Karl Radek 19220629 Der Kampf um die proletarische Einheitsfront

Karl Radek: Der Kampf um die proletarische Einheitsfront

[Die Kommunistische Internationale, Heft 21, Sommer 1922, S. 1-7]

I.

Noch diskutieren einzelne kommunistische Parteien die Frage von dem Nutzen oder dem Schaden der Taktik der proletarischen Einheitsfront. Es zerbrechen sich manche den Kopf darüber, ob diese Taktik nicht geeignet sei, die tiefen Gegensätze, die zwischen der Kommunistischen Internationale und den sozialreformistischen Parteien und Organisationen bestehen, zu mildern oder sogar aus der Welt zu schaffen. Inzwischen haben wir die erste praktische Probe zur Taktik der Einheitsfront im internationalen Maßstabe hinter uns, und man kann jetzt über die Tendenzen und Konsequenzen dieser Taktik auf Grund nicht bloßer theoretischer Grübeleien, sondern auf Grund harter Erfahrungen sprechen. Nun kann gesagt werden, der Versuch der Bildung der Einheitsfront ist misslungen, aus diesem Grunde können diese Erfahrungen. nichts über die Gefahren aussagen, die in der Taktik enthalten waren. Aber dieses Argument ist nur zu einem Teil richtig. Jawohl, der Versuch der Herbeiführung der proletarischen Einheitsfront auf dem Wege internationaler Verhandlungen mit den Führern der reformistischen Parteien ist zu keinem Resultat gelangt; aus diesem Grunde sind gewisse Tendenzen, gewisse Gefahren, die bei dem Gelingen dieses Versuches zutage treten würden, nicht zutage getreten. Aber der Versuch ist nicht zufällig gescheitert. Dadurch, dass er gescheitert ist, hat er in erster Linie gezeigt, was das Wesen der Taktik der Einheitsfront war und ist. Warum hat die Zweite Internationale den ersten Versuch der Bildung der proletarischen Einheitsfront sabotiert? Aus einem ganz einfachen Grunde: weil sie sah, dass diese Einheitsfront die Koalition mit dem Bürgertum sprengen, den Kampf der internationalen Arbeiterklasse verschärfen wird. Warum trat die Kommunistische Internationale aus der Neunerkommission aus? Weil die Kommunistische Internationale nur dann für die Einheitsfront ist, wenn diese ein Mittel der Stärkung des proletarischen Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie ist. In dem Moment, als durch die Zweite Internationale die Neunerkommission kein Organ des Klassenkampfes, sondern ein Organ der Vertuschung der Gegensätze, ja, vielleicht ein Organ einer unzulässigen Pression auf die Kommunistische Internationale (nach dem eingestandenen Plane der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale) sein sollte, ist die Kommunistische Internationale aus der Neunerkommission ausgetreten. Durch diese Tatsachen ist eins kurz und bündig bewiesen: nämlich die Lächerlichkeit der Befürchtungen eines Teiles unserer Genossen, die Taktik der Einheitsfront entströme der Tendenz der Kommunistischen Internationale, auf eine Vereinigung mit der reformistischen Organisationen hinzuwirken, ja, sogar die reformistische Politik mitzumachen. Die Einheitsfront wird die internationale Arbeiterklasse in dem verschärften Kampf mit der kapitalistischen Welt führen, oder sie wird überhaupt nicht sein. Das ist die erste Lehre der ersten internationalen Aktion, die wir geführt haben, und dieses Resultat ist geeignet, die Energie zu verzehnfachen, mit der wir den Kampf um die internationale proletarische Einheitsfront weiterzuführen haben.

