G. Sinowjew: Referat zur Gewerkschaftsfrage in der 15. Sitzung des Dritten Kominternkongresses, 3. Juli 1921 nachmittags [Nach Protokoll des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale. Hamburg 1921. Reprint Band 2, S. 672-690 SINOWJEW. Genossen! Schon der II. Kongress der Kommunistischen Internationale hat die prinzipielle Stellung der Kommunisten zur Gewerkschaftsfrage bestimmt. Ich glaube, es besteht wirklich kein Bedürfnis, die theoretischen Grundlagen derjenigen Lösung, die der II. Kongress dieser Frage gegeben hat, irgendwie zu revidieren. Ein Jahr des Kampfes hat unserer Meinung nach wohl die Richtigkeit des Beschlusses des II. Kongresses bekräftigt. Schon die Tatsache, dass in verschiedenen Ländern, in England und in Deutschland, in Frankreich, in Amerika, die Herren Gewerkschaftsbürokraten zum Ausschluss der Kommunisten und kommunistischen Zellen geschritten sind, diese Tatsache allein ist, unserer Meinung nach, ein genügender Beweis dafür, dass wir einen richtigen Beschluss gefasst, dass wir während des II. Kongresses den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Jetzt ist unsere Aufgabe eine neue. Es handelt sich nicht darum, theoretisch unser Verhalten zur Gewerkschaftsfrage zu formulieren, das ist bereits getan. Es handelt sich darum, den Kampf gegen die Gelbe Amsterdamer Internationale besser zu organisieren. Es handelt sich darum, die Beziehungen zwischen den revolutionären Gewerkschaften und den Parteien in jedem Lande praktisch zu präzisieren. Es handelt sich in erster Linie darum, das Verhältnis zwischen dem Roten Gewerkschaftsrat und der Kommunistischen Internationale genau zu formulieren. Das ist die Aufgabe des Kongresses. Genossen, wir haben schon vor einem Jahr erklärt, die Amsterdamer Internationale sei eine gelbe bürgerliche Organisation. Diese unsere Behauptung hat uns sehr viel Gehässigkeiten eingebracht, sogar manche unserer nicht ganz klaren Freunde waren der Meinung, wir übertreiben da etwas in unserem polemischen Eifer, wenn wir erklären: die Amsterdamer Internationale sei eine gelbe Internationale. Ich erinnere daran, was wir in Halle erlebt haben, als wir dort im Namen der Exekutive aussprachen, die Amsterdamer Internationale sei eine gelbe Organisation, die Führer dieser Organisation seien für die Arbeiterklasse in mancher Beziehung schädlicher als die Herrschaften aus der Orgesch-Organisation. Auf unserem Kongress handelt es sich darum, festzustellen, dass eine solche Einschätzung der Amsterdamer Internationale wirklich keine Übertreibung und kein polemischer Ausdruck ist. Es ist eine leider feststehende Tatsache, eine nackte Tatsache, dass diese Amsterdamer Organisation wirklich ein Spielzeug der Bourgeoisie ist. Ich habe vor mir einen Auszug aus einem Artikel des Herrn Albert Thomas, eines der Führer dieser Organisation, der in einem Bericht über das erste Jahr der Arbeit der Gewerkschaftsinternationale in der Revue „International de travail" zu erklären versucht, auf welchem Wege diese Internationale entstanden ist; er sagt, nach dem Kriege war, erstens, eine große Spannung, ein großes Bedürfnis seitens der Arbeiterklasse, sich zu organisieren. Aber dieser Faktor allein hätte nicht genügt. Gleichzeitig hatte die Bourgeoisie die Not gespürt, eine Organisation zu schaffen. Er sagt: „D'autre part, responsables de la sécurité publique, preoccupés de graves problèmes de mobilisation, inquiets de la propagande révolutionnaire universellement menée par la Russie bolchéviste, les gouvernements ne pouvaient que rechercher, eux aussi, le réglement méthodique et ordonné de l'immense conflit social et des misères de la guerre." Das heißt, die Regierungen, die bürgerlichen Regierungen, die nach dem Kriege auch sehr beunruhigt waren durch die Krise, beunruhigt durch die revolutionäre Propaganda, die überall vom bolschewistischen Russland getrieben wurde, haben sich ihrerseits dazu veranlasst gefunden, diese Bewegung zu regulieren, zu unterstützen usw. Also, Sie sehen, es ist wirklich so, wie Herr Albert Thomas es hier ausspricht. Die Amsterdamer Gelbe Internationale ist aus den Bemühungen der Gewerkschaftsbürokraten einerseits, der bürgerlichen Regierung andererseits geboren. Sie