arbeiterpartei. Herr Sidney Webb, der theoretische Führer und der kundige Schieber der englischen Labour Party, hat in seiner Einleitungsrede auf dem Kongress der Labour Party erklärt: Wir sind Gegner des Klassenhasses, wie ihn Marx gelehrt hat; der Gründer des englischen Sozialismus war nicht Marx, sondern Robert Owen. Herr Sidney Webb ist ein sehr gelehrter Mann. Er weiß über England mehr als alle Regierungen Englands zusammengenommen, aber er wird ebenso wenig imstande sein, den Sozialismus von Robert Owen zu restaurieren, wie Baldwin imstande sein wird, das England Eduards VII. oder der Königin Victoria zu restaurieren. Die englische Arbeiterklasse beginnt, sich als Klasse zu konstituieren, Sie beginnt, es schüchtern zu tun. Sie hat noch eine liberale Ideologie. Aber liberale Ideologie oder andere Ideologie, sie beginnt, sich als Klasse zu fühlen. Und die Tatsache, dass in dieser geschniegelten und gebügelten Labour Party, wo das erste, was die Führer tun, wenn sie ins Parlament kommen, ist, ein Buch über den guten Ton zu lesen, — dass in dieser Labour Party einfache Arbeiter in das Parlament kommen, die die „Right honourable gentlemen“ schmutzige Hunde titulieren: das alles zeigt, dass die englische Arbeiterklasse von heute eine andere ist, als sie vor dem Kriege war. Und mag es den liberalen pseudosozialistischen Führern der englischen Arbeiterklasse noch zwanzigmal gelingen, sie zu beschwindeln, mag es ihnen gelingen, ihr noch einzureden, was Herr Snowden jetzt in der „Morning Post“ der Bourgeoisie einzureden sucht, dass die Labour Party keinem Kapitalisten, ein Haar krümmen und den Kapitalismus so langsam abschaffen wird, dass er es selbst nicht merkt, so bedeutet das alles: Wenn die Herren Snowden und Webb herrschen werden, werden sie versuchen, solche Politik zu treiben. Aber das bedeutet nicht, dass es ihnen gelingen wird. Die Bourgeoisie wird sich auch gegen die „friedliche“ Expropriation zur Wehr setzen. Der „Daily Telegraph“ antwortete auf die Rede Webbs auf dem Kongress: „Herr Webb hat sehr human, sehr zivilisiert gesprochen, aber ein Pirat ist ein Pirat, selbst wenn er in weißen Handschuhen auftritt.“ Nun, wir wollen Webb und Snowden verteidigen; sie sind keine Piraten, sie wollen nur die Geschichte ein bisschen betrügen, und sie werden enden als betrogene Betrüger, aber ihr Programm wird von der Arbeiterklasse durchgeführt werden zwar auf den besonderen Wegen der besonderen englischen Verhältnisse (es wird nicht eine Wiederholung der russischen Dinge sein, denn nichts wiederholt sich in der Geschichte), aber trotzdem im Kampfe der Klassen. Die englische Arbeiterklasse ist in diesen Kampf schon eingetreten, sie wird kämpfen, weil sie kämpfen muss. Das Grundlegende dafür, warum man nicht zu Eduard VII., zur Königin Victoria und zu Owen zurückkehren kann, besteht darin: England hatte zu Zeiten Owens und der Königin Victoria das Monopol der Industrie und des Handels in seinen Händen. England war zu den Zeiten Eduards VII. schon des Monopols beraubt. Aber es war der bestfundamentierte und der stärkste Industriestaat. Heute ist der stärkste Industriestaat Amerika. Heute ist England mit schweren finanziellen Lasten belegt, und heute ist der europäische Kontinent, der beste Abnehmer der englischen Waren, ruiniert: heute hat England eine schwerere Konkurrenz in der Welt durchzuhalten, als es jemals hatte, militärisch, maritim und industriell, und die englischen Arbeiter, die bisher in zwei Teile getrennt waren, in einen Teil, der nicht kämpfen wollte, weil er nicht zu kämpfen brauchte — die Arbeiter-Aristokratie — und einen Teil, der nicht kämpfen konnte — die englischen Arbeiter —‚ werden wie alle anderen Proletarier genötigt sein, gegen die Bourgeoisie zum kämpfen, wenn sie leben wollen.

Genossen, die Zweite Internationale suchte im Jahre 1919 immer den Arbeitern zu beweisen: Ihr dürft, Arbeiter in Europa, keine Revolution machen, bis die Engländer und die Amerikaner die Revolution machen. Herr Otto Bauer, als österreichischer Staatssekretär, veröffentlichte im Jahre 1919 eine anonyme Broschüre — als Staatsmann durfte er diesen tiefen Gedanken nicht ausdrücken, weil die Staatsmänner verpflichtet sind, keine Gedanken zu haben —‚ in der er bewies: die europäische Revolution kann nicht weitergehen, bis die Revolution in Amerika und England beginnt. Jetzt haben wir zwar in England nicht den Beginn der Revolution, sondern wir haben nur das Aufwachen der Arbeiterklasse, den Beginn ihrer Konstituierung als Klasse, und wir sehen, wie die Männer der Zweiten Internationale versuchen, diese Arbeiterklasse um ihr Erstgeburtsrecht zu betrügen, sie abzuhalten nicht nur von der Revolution, sondern von jedem revolutionären Gedanken. Und was machen die Herren Bauer? Sie begrüßen das als den Weg zum Sozialismus! Genossen, wir sind nicht der Meinung, dass es einen geographischen Kodex gibt, der vorschreibt, wo die Revolution zu beginnen hat. Die Revolution beginnt eben dort, wo sie beginnt. Wir standen niemals auf dem Standpunkt, dass die deutschen Arbeiter, die russischen Arbeiter, die italienischen Arbeiter keine Revolution machen dürften, ehe der englische Arbeiter der englischen Bourgeoisie das Genick gebrochen habe. Wir waren und sind überzeugt, dass der europäische Kontinent imstande sein wird, wenn die Arbeiterklasse siegt, zu kämpfen gegen die Blockade der Angelsachsen und sogar gegen die Unterseeboote und gegen die Luftschiffe der angelsächsischen kapitalistischen Welt, wenn sie den europäischen Kapitalismus überdauern sollte.

Aber es unterliegt keinem Zweifel, dass das Wiedererwachen der englischen Arbeiter den Beginn der Arbeiteroffensive bedeutet. Die Herren von der Labour Party glauben, dass sie sich retten werden, indem sie unsere Genossen nicht in die Labour Party hineinlassen, damit sie ihre Schäflein nicht verderben; aber der konservative Schriftsteller Jan Colim, der in der „Morning Post“ auf die Artikel von Philipp Snowden antwortete, erklärt mit Recht: „Die Labour Party lehnt es jedes Jahr ab, die Kommunistische Partei aufzunehmen, und jedes Jahr wächst in ihren Reihen die Zahl der Leute, die die Zulassung der Kommunisten fordern. Die Herren von der Labour Party glauben, dass der Kommunismus in ihre Reihen nur hineingebracht werden kann durch die Mitglieder der Kommunistischen Partei. Wir sind überzeugt, dass der Kommunismus in ihre Reihen noch besser hineingebracht wird durch den englischen Kapitalismus, und aus diesem Grunde begrüßen wir die Entwicklung der Labour Party in England als einen Beweis des Erwachens der englischen Arbeiterklasse.“

Genossen, wenn Sie sich die Lage auf dem Kontinent anschauen, wenn Sie eine solche Tatsache nehmen wie den Ausfall der letzten Wahlen in Frankreich, wo der Nationale Block in einem Bezirk 52.000 Stimmen bekam und die Kommunisten 40.000, wenn Sie sich erinnern, dass die Kommunistische Partei Frankreichs dargestellt worden ist als ein Haufen Unglück, dass sogar viele von uns geglaubt haben, dass bei den Wahlen die Longuetisten, trotzdem sie als Arbeiterpartei viel schwächer sind, eine viel größere Zahl der Stimmen bekommen würden — und wir sehen, dass die Longuetisten den vierten Teil unserer Stimmen erhalten haben —‚ so zeigt das auch hier den wachsenden Kampfesmut und Kampfeswillen der Arbeiterklasse.

Von Deutschland brauche ich nicht weiter zu sprechen. Die Welle der Streiks, die jetzt fortwährend durch Deutschland flutet, zeigt, dass die Arbeiterklasse genötigt ist, zu kämpfen, und dass sie kämpft. Wir haben noch größere Beweise des Erwachens der Arbeiterklasse. Verfolgen Sie die Nachrichten aus Ungarn‚ dem Lande der weißen Diktatur, dem Lande, wo der Kommunismus zerschlagen wurde in der Zeit, wo er noch jung und schwach war und keine Vergangenheit hatte, und wo es darum so schwer ist, die kommunistische Bewegung wieder aufzubauen. Die Massenstreiks in. Ungarn zeigen, dass sogar die Weiße Diktatur die Bourgeoisie nicht rettet vor dem Neuerwachen der Arbeiterklasse, und wenn Herr Otto Bauer von den Zeiten der Kirchhofsruhe nach dem Wiener Kongress spricht, so sucht er damit eine Entlastung seines Gewissens vorzunehmen. So wie wir auf der Gegenseite im Lager der Bourgeoisie die wachsende Zersetzung sehen, so sehen wir auf der Seite des Proletariats die Sammlung der proletarischen Kräfte, ihr Erwachen und Erstarken. Und wir sagen auch hier, die Periode der Offensive des Kapitals ist noch nicht vorüber, Schläge werden noch auf uns nieder rasseln, wir werden noch in vielen Punkten rein defensiv kämpfen, aber die Offensive hat ihren Höhepunkt überschritten.

