V. Kommentare von Bebel und Jaurès zum Stuttgarter Beschluss

V. Kommentare von Bebel und Jaurès zum Stuttgarter Beschluss.

Was war nun die Auffassung der Vertreter der Stuttgarter Majorität in dieser Frage?

Vier Jahre später, auf dem Jenaer Parteitage 1911, sprach Bebel in folgenden Ausdrücken über den Kampf in Stuttgart: „Wir (Deutsche) haben ausführlich nachgewiesen, warum es unmöglich sei, einer derartigen (französischen) Resolution unsere Zustimmung zu geben. Und als man schließlich um jeden Preis eine solche Resolution durchsetzen wollte, habe ich namens unserer Delegation erklärt: Gut, es ist Eure Sache zu beschließen, beschließt, was Euch gut dünkt, aber wir Deutschen machen nicht mit. Darauf hieß es: Ja, wenn Ihr Deutschen in dieser Weise auftretet, dann geht es eben nicht, denn mit Euch müssen wir uns schließlich doch vertragen. Und so wurden wir drei (Bebel, Haase, Vollmar) beauftragt, eine Resolution auszuarbeiten und der Kommission vorzulegen"A.

Die Hauptpunkte der Stuttgarter Resolution anführend, fährt Bebel fort:

Der Inhalt dieser Resolution besagt also nicht, dass wir in allen Ländern in gleicher Weise vorgehen sollen – und das ist der Unterschied zwischen uns und der Forderung der Franzosen und Engländer." (S. 346.)

Aus dieser Deutung Bebels geht hervor, dass der Unterschied zwischen den Deutschen und den Franzosen nicht darin lag, dass die einen entschiedenere Maßnahmen forderten (Streiks), und die andern nicht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir auch zum Streik greifen werden und sogar zu noch entschiedeneren Maßnahmen. Man darf sich nur nicht vorstellen, dass man irgendein Universalmittel erfinden kann, das für alle Länder und für alle Umstände passte.

Vollständige Gleichheit für alle Länder ist unmöglich. Man muss den Sozialisten jedes Landes eine gewisse Freiheit in der Wahl der Mittel überlassen, je nach den konkreten Umständen.

Verschiedene Mittel – aber gegen den Krieg.

Noch im Jahre 1904", sagt Bebel in derselben Rede, „habe ich dem Fürsten Bülow gesagt, wenn der nächste große Krieg kommt, steht die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Spiel." (S. 347.)

So sprach Bebel. Er bemühte sich wenigstens nicht öffentlich, die Stuttgarter Resolution mit dem Standpunkte der „Vaterlandsverteidigung" und des „Defensivkrieges" in Übereinstimmung zu bringen.

Anders Jaurès. Für ihn als Franzosen war es schon aus den von uns angeführten Gründen notwendig, koste es, was es wolle, die Stuttgarter Resolution mit der „Vaterlandsverteidigung" in Einklang zu bringen. Und er bemühte sich, in diese Resolution das hinein zu interpretieren, was in ihr gar nicht vorhanden war. Man kann sagen, dass er ihr mit Gewalt den Inhalt gibt, den er braucht.

Am 7. September 1907 erstattete Jaurès vor einer Versammlung der vorgeschrittensten Pariser Arbeiter seinen Bericht über den Stuttgarter Kongress. In dieser bemerkenswerten Versammlung in Tivoli-aux-Halles sagte Jaurès:

Man darf sich keinem Irrtum hingeben. In Stuttgart hat die Internationale sich gegen den Krieg ausgesprochen und für die Unabhängigkeit der Nationen, gegen die blutigen Zusammenstöße, gegen die verräterischen Überfälle der Despoten und Kapitalisten, aber – zu gleicher Zeit hat sie sich für die nationale Verteidigung ausgesprochen … Die Parole der Internationale in Stuttgart lautete: gegen den Verrat an dem Sozialismus und der Arbeiterklasse, aber auch – gegen den Vaterlandsverrat! Krieg dem Kriege – mit allen Mitteln – legalen oder revolutionären – das ist ebenso sehr die Pflicht der Sozialisten, wie ein Krieg zur Verteidigung der Unabhängigkeit der Nation"B.

Aus den Worten Jaurès' geht hervor, dass der Stuttgarter Kongress die Grundthese der französischen Resolution (Limoges) von der „Vaterlandsverteidigung" angenommen hat. In der Tat hat aber der Kongress, wie wir wissen, diese Resolution nicht angenommen. Und er konnte sie bei der gegebenen Lage der Dinge auch nicht annehmen, aus Gründen, von denen wir schon gesprochen haben.