ist jetzt wirklich das wichtigste Bollwerk der internationalen Bourgeoisie. Ich werde nicht ausführlich über die Tätigkeit dieser Organisation referieren. Das lohnt sich nicht auf einem kommunistischen Kongress. Ich werde nur einige Tatsachen hier anführen. Zunächst muss man feststellen, dass Herr Jouhaux, einer der Führer dieser Amsterdamer Internationale, zum Beispiel an der Versailler Friedenskonferenz als technischer Berater der französischen Regierung teilgenommen hat, eine Tatsache, die ziemlich große Bedeutung hat. Oder hören Sie einer Erklärung zu, die Herr Fimmen, einer der Führer der gelben Internationale, während des ungarischen Boykotts gemacht hat. Er erklärte wörtlich, dass er nach den Unterredungen, die er mit dem Vertreter der ungarischen Horthy-Regierung gehabt hat, zur Überzeugung gekommen ist, dass der weiße Terror in Ungarn nicht von der Regierung, sondern gegen den Willen der Regierung organisiert wird! Die Regierung – also die Regierung Horthy – tue alles Mögliche, um dem weißen Terror vorzubeugen! Diese arme weiße Regierung hatte aber keine Kraft, dem Terror vorzubeugen. Es genügt, wenn man noch die Worte zitiert, die Herr Thomas aussprach: dass „das Büro der Arbeit" – bekanntlich ein Zwischending zwischen der Amsterdamer Internationale und der Liga der Nationen – dass dieses Büro der Arbeit die Arbeiterklasse mit der einsichtigen Bourgeoisie vereinigt habe, und dass der vernünftige Teil der Arbeiterklasse zusammen mit diesem einsichtigen Teil der Bourgeoisie versuchen werde, die Krise zu überwinden. Herr Oudegeest erklärt über Italien folgendes: „Die Amsterdamer Internationale hat sich sehr für die Bewegung interessiert, die Italien im vorigen Herbst durchlebt hat. Sie hat sofort eine ganze Anzahl ihrer Agenten und Delegierten nach Italien gesandt, und Herr Oudegeest konstatiert – sofort, von Anfang an hatte diese Bewegung den Charakter einer ganz gewöhnlichen Gewerkschaftsbewegung, dieselbe Behauptung, die auch Serrati und d'Aragona aufgestellt haben. Nebenbei bemerkt, in derselben Erzählung des Herrn Oudegeest heißt es, er habe eine Unterredung mit d'Aragona gehabt, der habe ihm erklärt, dass trotz aller Krisen, die die italienische Partei jetzt durchmache, die Zugehörigkeit der italienischen Konföderation zu Amsterdam jetzt mehr gesichert sei, als zu irgend einem anderen Zeitpunkt. Wir werden bald die Möglichkeit haben, uns zu überzeugen, ob d'Aragona wirklich in der Lage ist, dieses sein Versprechen zu halten. Gestern haben wir ein Telegramm erhalten, dass im Auftrage der italienischen Gewerkschaften zwei Delegierte hierher reisen. Wir werden also nach einigen Tagen das Vergnügen haben, diese zwei hervorragenden Vertreter der italienischen Gewerkschaftsbewegung hier zu sehen und uns zu überzeugen, inwiefern diese Herren ihre Abmachungen mit Herrn Oudegeest und anderen Führern der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale auch einhalten können. Es genügen auch einige Äußerungen des letzten Präsidenten der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale. Sie wissen, dass früher Appleton der Vorsitzende war. Dann wurde er von den Arbeitern wegen seines allzu frechen Verrats abgesetzt. Das war die erste Präsidenten-Operation. Bald musste auch der Engländer Herr Thomas abgesägt werden. Aber vorher hat er im „Manchester Guardian", wo er viel Lobhudelei über den englischen König abgedruckt hat, auch das Programm von Amsterdam auseinandergesetzt und erklärt: Wenn andererseits zwischen dem Kapital und der Arbeit bessere und gesündere Beziehungen hergestellt und eine engere Arbeitsgemeinschaft geschaffen wird, dann wird dies das beste Mittel sein, das vollständige Vertrauen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder, herzustellen. Viele unserer Schwierigkeiten haben ihren Ursprung eben nur darin, dass wir uns den Standpunkt der Arbeitgeber nicht klar genug angeeignet haben. Es ist kein Wunder, dass wir Fehler machen, wenn wir keine Gelegenheit haben, diesen Standpunkt kennen zu lernen. Also es genügt, dass die Arbeiter den Standpunkt des Arbeitgebers gut verstehen, dann wird sich schon alles finden. Das ist die Physiognomie dieser Organisation! Es ist keine Übertreibung. Diese