Die Berliner Konferenz der drei Exekutiven war keinesfalls ein geeigneter Boden zur Austragung der prinzipiellen Gegensätze, die die internationale Arbeiterbewegung trennen. Jemand sagte sehr richtig: Ihr Fehler liegt darin, dass sie etwas mehr war als eine Verhandlung der Vertreter der Exekutive und viel weniger als ein internationaler Arbeiterkongress. Da man mit der Einberufung des internationalen Kongresses rechnete, suchten die beteiligten Parteien die Austragung der allgemeinen Streitigkeiten für diesen allgemeinen Arbeiterkongress hinauszuschieben und den Kampf zu begrenzen auf die nächsten praktischen Aufgaben. Aus diesem Grunde traten die Gegensätze nicht auf in ihren scharfen theoretischen Formulierungen. Mit Absicht vermieden alle drei teilnehmenden Richtungen der internationalen Arbeiterbewegung die Auseinandersetzung über die allgemeinen Differenzen. Der schärfste Kampf wurde ausgefochten in einer Frage, die äußerlich ganz zufällig aufgetaucht zu sein schien: in der Frage des Prozesses der Sozialrevolutionäre. Und trotzdem sind die Gegensätze zusammengeprallt an dem Punkte, wo der Charakter unserer Bestrebungen nach der Einheitsfront und dessen, was unsere Gegner die Einheitsfront nennen, am krassesten, am grellsten zutage tritt, wenn man, statt sich mit der Unlogik der gegnerischen Führer zu befassen, die Logik ihrer Politik ins Auge fasst.

Was bildet den konkreten historischen Hintergrund der Bestrebungen nach der proletarischen Einheitsfront? Was hat eine gemeinsame Sitzung der Vertreter der drei Internationalen möglich gemacht, einer Zusammenkunft, die noch vor einem Jahr gescheitert wäre nicht nur an unserem Widerstande, sondern auch an dem Widerstande der Reformisten, sich an einen Tisch mit den Putschisten, Räubern und Kommunisten zu setzen? Die Zusammenkunft der Vertreter der drei Exekutiven wurde ermöglicht durch den Druck, den die Offensive des internationalen Kapitals auf die Arbeiterklasse in allen Ländern ausübt. Die Zusammenkunft wurde ermöglicht durch die Verstärkung des Gefühls der Notwendigkeit des Zusammengehens der Arbeiter gegen den Kapitalismus. Auf diesen Tatsachen basierend, hat die Exekutive der Kommunistischen Internationale ihre Taktik aufgebaut, ihre nächsten politischen Ziele umgrenzt. Wir sagten uns: Das internationale Kapital bestürmt die Positionen der Arbeiterklasse. Arbeitermassen, die bisher nicht fähig waren, sich zu sammeln um die Fahne des Kommunismus, um zur Offensive gegen die kapitalistische Welt zu schreiten, sie werden durch die Offensive des Kapitals dazu getrieben, sich zusammen zu schließen zur allgemeinen Defensive, zur Verteidigung der gemeinsamen, bedrängten, schon eroberten Positionen. Es galt, festzustellen, welche Positionen es sind; es galt, das ganze internationale Kampffeld zu überblicken. Was ergab diese Untersuchung? Das Weltkapital sucht die Lasten des Wiederaufbaues des stark erschütterten Kapitalismus der internationalen Arbeiterklasse aufzubürden, indem es die realen Löhne der Arbeiterklasse überall weit unter das Niveau der Vorkriegszeit zu drücken sucht, indem es die Arbeitszeit verlängert, indem es auf gewisse Teile