4. Den Haag und Hamburg.

Es entsteht die Frage: wie spiegelt sich das wider in den Arbeiterparteien? Wir haben zwei Tagungen zu verzeichnen, deren Bedeutung für den Kommunismus ungeheuer ist: die Tagung in Den Haag und die Tagung in Hamburg. Für diejenigen, die Gelegenheit hatten, den Konferenzen in Den Haag und in Hamburg beizuwohnen, waren die Eindrücke die zermürbendsten und niederdrückendsten. Aber eben darum haben diese beiden Konferenzen eine große revolutionäre Bedeutung.

Was bedeutet die Haager Konferenz? In Den Haag versammelten sich die Vertreter von 24 Millionen organisierter Arbeiter, und warum? Weil sie überzeugt waren, dass die Kriegsgefahr heute größer ist als in den Jahren vor dem Kriege. Sie versammelten sich, um den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Krieg zu organisieren, und sie beurteilten die Kriegsgefahr so hoch, dass sie sich sagten: Wir wollen uns gegen diese Kriegsgefahr koalieren, sogar mit dem bürgerlichen Pazifismus. Die Gefahr ist so groß, dass man nicht fragen darf, unter welchem Banner willst Du gegen sie kämpfen?

Nun, Genossen, was haben diese Vertreter gegen die Kriegsgefahr zu unternehmen beschlossen? Als wir nach dem Haag fuhren als Vertreter der russischen Gewerkschaften, schrieb uns Genosse Lenin eine Instruktion, die wir wahrscheinlich in der nächsten Zeit veröffentlichen werden; sie ist eines der wichtigsten Dokumente des revolutionären Realismus Lenins. Er sagte: Eure erste Pflicht ist, in Den Haag zu sagen: Wer verspricht, dass er den Krieg sabotieren wird durch den Generalstreik oder durch einen Aufstand, falls ein Krieg ausbricht über Nacht, bevor die Massen imstande sind, sich zu orientieren, der ist entweder ein Narr oder ein Betrüger. Und die Maschine der Bourgeoisie ist so — das lehrt die Erfahrung des letzten Krieges —‚ dass sie alle Karten vermischen wird, aus Recht Unrecht, aus Schwarz Weiß machen wird. Wenn ein Krieg ausbricht, wird die große Mehrheit der arbeitenden Massen mitgeschleift werden auf die Kriegsfelder. Sagt in Den Haag, dass es nicht unsere Aufgabe ist, jetzt Pläne zu spinnen, was man tun wird, wenn ein Krieg ausbricht, sondern dass es unsere Aufgabe ist, jetzt dafür zu arbeiten, dass ein Krieg nicht ausbrechen kann. Wir haben die Amsterdamer darauf hingewiesen, dass wir vor der Besetzung des Ruhrgebietes stehen, vor neuen Angriffen auf Sowjetrussland, vor großen Konflikten im Orient. Was wollt Ihr dagegen tun? Es ist noch nicht Krieg, aber die Vorbereitung des Krieges; wir haben Euch das Minimum vorgeschlagen, für das jeder ehrliche Arbeiter zu gewinnen ist: gemeinsame Agitation gegen die Kriegsgefahr, eine gemeinsame Agitationswoche gegen den Krieg, Bildung illegaler Organisationen zur Agitation gegen den Krieg im Heere und ein eintägiger Demonstrationsstreik, um die Massen zusammenzufassen, damit sie fühlen, dass sie wieder zusammen sind, und um der Bourgeoisie zu zeigen, dass wir uns gegen die Kriegsgefahr zu organisieren beginnen. Diese Vorschläge wurden abgelehnt, es wurde eine Resolution angenommen, dass man die Kinder so erziehen müsse, dass sie nicht in den Krieg gehen werden.

Es wurde dann über die Bedeutung des Kinos im Kampfe gegen den Krieg verhandelt.

Wenn wir die politische Bilanz des Kongresses vom Haag ziehen, so bedeutet er: Die Führer der europäischen Gewerkschaften und der 2. und 2½ Internationale waren bereit, in Den Haag noch einmal zuzulassen, ohne einen Finger zu rühren, dass, die Arbeiterklasse ohne Abwehr in den Krieg gejagt wird. Die Haager Konferenz bedeutet die Wiederholung des 4. August 1914. Es unterliegt keinem Zweifel, dass, soweit es sich um die Führer der Amsterdamer Internationale und der 2. und der 2½ Internationale handelt, es zum zweiten Mal zu einem Zusammenbruch kommen muss, wenn der Krieg ausbricht. Wenn wir Revolutionäre die Bilanz ziehen, so müssen wir von dieser Tatsache ausgehen.

Was zeigte der Kongress von Hamburg? Erstens: Sogar die sozialdemokratischen Arbeiter haben ein Bedürfnis nach internationaler Vereinigung, nach dem Kampf gegen die Kriegsgefahr, gegen den Faschismus. Zweitens: Die Führer der 2. Internationale haben ein Bedürfnis, die Arbeiter nicht kämpfen zu lassen, sie mit Phrasen irrezuführen, ihnen vorzugaukeln, dass sie kämpfen wollen, ohne dass sie es in Wirklichkeit wollen. Sie kennen die Verhandlungen des Hamburger Kongresses. Ich brauche auf sie nicht einzugehen. Ich will Ihnen nur an einem Beispiel zeigen, was Hamburg bedeutet. Hamburg nahm, ebenso wie Den Haag, eine Resolution gegen die Kriegsgefahr an. In Den Haag wurde sogar eine Resolution angenommen, dass man auf den Krieg mit dem Generalstreik antworten soll. Nach dem Hamburger Kongress fand die Konferenz der englischen Labour Party statt, über die ich schon gesprochen habe. Was wurde auf ihr beschlossen? Die Labour Party lehnte es ab, sich als republikanische Partei zu erklären. Was wurde weiter beschlossen? Sie lehnte die Verpflichtung ab, gegen das Kriegsbudget zu stimmen. Herr Henderson erklärte: „Wir wollen doch selbst Regierung sein, und werden wir das können, wenn wir heute sagen, dass wir das Reich wehrlos machen wollen?“ Ich weiß nicht, ob er die englischen Arbeiter damit betrügen kann, ob er sie damit irreführen kann, wenn er so tut, als ob er nicht verstehe, dass es etwas anderes ist, England zu verteidigen, wenn man die Macht in den Händen hat und die Verantwortung für die Taten Englands übernehmen kann, als der englischen kapitalistischen Regierung Waffen abzusprechen, die sie gebrauchen wird gegen Sowjetrussland und gegen das indische und ägyptische Volk, gegen die englischen Proletarier. Er hat es abgelehnt, gegen die Vergrößerung der englischen Luftflotte zu stimmen. Sie dient einstweilen in erster Linie zur Beschießung der Bauern in Indien und Mesopotamien, die nicht genügend Steuern zahlen. Henderson ist für die Selbständigkeit der Völker. Er verteidigt Georgien. Aber er, Mitglied der Exekutive der 2. Internationale, bewilligt und will Geld bewilligen für Luftschiffe. die die indischen und mesopotamischen Bauern schon heute, mit Bomben bewerfen und eventuell morgen die französischen Arbeiter und Sowjetrussland bewerfen werden. Diese Zusammenstellung der Phrasen von Hamburg und der Taten der englischen Labour Party, die nicht eine beliebige Partei der 2. Internationale ist, sondern in deren Händen die Leitung derselben liegt, zeigt, dass die Führer der 2. Internationale, die einen Teil der Arbeiterklasse vertreten, Agenten der Bourgeoisie sind. Mögen die Herren schreien, das sei eine Beschimpfung; es ist eine Tatsache, dass sie der Bourgeoisie helfen, die Arbeiter zu betrügen.

Damit komme ich zu der Frage: Wie ist angesichts dessen die Einheitsfronttaktik möglich, welches ist die Bilanz dieser Taktik, und was ist weiter zu tun?

5. Die Frage der Einheitsfront.

Genossen! Die Änderung der Situation in unserer Einheitsfronttaktik von der Konferenz der drei Exekutiven in Berlin bis zur Hamburger Konferenz ist eine sehr krasse. Erinnern Sie sich? In Berlin fand, auf Einladung der Wiener Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft, die Konferenz der Vertreter der drei Exekutiven statt. Es bestand also eine Wiener Arbeitsgemeinschaft, die sagte: ich bin nicht kommunistisch und nicht die 2. Internationale. Ich bin Vermittler zwischen diesen beiden, und meine historische Aufgabe ist, eine einheitliche Aktion der beiden herbeizuführen. Wir kamen zusammen, verhandelten, und die Sache zerschlug sich aus dem einfachen Grunde, weil die Exekutiven der 2. und 2½ Internationale erklärten: Wenn Ihr wollt, dass wir gemeinsame Aktionen gegen die Kriegsgefahr, gegen den Faschismus, für den Achtstundentag führen, so müsst Ihr in Russland nichts mehr und nichts weniger als den Kapitalismus restaurieren. Dies sagten die Leute, indem sie von uns forderten: Gebt Freiheit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären, die ihrerseits fordern: Nieder mit der neuen ökonomischen Politik — das ist die Forderung von Martow —‚ zurück zur alten Politik der Bourgeoisie. Sie fordern die Öffnung der Einfallstore für das Weltkapital. (Das bedeutet die Förderung der Wiederherstellung Georgiens.) Die Konferenz scheiterte daran, dass sie sagten: Wenn Ihr in Europa mit uns zusammen gegen die Offensive des Kapitals kämpfen wollt, so müsst Ihr in Russland gerechterweise den Kapitalismus wieder auferstehen lassen. Sie traten auf als Vertreter desselben Programms, welches Lloyd George zur gleichen Zeit in Genua uns vorgelegt hatte. Aber sie verhandelten mit uns, und sie sagten, sie wollten gemeinsame Aktionen. Was hat dann Den Haag gezeigt? In Den Haag waren die bürgerlichen Pazifisten eingeladen. Es wurde abgelehnt, die Kommunistische Internationale einzuladen. Es wurden aber die russischen Gewerkschaften eingeladen, und als bekannter Gewerkschaftler fuhr ich nach Den Haag.