Die Stuttgarter Resolution kam dem Gedanken ganz nahe, dass eine „Vaterlandsverteidigung" in einem imperialistischen Kriege Volksbetrug sei. Und diese grundlegende Errungenschaft, die in Stuttgart gemacht wurde, reduzierte Jaurès mit seinen Phrasen über den „Vaterlandsverrat" auf Null.

Es versteht sich von selbst, dass der Stuttgarter Kongress, wie alle Sozialisten, eine ehrliche Vaterlandsverteidigung in einem gerechten, nationalen Kriege anerkannte. Darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheiten. Aber die ganze Bedeutung der Stuttgarter Resolution liegt darin, dass hier, wenn auch ohne die nötige Klarheit und Genauigkeit und ohne die nötige Konsequenz, das internationale Proletariat auf den Umstand hingewiesen wurde, dass die kommenden Kriege keine nationalen, gerechten Kriege sein werden, sondern imperialistische Kriege, dass die ganze nächste Epoche eine Reihe reaktionärer befreiungsfeindlicher Kriege kennen wird.

In den „Kommentaren" von Jaurès findet sich auch nicht der leiseste Hinweis auf diesen Unterschied. Er zieht es vor, ganz im Allgemeinen gegen den „Vaterlandsverrat" zu sprechen.

Und doch hat Jaurès mit solchen Kommentaren zu der Stuttgarter Resolution den Renaudel und Sembat von heute Tür und Tor geöffnet. Ihnen blieb nur übrig, zu „beweisen", dass „wir" für die nationale Unabhängigkeit kämpfen, und dass „sie" uns überfallen. Sie brauchten sich nur auf die Worte Jaurès' vom „Vaterlandsverrat" zu berufen, damit sie von diesem Standpunkte aus gewonnenes Spiel hatten.

In der Tat aber widerspricht der ganze Geist der Stuttgarter Resolution jenen Grundsätzen, die der verstorbene Jaurès post factum in sie hineinzulegen bemüht war. In diesem selben Berichte sagte Jaurès:

Wenn Bebel sagte, dass, wenn irgend eine Nation, unter ganz beliebigen Umständen von vornherein darauf verzichtet, sich zu verteidigen, so kommt sie damit nur den Regierungen, die Gewalt, Barbarei und Reaktion vertreten, zu Hilfe; wenn Vandervelde und Bebel das sagten, so wiederholten sie nur, was schon in Limoges und Nancy (d. h. auf den französischen sozialistischen Kongressen in Limoges und Nancy) gesagt worden war, und das, was ich selbst während unserer Parteidiskussionen oftmals Gustav Hervé vor Augen geführt habe"C.

Jaurès hat recht. Sowohl er, als auch Bebel, hatten diese Erklärungen in der Tat öfters abgegeben. Wenn wir „von vornherein" auf eine „nationale Verteidigung" verzichten, so bedeutet das einen außerordentlichen Ansporn für die Kriegspartei in Preußen, sagte Jaurès. Wenn wir „von vornherein" auf eine „Vaterlandsverteidigung" verzichten, so bedeutet das eine außerordentliche Aufmunterung der Chauvinisten in Frankreich und England, sagte Bebel. Es gab aber auch noch eine dritte Meinung: die Sozialisten aller Länder, die ganze Internationale, sollten gleichzeitig auf eine „Vaterlandsverteidigung" in imperialistischen Kriegen verzichten. Dann fällt die Vorstellung von einer Aufmunterung der Chauvinisten des anderen Landes fort, und dann wird niemand den „Regierungen, die Gewalt, Barbarei und Reaktion vertreten, in die Hände spielen."

Diesen Standpunkt vertraten die revolutionären Marxisten auf dem Stuttgarter Kongress. Und dieser Standpunkt fand einen, wenn auch unvollständigen, Ausdruck in der Resolution des Kongresses. Jaurès hat den Kern der Sache unrichtig dargestellt.

A Protokoll des Jenaer Parteitages, 1911, Seite 345.

B Siehe das Buch von Charles Rappoport: „Jean Jaurès", Paris, 1915, S. 266-267. Dieses Buch ist nicht nur ein Lobhymnus auf Jaurès, sondern auch auf den ganzen Jaurèsismus. Scheinbar hat der Autor niemals etwas davon gehört, dass der Jaurèsismus nichts anderes ist als Opportunismus, ins Französische übertragen.

C „Jean Jaurès", Seite 266.

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