Organisation ist wirklich die letzte Barrikade der internationalen Bourgeoisie. Nur mit Unterstützung dieser Organisation kann sich die internationale Bourgeoisie jetzt halten. Sehen Sie die letzten Ereignisse. Welche Aufträge gibt man der Gewerkschaftsinternationale in Amsterdam? Wenn man einen verräterischen Kampf gegen, sagen wir, die englischen Grubenarbeiter anfängt, wer macht die schmutzigste Arbeit? Thomas, Präsident von Amsterdam! Wenn man in Deutschland ein Blutbad, ein Aderlassen der deutschen Arbeiterklasse braucht, wer macht das? Herr Hörsing, Gewerkschaftler, Teilnehmer der Gewerkschaftsinternationale von Amsterdam! Wenn man in Frankreich die Löhne reduzieren will, eine Kampfansage an die Arbeiterklasse ergehen lässt, wem wird der ehrenvolle Auftrag gegeben, das durchzuführen? Jouhaux und den anderen Herren, die Stützen und Säulen der Gewerkschaftsinternationale in Amsterdam sind. In der ganzen Offensive, die jetzt die internationale Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse in den verschiedenen Ländern auf ökonomischem wie auf politischem Gebiet begonnen hat, spielt die führende Rolle die Amsterdamer Gelbe Internationale. Das ist die schwerwiegende, sehr traurige, aber doch reale Tatsache für die Arbeiterklasse, die jeder Gewerkschaftler einsehen muss. Leider muss man sagen, noch nicht alle haben das eingesehen. Manche verhalten sich Amsterdam gegenüber als einem Streit innerhalb des Sozialismus – einer Fraktion gegen eine andere Fraktion. Es ist in der Wirklichkeit nicht ein Kampf der Richtungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, es ist ein Kampf der Klassen, obwohl die soziale Zusammensetzung der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale auch eine proletarische ist. Wir können nicht in Abrede stellen, dass formell an Amsterdam Millionen von Proletariern teilnehmen. So einfach ist aber die Frage nicht, dass man eine Organisation nur aus der sozialen Zusammensetzung beurteilt. Das ist nicht marxistisch. Wir wissen, dass auch die christlichen Gewerkschaften Arbeiter vereinigen, auch die liberalen Gewerkschaften, wir wissen, dass auch jetzt noch Millionen von Arbeitern für die Bourgeoisie oder die Kleinbourgeoisie während der Wahlen stimmen. Das beweist noch nichts, und doch ist es ein Klassenkampf. Das zu verstehen, ist das erste Gebot der Stunde. Kein Richtungskampf, keine kleinen Fraktionskämpfe sind es, sondern es ist ein Klassenkampf in sehr eigenartigen, schwierigen, für uns sehr mühevollen Formen. Es ist die letzte Bastion der Bourgeoisie. Wenn wir diese Schwierigkeit überwunden haben, haben wir neun Zehntel aller unserer Schwierigkeiten überwunden. Die Bourgeoisie kann sich schon jetzt nicht mehr gegen den Willen der großen Mehrheit der Arbeiterklasse halten. Sie kann sich nur mit Unterstützung eines Teiles der Gewerkschaften behaupten, die dadurch zur Hauptstütze der Bourgeoisie werden. Sie kann sich nur durch Verrat eines Teils der Arbeiterklasse in ihrer Macht halten. Und Amsterdam ist das moderne Produkt dieser Übergangsperiode nach dem Kriege, der eine Krise der ganzen internationalen Arbeiterbewegung mit sich gebracht hat. Das ist der wichtigste Punkt, an dem wir jetzt stehen: hic Rhodus, hic salta! Hier werden die Würfel unserer Bewegung fallen. Darum, Genossen, glaube ich, es gibt wirklich keine praktisch wichtigere Frage für die Kommunistische. Internationale, überhaupt für die ganze proletarische revolutionäre Bewegung, als die, diesen Charakter der Amsterdamer Internationale vor den großen Massen der Arbeiterklasse zu enthüllen. Wir haben während dieses Jahres bedeutende Erfolge gehabt. Gen. Losowski, Sekretär des Internationalen Rates der Gewerkschaftsbewegung, hat mir eine Zusammenstellung derjenigen Organisationen gegeben, die sich zur Roten Gewerkschaftsinternationale zählen. Die Tabelle weist folgendes: Russland 6½ Mill., Deutschland etwa 2 Mill., vielleicht mehr, Österreich 35.000, Schweiz 90.000, Tschechoslowakei 290.000, Polen 250.000, Rumänien 90.000, Bulgarien 65.000, Jugoslawien 140.000, Griechenland 50.000, Türkei 20.000, Frankreich 300.000, Belgien 10.000, Italien 2–3 Mill., Spanien 900.000, Portugal 50.000, Schweden 85.000, Norwegen 