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G. Sinowjew 19161000 Adlers Schuss und die Krise des Sozialismus

G. Sinowjew: Adlers Schuss und die Krise des Sozialismus.

[Sammelbuch des „Sozialdemokrat Nr. 2. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 522-529]

Hinter den Gerichtsmauern der Habsburger Monarchie spielt sich unsichtbar für die Außenwelt eine erschütternde Tragödie ab. Friedrich Adler, der den Ministerpräsidenten Stürgkh getötet hat und deswegen von seinen eigenen „Genossen" für geisteskrank erklärt wurde, kämpft mit den Gerichtshenkern um das Recht zu sterben, um das Recht, in der Erinnerung seines Volkes das zu bleiben, was er für das Volk sein wollte: ein revolutionärer Rächer, ein protestierender Kämpfer, ein Vorkämpfer im Ringen gegen die blutbesudelten Imperialisten.

Es unterliegt keinem Zweifel: Adlers Tat ist aus politischen Motiven zu erklären" – diese Behauptung wagte nur eine mehr oder weniger oppositionelle sozialistische Zeitung in Österreich: „Die Volkstribüne" (Nr. 43). Und in der Tat, für jeden ehrlichen Menschen ist es klar, dass Adlers Schuss ein politischer Akt ist, und dass dieser in engstem Zusammenhang steht mit der Krise der Arbeiterbewegung Österreichs, mit der Krise des Sozialismus überhaupt.

Friedrich Adler wollte im Grafen Stürgkh seine eigene Partei treffen … um … die eigenen Genossen in die von ihm gewünschte Bahn hineinzuzwingen", schrieb die „Neue Freie Presse" (Morgenblatt, 22. Oktober 1916) am ersten Tag nach dem Morde, noch bevor sich die Legende von der Unzurechnungsfähigkeit und Geisteskrankheit Adlers bilden konnte. Die österreichische offiziöse Zeitung hat Recht: Ja, Friedrich Adler zielte auch nach ihrem Agenten, – dem Sozialchauvinismus.

Seiner ganzen Erziehung, seinem ganzen geistigen Habitus nach war Friedrich Adler ein friedlicher Propagandist, ein Kultursozialist. In seiner Brust schlug stets ein heißes Herz. Er glaubte aufrichtig an das sozialistische Ideal. Für die Sache, die er für die gerechte hielt, war er zu den größten Opfern bereit, und mit seiner Tat vom 21. Oktober hat er es vor der ganzen Welt bewiesen. Aber nach seiner ganzen Tätigkeit, seiner ganzen Mentalität gehörte er vor dem Kriege – und auch lange nach Kriegsausbruch – zu der Generation der Sozialisten der friedlichen Epoche.

Adler war ein typischer friedlicher Propagandist, ein entschiedener Gegner des Terrors. Und dennoch beging er einen terroristischen Akt! Folglich, – schließen die deutschen und österreichischen Sozialchauvinisten, – folglich beging Adler seine Tat in einem Anfall von Geistesgestörtheit, folglich ist Adler einfach geisteskrank. Und diesen Herren kommt nicht einmal die einfache Überlegung in den Sinn: hat nicht die ganze Geschichte des politischen Terrors gezeigt, dass unter gewissen Verhältnissen gerade die friedlichsten Leute, die geborenen „Kulturmenschen" nach dem Revolver greifen? Hat nicht der bedeutendste Vertreter des russischen Terrorismus einmal vor Gericht erzählt, wie viele russische Terroristen eine „träumerische, rosige Jugend" hinter sich hatten, als ihnen die Möglichkeit fruchtbarer Arbeit für ihr Volk auf dem Boden der Kultur und des friedlichen Fortschrittes vorschwebte.