der Volksmassen der Welt noch besondere Lasten überwalzt; es sind dies die deutschen Proletarier, die in der Form der Reparationslasten weit unter das Niveau der amerikanisch-englischen Proletarier gedrückt werden sollen und dadurch ihnen gegenüber die Rolle der Lohndrücker spielen; es sind dies die Arbeiter- und Bauernmassen Russlands, die jahrzehntelang Tribute an das siegreiche Weltkapital entrichten sollen, nachdem sie vorerst auf alle Errungenschaften der russischen Revolution verzichtet haben. Diese Errungenschaften bestehen in der Sowjetregierung und in der Nationalisierung der Großindustrie. Wird die zweite aufgegeben unter dem Druck des fremden Kapitals, dann verliert die erste ihre soziale Basis, und dann sind die Errungenschaften der ersten Welle der Weltrevolution liquidiert, dann ist die internationale Arbeiterklasse zurückgeworfen auf den Stand vor dem Kriege. Diese Sachlage ergab die Bedingungen, unter denen die allgemeine Arbeitsfront zu verteidigen wäre. Es waren dies das Lebensniveau, das das Proletariat in den kapitalistisch am meisten entwickelten Ländern im Kriege und in der Zeit der ihm folgenden Erschütterung erobert hat, es war dies das deutsche Proletariat, das Proletariat Mitteleuropas, das verteidigt werden musste vor dem Geschick des internationalen Lohndrückers, zu dem es die Entente machen will durch die Politik der Reparationen. Der Kampf gegen die Reparationen war von dieser Perspektive aus eine Bekundung des guten Herzens der Renaudels, Vanderveldes und Macdonalds zu einer Abwehraktion des internationalen Proletariats gegen eine ihm international drohende Gefahr. So wurde die Frage des Verhaltens zu Sowjetrussland in dem allgemeinen Rahmen der Weltlage des Proletariats gestellt. Die Frage von der Verteidigung Sowjetrusslands wurde gestellt auf dem Boden der Verteidigung einer sich jetzt in den Händen des internationalen Proletariats befindenden Position. Aus dieser Umschreibung der drohenden Gefahren ergab sich die Linie des internationalen Gefechtes gegen das Kapital. Wir sagten den reformistischen Parteien: Ihr habt behauptet, man könne auf dem Wege der Demokratie ohne Revolution zum Sozialismus gelangen, nun, das hat sich als kompletter Unsinn erwiesen! Ihr waret bisher nicht imstande, auf dem demokratischen Wege auch nur einen Schritt vorwärts zum Sozialismus zu machen. Durch eure Politik, durch den Verzicht auf den revolutionären Kampf, ist die internationale Arbeiterklasse auf der ganzen Linie zurückgeschlagen; sie kämpft jetzt in der Defensive. Nun, wir stellen an euch die Frage: Wollt ihr den Rückzug einstellen, wollt ihr wenigstens die noch von der Arbeiterklasse besetzten Positionen verteidigen? Auf diese Frage erhielten wir von der Zweiten und der Zweieinhalb-Internationale eine Antwort, deren sozialer Sinn war: Rückwärts, rückwärts, Donner, Rodrigo! Wir wollen sogar die wichtigsten Positionen dem Feinde räumen, und nur unter dieser Bedingung sind wir bereit, eine allgemeine Front aufzustellen. Das war der Sinn der Taktik der Zweiten und der Zweieinhalb-Internationalen alles andere war an dieser Antwort nur Formsache. Wir werden es sofort sehen.