140.000, Holland 93.000, Dänemark 50.000, Finnland 60.000, Lettland 30.000, England 300.000, Vereinigte Staaten 300.000, Mexiko 119.000, Argentinien 214.000, Australien 400-000, – insgesamt etwas mehr als 18 Millionen. Man soll sich nicht täuschen, man soll diese Ziffern mit Vorsicht nehmen, man soll keinen Selbstbetrug begehen. Man soll sich an dieser Tabelle aber vergegenwärtigen, welche großen Aufgaben unseren Parteien noch bevorstehen. Wir haben, z. B., in der Tschechoslowakei 290.000 Gewerkschaftsmitglieder, die der Roten Gewerkschaftsinternationale angehören, zu der Zeit, wo wir etwa 400.000 kommunistische Parteimitglieder in der Tschechoslowakei haben. Was beweist das? Das beweist, dass es auch solche Länder gibt, in denen unsere Partei es trotz ihrer Stärke noch nicht verstanden hat, die Gewerkschaftsbewegung, die für die proletarische Revolution so wichtig ist, für uns zu gewinnen. Ich habe ein Flugblatt aus der Tschechoslowakei an die Textilarbeiter und Arbeiterinnen vor mir, das gegen die Textilarbeiterverbandsbürokratie herausgegeben ist. Der Kampf in der Tschechoslowakei ist erst im Anfang. Aber auch in der Tschechoslowakei, die sehr große organisatorische Traditionen hat, wo wir eine große Partei haben, finden wir dieselbe Erscheinung, wie in allen anderen Ländern. Unsere Parteien haben noch nicht genügend Kräfte, in der Gewerkschaftsbewegung, und sie haben dieser Frage noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Man muss im Namen dieses Kongresses als erste Forderung gegenüber allen Parteien aufstellen: viel mehr, hundertmal mehr Aufmerksamkeit der Gewerkschaftsbewegung zu schenken als bisher, mit allen Mitteln zu versuchen, die Mehrheit in diesen Gewerkschaften zu erringen, das ist das Hauptterrain unseres Kampfes, wo die entscheidenden Kämpfe der ganzen Epoche der proletarischen Revolution geschlagen werden. Die entscheidenden Kämpfe werden dort ausgefochten, und wir haben bis jetzt noch den Zustand, dass wir in einem Lande, wo wir eine halbe Million Parteimitglieder haben, nur eine Viertelmillion gewerkschaftlich organisierter Arbeiter in der Roten Gewerkschaftsinternationale haben. Es gibt auch noch andere Beispiele. Es gibt, z. B., Spanien mit einer, obwohl syndikalistischen, aber ziemlich klaren revolutionären Bewegung, die etwa 1 Million Mitglieder zählt und gleichzeitig eine Kommunistische Partei, die wenn wir sogar beide Flügel zusammennehmen, d. h., die Kommunistische Partei und die frühere Linke der Sozialdemokratischen Partei, nur etwa 15,000 Mitglieder zählt. In Spanien kann jetzt, selbstverständlich, noch nicht die Rede davon sein, dass unsere Partei die Gewerkschaftsbewegung vollkommen führen und geistig leiten wird, wo wir erst eine junge Partei von nur etwa 15.000 Mitgliedern und gleichzeitig eine Million gewerkschaftlich organisierter, guter revolutionärer Proletarier haben. Wir haben eine ganz eigenartige, sehr komplizierte Lage auch in Italien. Eine junge Kommunistische Partei, eine prächtige revolutionäre Stimmung der Arbeiter, eine syndikalistische Bewegung, Unione Syndicala, etwas konfuse, revolutionäre Stimmung ohne jede theoretische Klarheit, ohne jede solide Basis; gleichzeitig eine 2 bis 3 Millionen starke Konföderation, die von Reformisten geführt wird und die ganz schlau jetzt zwischen der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei pendelt, und auf diesem Wege versucht, die Führung in den Händen der Reformisten zu halten. Unsere junge Kommunistische Partei in Italien hatte zwar auf dem ersten Kongress der Gewerkschaften nach der Spaltung fast eine halbe Million Stimmen, aber das ist nur ein kleiner Anfang dessen, was gemacht werden soll. Wir haben eine merkwürdige Lage in Schweden, wo die Partei sich zu einer Kommunistischen Partei durchgearbeitet hat, wo die Partei die große Mehrheit der Arbeiterschaft des Landes hinter sich hat, und wo doch die Führung der Gewerkschaften teilweise in den Händen zentristischer Elemente blieb, die, obwohl sie der Kommunistischen Partei angehören, mit dem Herzen doch bei Amsterdam sind, das müssen unsere norwegischen Genossen ohne weiteres zugeben. Sie werden nicht bestreiten können, dass manche führenden Kräfte der