Die vom jetzigen Krieg in allen Ländern – und insbesondere in Österreich – geschaffene Situation musste schon längst jeden ehrlichen „Kulturmenschen" von den Träumereien der rosigen Jugend heilen. Seit, 1914 ist in Österreich ein Absolutismus schlimmster Sorte wiederhergestellt. Die Galgen werden zu Tausenden errichtet. Die niederträchtige Erschießung des sozialpatriotischen österreichisch-italienischen Abgeordneten Bettisti ist jedermann bekannt. Aber wer wird uns von den Tausenden und Abertausenden namenloser Gräber der ruthenischen, tschechischen und serbokroatischen Bauern und Arbeiter erzählen, die wegen Mangel an „Patriotismus" von den österreichischen Imperialisten umgebracht wurden? … Das Wüten der österreichischen Zensur erinnert an die seligen Zeiten Metternichs. Wenn in den österreichischen Zeitungen eine Notiz erscheint wie: in der und der Stadt oder in dem und dem Städtchen sind „plötzlich" soundso viel Menschen „gestorben", so weiß ganz Österreich, dass zu lesen ist: soundso viel Menschen wurden gehängt. Die Verfolgungen gegen die Arbeiter, die auch nur einigermaßen ihre, sei es nur rein ökonomischen Interessen zu verteidigen suchen, bleiben hinter den Verfolgungen in Russland nicht zurück. Der österreichische Generalstab hat nun schon nach dem Schuss Adlers die Nachricht „dementiert", dass in Steyr 700 Arbeiter erschossen seien. Diesem Dementi kann man ebenso viel Glauben schenken wie den Kriegsberichten über die Siege der österreichischen Heere.

Und zu gleicher Zeit ist die moralische Versumpfung der offiziellen „Sozialdemokratie" nirgends so tief gegangen wie in Österreich. In Bezug auf die österreichische Sozialdemokratie nach dem 4. August wurde treffend bemerkt: diese Partei ist ihrer Vergangenheit am wenigsten untreu geworden, denn … denn sie nahm schon lange vor dem jetzigen Kriege einen sozialchauvinistischen Standpunkt ein. Es genügt, an ihr schmähliches Verhalten während der bosnisch-herzegowinischen Krise und der Balkankriege zu erinnern. Es genügt, daran zu erinnern, dass alle anerkannten Führer der österreichischen Sozialdemokratie offene Monarchisten sind. Es genügt, zu erinnern, dass Herr Renner schon vor 10 Jahren die ominöse kulturnationale Autonomie mit rein sozialchauvinistischen Argumenten verteidigte*.

Während des Krieges haben die österreichischen Sozialchauvinisten den Rekord geschlagen. Mit dem Segen Viktor Adlers schrieb Austerlitz blutrünstige Leitartikel: „Nach Paris", Renner wurde zum einfachen Makler des „mitteleuropäischen" Imperialistenverbandes, Leuthner sank tiefer als Südekum, und Pernerstorfer „entlarvte" die österreichische sozialdemokratische Opposition als kleines Häuflein, das nicht nur aus Akademikern bestünde, sondern auch aus Juden (!).

In dieser qualvollen Atmosphäre musste Fr. Adler leben und kämpfen. Er begann mit einer sehr schwachen und zaghaften Opposition gegen den sozialchauvinistischen Kurs. Sein nahes persönliches Verhältnis zu Viktor Adler erschwerte ihm den Kampf. Er wollte die Spaltung nicht. Aber das Regime der Pernerstorfer und Austerlitz kurierte ihn auch auf diesem Gebiete von rosigen Illusionen. In seinem letzten Artikel, der einige Tage vor der Ermordung des Grafen Stürgkh erschienen ist, ruft Fr. Adler die Arbeiter auf, gegen „die vereinten Autoritäten des Staates und der sozialdemokratischen Partei" zu kämpfen. Er brandmarkt die „Führer" der österreichischen Sozialdemokratie als Heer von Beamten, die aufgehört haben, Sozialdemokraten zu sein.

Die vereinten Autoritäten der imperialistischen Regierung und der sozialchauvinistischen österreichischen Partei! Jawohl, Fr. Adlers Kugel wollte die einen sowohl wie die anderen treffen.

Doch Fr. Adlers Entschluss musste auch in Zusammenhang stehen mit der europäischen, mit der Weltkrise, die vom Sozialismus durchgemacht wird.