Natürlich haben das die Herren von der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale nicht so prompt und einfach gesagt. Bei ihrem vollkommenen Mangel an theoretischem Sinn, bei ihrem vollkommenen Mangel der Fähigkeit, das eigene Tun auf eine allgemeine Formel zu bringen, haben sie vielleicht selbst den wirklichen Sinn ihrer Erklärungen nicht bis zu Ende gedacht. Viele von ihnen sind wie der Held Molieres, der nicht wusste, dass er Vergleiche gebraucht und dass er in Prosa spricht. Über unsere Vorschläge der gemeinsamen Aktion zur Verteidigung des Lohnniveaus der Arbeiterklasse und des Achtstundentages haben sie sich ausgeschwiegen. Es ist klar, keiner von ihnen wollte und konnte offen sagen, was sie auch auf diesem Gebiete praktisch tun, keiner wollte sagen, wir haben keine Kraft zum Kämpfen, wir müssen den Kapitalisten nachgeben. Sie sagten das nicht, obwohl sie es im internationalen Maßstabe in ihrem Charakter als Führer der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale jeden Tag tun. Wo es sich aber um den zweiten selbstverständlichen — wie man meinen müsste — Punkt handelte, um den Kampf gegen die Reparationspolitik der Entente, da zeigte es sich schon, dass die reformistischen Parteien hier nicht einmal den Schein zu wahren imstande sind. Seit den ersten Worten Vanderveldes, der erklärte, er möchte sehr gern den deutschen Arbeitern in ihrer Not helfen, aber er fürchte, der Kampf gegen den Versailles-Frieden könnte den Stinnes und Konsorten helfen, seit diesen ersten Worten war es vollkommen klar, dass die Zweite Internationale die Interessen des deutschen Proletariats opfert und dadurch außerstande ist, auch die Interessen des Ententeproletariats zu verteidigen. Die Zweite Internationale bildet eine Koalition der reformistischen Parteien der siegreichen Länder und Deutschlands mit einigen großen Arbeiterparteien der neutralen Länder. Das Übergewicht des Kapitalismus in den siegreichen Ländern gibt auch den Reformisten der siegreichen Länder das Übergewicht in dieser Koalition. Während in der Zweiten Internationale vor dem Kriege die deutsche Partei die Oberhand hatte, als die Partei der stärksten Arbeiterbewegung, hat jetzt in der Zweiten Internationale die Führung die englische Labour-Party, die sich nicht einmal den Mantel einer sozialistischen Partei umlegt, eine reine Gewerkschaftspartei, die damit rechnet, dass sie morgen oder übermorgen die Verantwortung für das englische Imperium zu übernehmen haben wird. Aus diesem Grunde sind die Führer dieser Partei sogar in ihrer Phraseologie sehr vorsichtig. Sie schwärmen für die „Liberty“, für die Freiheit und andere schöne Rosinen in Gottes Kuchen, aber sogar heute — als Partei der Opposition ‚— fordern sie als Bedingung der Freiheit Irlands die Neutralisierung der irischen Küste, damit sie nicht zur amerikanischen oder französischen maritimen Basis gegen England wird. Sie verteidigen die Rechte Englands auf den Suez-Kanal, um die Verbindungen mit Indien in den Händen der englischen Flotte zu behalten. Sie maulen sehr oft gegen den Versailles- Frieden, aber sie fordern seine Revision nur mit Zustimmung Frankreichs, sie gehen um keinen Deut weiter als Asquith, der Führer der englischen Liberalen und Opportunisten, wie sie sind, handeln sie so nicht nur aus Rücksicht auf die eigene zukünftige Stellung als Minister, sondern auch aus Rücksicht auf den Opportunismus der anderen mit ihnen vereinigten Parteien. Herr Vandervelde ist jetzt nicht mehr königlicher Minister, aber er — der Unterzeichner des Versailler Friedens — kann selbstverständlich diesen Friedensvertrag nicht als räuberisch geißeln. Herr Branting ist Chef einer sozialdemokratischen Regierung in dem bürgerlichen, königlichen Schweden. Sein Auftreten mit der Parole des Kampfes gegen den Versailler Frieden würde nichts anderes bedeuten als die schärfste Stellungnahme der schwedischen Regierung gegen den französischen Imperialismus, was ihm natürlich seine Bourgeoisie nicht erlaubt. Aus diesem Grunde mussten die Männer der Zweiten Internationale ultimativ die Streichung der Forderung des Kampfes gegen den Versailler Frieden fordern, und der deutsche Michel in der Zweiten Internationale, die ehemals führende deutsche Sozialdemokratie, ließ sich das gefallen, weil sie doch auch als Partei, die an der deutschen Regierung teilnimmt, alle ihre Hoffnungen nicht auf die revolutionäre Liquidation des Versailler Friedens setzt, sondern auf die wachsende Einsicht der kapitalistischen Welt, dass man aus Deutschland nicht genug herauszupressen imstande sein wird, wenn man es auf einmal zerdrückt. Der Verzicht auf den Kampf gegen den Versailler Frieden bedeutet somit einen Verzicht auf jeden Versuch, die das Proletariat im internationalen Maßstabe degradierenden Tendenzen in allgemeiner Front zu bekämpfen. Das bedeutet: der Rückzug vor der Offensive des Kapitals wird weitergeführt.