Wodurch erklärte sich dieser Umschwung in der Taktik der 2. und 2½ Internationale? Was die Klugen im Stillen denken, das sagt der Dumme öffentlich. Herr Grumbach hat diese Rolle übernommen, und Herr Vliegen, den ich für klüger hielt, hat es auch bestätigt. Sie haben folgenden Plan offen ausgesprochen. Sie sagten: Die Hauptstütze des Weltkommunismus ist die Kommunistische Partei Russlands. Wenn wir ihre Reserve, ihre Grundlage, die russischen Gewerkschaften, zu „anständigen Leuten“ erziehen, die mit uns so friedlich und so anständig verhandeln, wie Radek genötigt war zu verhandeln, und wenn sie wirklich das tun, so beweist es eins: Die Russen suchen Anschluss an die „europäische Arbeiterbewegung“, wie sie den Anschluss an den europäischen Kapitalismus suchen. Und wenn sie langsame Übergänge suchen, zuerst mit uns kooperieren, den Kampf gegen uns einstellen, so ist das der Beginn einer Wandlung im internationalen Maßstabe. Dann werden sie in Europa auch auf die Kommunistischen Parteien einwirken und sie langsam zurückführen zur 2. Internationale. Herr Grumbach sagte: „Ihr müsst eine Zeitlang in Quarantäne sitzen. Wir wollen sehen, ob es Euer Ernst ist, wirklich mit uns Frieden zu schließen.“ Mein erster Bericht an die Exekutive nach, Moskau lautete:

Die Leute haben uns missverstanden; wir müssen ihnen helfen, uns zu verstehen. Um die Einheitsfront wollen wir noch energischer kämpfen, aber wir wollen mit ihnen so sprechen, dass sie verstehen, dass wir keine Lust haben, uns mit ihnen zu vereinigen. Und wir haben so mit ihnen gesprochen. Und als in Hamburg unsere Delegation eine Verständigung über die gemeinsame Aktion gegen den Krieg forderte, da sagte Herr Fritz Adler, dem als einziges Kapital nur eine verschossene Revolverpatrone noch übrig geblieben ist: Wir können mit den Leuten, die auf dem Boden der Diktatur in der Arbeiterbewegung stehen, nicht an einem Tisch sitzen. Im Mai 1922 waren wir doch nicht weniger „diktatorisch“ gesinnt als im Jahre 1923. Aber damals konnte Herr Adler mit uns an einem Tisch sitzen. Noch mehr, er hielt es für seine historische Aufgabe, der Stuhl, auf dem wir und die 2. Internationale sitzen, oder die Brücke zwischen uns zu sein. Im Jahr 1923 hat Herr Adler prinzipielle Gründe gefunden, warum er mit uns nicht sprechen kann, was sehr traurig ist, nicht so sehr für uns, sondern als Illustration dafür, wie mit dem politischen Fall auch ein moralischer Verfall eintritt. Denn wenn Fritz Adler, den wir bekämpften, aber den wir für einen ehrlichen Menschen hielten, solche Argumente auszudenken imstande ist, so bedeutet es: Herr Adler ist sich bewusst, dass er die Arbeiter belügt. Und es kommt ihm nicht mehr auf eine mehr oder weniger dicke Lüge an. Lassen wir diesen ausgerupften Adler, der jetzt ausgestopft die Londoner Exekutive zieren wird, und fragen wir nach den Gründen der Änderung der Lage.

Nun, Genossen, der Unterschied, der zwischen der Haltung der 2. Internationale in Berlin und Hamburg uns gegenüber besteht, ist derselbe, der zwischen Curzons und Lloyd Georges Politik Russland gegenüber besteht. Sowjetrussland zur langsamen, verdeckten Kapitulation zwingen zu können, darum ging er uns um den Bart, doch als die englische Bourgeoisie einsah, dass das nicht möglich war, kam sie mit dem Ultimatum, mit der Politik Curzons. Die 2½ Internationale glaubte, dass wir Lust hätten, von ihr betrogen zu werden, dass wir auf dem Weg der gemeinsamen Aktionen langsam zu einer Vereinigung mit ihr kommen wollten, einer Vereinigung auf dem Boden des sozialdemokratischen Programms, wie es leibt und lebt. Sie hat sich überzeugt, dass davon keine Rede sein kann, dass die Kommunistische Internationale zwar für gemeinsame Aktionen ist, aber dass sie trotz dieser Aktionen nicht nur ihre selbständige Existenz bewahren wird, sondern jetzt schon vorrückt gegen die 2. und 2½ Internationale. Und da ist es für sie zu gefährlich, mit uns zu verhandeln. Soweit es sich also um die Ergebnisse der Einheitsfronttaktik gegenüber den Führern und den Vertretern der 2. und 2½ Internationale handelt, so müssen wir sagen: Nein, die Bilanz ist negativ. Aber diese negative Bilanz ist in historischem Sinne eine positive Bilanz. Je aussichtsloser die Taktik der Einheitsfront ist, was direkte sofortige Aktionen zusammen mit den Führern der 2. Internationale betrifft, desto fruchtbarer ist diese Einheitsfronttaktik. Denn die Arbeiter werden sich überzeugen — nicht durch künstliche Manöver der Demaskierung, sondern durch einfache Taten der 2. Internationale —‚ dass sie nicht gemeinsam und nicht allein kämpfen wird. Und dieses Resultat trägt in das Lager der 2. Internationale die größte Zersetzung.

Und so komme ich zu den Erfolgen, die wir in dem Kampf um die Einheitsfront haben. Ich komme zu der Berliner Konferenz der Transportarbeiter, zu der geistigen Spaltung im Lager der Amsterdamer. In denselben Tagen, wo in Hamburg die 2. Internationale sich durch einen Wall von Ordnern verteidigen ließ nicht gegen die Faschisten, sondern gegen die Delegation der Kommunistischen Internationale und gegen die Hamburger Organisation der Kommunistischen Partei, die schwächer ist als die sozialdemokratische Organisation, in derselben Zeit verhandelten der Sekretär der Amsterdamer Gewerkschafts-Internationale, Edo Fimmen, und der Sekretär des englischen Transportarbeiterverbandes, Robert Williams, mit den Vertretern der russischen Gewerkschaften über die gemeinsame Front im Kampfe gegen den Faschismus und im Kampfe gegen den Krieg.

Genossen! Viele unserer Genossen fragten: Will uns Edo Fimmen nicht betrügen, wer ist Edo Fimmen? Ich hatte mit Edo Fimmen in Den Haag scharfe Konflikte, und ich erkläre jetzt, dass ich bedaure, die Rede Fimmens, die ich jetzt als Broschüre gelesen habe, dort nicht gehört zu haben. Denn würde ich es getan haben, so hätte ich schon in Den Haag gewusst, was Edo Fimmen ist. Er ist zweifelsohne ein Mensch, der ehrlich auf dem Standpunkt des Klassenkampfes steht. Edo Fimmen stand in der alten sozialdemokratischen Partei in Holland auf dem linken Flügel. Er wurde nicht Kommunist, er hatte das Gefühl, dass es weniger wichtig ist, die radikalste Form des Klassenkampfes zu propagieren als mit der Arbeiterklasse zusammenzugehen. Er hoffte, dass die holländische Sozialdemokratie die Partei des Klassenkampfes bliebe. Die Sozialdemokratie Hollands wurde nicht vor die Aufgabe gestellt, für oder gegen den Krieg zu entscheiden, und Edo Fimmen konnte nicht sehen, dass man in diesem Lager nicht für die Arbeiterklasse kämpfen kann. Dann kam die deutsche Revolution, dann kam das Ende des Krieges und der Massenanstrom zu den Gewerkschaften. Und als die Holländer die Leitung der Amsterdamer Gewerkschaften übernahmen, hatte ein Teil ehrlicher Klassenkämpfer die Hoffnung, dass diese großen Massen der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale von dem Krieg etwas gelernt haben würden. Wenn Sie jetzt die Geschichte der Amsterdamer lesen werden, so werden Sie sehen, dass Edo Fimmen der Initiator des Kampfes gegen das Weiße Ungarn und für Unterstützung Sowjetrusslands war. Er kam als einer der ersten zur Hungerhilfe für Sowjetrussland. Wenn Sie jetzt die Rede Fimmens lesen, die er damals in Den Haag hielt, so ist es eine Rede mit Illusionen, mit Illusionen über Amsterdam, aber mit dem Willen zum Kampf. Und in Den Haag sah Edo Fimmen erst, was Amsterdam bedeutet. Er sah, wie man jeden Ansatz zu einem Kampfe sabotierte. Während des Ruhrkonfliktes sah Fimmen, dass nicht nur keine Zweite Internationale, keine Amsterdamer Internationale existiert, dass sie nicht gewillt sind, auch nur einen Finger zu rühren, sondern dass sie Agenten ihrer Regierungen sind. Und wenn jetzt die Amsterdamer Edo Fimmen anklagen, dass er ein Verräter an Amsterdam sei, so sagen wir: Edo Fimmen ist das Malheur passiert, dass er die Phrasen der Amsterdamer ernst genommen hat. Edo Fimmen kämpft nicht für den Kommunismus, sondern für Grundsätze, zu denen sich die Amsterdamer verpflichtet haben und die sie verraten haben, für Grundsätze des Klassenkampfes. Wir wissen noch nicht, wie die Entwicklung Edo Fimmens sein wird. Wir wissen nicht, welche Kämpfe wir noch mit ihm haben werden. Aber die Tat Fimmens ist eine ehrliche revolutionäre Tat, und sie hat für uns die größte Bedeutung, weil sie beweist, dass sich in den Massen der Amsterdamer irgendetwas ändert. Wäre die Schwenkung Fimmens nicht zum Kommunismus, sondern zur Ausführung der Versprechungen der Amsterdamer, nur eine persönliche Schwenkung, sie hätte ihm schon zehnmal das Genick gebrochen. Sie haben aber bisher es nicht getan, sie wagen es nicht zu tun.