norwegischen Bewegung mit ihrem Herzen nicht bei uns, sondern bei Amsterdam sind. Absolut unmittelbar bringt dieser Zustand für unsere Partei sehr große und sehr wichtige Aufgaben in dieser Beziehung. Wir haben in die Rote Gewerkschafts-Internationale auf die Initiative der Kommunistischen Internationale syndikalistische Elemente aufgenommen, und ich glaube, wir haben da richtig gehandelt. Der Syndikalismus hat eine große Evolution durchgemacht während und nach dem Kriege – eine Krise, die parallel verlief mit der Krise des Sozialismus. Es war unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, nach einer solchen gewaltigen revolutionären Krise mit den radikalen syndikalistischen Elementen zu verhandeln, zu versuchen, sorgfältig seine Evolution zu verfolgen. Jetzt können wir aber aus dieser Evolution des Syndikalismus ein gewisses Fazit ziehen. Wir haben jetzt drei Spielarten des Syndikalismus, mit welchen wir zu rechnen haben: 1) die ausgesprochen reformistische Spielart, die von Jouhaux am besten repräsentiert wird, das ist die frühere syndikalistische Bewegung, welche während des Krieges denselben Bankrott durchgemacht hat, wie die Sozialdemokratie. Das ist eine ausgesprochen kleinbürgerliche Bewegung, welche jetzt auch die Führung von Amsterdam charakterisiert. Die zweite Spielart des Syndikalismus ist die, welche in den schwedischen und deutschen Syndikalisten zum Ausdruck gelangt. Das sind keine zahlreichen Gruppen, aber Gruppen, die zu uns gehören wollen. Und wir müssen den Charakter dieses Syndikalismus prüfen. Wenn Sie das Organ der deutschen Syndikalisten „Syndikalist" lesen, werden Sie oft das Gefühl haben, dass sie eine ganz ordinäre Scheidemannsche sozialdemokratische Zeitung vor sich haben. Die Einschätzung der Märzbewegung in Deutschland von Seiten dieser Herren Syndikalisten war niederträchtig und bürgerlich-sozialdemokratisch. Anders kann man das nicht nennen. Sie haben nicht Kritik geübt vom Standpunkt des Proletariats, wie es hier auf unserem Kongress manchmal der Fall war, wo man vom Standpunkt des Kommunismus versucht hat, zu prüfen, ob diese Bewegung gut geleitet war, ob sie nicht verfrüht war usw. Nein, das war nicht eine solche Kritik, wie sie hier von verschiedenen Kritikern geübt worden ist. Nein, es war eine boshafte, verbissene, ganz ordinäre, kleinbürgerliche, konterrevolutionäre Kritik, wie man ihr bei unseren Klassenfeinden begegnet. Dieselbe Erscheinung haben wir bei den schwedischen Syndikalisten, die sich für die Diktatur aussprechen, aber alles Mögliche tun, um den ersten proletarischen Klassenstaat zu kompromittieren. Das ist eine Art des syndikalistischen „Zentrum", welche zwischen Jouhaux und den wirklich revolutionären Syndikalisten zu vermitteln sucht und mit einem Fuße in Moskau und mit dem anderen in Amsterdam steht. Und dann, Genossen, haben wir eine dritte, für uns wichtigste, Spielart des Syndikalismus, mit dem wir uns ernst und freundschaftlich auseinandersetzen müssen. Ich meine die wirklich revolutionäre syndikalistische Richtung, welche sich jetzt von der Krise des Krieges erholt und ihren Ausdruck am klarsten in Frankreich findet. Und für uns, wie auch für den Kongress der Roten Gewerkschaften, dessen Eröffnung heute stattfindet, ist die wichtigste Frage, wie unser Verhalten zu dieser wirklich revolutionären, wenigstens in vieler Beziehung revolutionären syndikalistischen Richtung sein soll. Das ist eine große theoretische, wie auch praktische Frage. Ich muss sagen, Genossen, wenn man nur die Presse der revolutionären Syndikalisten in Frankreich verfolgt, nicht aber auch ihre Praxis, da hat man das Gefühl, dass uns in dieser Hinsicht große Schwierigkeiten im Wege stehen. Aber ich hoffe, dass die Ideologie, die in der Presse sich widerspiegelt, nicht ganz der adäquate Ausdruck dessen ist, was in den Massen der einfachen syndikalistischen Arbeiter jetzt gärt. Wir haben hier vielmehr einen veralteten ideologischen Streit, welcher nicht so große praktische Einwirkungen auf die Bewegung selbst haben wird. Es entsteht jetzt der ziemlich alte, aber in gewisser Beziehung ewig neue Streit zwischen uns und den Anarchisten, sowie Syndikalisten, über die Bedeutung des politischen