Aber damit war die Antwort der Reformisten nicht erschöpft. Ihren Gipfelpunkt erreichte sie in der Frage des Verhältnisses zu Sowjetrussland, wo die Zweite Internationale gleichzeitig bereit war, die Anerkennung Sowjetrusslands durch die kapitalistischen Mächte zu fordern und gleichzeitig in demselben Atemzuge von der Sowjetregierung zu verlangen, sie solle sich selbst aufgeben und einer bürgerlichen Regierung Platz machen. Und das Charakteristische ist, dass die Zweieinhalb-Internationale den reformistischen Tendenzen in den Fragen des Widerstandes gegen die Offensive des Kapitals auf die westeuropäischen Positionen der Arbeiterklasse so etwas wie einen Widerstand leisten wollte, in der russischen Frage aber vollkommen an einem Strange mit der Zweiten Internationale zog und zusammen mit ihr als Schrittmacherin des internationalen Kapitals auftrat. Sehr charakteristisch war eine Bemerkung in der Rede des braven Ramsey Macdonalds, die im Tohuwabohu der Konferenz unterging, und die wert ist, historisch festgenagelt zu werden.

Vieles bat sich in der kommunistischen Bewegung in den letzten Monaten zugetragen, in Russland hat der große strategische Rückzug begonnen. Wir wussten, dass er kommen müsse. Wir haben erst bedauert, dass sie sich selbst in die Lage brachten, dass er unvermeidlich war. Wir haben Lenins Reden gelesen. Wir haben sie gründlich gelesen und glaubten, dass sie der Anfang einer wirklich gemeinsamen Aktion sein können.“ (Protokoll der Internationalen Konferenz, Seite 22.)

Herr Ramsey Macdonald erklärt also den Rückzug der russischen Revolution für selbstverschuldet. Nicht er und die Seinen, die Zweite und Zweieinhalb-Internationale, die die internationale Arbeiterklasse mit allen Kräften zurückgehalten haben, vor jedem revolutionären Kampfe, die die russische Revolution isoliert haben, tragen die Verantwortung dafür, dass Sowjetrussland Zugeständnisse an das Weltkapital machen muss. Herr Macdonald bedauert nur, dass die russische Revolution so dumm war, den Kampf mit dem Weltkapital überhaupt aufzunehmen, und er hofft, dass dieser Rückzug den Boden der Verständigung zwischen Sowjetrussland, der Kommunistischen Internationale auf der einen Seite und der Zweiten Internationale auf der anderen bilden wird. Herr Ramsey Macdonald nimmt dieselbe Position Sowjetrussland gegenüber ein wie Herr Lloyd George oder Herr Stinnes, der uns wörtlich dasselbe gesagt hat: Nun beginnt Ihr Vernunft zu kriegen, und da ist es möglich, mit Euch geschäftlich zu sprechen. Und wie Herr Lloyd George und Herr Stinnes seine Bedingungen stellt, so stellt auch Herr Ramsey Macdonald die seinen. Und es ist sehr charakteristisch, dass die Bedingungen, die Macdonald, die Zweite und die Zweieinhalb-Internationalen stellen, in derselben Richtung sich entwickeln wie die, die uns von den Häuptlingen des europäischen Kapitals gestellt werden, nur dass sie plumper, offener gestellt werden.

Ich habe schon in meiner Antwort auf die Rede Macdonalds darauf hingewiesen, dass sein Eintreten für die so genannten „Randstaaten“ die Forderung der „Befreiung“ Georgiens, der Ukraine, Aserbeidschans nichts anderes darstellt als die englische imperialistische Randstaatenpolitik, die den Zweck verfolgt, die Einfallstore Russlands in die Hände des Weltkapitals zu bringen, Sowjetrussland die Ölquellen und die Kornkammern zu entreißen, um es zur Kapitulation zu zwingen. Aber damit enden nicht die nichtswürdigen Vorschläge der Zweiten und Zweieinhalb-Internationalen. Sie erweitert die „Basis der Verständigung“, indem sie die Aufhebung der proletarischen Diktatur in dem übrigen Russland fordert. Sie tut das in der schlichten Form, indem sie die „Freiheit“ für die so genannten „sozialistischen Parteien“ reklamiert. „Die Freiheit“ der Agitation für die SR, die offene, eingeschworene Gegner Sowjetrusslands, rücksichtslose Anhänger der bürgerlichen Demokratie sind. Freiheit der Agitation für die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die offen und klar erklären, dass die neue ökonomische Politik kein Halt machen würde bei den ökonomischen Zugeständnissen an die Bourgeoisie, dass die Sowjetregierung verpflichtet ist, politische Zugeständnisse der Bourgeoisie zu machen. In diesen Umständen bedeutet die Forderung der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale nichts anderes als eben die Forderung, dass die Sowjetregierung ihre Kapitulation vor der Bourgeoisie beginne, denn es ist klar, dass in dem Moment, wo unter des Flagge des Sozialismus Parteien eine offene Tätigkeit entfalten werden, die sich die Rückkehr zum Kapitalismus und zur bürgerlichen Demokratie zum Ziele stellen, sie sofort zum Organisationszentrum aller bürgerlichen konterrevolutionären Tendenzen werden. Das verstehen ausgezeichnet die klügsten Vertreter der kapitalistischen Reaktion. Seit dem Moment der Zertrümmerung der weißgardistischen Organisationen der Junker und Kapitalisten, seit der Niederlage Wrangels, erklärt sich Miljukow für eine Koalition mit den Sozialrevolutionären, den Schützlingen der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale, die sich ihrerseits nicht nur in einer faktischen Koalition mit Miljukow, sondern auch in einer Koalition mit den Menschewiki befinden. Dass das alles, was wir sagen, keine Auslegung des Sinnes der Forderungen der Zweiten und Zweineinhalb-Internationalen ist, sondern dass dies eine bewusste Politik ist, das zeigt am besten ein redaktioneller Artikel des „Sozialistischen Boten“, des Organs der Menschewiki, der kühl und offen erklärt, dass, solange der Bolschewismus keine Schlüsse gezogen hat aus seiner neuen Lage in Russland und nicht übergegangen sei auf die Position eines sehr gemäßigten Sozialismus für ihn kein Platz sei in der Einheitsfront des europäischen Proletariats. (Siehe Nr. 11 vom 3. Juni.)