Das beweist, dass in der Amsterdamer Internationale ein wachsender Wille der Arbeitermassen zum Kampf bemerkbar ist, so dass die betrügerischen Führer der Amsterdamer nicht wagen, die Linken zu schlagen. Der Enthusiasmus, mit dem Fimmen auf dem Kongress der Eisenbahner der Tschechoslowakei in Aussig empfangen wurde, die Tatsache, dass es die sozialdemokratischen Blätter nicht wagten, seine Rede zu drucken, die nur von der kommunistischen Presse gedruckt wurde, die Tatsache, dass ein so schwankender Mensch wie Williams genötigt ist, mit Fimmen zu gehen, beweist, dass diese großen Massenbewegungen, wie ich kurz geschildert habe, sich durchsetzen auch in den Organisationen der Zweiten und der Amsterdamer Internationale. Je mehr die Herren von der Zweiten Internationale ablehnen werden, ehrlich mit uns in eine gemeinsame Aktion einzutreten, desto größer wird die Zersetzung in ihren Reihen sein, die Zersetzung der Zweiten Internationale und die Absplitterung von ihr.

Genossen, wir haben in der Taktik der Einheitsfront eine zweite Erfahrung. Diese zweite Erfahrung haben wir in Deutschland gemacht mit der deutschen Sozialdemokratie, der Trägerin des Widerstandes gegen die Taktik der gemeinsamen Front. Im Reichsmaßstabe lehnt sie gemeinsame Aktionen mit uns ab. Aber in den industriellen Zentren, wo der Druck der Arbeiterklasse auf sie sehr groß ist, müssen die sozialdemokratischen Führer ihre Zustimmung zu der Taktik der Einheitsfront geben. Wir sehen in dem industriellen sächsischen Zentrum, dass die sozialdemokratischen Arbeiter ihre Führer gezwungen haben, in eine Kooperation mit uns einzutreten. Wir haben dort gezeigt, indem wir die sozialdemokratische Zeignerregierung, die mit der Bourgeoisie gebrochen hat, unterstützt haben, dass es unwahr ist, wenn die Sozialdemokraten sagen, wir schlagen die Einheitsfronttaktik nur ein, um sie zu demaskieren. Die Arbeit der Demaskierung übernehmen die Sozialdemokraten leider selbst. Unser nächstes Ziel ist die gemeinsame Aktion des Proletariats, und wir haben gezeigt, dass wir loyal zu Opfern bereit sind, die Sozialdemokratie auch bei dem geringsten Schritt nach vorwärts zu unterstützen. Aber, Genossen, diese Erfahrung in Sachsen hat auch die Gefahren dieser Taktik gezeigt, vor denen wir immer gewarnt haben. Wir sollen die Sozialdemokratie unterstützen, wenn sie auch nur einen Schritt vorwärts im Kampfe macht. Aber wir sollen rücksichtslos gegen sie Stellung nehmen, wenn sie, wo es notwendig ist, den Kampf aufzunehmen, das nicht tut oder gegen das Proletariat Stellung nimmt.

Unsere Partei in Deutschland hat es nicht verstanden, diese Gefahr zeitig genug zu bemerken. Sie kennen die Ereignisse in Dresden, Bautzen, Leipzig, wo die Polizei der Zeignerregierung, geführt von den Faschisten und geleitet von den rechten sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Fleißner und Menke, auf die Arbeiter geschossen hat. Es unterliegt keinem Zweifel, dass nun Zeigner das nicht gewollt hat, aber Zeigner hatte nicht den Mut, die faschistischen Offiziere vorher abzusägen, die Polizei zu reinigen und die rechten sozialdemokratischen Saboteure und Provokateure zu entfernen. Und da war es Pflicht unserer Partei, der Regierung Zeigner zu sagen: Entweder — oder; wir unterstützen Dich, weil wir in Dir einen schwachen Wall gegen den Faschismus sehen. Aber wenn Du zulässt, dass die Faschisten auf Arbeiter schießen, dass die rechten sozialdemokratischen Saboteure und Provokateure dazu ihr Amen sagen, so machen wir das Spiel nicht mehr mit. Die Partei ließ die Zeit seit dem 30. Mai verstreichen. Sie hat einen großen Fehler begangen. Sie hat die Grenzen der Einheitsfronttaktik übersehen. Die Grenzen bestehen darin: Wir können die Schwankenden unterstützen, damit sie kämpfen, aber wir dürfen nie selbst schwanken. Denn in diesem Chaos der sich kreuzenden Tendenzen muss die Arbeiterklasse eine Kraft sehen, die vorhanden ist und die nicht schwankt: die Kommunistische Partei.

Und die Kommunistische Partei darf nicht nur keine Verantwortung dafür übernehmen, dass auf Arbeitslose geschossen wird, weil sie ein Stückchen Brot von der bürgerlichen Gesellschaft fordern, diese Verantwortung trägt sie auch in Sachsen nicht, sondern sie darf auch keinen Tag eine Regierung unterstützen, die sich Arbeiterregierung nennt und die, ohne bisher ein Haar der Bourgeoisie zu krümmen, die Arbeiterleichen auf ihr Gewissen nimmt. Wir gehen Bündnisse ein, aber eines sollen alle Kommunisten immer im Auge behalten: Wenn es wahr sein sollte, was Talleyrand sagt, dass ein Bündnis immer das Verhältnis von Reiter und Pferd ist, so werden wir vorziehen, Reiter zu sein und auf keinen Fall Pferd. Wir lassen uns keinesfalls missbrauchen als Feigenblatt bürgerlicher Regierungen.

Genossen! Die Erfahrungen, die wir mit der Einheitsfronttaktik gemacht haben, sind nicht nur nicht geeignet, in uns ein Gefühl zu erwecken, dass wir nicht auf dem richtigen Wege sind, sondern sie haben uns noch zehnmal mehr überzeugt, dass die eingeschlagene Taktik die richtige ist, dass sie der Weg ist, auf dem, wenn es uns nicht gelingt, die großen sozialdemokratischen Parteien zu zwingen, mit uns in gemeinsame Aktion einzutreten, es uns doch gelingen wird, große Massen sozialdemokratischer Arbeiter zum gemeinsamen Kampfe um die nächsten Aufgaben zu mobilisieren. Die Fehler, die wir bei der Anwendung dieser Taktik hier und da machen, werden wir korrigieren, an der Taktik aber festhalten.

Ich komme zum letzten Teil meines Referates, zu den neuen Aufgaben, vor die die Weltlage uns stellt und die wir uns auf der Sitzung der Erweiterten Exekutive gestellt haben. Wir haben die Taktik der Einheitsfront bestätigt, aber wir sind über sie hinausgegangen. Sie bedeutet die Sammlung der proletarischen Klasse, die Mobilisierung der proletarischen Massen.

Wir wollen an dieser ersten Aufgabe weiterarbeiten, aber wir müssen uns schon eine zweite stellen. Wir haben in der Resolution über die Arbeiter- und Bauernregierung und über den Faschismus einen weiteren Schritt getan. Wir haben vor die Kommunistische Internationale die Frage der Bündnisse gestellt, die die Arbeiterklasse einzugehen hat, ob es formelle oder taktische sind, die sie einzugehen hat, um zu siegen.

6. Die Frage des politischen Bündnisses.

Das Wort Bündnis, das verbunden ist mit dem Worte Kompromiss, schreckt natürlich unsere Genossen, die noch nicht ganz den Adam der Phraseologie der alten Sozialdemokratie ausgezogen haben. Ich brauche darüber nicht viel Worte zu verlieren. Lesen Sie in Lenins „Kinderkrankheiten des Kommunismus“ das Kapitel über die Kompromisse. Worin besteht der Unterschied zwischen uns und den Sozialdemokraten in der Frage der politischen Bündnisse? Es ist derselbe Unterschied, der. in Russland zwischen den Bolschewiken und den Menschewiken bestand. Niemals haben die Bolschewiki den Gedanken gehabt, dass die Arbeiterklasse allein die Macht erobern kann. Würde das der Fall sein, so würde der Sieg der Arbeiterklasse jedenfalls in den Ländern ausgeschlossen sein, wo sie in der Minderheit ist. Der Sieg der Arbeiterklasse ist nur dann möglich, wenn gegen dieselbe keine geeinigte Front der Bourgeoisie besteht. Die Revolution beginnt nicht dann, wenn die Arbeitermasse nichts anderes tun kann, als die Fahne der Revolution zu erheben. Dann ist nur der Wille der Arbeiterklasse zur Macht da und nichts anderes, und sie kann geschlagen werden. Sie ist erstens nirgends vollkommen geeinigt, der Apparat der Bourgeoisie ist außerordentlich stark. Ist die Bourgeoisie geeinigt und stark, so hat sie nicht nur die militärischen Machtmittel, sondern auch die Schuhe, die Presse, den Apparat aller Parteien in der Hand, die einen großen Teil der Arbeiterklasse bearbeiten. Und da sind die revolutionären Arbeiter eine geringe Minderheit. Die Revolution hat nicht nur den Willen der Arbeiterklasse zur Bedingung, sondern die Zersetzung, die Spaltung der Bourgeoisie. Man kann noch mehr sagen: Der Wille zur Revolution wächst in der Arbeiterklasse in dem Maße, in dem dieselbe sieht, dass der Gegner gespalten ist, also schwach ist. Die Kommunisten dürfen nicht an einen isolierten Sieg der Arbeiterklasse denken. Das ist ein unhistorischer Gedanke. Sie müssen verstehen, dass die Arbeiterklasse für ihren Sieg Verbündete braucht. Nun ist die Frage, wo sucht man diese Verbündeten. Die russischen Menschewisten unterschieden sich von den Bolschewisten in der Weise, dass sie sagten: Das Bündnis der Arbeiterklasse mit der liberalen Bourgeoisie ist der Weg zum Siege über den Zarismus.