Kampfes, über die Bedeutung der Parteien, und in der Frage, ob die Gewerkschaften politisch neutral sein sollen. Sie haben hier schon das moderne Stichwort der französischen revolutionären Syndikalisten gehört: „Charte d'Amiens". Ich werde Ihnen dieses Dokument vollinhaltlich vorlesen, damit Sie es vor Augen haben, weil dieses ziemlich veraltete Stück Papier doch eine große Rolle in unserem Kampfe spielt. Im Jahre 1906 wurde die folgende Resolution, die von Griffuelles verfasst ist, angenommen. Ich will das den deutschen und französischen Genossen ins Gedächtnis zurückrufen, damit sie sehen, ob es sich denn wirklich lohnt, für dieses veraltete Stück Papier so heftige Kämpfe zu führen. Also: „Der Kongress von Amiens bestätigt den Artikel 2 des Statuts der CGT, welcher besagt: „Die CGT gruppiert außerhalb jeder politischen Richtung alle Arbeiter, die sich des Kampfes bewusst sind, der bis zur Abschaffung der Lohnarbeit und des Patronats zu führen ist. Der Kongress nimmt an, dass diese Erklärung gleichsam eine Anerkennung des Klassenkampfes ist, der auf wirtschaftlichem Gebiete die Arbeiter in starken Gegensatz bringt zu allen Formen der Ausbeutung und Bedrückung, sowohl materieller als auch moralischer Art, die von der kapitalistischen Klasse gegenüber der Arbeiterklasse angewendet werden. Der Kongress präzisiert diese theoretische Feststellung durch die nachstehenden Punkte: In täglich wiederkehrender Arbeit verfolgt die Gewerkschaftsbewegung die Zusammenfassung der Anstrengungen der Arbeiter, die Erhöhung des Wohlbefindens der Arbeiter durch die Realisierung sofortiger Verbesserungen, wie z. B., Verminderung der Arbeitszeit, Erhöhung der Löhne usw. Dieses Bestreben ist jedoch nur ein Ziel der Gewerkschaftsbewegung; diese bereitet die vollständige Emanzipation vor, vermittels des Generalstreikes und Ausstandes als Hauptwaffe, und sie nimmt an, dass die Gewerkschaften, die heute Widerstandsgruppen darstellen, in Zukunft solche der Produktion und Verteilung, sowie Grundlagen der sozialen Reorganisation sein werden. Der Kongress erklärt, dass diese doppelte Arbeit der Gegenwart und auch der Zukunft von der Lohnfrage abhängt, die auf der Arbeiterklasse lastet und die alle Arbeiter, welcher Art immer auch ihre Meinungen oder Tendenzen in politischer und philosophischer Beziehung sind, zwingt, einer wesentlichen Gruppe, wie es die Gewerkschaft ist, anzugehören. Deshalb gewährleistet der Kongress, was die einzelnen Mitglieder anbetrifft, vollkommene Freiheit für den in einer Gewerkschaft Organisierten, außerhalb der gemeinsamen Gruppe sich an solchen Formen des Kampfes zu beteiligen, die seiner theoretischen oder politischen Vorstellung entsprechen, muss jedoch kategorisch als Gegenleistung von ihm verlangen, in die Gewerkschaft auf keinen Fall Meinungen einzuführen, die er außerhalb derselben vertritt. Was die Organisationen anbetrifft, so erklärt der Kongress, dass die Gewerkschaftsbewegung, um das Maximum an Erfolg zu erreichen, die wirtschaftliche Aktion direkt gegen das Patronat durchführen muss, während die konföderierten Organisationen sich nicht in dem Maße, wie die gewerkschaftlichen Gruppen, mit den Parteien und Sekten ausschließlich zu befassen haben, welche letztere übrigens außerhalb und nebenbei vollkommene Freiheit besitzen in ihrem Bestreben, die gesellschaftliche Umgestaltung im Auge zu behalten". Also Sie sehen, Genossen, Sie haben hier den Neutralismus, den ausgesprochenen Neutralismus. Du sollst in die Gewerkschaft nicht mit der Politik kommen! Du kannst dich irgendwo anders als Sozialist, als Kommunist mit dem Kommunismus beschäftigen, aber in der Gewerkschaft muss der Platz sein, wo sich alle auf neutralem Boden zusammenfinden. Das wurde 1906 gesagt, also vor dem Bankrott der Zweiten Internationale, vor dem Bankrott des Anarchismus. Und mit dieser geistigen Bettelsuppe – erlauben Sie mir das zu sagen – kommt man vor den Kongress der Dritten Internationale und man will uns überzeugen, dass man auf diesem Standpunkt noch beharren kann. Schon Kautsky hat vor Jahren auseinandergesetzt, – er war damals noch Marxist, – dass der Neutralismus schon darum für uns nicht akzeptabel ist, weil er undurchführbar ist. Der