Die Antwort der Zweiten und Zweieinhalb-Internationalen lautete also zusammengefasst: Wir, die Zweite und Zweieinhalb-Internationale, wir können nicht einmal in der Defensive kämpfen gegen den Angriff des Weltkapitals. Wir können weder gegen die Reparations-Politik der Alliierten, noch gegen den Versuch der Entente, die Errungenschaften der russischen Revolution zu vernichten, ankämpfen. Umgekehrt, wir sind der Meinung, dass die deutsche Arbeiterklasse solange unter den Reparationslasten. zu ächzen hat, bis die Kapitalisten selbst die Notwendigkeit der Revision des Versailles- Friedens einsehen werden. Was Russland anbetrifft, so soll es aufhören, sich zu kaprizieren, die Nationalisierung der Industrie aufrecht zu erhalten, es soll seinen Frieden mit den Kapitalisten schließen, die Demokratie einführen und dann gemäß seiner sozialen Zurückgebliebenheit gemäßigten Sozialismus treiben, wie ihn die Herren Macdonald, Henderson, treiben, oder noch krasser, mit den Worten des „Sozialistischen Boten“ gesprochen, sogar ein solcher gemäßigter Sozialismus ist für Russland noch zuviel des Guten. Die russischen Kommunisten sollen in der Einheitsfront eigentlich den rechten Flügel einnehmen. Diese Antwort der Zweiten und Zweieinhalb-Internationalen hat gezeigt, dass, so weit es sich um die Führer des- westeuropäischen reformistischen Bewegung handelt, von einer Einheitsfront zum Kampfe gegen das Kapital keine Rede sein konnte, aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht nur an keinen Kampf dachten, sondern umgekehrt, als Schrittmacher des Weltkapitals das Aufgeben der wichtigsten Positionen der europäischen Arbeiterklasse als Bedingung der Einheitsfront forderten.

Wer diesen Sinn der Antwort der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale nicht verstand, dem müsste er klar werden auf Grund des Verhaltens der Parteien dieser zwei Gruppierungen während der Genueser Konferenz, wo sie der um die Verteidigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution kämpfenden Sowjetdelegation in den Rücken fielen, Eine Reihe von Parteien des Zweiten Internationale, wie die schwedische und die deutsche Sozialdemokratie, stellten an Sowjetrussland im Interesse ihrer Bourgeoisie Forderungen, die die russische Arbeiterklasse für Jahrzehnte mit Tributen zugunsten des Auslandskapitals belasten sollten. Die schwedische und die deutsche Regierung forderten in den Sonderverhandlungen mit Sowjetrussland die Entschädigung der durch die Revolution geschädigten Kapitalisten. Und es bedurfte erst der Angst, dass die Sowjetrepublik ein Sonderabkommen mit der Entente schließen könnte, um die Diplomatie der deutschen Regierung, in der die deutsche Sozialdemokratie sitzt, dazu zu bringen, den Frieden mit Sowjetrussland abzuschließen unter der Bedingung, dass die deutschen Kapitalisten aller der Wohltaten teilhaftig werden, die‘ die Regierungen der Entente aus Russland auspressen werden. Aber sogar gegen die für diesen Preis errungene Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland wandte sich die deutsche Sozialdemokratie. Es wird eine historische Tatsache bleiben, die wie mit Blitzlicht die ganze internationale Lage des Proletariats beleuchtet, dass das Zentrum des Widerstandes gegen die einfache Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland Ebert, der frühere Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie und der jetzige Präsident der deutschen bürgerlichen Republik, war.