Die europäischen Menschewisten und Sozialdemokraten sagen, das Bündnis der Arbeiterklasse mit der liberalen, „demokratischen“ Bourgeoisie ist sogar der Weg zum Sozialismus. Das sichert zuerst die Demokratie und auf diesem Boden die langsame Durchführung des Sozialismus. Wenn Sie die Geschichte der Auseinandersetzungen im Lager der deutschen Sozialdemokratie vor dem Kriege prüfen, in denen neben den Kämpfen der Bolschewiki und der Menschewiki die geistigen Quellen des modernen Kommunismus, wie er heute existiert, zu suchen sind, wenn Sie in die Kämpfe der Linksradikalen mit Kautsky zurückgreifen, so werden Sie finden, dass der Grundgedanke Kautskys war, in einem Bündnis mit den Liberalen die Rettung vor dem Imperialismus zu suchen. Und was hat die Erfahrung gezeigt? In allen Ländern, wo die Sozialdemokratie in das Bündnis mit der liberalen Bourgeoisie eintrat, endete es damit, dass die Sozialdemokraten von der Bourgeoisie geschlagen wurden, dass sie in dem Moment, wo die Gefahr für die Bourgeoisie vorüber war, aus der Regierung hinausgeschmissen wurden. In Russland haben sich die Menschewiki durch das Bündnis mit den Kadetten zur Niederlage treiben lassen. Sie wurden im Oktober geschlagen. In Deutschland haben sie durch die Koalition mit der liberalen Bourgeoisie die Novemberrevolution liquidieren helfen. Dasselbe in Österreich.

Jetzt sehen wir, wie die Anhänger des Bündnisses mit der Bourgeoisie überall weinen, dass sogar eine Koalition nicht möglich ist. An dem Tage, wo Turati der italienischen liberalen Bourgeoisie das Bündnis vorschlug, wurden die Liberalen aus der Regierung hinausgeschmissen, und Mussolini kam. Und als Baldesi sogar in die Regierung Mussolinis eintreten wollte, sagte Mussolini: Ich bedanke mich schön. Und darum haben die Leute in Hamburg nicht gewagt, die Idee der Koalition mit der liberalen Bourgeoisie in das Programm hinein zu nehmen, obwohl sie das A und O ihrer Position bildet. Sie sind die geprügelten Hunde, die sich mit der Wurst vereinigen wollten und statt der Wurst den Stock zu fühlen bekamen.

Gibt es andere Verbündete, die die Arbeiterklasse suchen und finden wird? Ja, es gibt solche. In allen Ländern, wo es ein Kleinbürgertum gibt in Land und Dorf, ein armes Bauerntum, überall dort bedeutet die jetzige Lage die wachsende Zersetzung dieser .Bauernmassen. In der ersten Zeit nach dem Kriege haben sie sehr verdient durch das Steigen der landwirtschaftlichen Preise. Sie haben jetzt davon das, was die russischen Bauern hatten, als sie das Kerenski-Geld sammelten. Jeder von ihnen hatte einen Koffer voll Geld, bis es sich eines Tages zeigte, dass es gar keinen Wert hatte und sie Tapeten daraus machen konnten. Die Lage des armen Bauerntums verschlechtert sich überall in Europa. Sie verschlechtert sich auch in Amerika. Und je größer der wirtschaftliche Zerfall sein wird, desto schlechter wird die Lage sein. Denn die Situation, in der sich jetzt z. B. die Bourgeoisie in Frankreich befindet, ist so, dass sie die Steuern der Bauern sehr erhöhen muss, wenn sie sich retten will. Und das ist der Fall in allen Ländern. Überall werden wir in dem Bauerntum starke Schichten finden, mit denen wir uns verbinden, die wir wenigstens neutralisieren können. Zu diesem Zwecke ist es notwendig, wie Genosse Sinowjew es auf der Sitzung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale zeigte, dass wir die Überreste der sozialdemokratischen Auffassung in der Bauernfrage überwinden müssen. Ich will ein Beispiel geben. In Deutschland bestand während des Krieges die Getreideumlage. Der Bauer musste ein gewisses Kontingent an Brot und an Getreide zu einem niedrigeren Preis als dem Marktpreis abgeben. Das war ein Schritt, der ein Schritt im Interesse der Arbeiterklasse zu sein schien. Im vorigen Jahre entstand ein großer Kampf um den Preis und um die Größe der Getreideumlage. Die Sozialdemokraten brüllten, dass die Bauern zuviel forderten, und die kommunistische Presse suchte die Sozialdemokraten zu überbieten und forderte die Erhöhung der Umlage und die Drückung des Umlagepreises. Sie tat das Unvernünftigste, was zu tun war. Wer ist der Feind der deutschen Arbeiterklasse? Der Bauer? Die deutsche Arbeiterklasse wird nicht herrschen können, wenn sie nach ihrem Siege nicht einen Modus vivendi mit den armen und mittleren Bauern finden wird. Nicht der Bauer ist der historische Feind, nicht die Bauernherrschaft hat sie zu liquidieren, sie hat zu liquidieren die Herrschaft der Könige über Kohle und Eisen. Was war also die Aufgabe? Die Aufgabe war, eine solche Besteuerung der Großbourgeoisie zu fordern, dass der Staat imstande wäre, den Arbeitern billiges Brot zu sichern. Das konnte man auch in die Form der Umlage bringen. Der Bauer gibt für billigen Preis das Umlagegetreide, aber der Staat ist dafür verpflichtet, von Stinnes, Klöckner usw. für billigen Preis Industriewaren sich zu beschaffen und diese ebenso billig den Bauern abzugeben. Statt dessen richteten wir den Kampf nicht gegen Stinnes, sondern gegen die Bauern. Das zeigt, wie sehr uns noch die sozialdemokratischen Eierschalen anhängen. Die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung wird natürlich eine mühselige Arbeit, zunächst der Orientierung der Partei erfordern. Wir müssen aufhören, alles nur mit städtischen Augen zu sehen, wir müssen beginnen, die Psychologie zu haben, die jetzt ein russischer Kommunist hat. Dieser hat nicht aufgehört, ein proletarischer Kämpfer zu sein, aber wenn unsere Leute nachts im Dorfe den klatschenden Regen hören, so stehen sie morgens auf und gehen aufs Feld hinaus, um zu schauen, ob der Regen das Getreide nicht vernichtet hat. Sie fühlen sich als die Verantwortlichen für die Geschicke des Volkes. — Als wir in der Schweiz waren, war es uns eins, ob wir argentinisches Brot oder russisches oder amerikanisches aßen. Aber ob der Bauer jetzt eine Ernte haben wird oder nicht, davon hängen die Geschicke des Volkes, der russischen Arbeiterklasse ab. Wenn der Arbeiter die Macht erobern wird, muss er natürlich ein proletarischer Revolutionär bleiben, aber sein Klasseninteresse muss sich ausweiten zum Verständnis der Notwendigkeiten der Klasse, ohne die er die Macht nicht halten kann. In keinem einzigen Buche über die soziale Revolution, das vor der russischen Revolution geschrieben worden ist, finden Sie die Frage: Was werden wir essen nach der sozialen Revolution? In keinem einzigen. Wir waren weit ab von der Revolution; Berge und Flüsse trennten uns von ihr. Aber heute ist das die erste Frage nicht nur der Theoretiker, sondern jedes Arbeiters. Fragen Sie einen englischen revolutionären Arbeiter, er wird sagen: Wir haben für sieben Wochen Brot in England, wo kriegen Sie das Brot her im Falle der Revolution? Der deutsche, der italienische Arbeiter wird Sie auch danach fragen. Und die Arbeiterklasse muss erst geistig dieses Problem bewältigen, muss einen Verbindungsapparat mit den Bauern schaffen.

Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhange die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung? Wenn natürlich unsere Parteien diese Losung aufnehmen, nur um auf den Kongressen für sie zu stimmen, aber nichts praktisch zu unternehmen, so ist das eine tote Losung. Diese Losung gibt ihnen aber gerade die Möglichkeit, zu den Bauern zu gehen, mit ihnen zu sprechen, gibt die Formeln der Zukunft und nötigt sie, sich mit den Fragen des Verhältnisses zu den Bauern zu beschäftigen.