Neutralismus hat eben den großen Mangel, dass er nicht durchzuführen ist. Und darin hatte Kautsky vollkommen recht. Nehmen Sie Frankreich. Wenn dort, z. B., die Frage der Mobilisation kommt, kann dann ein Gewerkschaftler erklären: „mich geht das nichts an. Das ist eine politische Frage, ich bleibe neutral"? Die Gewerkschaftler, die das behaupten würden, wären konterrevolutionär. Die Parteien verhielten sich verschieden. Die Kommunisten waren gegen die Mobilisation, die Sozialisten, weil sie kleinbürgerlich sind, schwankten, die CGT musste entweder sagen: gegen die Mobilisation, – dann unterstützt sie die Kommunisten; oder sie bleibt „neutral", – dann unterstützt sie die bürgerlichen Parteien. Nehmen Sie den Bergarbeiterstreik in England, äußerlich ein rein ökonomischer Kampf. Aber geht in Wirklichkeit dieser Streik nur die Gewerkschaften an? Und nicht auch die Partei? Selbstverständlich, ist das zur selben Zeit auch eine große politische Frage. Jetzt, nach dem Krieg, wo sich die Klassengegensätze so zugespitzt haben, gibt es fast keine einzige größere Frage in der Arbeiterklasse, die nicht gleichzeitig politisch und ökonomisch wäre. Die Neutralität ist ein Phantom, eine Phantasie und nicht Wirklichkeit. In Wirklichkeit kann keine Massenorganisation neutral sein und die Idee des Neutralismus ist ein reales Werkzeug der Bourgeoisie. Die Idee wird zur Macht, wenn sie richtig angewandt wird und die Massen ergreift, – zur reaktionären Macht, wenn sie die Massen irreführt, wie in dem gegebenen Fall. Die Idee der Neutralität gehört zu den Ideen, die von der Bourgeoisie sehr gut ausgenutzt werden, um den Arbeitern zu suggerieren, sie müssten sich beiseite stellen. Welches ist die Lage der Bourgeoisie? Sie herrscht in vielen Ländern durch das Bajonett, aber es wäre falsch zu behaupten, sie herrsche nur durch die Gewalt, nur durch das Bajonett. Das ist nicht wahr. In den meisten Ländern herrscht sie durch das Bajonett und den Betrug. Und der Betrug hat wenigstens eine ebenso wichtige Rolle gespielt, wie das Bajonett. Der Betrug muss gut organisiert werden. Wenn die Bourgeoisie zu plump, zu grob auftritt, wird sie die Arbeiter nicht gewinnen. Die Bourgeoisie kann nicht zum französischen, zum deutschen Arbeiter kommen und sagen: ich bitte dich, du musst in meine bürgerliche Partei eintreten. Das geht nicht, das wird der Arbeiter nicht tun. Und wenn er eintritt, in die Versammlungen geht und sieht die Bankiers usw. dort sitzen, so wird er erkennen, dass das nicht seine Leute sind, und wird nicht dort bleiben. Die Bourgeoisie kann also den Arbeiter nicht ganz offen auffordern, in die bürgerlichen Reihen zu treten. Sie kann aber den Arbeitern sagen, sie sollen sich überhaupt nicht mit Politik befassen, diese hätte keinen Wert für die Arbeiter. Sie sollen „neutral" bleiben, die Politik wäre nicht für sie, sondern nur für die Gebildeten. Sie sollen sich mit den rein ökonomischen Fragen befassen und gegenüber allen Parteien „neutral" bleiben. Auf diesem Gebiete hatte die Bourgeoisie Erfolge. Die Idee des Neutralismus ist eben die raffinierteste bürgerliche Idee, mit deren Hilfe die Bourgeoisie viele unserer Brüder fängt. Sie sagt ihnen: du musst in der Politik neutral bleiben, begnüge dich nur mit ökonomischen Fragen, deine Sache ist nur eine kleine Vergrößerung des Lohnes usw. Aber wir wissen: die Gewerkschaft, die neutral bleibt, ist objektiv auf Seiten der Bourgeoisie, auch wenn sie syndikalistisch ist, denn jede Gewerkschaft, die von dem falschen Standpunkt der Neutralität ausgeht, sich neutral erklärt, wird in dem entscheidenden Kampf objektiv zu einem konterrevolutionären Faktor. Wie die Bourgeoisie die Idee des Jenseits, des lieben Gottes braucht, so braucht sie auch die Idee der Neutralität der Gewerkschaften. Ebenso wie die Bourgeoisie den Pfaffen, den Spitzel, den Advokaten, den bürgerlichen Parlamentarier, den bürgerlichen Journalisten braucht, braucht sie auch den bürokratischen Gewerkschaftsführer, der den Gewerkschaften diese Neutralität vorgaukelt. Es ist so weit gekommen, dass viele prächtige revolutionäre Elemente, wie die revolutionären Syndikalisten, die Anarchisten in Frankreich in diese Falle geraten sind. Wo die ganze