Ungefähr im Verlauf einer Woche vollzogen sich im internationalen Sozialismus drei Ereignisse, die ihrem Charakter nach verschieden sind, die in keinem Zusammenhang miteinander stehen, aber zugleich die ganze jetzige Lage in der Internationale beleuchten. 1. Der Vorstand der größten sozialdemokratischen Partei der Welt (der Deutschen) trat in ein offenes Bündnis mit den Generalen Wilhelm des II. und raubte, auf sie gestützt, den Berliner Arbeitern ihre Zeitung („Vorwärts"), die jetzt gemeinsam redigiert wird von den Vasallen Scheidemanns und dem General Kessel. 2. Der Vorsitzende der kleinen dänischen sozialdemokratischen Partei, Stauning, ist in das bürgerliche Ministerium eingetreten und „beweist" zynisch den Arbeitern aller Länder, dass er durch seine Handlungsweise den Willen der Internationale vollziehe. 3. Friedrich Adler ermordete den österreichischen Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh. Einerseits: das Auswirken des niederträchtigsten Sozialchauvinismus, Massenverrat, eine ungeheuerliche Preisgabe der Arbeitersache. Andererseits greift ein ehrlicher friedlicher Propagandist zur terroristischen Waffe, schwenkt plötzlich von halb-Kautskyscher Haltung zum Terrorismus ab. Dies gibt eine unerwartet helle Beleuchtung jener ganzen Zerrüttung, jenes Durcheinanders, jener Gärung, jener unsagbar schweren Krise, unter deren Qualen die neue Internationale geboren wird!

Das erste Wort der Teilnahme, das sich nach dem Schuss Adlers dem sozialchauvinistischen „Vorwärts" entrang, war gerichtet … an wen denken sie wohl? … an den österreichischen Kaiser! „Der greise österreichische Kaiser! Er hat Bruder, Sohn, Gattin, Neffen und Thronfolger verloren; jetzt, in schwerster Zeit, verliert er den Mann, der ihm ein ständiger Ratgeber war. Jedes menschliche Gefühl beugt sich vor diesem Greise auf dem Throne. Wer hat das erlebt, das ertragen, was dieser Greis erlebt und ertragen hat?" Das schrieb der „Vorwärts" (Nr. 291), der in dieser ganzen Sache einen solchen Abgrund von sklavischer Gesinnung offenbart, wie keine offen-bürgerliche Zeitung.

Das erste Wort der Sympathie, das sich den sozialistischen Arbeitern entringen wird, wird gerichtet sein an den Genossen Friedrich Adler. Fr. Adler ist kein Wahnsinniger, obwohl man beim Anblick aller Verunglimpfungen des Sozialismus, die tagein tagaus von den Sozialchauvinisten begangen werden, mit Leichtigkeit wahnsinnig werden kann. Fr. Adler ist kein Verrückter, wie es die Sozialchauvinisten hinstellen möchten, um den Effekt von Adlers Tat zu vermindern und den Burgfrieden mit der eigenen Bourgeoisie zu erhalten. Fr. Adler ist ein ehrlicher Revolutionär, der der Arbeitersache treu ergeben ist. Fr. Adler rettete die Ehre des österreichischen Sozialismus, so gut er konnte. Fr. Adler schloss seinen Namen an die ruhmreichen Namen von Karl Liebknecht, Z. Höglund, N. Muranow und MacLean an. Die Arbeiter aller Länder werden den Namen Fr. Adlers ebenso ehren, wie sie die unvergesslichen Namen unserer Chalturin, Scheljabow und Perowskaja ehren.

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Aber bedeutet es denn, dass revolutionärer Marxismus seine Stellungnahme zum politischen Terror als System der Taktik revidieren soll? Keinesfalls!

In der langen „friedlichen" Epoche des westeuropäischen Sozialismus, die am Vorabend des jetzigen Krieges ihren Abschluss hatte, trat der Faktor der revolutionären Gewalt völlig in den Hintergrund hinter den rein parlamentarischen"" legalen Methoden des Kampfes. Die Opportunisten leugneten die Gewalt als Faktor der Befreiung der unterdrückten Klasse. „Die Gewalt spielte in der Geschichte stets eine reaktionäre Rolle" – das ist die irrige These der Opportunisten und Sozialpazifisten. Die bekannte Vorrede Engels' zu dem „Klassenkampf in Frankreich" wurde in dem Sinne ausgelegt, dass Marx' Mitstreiter an seinem Lebensende ebenfalls ein prinzipieller Anhänger des legalen Kampfes geworden sei. Engels selbst protestierte wiederholt gegen eine solche Deutung. In der Vorrede selbst schrieb Engels: Das Recht auf Revolution ist das einzige wirklich „historische Recht". Aber nach Engels' Tode begannen die Opportunisten auf Bernsteins Anhieb besonders eifrig diese „Auslegung" zu entwickeln. – Die Lehren der russischen Revolution sind für die Opportunisten ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Als Kautsky nach dem Moskauer bewaffneten Aufstand (er war damals noch Marxist) erklärte, man müsse jetzt Engels' Anschauungen über die Frage nach der Möglichkeit eines Barrikadenkampfes in den Straßen revidieren, da hat in der deutschen Sozialdemokratie niemand auf diese Erklärung geachtet. Von 1871-1905 kann man sagen, hatte die europäische Sozialdemokratie keine einzige unmittelbar revolutionäre Schlacht erlebt. Das ganze Milieu, die ganzen Verhältnisse der friedlichen Epoche nährten einen pazifistisch-legalistischen Kretinismus, der als unvermeidlicher Bestandteil sich in die opportunistische „Weltauffassung" überhaupt einfügte.