Aber die Bauern sind nicht die einzige Schicht, die wir vielleicht nicht für die Ideen des Kommunismus, aber für die Idee gewinnen werden, dass nur die Arbeiter- und Bauernregierung imstande ist, die Welt aus der Lage herauszuführen, in der sie sich befindet. Wenn Sie mich fragen, worin der Hauptunterschied zwischen der russischen Revolution und den Geschicken der europäischen Revolution besteht, so sehe ich zwei Hauptunterschiede. Das eine Hauptmerkmal ist das Bestehen großer, geschlossener Massenorganisationen des Proletariats, die nicht kommunistisch sind. Durch die Einheitsfronttaktik, zu der in der russischen Revolution nur schwache Ansätze vorhanden waren, suchen wir diese Massen an uns heranzuziehen zu gemeinsamen Kämpfen. Die Einheitsfronttaktik bedeutet die Bereitschaft der Kommunistischen Parteien zur Koalition mit den nichtkommunistischen Arbeiterparteien zwecks Eroberung der Macht. Das zweite Hauptmerkmal ist die Rolle der technischen Intellektuellen in der zukünftigen westeuropäischen Revolution. Das Problem ist kein neues. Jeder, der über die Frage der europäischen Revolution nachgedacht hat, nicht von dem Standpunkte aus, was sie Gemeinschaftliches mit der russischen Revolution besitzt — darüber nachzudenken war notwendig im Jahre 1918, aber darüber nachzudenken war nicht genügend im Jahre 1919 — sondern darüber, wodurch sich die europäische Revolution von der Revolution in Russland unterscheidet, dem war es klar: dadurch, dass das Proletariat viel größer ist, enger zusammensitzt, die agrarische Basis aber kleiner ist, wird der Bürgerkrieg in Westeuropa tausendmal verheerendere Folgen haben als in Russland. In Russland konnte man ein paar Städte zusammenschießen, das große Russland aber konnte man nicht kaputt schießen. Wenn jedoch das Ruhrgebiet unter Wasser steht, so fehlen Petroleum und Holz für die deutschen Eisenbahnen, und wenn die deutsche Industrie in dem Prozess der Revolution zerschlagen wird, so kann sich das Proletariat nicht zurückziehen ins Dorf und dann langsam die Industrie wieder aufbauen, wie wir es tun. So ist es in allen industriellen Ländern. Lloyd George sagte im Jahre 1921 in einer seiner Reden: Wenn wir hier ins Rutschen kommen, so werden die Gefahren für uns tausendmal größer sein als für Russland. Er hat Recht. Nun, ist das, wie die Sozialdemokraten sagen, ein Argument gegen die Revolution? Bedeutet es, dass wir darum, weil die Zerstörungen viel größere Folgen haben können, versuchen sollen, mit Stinnes zusammen den Sozialismus zu machen? Ja, könnten wir Stinnes auskaufen, könnten wir die Bourgeoisie langsam bezahlen und dadurch dem Bürgerkriege aus dem Wege gehen, jeder von uns würde es gerne tun. Die Expropriation ohne Entschädigung ist kein Grundsatz, sie ist eine Notwendigkeit. Es entsteht die Frage: Gibt es ein Mittel, das die Zerstörung, den Ruin der Industrie im Bürgerkriege mindern kann? Ja, es gibt ein solches Mittel; dieses ist in der Industrie selbst gegeben: es ist nämlich die große Schicht der technischen Angestellten. Warum konnten wir sie in Russland in den ersten Jahren der Revolution nicht ausnützen? Aus dem einfachen Grunde: Unter dem Zarismus waren die russischen Intellektuellen nichts. Sie kamen zur Macht unter Kerenski. Und wäre Russland im bürgerlichen Geleise geblieben, so würde natürlich die Herrschaft im Staate der Bourgeoisie gehört haben, und der Staatsapparat würde in den Händen der bürgerlichen Intellektuellen verblieben sein. Darum sabotierten sie die proletarische Revolution. Zweitens sabotierten sie die Revolution als die Trägerin des Brester Friedens. Die Revolution musste durch die größte nationale Erniedrigung hindurchgehen und daher die Intellektuellen von sich stoßen.

Wie ist die Lage in Westeuropa? Das bürgerliche Regime proletarisiert in allen Ländern die Intellektuellen. Der Krieg hat nicht nur den Typus der Neuen Reichen, sondern auch der Neuen Armen geschaffen, der deklassierten Intellektuellen. Die Intellektuellen sehen auf der einen Seite die wachsenden kapitalistischen Mammute. Stinnes regiert die Geschicke Deutschlands. Es ist das abschreckendste Bild, dass ein paar Leute hinter dem Rücken des deutschen Volkes mit Deutschland machen können, was sie wollen. Die größten Unternehmungen, die Tausende von Arbeitern und Hunderte von Technikern beschäftigen, sind Objekte des Schachers. Die Lage der Intellektuellen ist materiell schlechter als die des Proletariats. Wenn die russischen Intellektuellen glaubten, dass die russische Revolution nur ein Aufstand des Pöbels sei, dass sie darin bestand, dass der Bauer und der Soldat der Front den Rücken kehren wollten, so erleben jetzt die europäischen Intellektuellen den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems. Kein Buch ist in Deutschland so populär wie Spenglers „Untergang des Abendlandes“. Was äußert sich darin? Es äußert sich darin das Gefühl, dass die Bourgeoisie sich auf einer niedergehenden Stufe befindet. Dieser Zerfall schafft den Boden. auf dem wir diese intellektuellen Schichten für unseren Kampf gewinnen können. Das Verhältnis zu diesen Schichten bekommt in Amerika und in England den Charakter des Verhältnisses zur sozialen liberalen Ideologie. In den Ländern der besiegten Nationen nimmt dieses Verhältnis zu den Intellektuellen die Form des Faschismus, des Nationalismus an.

7. Das Verhältnis zum Faschismus.

Im ersten Teile meines Referates habe ich Ihnen das Verhältnis zum Faschismus, das Bild des Hin- und Herwogens der Revolution und der Konterrevolution in Europa gezeigt, nicht nur, um zu beweisen, wie unsinnig es ist, wenn Otto Bauer behauptet, dass wir in einer Zeit wie nach dem Wiener Kongress leben, sondern auch um Ihnen hier zu helfen, die Unterschiede zu untersuchen, die im Lager der Konterrevolution selbst bestehen, was uns erleichtern wird, das Verhältnis zum Faschismus zu verstehen. Ich habe hier die Broschüre des Genossen Giulio Aquila erwähnt und gesagt, dass sie eine ausgezeichnete Darstellung des Faschismus ist, aber eine sehr unrichtige taktische Auffassung zur Grundlage hat. Er sagt in seiner Broschüre: Der Faschismus ist die historische Form des Bestrebens des Großkapitals, seine Herrschaft auf dem Rücken der Arbeiterklasse zu stabilisieren und so den Kapitalismus wieder aufzubauen.

Genossen! Ist das wahr, oder ist das nicht die ganze Wahrheit? Wenn das wahr ist, so fragen wir: Welcher Unterschied besteht zwischen Horthy, Mussolini, Curzon und Zankow? Wie kam Horthy zur Macht? Nach der ungarischen Räterevolution kam er, getragen von den Bajonetten der Rumänen. Er hat nicht gesiegt durch die Bewegung der Bauern gegen die Räteregierung, durch die Bewegung des Kleinbürgertums, er kam, getragen von den rumänischen Bojaren, so wie in Finnland die weiße Diktatur siegte mit Hilfe des deutschen Militarismus. Und was stellte Horthy vor? Er repräsentiert das alte ungarische Regime. Was macht Horthy? Er ist genötigt, den Göttern zu dienen, die im Kapitalismus herrschen, dem Bank- und Finanzkapital. Horthy kann auf den Straßen die Juden prügeln lassen, aber er dient den jüdischen Bankiers. Was wird kommen, wenn sich das Regime Horthys stabilisieren würde? Natürlich das Finanz- und Industriekapital.

Wem dient Curzon? Natürlich den Klassen, die in England wirtschaftlich herrschen. Er dient dem Industrie- und Finanzkapital.

Wem dient Mussolini? Er verkauft die Eisenbahnen und Telefone nicht an Serrati, sondern an diejenigen, die sie kaufen können: an die Banken- und Industriekonzerne. Er unterstützt die Banca Commerziale, die die Schwerindustrie darstellt.

Was wird Zankow machen können? Er wird europäischen Kredit benötigen. Er wird dem europäischen Kapital Konzessionen machen müssen usw.

Vom Standpunkt des Endzieles der Konterrevolution besteht kein Unterschied zwischen Curzon, Mussolini, Zankow, Horthy und Schlageter, den die Franzosen erschossen haben. Wer nicht auf dem Boden der proletarischen Revolution steht, wer nicht versucht, die Herrschaft des Proletariats aufzurichten, dessen Arbeit, mag er ausgehen, wovon er will, endet mit der Wiederherstellung des Kapitalismus. Wer sagt, der Faschismus ist die Form der Wiederherstellung des alten Kapitalismus, der sagt, Curzon, Mussolini, Horthy und Zankow sind Faschisten. Die Nacht beginnt, und alle Katzen sind grau. Es ist nicht nur wichtig zu analysieren, welchem letzten Zweck eine Bewegung dienen muss, sondern es ist auch wichtig, festzustellen‚ auf welche Schichten sie sich stützt. Denn danach, wie der Ausgang dieser Analyse verläuft, richten wir unsere Taktik ein. Auf die Leute, auf die sich Curzon stützt, können wir keinen Einfluss haben. Wir können nicht die City zu unserem Bundesgenossen machen. Wenn man aber fragt, ob wir die Bauern, auf die sich Mussolini auch gestützt hat, und die Arbeiter, auf die er sich stützte, gewinnen können, so ist es klar: wir können es. Es ist nicht richtig, es ist eine inhaltslose Agitationsphrase, jede Konterrevolution mit dem Namen Faschismus zu benennen.

Was stellt der Sieg der englischen Konservativen dar? Eine kapitalistische Gesellschaft, die noch so gefestigt ist, dass die industrielle Bourgeoisie und das Bankkapital mit legalen Mitteln siegen können.

Wenn Sie fragen, welcher Unterschied zwischen Horthy und Mussolini besteht, so werden Sie sehen: Horthy siegte durch die Bajonette der Rumänen, er hatte eine kleinbürgerliche Basis, Mussolini siegte an der Spitze einer großen kleinbürgerlichen Bewegung, Zankow siegte durch einen Staatsstreich; er hatte nicht die Mehrheit des Landes hinter sich. Wo liegen die Quellen des Faschismus? Ich habe sie auf dem 4. Kongress in meinem Referat über die Offensive des Kapitals geschildert. Ich will nur kurz die Hauptgedanken wiederholen.

Italien war nach dem Kriege zwar nicht besiegt, aber seine Wirtschaft war zerstört. Die sozialistische Arbeiterschaft hatte keine Kraft in sich, durch ein Bündnis mit den Bauern, und mit den städtischen Kleinbürgern zu siegen und eine neue Wirtschaft aufzurichten. Die kleinbürgerlichen Massen, die in Bewegung gerieten, die etwas Neues suchten, die durch die Sozialdemokratie enttäuscht waren, diese kleinbürgerlichen Massen wurden ein Werkzeug des Großkapitals, das versuchte, die Arbeiterklasse niederzuwerfen. Die kleinbürgerliche Masse hoffte, eine neue Macht aufzurichten, die ein neues Italien schaffen würde.

Was ist in Italien zu tun? Lesen Sie die Broschüre des Genossen Giulio Aquila: „Einheitsfront des Proletariats“. Das ist sein einziges Rezept. Einigung der Arbeiterklasse für die Aktion ist notwendig. Kann sie aber allein Mussolini schlagen? Mussolini stützt sich auf breite Schichten der Bauern und der städtischen Kleinbourgeoisie. Können wir sie gewinnen als Verbündete? Jawohl, sie werden immer mehr unter dem Regime Mussolinis leiden. Gegen die kleinbürgerliche, breite faschistische Bewegung ist die Einheitsfront des Proletariats erste Bedingung. Die Gewinnung des Kleinbürgertums für den Kampf ist eine Notwendigkeit.