II.

Der Bruch kam zustande, als die Zweite Internationale offen und klar sich gegen die Abhaltung eines internationalen Arbeiterkongresses aussprach, solange die Kommunistische Internationale nicht auf ihre Forderungen eingehe, die nichts anderes bedeuteten, als die Forderung der Kapitulation der Sowjetregierung, was ein sehr schöner Preis wäre für die Einberufung eines Kongresses zum Zwecke der Aufrichtung der allgemeinen Front des Proletariats gegen die kapitalistische Offensive.

Die Kommunistische Internationale hatte die Wahl, entweder klar den Tatsachen in die Augen zu schauen, die besagten, dass die internationale einheitliche Front des Proletariats erst erkämpft werden muss gegen die Führer der Parteien der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale, oder sie hatte sich schuldig zu machen des- Vertuschung der Lage, der Schaffung von Illusionen, deren Zerstörung die Vorbedingung einer wirklichen Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse ist. Die Zweite Internationale hoffte auf den Bruch. Sie steht in England und in Holland vor den Wahlen, in Deutschland inmitten einer schweren inneren Krise. Sie kann sich nirgends den Luxus erlauben, Hand in Hand mit den revolutionären Arbeitern auch nur auf einer Parade aufzutreten, denn dadurch verdirbt sie sich das Verhältnis zum Bürgertum. Und wo die Situation wie in Deutschland brenzlich ist, fürchtet sie, dem Teufel den Finger zu reichen, was die Gefahr in sich birgt, dass sie ihm die Hand zu reichen genötigt sein wird.

Die Zweieinhalb-Internationale war für das Vertuschungsspiel. Nicht nur, weil die Existenz der Neunerkommission ihr eine Bedeutung gab, die sonst dieser vollkommen ideenlosen Organisation fehlt, sondern auch, weil sie glaubte, durch die Neunerkommission auf die Kommunistische Internationale drücken zu können. In dem schon zitierten Artikel des „Sozialistischen Boten“, des Organs der Menschewiki, erklärt der Verfasser des redaktionellen Artikels: Die Neuner-Kommission sollte den Boden bilden, auf dem die Herren der Zweiten und Zweieinhalb-Internationale auf die Sowjetregierung zu drängen gedachten, um von ihr möglichst große Zugeständnisse für die kleinbürgerlichen so genannten sozialistischen Parteien in Russland zu erlangen. Sie glaubten, die Sowjetregierung ködern zu können mit der langsamen Bekehrung der Zweiten Internationale zu der Idee des allgemeinen proletarischen Kongresses, wofür dann die Kommunistische Internationale als Preis Zugeständnisse für die Menschewiki und SR machen müsste. Die Kommunistische Internationale nahm die Sachlage, wie sie ist, nämlich sie stellte fest, dass die Zweite Internationale die Einheitsfront für den Kampf nicht will, was am krassesten zum Ausdruck kommt in dem Widerstand gegen die Einberufung des proletarischen Weltkongresses im Moment der konzentrierten Offensive des Kapitals. Dies galt es, den Arbeitermassen zum Bewusstsein zu bringen, und darum trat die Kommunistische Internationale aus der Neunerkommission aus, um das Kampffeld frei zu machen für den Kampf um die proletarische Einheitsfront.

III.