Die russische Sozialdemokratie wirkte unter anderen objektiven Verhältnissen. Sie kämpfte gegen den Terror nicht im Namen der Ablehnung der Gewalt. „Totschlag ist nicht Mord", schrieb die alte „Iskra" aus Anlass eines terroristischen Aktes zu Beginn der neunziger Jahre. Und in den Jahren der ärgsten Konterrevolution, als der abgestandene russische Terrorismus in Gestalt des Herrn Ropschin die christliche Parole: „Du sollst nicht töten" aufstellte, da zitierten wir aus Anlass der Ermordung Stolypins in der „Rabotschaja Gaseta" die berühmten Verse Puschkins:

Du Bösewicht auf hohem Thron, lang

Hasse ich Dich und Dein Geschlecht,

Deinem und Deiner Kinder Untergang

Werd' ich mit Schadenfreud' gerecht!"

Wir setzten der Taktik des Terrors nicht die Parole des legalen Kampfes, nicht die christliche Predigt über das Thema: „Du sollst nicht töten" entgegen. Nein, wir setzten dem Terrorismus die Taktik der revolutionären Massengewalt entgegen, und wenn der jetzige Krieg etwas mit absoluter Sicherheit bewiesen hat, so ist es die richtige Auffassung der revolutionären Marxisten in dieser Frage. Zu einer Zeit der Millionenarmeen und der Fronten, die sich über Tausende von Kilometern erstrecken, zu einer Zeit, da wirklich ganze Völker miteinander Krieg führen, zu einer solchen Zeit haben nur die Massen, nur die Massenbewegungen eine größere Bedeutung denn je.

Russland war das klassische Land des politischen Terrors in der Geschichte. Und sogar in Russland hat der Terrorismus ein klägliches Fiasko erlitten. Die Asew1-Periode und noch mehr die Ropschin-Periode hat den Terrorismus in Russland ein für allemal begraben. Ihn in den Ländern West- oder Osteuropas wieder auferstehen lassen, hieße, einen unverzeihlichen Fehler begehen.

Man darf nicht schablonenhaft urteilen. Wir wissen wohl: wenn der russische Terrorismus im Vergleich zu der revolutionären Richtung der „Iskra" eine reaktionäre Erscheinung war, so kann man dies keineswegs, sagen wir, bezüglich des österreichischen Terrorismus im Vergleich zu dem österreichischen Sozialchauvinismus behaupten. Aber im Vergleich zu der Taktik des revolutionären Internationalismus, im Vergleich zu der Methode eines Liebknecht oder eines Muranow ist die Methode Friedrich Adlers dennoch als rückständig zu bezeichnen.

Wie die alte friedliche Narodniki-Bewegung, nachdem sie erledigt war, einerseits die Scheljabows erzeugt hatte, und andererseits, sagen wir, Nikolaj Romanow sowohl die revolutionären Terroristen sowie eine ganze Generation von friedlichen liberalen Beamten hervorgebracht hat, – so hat auch die abgetane alte friedliche Sozialdemokratie im Prozess ihrer Verwesung den Sozialchauvinismus erzeugt und kann ebenso eine ephemere terroristische Richtung erzeugen. Der russische Terrorismus ist unter besonderen Verhältnissen groß geworden, als die russischen revolutionären Intellektuellen es nur mit einer amorphen Bauernmasse zu tun hatten. Aber die Basis des modernen Sozialismus ist das Proletariat, die viele Millionen umfassende Klasse der Arbeiter, die im jetzigen Kriege noch nicht das entscheidende Wort zu sagen vermochte, es aber heute oder morgen sagen wird. Keiner Macht der Welt wird es gelingen, die Entstehung einer revolutionären Massenbewegung der Arbeiter selbst in solchen Ländern auf lange zu verhindern, wo sie im gegenwärtigen Moment besonders unterdrückt ist. Die vereinten Kräfte der Bourgeoisie und der Sozialchauvinisten werden unvermeidlich Schiffbruch erleiden. Schon ist auch in den Ländern der westeuropäischen Arbeiterbewegung eine neue Sozialdemokratie im Entstehen begriffen. Die Zersetzung der alten friedlichen Sozialdemokratie hat die Südekums und Scheidemänner erzeugt. Aber sie hat auch – wir wollen es nicht vergessen – schon jetzt die Liebknecht, Höglund und Borchardt gezeitigt. Und wir sind verpflichtet, die ehrlichen Revolutionäre, die wie Adler bereit sind, ihr Leben der Sache des revolutionären Sozialismus zu weihen, auf den Weg zu rufen, den die Liebknecht aller Länder mit ihrem Leibe bahnen.