Somit komme ich zum deutschen Faschismus. Der Sieg der Revolution oder Konterrevolution in Deutschland bedeutet eine Entscheidung für ein paar Jahre in Mitteleuropa. Viele Genossen waren gewiss verwundert, als sie meine Rede über Schlageter gelesen haben. Keiner glaubte, dass es sich hier um Sentimente handelt. Dass Leute,

die sich für den Faschismus erschlagen lassen, mir unendlich sympathischer sind als Leute, die nur für ihre Ämter kämpfen — was man von den Kollegen aus der sozialdemokratischen Fakutbranche nicht zu betonen braucht — ist klar, aber bei politischen Entscheidungen spielen Gefühle keine Rolle. Ich wollte durch meine Rede, deren persönliche Form die Aufmerksamkeit von Freund und Feind erregen musste, die Frage aufwerfen von dem Verhalten der deutschen Arbeiterklasse zu den nationalistischen, kleinbürgerlichen Massen. Der Zweck der Rede ist zum Teil erreicht. Es ist außerordentlich interessant, die Bilanz zu ziehen. Wie reagierten auf diese Rede die „Kreuzzeitung“ und die „Zeit“, das Organ der Agrarier und Industriellen, die die Hintermänner der völkischen Organisationen sind. Sie warnten die völkischen Kreise vor unseren Lockungen. Die Agrarier und Schwerindustriellen geben Geld für die Bildung von Geheimbünden, um sie als Instrument in ihrem Kampf für die Interessen des Großkapitals zu gebrauchen. Herr Stinnes und Couwaten wollen ein Übereinkommen mit der französischen Schwerindustrie. Aber diese stützt sich im Kampf um die Kartellquote auf das französische Heer. Da stellt die deutsche Schwerindustrie diesem Machtinstrument des Konkurrenten wenigstens Geheimgesellschaften, die Brücken sprengen, durch Überfälle auf feindliche Posten die Invasionstruppen zermürben, entgegen. Nun kommt es zu großen Zusammenstößen, nun fließt deutsches Blut, nun, es ist schade darum, die Herren Schwerindustriellen sind keine Unmenschen, sie haben Gefühle -, aber vom Standpunkte des Kampfes um die Anteile im deutsch-französischen Kohlen- und Eisentrust ist das nicht schlecht: Poincaré wird in der Welt isoliert, wird weicher sein bei den Verhandlungen. Und sind die Dinge hinter den Kulissen fertig, und müssen die diplomatischen Puppen die Reigen beginnen, dann wird ein Aufständchen der Kommunisten provoziert, die Völkischen gegen sie losgelassen, und der General Degoutte wird auf die Bitte irgend eines Lutterbecks Ruhe schaffen beim Knattern der Maschinengewehre und Schweigen der „nationalen Presse“ (von der nach dem Zeugnis Georg Bernhards 90 Prozent von den Herren Stinnes und Hugenberg abhängig ist). Wenn dabei nicht wir, die kommunistischen Arbeiter, sondern auch die „nationalen Hitzköpfe“ von den französischen Maschinengewehren erledigt werden, so wird das auch gut sein: die nationalen Helden sollen im Gesang leben, aber den Geschäftsgang nicht stören. Was Wunder, dass bei solchen Plänen die Brot-, Kohlen- und Eisenwucherer die Völkischen warnen vor unseren „Lockungen“, die den verhetzten kleinbürgerlichen Massen sagen, wie sie betrogen werden. Wie die Herren, so auch die Lakaien: dass die Wulle und Haumig im „Deutschen Volksblatt“ das Geschrei begannen. „Jude, Jude“, zeigt nur, dass sie bewusste Helfer der Wangenheims, Westarps und Stumessun sind, wie sehr sie sich auf der öffentlichen Bühne von ihnen trennen. Aber die nachdenkliche Art, wie das „Gewissen“ und viele andere Organe des deutschen Nationalismus auf meine Rede bewusst geantwortet haben, beweist, dass es sogar in den führenden Kreisen des Faschismus Elemente gibt, die mit der Wahrheit ringen, den Weg suchen. Mein Vorstoß konnte wahrlich nicht zu den nationalistischen Massen durchdringen. Er hat sich nur in den oberen Kreisen ausgewirkt. Es ist jetzt die Aufgabe der Kommunistischen Partei Deutschlands, zu diesen Massen Zutritt zu finden. Sie wird imstande sein, es zu tun, wenn sie bei jedem Wort, das sie über den Faschismus schreibt, bei jedem Schritt, den sie dem Faschismus gegenüber unternimmt, im Auge behält, dass die faschistischen Massen mit Ausnahme von ein paar Dutzend Halunken sich nicht dessen bewusst sind, welchen Zwecken sie dienen; die Masse der Faschisten weiß noch nicht, dass sie um ein paar Prozente für Stinnes kämpft. Sie kämpft, weil sie wochenlang kein Stückchen Fleisch sieht, weil der Kleinbürger zerlumpt geht, weil ein Zimmer zu suchen eine Tragödie, ein Hemd zu kaufen ein Familienereignis ist, weil der Intellektuelle sich kein Buch kaufen kann, der Handwerker oder kleine Kaufmann sieht, wie alles wegschwimmt, was er erarbeitet hat, und man erinnert sich: es war einmal der Kaiser da, und damals konnte man 6 Maß Bier trinken, und man möchte zurückkehren zur alten Pracht des Deutschen Reiches. Es ist lächerlich, zu glauben, dass nur Arbeiter nicht vom Brot allein leben, dass nur Arbeiter Ideale haben. Das Ideal des Kleinbürgers war das große, starke imperialistische Reich, das in Scherben zerschlagen daliegt. In diesem Reiche träumte der Intellektuelle von der Expansion, die auch ihm die Möglichkeit zur Macht geben wird, und der Kleinbürger hatte zwar nichts davon, aber er konnte hinter der Musik herlaufen und sich sonnen an der Pracht des Reiches. Jetzt sind alle diese Herrlichkeiten vorbei, nur die geistige und materielle Not ist da.

Und, Genossen, die faschistische Gefahr ist groß. Würde der Faschismus nicht so zerklüftet sein, wie er es ist, so würde er heute in Deutschland herrschen. Seine innere Zerklüftung hat ihn bis heute zu siegen gehindert, und wenn er zur Macht kommt, so werden die deutschen faschistischen Massen noch etwas Traurigeres erleben als die italienischen. Mussolini hat Zeit. Er ist nicht verpflichtet, auf einmal dem Kleinbürgertum die Lasten aufzuerlegen. Aber wenn Stinnes auf dem Rücken des deutschen Proletariats mit Hilfe des Faschismus Frieden mit Loucheur schließen wird, so wird er die Steuern des Kleinbürgers verzehnfachen, er wird nicht nur Arbeiter, sondern auch Techniker zu Tausenden auf die Straße werfen, um die „Eisenbahn rentabel“ zu machen. Und die faschistische Regierung wird alle nationalen Phrasen über Bord werfen und wird Frieden suchen mit den Sklavenvögten von Versailles. Genossen, wenn wir uns an die faschistischen und nationalistischen Massen in dieser Situation wenden, so ist es kein Listen mit Ideen, keine schlaue Politik, die fragt: Wer wird den anderen betrügen? Das Spiel ist hier vollkommen klar. Es ist kein Platz für Schlauheiten. Das Spiel ist dieses: die große Masse der deutschen Nationalisten ist eine kleinbürgerliche Masse, die proletarisiert wird vom Großkapital. Ihr Elend ist der Boden der Profite des Großkapitals. Diese Massen folgen dem Großkapital, weil der deutsche Sozialismus bankrott ist, weil die Novemberleute in Deutschland sich nur fähig gezeigt haben, Stinnes das Pferd vor das Haus zu bringen. Die Sozialdemokratie, die die Fahne der Revolution in den Dreck geworfen und die Demokratie den alten kaiserlichen Generalen ausgeliefert hat, ist eine Vogelscheuche. Diese materiell leidenden, vollkommen aus den Geleisen des Lebens geworfenen kleinbürgerlichen Massen können in der Sozialdemokratie keinen Helfer im Kampf gegen ihre materielle, politische und geistige Not sehen. Warum sollen sie für die Demokratie sein? Was ist diese Demokratie? Warum sollen sie für sie kämpfen? Die Sozialdemokratie erlaubt doch jedem, seine Götzen anzubeten, sie sagt: Republik oder Monarchie, das ist nicht wichtig, das überlassen wir jedem. Ihre soziale Gesetzgebung besteht darin, dass, während die Großindustrie Milliarden verdient, in Deutschland zum ersten Male in seiner Geschichte Skorbut herrscht und die Kindertuberkulose mit jedem Tag wächst, die Invaliden kein Stück Brot kriegen. Wo soll da diese Republik soziale Wärme ausstrahlen? Die deutsche Republik existiert, weil der Kaiser weggelaufen ist, aber auf dem Thron sitzt Herr Ebert, und auf den kleinen Thronen, man kann sie auch anders nennen, sitzen die sozialdemokratischen Beamten zusammen mit den „demokratischen“ Beamten. Und wie kann man verlangen, dass Massen, die eine Weltanschauung verloren, die eine große geistige Erschütterung erlitten haben, in ihrer Not diese bürgerliche Demokratie als Zufluchtsort ansehen, die ihnen nicht sagen kann, wie sie sich aus der Not retten können, die ihnen nicht sagen kann, wie das deutsche Volk zu retten ist, die auf ihrem Banner nur eine Losung hat: „Deutsches Volk, du hast außer den Ketten nur noch die Profite der Stinnes und die Ämter deiner treuen Beamten zu verlieren“!