Wir haben hinter uns die erste Phase des internationalen Kampfes um die Einheitsfront. Damit, dass sich die Kommunistische Internationale für die Taktik der Einheitsfront unter dem Druck der ganzen internationalen Situation der Arbeiterbewegung entschlossen hatte, war noch mit keinem Wort gesagt, in welcher Form der Kampf um die Einheitsfront durchzuführen sein würde. Als zuerst der Gedanke der Losung eines internationalen Kongresses in der Diskussion auftauchte, war eine Anzahl von Genossen gegen diese Losung, indem sie darauf hinwiesen, dass international die reformistischen Parteien keineswegs sich unter einem gleichen Druck der Massen befinden, dass es darum verfehlt sei, einen internationalen Kongress als den Weg zur Einheitsfront zu wählen. Aber die Einberufung der Genueser Konferenz, die der Offensive des Kapitals einen internationalen Ausdruck gewährte, entschied für die Forderung der Einberufung eines Weltkongresses. Das Zustandekommen der Berliner Konferenz der drei Exekutiven zeigte, dass der Druck der Arbeitermassen auf die reformistischen Parteien stark genug war, um es ihnen unmöglich zu machen, ohne weiteres den Vorschlag einer gemeinsamen Konferenz abzulehnen. Ihr Verhalten auf der Konferenz zeigte aber, dass dieser Druck zu schwach war, um sie zu zwingen, auch nur einen Schritt auf dem Wege des wirklichen Kampfes zu machen. Somit bleibt als Ergebnis der Berliner Konferenz die Erkenntnis, dass der Kampf um die Einheitsfront zuerst mit voller Kraft in den einzelnen Ländern geführt werden muss, bis es möglich sein wird, zu versuchen, durch die Blockierung mit der reformistischen Internationale die Arbeiterklasse auch nur für ihre nächsten unmittelbaren Interessen international ins Treffen zu führen. Als internationaler Faktor, der seine Bemühungen zweckbewusst auf die nächsten Aufgaben konzentriert existiert das Weltproletariat in diesem Moment nicht. Diese traurige Tatsache ist klar festzustellen, denn sie bildet den Ausgangspunkt unseres weiteren Kampfes. Diesen Kampf führt im internationalen Maßstab einstweilen nur der Vortrupp der Arbeiterklasse, die Kommunistische Internationale. Sogar im Kampfe um die Ausnutzung der Demokratie zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse haben die Zweite und die Zweieinhalb-Internationale vollkommen versagt. Aber dies bedeutet keineswegs, dass wir entmutigt sein sollen. In einer ganzen Reihe von Ländern stehen wir in aussichtsreichsten Kämpfen, so in Deutschland, in der Tschechoslowakei und in Italien. Die Angst der deutschen Sozialdemokratie vor der Einheitsfront bildet den besten Beweis dafür, wie brenzlich die Lage in Deutschland ist, Und der neue Sturm, der über Deutschland losbrach in dem Moment, wo wir diese Worte schreiben, zeigt, wie der Sturmwind der Geschichte die Illusionen der deutschen Arbeiterklasse auseinander treiben wird. Mag die Sozialdemokratie versuchen, die Arbeiterklasse zu ködern mit dem Trugbild einer republikanischen Einheitsfront von den Zentrumsmagnaten über die demokratischen Bankiers bis zu den unabhängigen Arbeitern. Die Zentrumskapitalisten und, die demokratischen Börsenjobber werden schon dafür sorgen, dass diese Illusionen schneller zerflattern, als sie entstehen. Dann werden die sozialdemokratischen Arbeiter einsehen: entweder Einheitsfront des Proletariats oder Kapitulation vor der monarchistischen Reaktion, hinter der nicht nur das Junkertum, sondern auch die Schwerindustrie steht. In Italien hat Serrati sein Damaskus erlebt. Was wir ihm vorausgesagt haben, ist eingetroffen. Die D'Arragona und Turati haben an dem Tage gesiegt, als er mit der Kommunistischen Internationale brach in der Überzeugung, dass es ihm dann gelingen werde, ohne den unangenehmen Druck der Kommunistischen Internationale, langsam, aber sicher vorzurücken. Der Zusammenbruch Serratis wird die Kommunistische Partei zum Zentrum der Arbeiterbewegung machen, wenn sie es verstehen wird, die doktrinären Eierschalen abzustreifen und mutig und einheitlich in den Kampf zu ziehen für die proletarische Einheitsfront. In der Tschechoslowakei geht das große Sterben des- Sozialdemokratie unabwendbar vor sich und gleichzeitig der Prozess der Radikalisierung der Arbeiterklasse und eines Teiles der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen. Auch hier wird die Kommunistische Partei die Arbeitermassen um sich sammeln.

Angesichts dessen hat die Erweiterte Exekutive der Kommunistischen Internationale vollkommen richtig gehandelt, als sie nach der Berliner Konferenz und nach dem Scheitern ihrer Bemühungen die Losung ausgab: Erst recht für die Einheitsfront des Proletariats!

Moskau, den 29 Juni 1922.

Karl Radek.

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