Die Parallele zwischen Liebknecht und Adler drängt sich von selbst auf. Unzweifelhaft verhielten sich sowohl Liebknecht wie Adler zum Terror, als System der politischen Taktik gleich ablehnend. Warum ist in der Praxis Adler zu einer anderen Lösung dieser Frage gelangt als Liebknecht? Wir müssen die Antwort auf diese Frage in der Rückständigkeit der österreichischen politischen Verhältnisse suchen. Hinter Liebknecht stehen jetzt schon Tausende und Abertausende von Arbeitern. Hinter Adler standen nur kleine Zirkel. Im letzten Artikel Adlers, den man als sein politisches Testament betrachten kann, klagt er über die Gleichgültigkeit, den „Fatalismus", die Stumpfsinnigkeit, die jetzt in Österreich dominieren. Die österreichische Arbeiterklasse ist in diesem Kriege im direkten, physischen Sinne des Wortes vernichtet worden. Zu Hause sind nur Greise und Frauen geblieben; nirgends hat der Ersatz der Männerarbeit durch die Frauenarbeit solche Dimensionen angenommen wie in Österreich. Die Massen sind niedergedrückt. Man steht wie vor einer Mauer … Nirgends ein Widerhall. Das ist das pessimistische Bild, das uns Adler malt. Eine Mauer! Vielleicht kann man die Erschießung von 700 Arbeitern und die übrigen Missetaten der österreichischen Kamarilla nicht anders der Öffentlichkeit bekanntmachen als durch einen Schuss auf den Ministerpräsidenten. So musste sich Fr. Adler die Lage ausgemalt haben. Und so gibt er seine Arbeit der Organisation der ersten Zirkel revolutionärer Arbeiter auf, und greift nach dem Revolver. …

Unsere holländischen Genossen aus der „Tribüne" nannten den Schuss Fr. Adlers ein Signal. Leider! Ein Signal zum Anbruch unmittelbarer revolutionärer Massenschlachten ist dieser Schuss leider nicht. Adlers Schuss kann eine revolutionäre Bedeutung erlangen. Die revolutionäre Sozialdemokratie, die den Terror als System der Aktion ablehnte, leugnete niemals, dass z. B. der Schuss Vera Sassulitsch' unter den damaligen russischen Verhältnissen eine revolutionierende Rolle gespielt hat. Zugleich aber hat Adlers Schuss selbst schmerzlich krass die ganze Ohnmacht vereinzelter Terrorakte bewiesen. Fr. Adler wollte vor der ganzen Welt einen Protest einlegen gegen die Räubereien der Imperialisten und den Verrat der Sozialchauvinisten. Doch es besteht die ernsthafte Gefahr, dass der Protest selbst die Massen nicht erreichen wird, dass der ganze Vorfall vor den Massen so gedeutet werden wird, wie es dem Wunsche der vereinigten Bourgeoisie und Sozialchauvinisten belieben wird. Wenn es in der Tat zutrifft, dass der „Fatalismus" in Österreich so mächtig ist, wenn es dort keine illegalen Arbeiterorganisationen gibt, wenn die sozialdemokratischen Internationalisten dort keine illegalen Flugblätter herausgeben, dann … dann werden die Arbeitermassen über Adlers Schuss nur das erfahren, was den Imperialisten und Sozialchauvinisten gefällt. Seit dem Augenblick, wo hinter Adler die Türen des Gefängnisses zugeschlagen wurden, bringt die Presse nur das, was die geistigen Brüder der Stürgkh und der Scheidemänner benötigen.