Diese Republik hat nicht den Mut, zu sagen: Wir hören auf, eine Nation zu sein, wir sind eine Kolonie des europäischen Kapitals, und desto weniger hat sie den Mut, den Massen zu sagen: Heute müssen wir uns unterwerfen, aber wir wollen den Kampf vorbereiten.

Wie ist das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu diesen Massen? Die Kommunistische Partei, die den Kampf und die Rettung der Arbeiterklasse aus der Not und dem sozialen Elend führt, muss den Kampf aufnehmen gegen die Not, die das Kleinbürgertum erdrückt. Nicht nur darum, weil sie das Kleinbürgertum an sich heranziehen will, sondern aus dem Grunde, weil die proletarischen Kleinbürger sonst zu Streikbrechern, zur Gruppe der deutschen Pinkertons gegen die Arbeiterklasse werden. Nun die geistige Not der Massen, das Verhältnis zu Versailles. Wir Kommunisten können nicht versprechen, dass, wenn wir an die Macht kommen, wir den Versailler Vertrag sofort zerschlagen werden. Aber es ist klar, die deutsche Arbeiterklasse wird nie zur Macht kommen, wenn sie nicht imstande ist, den breiten Massen des deutschen Volkes das Vertrauen zu geben, dass sie für die Abschüttelung des Joches des fremden Kapitals mit allen Kräften kämpfen wird. Als wir den Brester Frieden schlossen, haben die Intellektuellen geheult, aber die große Masse der Bauern wusste, dass sie den Frieden brauchte, und dieser Friede war der Weg zu dem neuen Russland. Jetzt, nach vier Jahren des Versailler Friedens, wissen die deutschen arbeitenden Massen, dass dieser Friede ein Weg zum Ruin ist. Wenn die Kommunistische Partei den Massen zeigt, dass sie nicht nur die Führerin sein wird im Kampfe um ein Stück Brot, sondern auch im Kampfe um die Befreiung des deutschen Volkes aus dem Joche des fremden Kapitals, wenn die Kommunistische Partei Deutschlands diese Taktik nicht als Schlaumeierei anwendet, sondern entsprechend den Interessen des deutschen Proletariats, so wird sie nicht mit den faschistischen Mordbanden Bündnisse schließen, wie die deutsche Sozialdemokratie sagt, sondern sie wird große Massen des Kleinbürgertums mit dem Gedanken erfüllen, dass die Kommunistische Partei die Trägerin der Befreiung des gesamten deutschen Volkes ist. Wenn die Sozialdemokraten aus Anlass meiner Rede schreien, dass wir auf den Bauernfang ausgehen, dass wir die Betrogenen sein werden, so sagen wir, sie sollen nicht von Betrogenen sprechen, die im Kapp-Putsch wie kleine Burschen betrogen worden sind. Die Kommunistische Internationale weiß, dass wir mit großen Teilen des Faschismus in bewaffnete Kämpfe kommen werden, und deshalb sagt sie: Einheitsfront des Proletariats, proletarische Hundertschaften, die mit den Waffen in der Hand das Proletariat gegen die Faschisten verteidigen und, wenn notwendig, die Faschisten angreifen werden, unter gleichzeitiger Erweiterung der Basis unserer Agitation.

Die Kommunistische Partei Italiens hat eine Niederlage erlitten, nicht nur, weil Mussolini die Waffengewalt hatte, sondern weil sie nicht verstanden hat, mit den Kleinbauern und den städtischen Kleinbürgern in Verbindung zu treten. Sie war zu jung, sie hat erst begonnen, einen Teil des Proletariats um sich zu sammeln. Unsere Partei in Bulgarien wurde aufs Haupt geschlagen nicht durch eine faschistische Massenbewegung, sondern durch ein militärisches Cliquenkomplott, weil sie nicht verstand, sich mit den Bauern zu verbinden, weil sie noch die Eierschalen der Sozialdemokratie an sich trug. Wir wollen nicht, dass unsere Parteien, auf denen jetzt die Geschicke des Kommunismus für die nächsten Jahre ruhen, die deutsche und tschechoslowakische Partei, diese Fehler machen. Und sie werden ihn nicht machen, wenn sie den Kampf gegen den Faschismus nicht ansehen als einen rein militärischen Kampf, nicht nur als Sache der Arbeiterklasse, sondern ihn ansehen als einen großen politischen Kampf der Arbeiterklasse, die in dem Kleinbürgertum Verbündete sucht und findet. Und dazu muss die Partei Mut haben, zu verstehen, was das Streben zur Diktatur bedeutet, was es erfordert.

Genossen, was bedeutet die Diktatur des Proletariats? Sie bedeutet doch nicht, dass sich die Arbeiterklasse auf den Rücken der Nation schwingt und auf ihm reitet, sondern dass sie die große Mehrheit der Nation einer besseren Zukunft entgegenführt. Was sagt die Diktatur des Proletariats? Sie erhebt Anspruch auf die Vertretung der Nation durch .die Arbeiterklasse. Wir waren nicht für die Verteidigung Deutschlands, als Deutschland eines der imperialistischen Länder war, das zusammen mit anderen Ländern im Kriege lag wegen der Verteilung der Beute. Damals waren die deutschen Sozialdemokraten die „Lügen-Patrioten“. Jetzt sagen wir den deutschen Arbeitern, Ihr habt die Pflicht, nicht nur zu kämpfen um die Besserung Eurer Lage, sondern Ihr habt die Fackel zu sein, die dem ganzen leidenden Volke den Weg in eine bessere Zukunft weist. Die gestrigen „Patrioten“ von Kaisers Gnaden, die Kriegssozialisten, klagen uns deshalb des Nationalismus an.

8. Vor neuen Kämpfen.

Nun, wir überlassen ihnen den Ruhm, dass sie die Hüter des Versailler Friedens sind, und wir wollen die Volksmassen vorbereiten, ihn zu bekämpfen mit allen Mitteln, die nötig sein mögen, Genossen, die Aufgabe der Sitzung der Erweiterten Exekutive war, die Taktik der Einheitsfront nicht nur zu bestätigen, sondern den kommunistischen Massen aller Länder den Begriff von der Taktik des Suchens nach den Verbündeten, wo sie sind, beizubringen, mit denen zusammen wir die nächste Aktion führen werden. Unsere Amsterdamer, auch gewisse Teile der Kommunistischen Internationale glauben, wenn man Verbündete sagt, so schwört man Treue für immer. Würden die Bauern und Kleinbürger für immer mit uns gehen, dann wären sie keine Verbündeten, dann würden wir sie in die Kommunistische Internationale eingliedern. Unter dem Begriff des Bündnisses versteht man, dass es sich um die Zusammenfassung verschiedener Faktoren zur Behandlung konkreter Aufgaben handelt. Wir haben ein Bündnis gehabt mit den rechten Sozialrevolutionären bei den Wahlen im Jahre 1907. Sie sitzen jetzt bei uns in der Lubjanka. Wir haben die Macht zusammen mit den linken Sozialrevolutionären übernommen. Wir haben sie niedergeworfen im Juli 1918. Aber über alle diese Schwankungen der Verhältnisse zu Parteien, die das Kleinbürgertum vertreten, suchten wir das Verhältnis zu ihm zu stärken. Wir versuchen immer, mit den Bauern in Verbindung zu bleiben. Und die Intellektuellen? Wir hatten 1905 eine große Masse von Intellektuellen in der Partei. Sie sind davongelaufen nach der Revolution 1905. Sie waren gegen uns im Oktober 1917 und suchten unsere Herrschaft zu sabotieren. Wir haben jetzt Zehntausende von Intellektuellen, die nicht Kommunisten sind, auf die wir uns aber vollkommen verlassen können, sogar unter den früheren zaristischen Offizieren. Wir haben sie erzogen mit allen Mitteln, beginnend mit dem An-die-Wand-stellen, endend mit vollem Vertrauen, wenn sie es sich verdient haben. Das Verhältnis der Klassen zueinander ist kein Liebesverhältnis, sondern ein Interessenverhältnis. Es gibt Klassen, von denen uns ein Abgrund trennt, und solche, unter denen wir für die nächsten Kämpfe Verbündete finden können. Wieweit wir sie für längere Zeit mit uns verbinden, wird die Geschichte zeigen. Es gilt zwei Dinge zu verstehen:

1. Die Kommunistische Internationale als Ganzes und ihre Sektionen zu vergrößern, zu stärken, auszubauen; lernen, die breiten Horizonte der Politik zu erfassen‚ die notwendig sind; 2. Verbündete suchen für die konkreten bevorstehenden Kämpfe, mit ihnen zusammengehen, mit ihnen den größten Feind schlagen! Der größte Feind sind die großkapitalistischen Schichten, die im Weltmaßstabe den Kapitalismus wieder aufzurichten versuchen, diese Schichten, die in erster Linie im Frieden von Versailles ihren Ausdruck gefunden haben. Den Kampf werden wir führen unter Bedingungen, die sich — verglichen mit den Jahren 1921-1922 — bessern. Die Internationale und die nationale Zersetzung unserer Feinde hat sich gesteigert, die Arbeitermassen fühlen einen Zufluss von Energie, und auch wir, die Kommunistische Internationale haben viele Erfahrungen gesammelt. Nun gilt es, unter neuen Bedingungen, mit neuen, schärferen Mitteln sich für den Kampf vorzubereiten. Wir blasen nicht zur Durchbruchsschlacht. Noch hat der Feind die Initiative in den Händen und wir klopfen, erst seine Fronten ab. Es gilt, wach zu sein und den Gelegenheiten, die sich bieten werden, nicht auszuweichen, sondern sie beim Schopfe zu nehmen, um von der Verteidigung, die jetzt tausendmal kräftiger sein kann, zum Angriff überzugehen, unter Umständen, die für uns am günstigsten sein werden. (Beifall.)

* Giulio Aquila, der Faschismus in Italien, II. Auflage, 100 Seiten. Verlag Carl Hoym Nachf. Hamburg 8

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