Zum Glück aber gibt es auch in Österreich revolutionäre Sozialdemokraten, das wissen wir positiv. Früher oder später, in dieser oder jener Form werden sie sich zeigen.

Unser Weg ist ein anderer: es ist der Weg Liebknechts und Muranows. Wir wissen wohl, dass auch in Österreich dieser letztere Weg seine Anhänger hat, dass auch dort unsere Gesinnungsgenossen leben und kämpfen, die ungeheuren Schwierigkeiten der Pionierarbeit überwinden und sich den Weg zu den Massen bahnen, ungeachtet aller Hindernisse. Aber Adlers Schuss hat gezeigt, dass die vom Sozialismus durchgemachte Krise den Gipfel erreicht, dass der Wendepunkt nahe ist, dass endlich die Zeit kommt, wo auch die „europäischen Sozialisten" imstande sind, nicht nur Ministersessel einzunehmen, sondern auch mit ihnen in der Sprache des Mister Browning zu reden. Adlers Schuss hat gezeigt, wie lebendig der revolutionäre Idealismus auch unter seinen besten Vertretern ist, die in den Traditionen einer der Vergangenheit angehörenden Epoche aufgewachsen sind. Adler hat nicht den allerbesten Weg gewählt von denen, die zur Überleitung des jetzigen Sklavenhalterkrieges in den Bürgerkrieg führen. Aber sein Ziel ist dasselbe wie das Ziel der revolutionären Internationalisten. Sein Schritt war nicht der richtige Schritt, aber er war ein Schritt vom Opportunismus zum revolutionären Marxismus.

Unsere Kämpfergeneration steht vor gewaltigen, unerhört schwierigen Aufgaben. Wir sind von Feinden umzingelt, wir sind von Hindernissen auf allen Seiten umgeben. Aber im Kampfe gegen diese Hindernisse werden wir unsere Vortrupps stählen, und früher oder später werden wir die feindliche Front, die vereinigte Front der Imperialisten und Sozialchauvinisten durchbrechen.

Zu den Massen. – das ist die Hauptlehre, die sich für uns aus der Tat des Genossen Fr. Adler ergibt. Zu den Massen! Dieser Weg ist jetzt an besondere Schwierigkeiten geknüpft, er fordert unzählige Opfer, erfordert mitunter eine noch größere Selbstaufopferung, als Fr. Adler bedurfte. Aber dieser Weg ist der einzig richtige Weg. Zu den Massen – ungeachtet aller Hindernisse und um jeden Preis! Denn der revolutionäre Marxismus ist nur solange lebendig, wie er im gleichen Atem mit den proletarischen Massen lebt.

Oktober 1916.

G. Sinowjew.

* „Wie lange wollen wir damit noch warten?" schrieb Renner. „Die anderen ziehen hinaus und teilen die Erde, während wir des häuslichen Zwistes nicht Herr werden .. In ein, zwei Jahrzehnten ist die Welt geteilt: kommen wir nicht rasch zur Lösung, dann haben wir nicht nur selbst den Wurf versäumt, dann werden wir diejenigen sein, über die das Los geworfen wird" (Springer: „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat" Leipzig und Wien 1902, S. 5) …..Die nationale Autonomie ist die Wiedergewinnung der Machtstellung Österreichs im Orient … Die Autonomie der Polen und Ruthenen in Galizien schafft uns eine Position gegen Ost- und Südrussland, die ein Armeekorps wert ist". (S. 170-171.)

In unserer Presse wurde zu dem nationalen Programm der österreichischen Sozialdemokratie wiederholt Stellung genommen. Aber jetzt muss besonders hervorgehoben werden, dass der Haupttheoretiker dieses Programms in einem Buche, das ein Kommentar zu diesem Programm darstellt, es schon lange vor dem Kriege mit rein chauvinistischen Argumenten begründete.

"" Es ist charakteristisch, dass gewisse westeuropäische Sozialisten, sogar solche die mit Fr. Adler sympathisieren, Adlers Schuss aus seinem Bestreben erklären, die Einberufung des österreichischen Parlaments zu erzwingen. Das soll sein Hauptmotiv gewesen sein … Sogar der Terror ist in ihrer Vorstellung nur ein Werkzeug des Parlamentarismus.

1 Der bekannte Agent-Provocateur, der lange Zeit an leitender Stelle der Revolution und gleichzeitig im Dienste der Polizei stand.

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