Sozialdemokratie opportunistisch war, da war das syndikalistische Misstrauen an jede Partei leicht zu verstehen. Im Jahre 1906 konnte man die Charte d'Amiens begreifen. Man konnte verstehen, wie sie entstand. Aber wenn man damit jetzt im Jahre 1921, nach 15 Jahren, nach dem Krieg, nach der Geburt der Kommunistischen Internationale, nach der russischen Revolution, nach den Kämpfen der russischen Gewerkschaften, die eine so bedeutende Rolle in unserer Revolution gespielt haben, kommt, so ist das wirklich zu bedauern. Wenn Sie einen gewöhnlichen revolutionär-syndikalistischen Arbeiter nehmen, so wird er sich durch meine Ausführungen, dass er objektiv der Gefangene der Bourgeoisie ist, beleidigt fühlen. Das ist aber Tatsache. Derjenige, der noch immer auf dem Neutralismus besteht, zu den Arbeitern kommt, und ihnen sagt, die Gewerkschaften müssen neutral sein, ist objektiv ein Gefangener der Bourgeoisie, ein Werkzeug der Bourgeoisie. Es herrscht eine sehr reiche Nomenklatur bei den politischen Parteien in politisch so entwickelten Ländern, wie Frankreich. Sie haben dort ein Register von einigen Dutzend Parteien. Fast alles nennt sich „sozialistisch", aber im Großen und Ganzen wissen wir doch, dass es im ganzen modernen Europa nur drei Gruppen von Parteien gibt: die erste, – die ausgesprochen bürgerliche, ob sie sich nun auch das Attribut „sozialistische" beilegt; die zweite, – die kleinbürgerlichen Parteien, das sind die Sozialdemokraten, und die dritte Gruppe ist die Gruppe der proletarischen Parteien oder vielmehr die Partei der Kommunisten. Und wenn die Bourgeoisie von unseren Gewerkschaften verlangt, dass die Gewerkschaften erklären, sie seien neutral gegenüber allen Parteien, was heißt das? Was heißt das, wenn eine proletarische Organisation sich „neutral" erklärt? Das heißt, dass sie in Wirklichkeit das tut, was der ersten oder der zweiten Gruppe nützlich ist. Daher ist es gekommen, dass die ganze II. Internationale für den Neutralismus eintrat. Die Charte d'Amiens war daher in vielen Beziehungen für die II. Internationale annehmbar. Die Idee des Neutralismus wurde aber fallen gelassen am 4. August 1914. Derselbe Legien, – seligen Angedenkens – der am 3. August 1914 für Neutralität eingetreten ist, musste am 4. August für „seine" Bourgeoisie eintreten. Während des Krieges wurde die Idee des Neutralismus fallen gelassen. Aber als man an die Organisation der Amsterdamer Internationale schritt, tauchte sofort die Idee des Neutralismus wieder auf. Amsterdam hat man auf dieser Idee aufgebaut. Noch einmal wurde die Idee des Neutralismus geboren. Merken Sie sich das. In Amsterdam ist diese Idee noch einmal geboren worden. Während des Krieges war die Lage zu klar. Die Bourgeoisie bekämpfte sich, und die Sozialpatrioten jedes Landes leisteten der „eigenen" Bourgeoisie Dienste Wo man aber noch einmal die Arbeiterklasse zu täuschen versucht, noch einmal eine sogenannte Internationale ausbilden will, da taucht noch einmal die Idee der Neutralität auf, und die Führer der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale haben es so weit gebracht, dass sie sich in einem Atemzug für die Neutralität und für die Ministerportefeuilles erklären. Herr Hörsing ist für Neutralität in der Gewerkschaftsbewegung, Noske ist für Neutralität in der Gewerkschaftsbewegung, Dittmann, Vandervelde, Jouhaux und alle übrigen, Auchsozialisten, sind gleichzeitig Minister, technische Berater, Sekretäre usw. in den bürgerlichen Regierungen. Was beweist das? Das ist ein eklatanter Ausdruck dieser „neutralistischen" Gaunertaktik. Und, Genossen, obwohl diese Taktik eigentlich zu plump ist, so krass in die Augen springt, ist die Arbeiterklasse geistig doch noch so wenig reif, dass diesen Leuten diese Tricks immer noch gelingen, und dass noch viele ehrliche Arbeiter mit der Idee der Neutralität als mit einer neuen Idee kommen. Darum glaube ich, Genossen, dass wir in diesem Punkt den französischen Syndikalisten und allen syndikalistischen Genossen ganz klar sagen müssen, was nötig ist. Mögen sie es uns jetzt auch noch übelnehmen, sie werden sich durch den Gang der Entwicklung mit jedem Tag mehr überzeugen, dass wir im Rechte sind. Die Charte d'Amiens muss man möglichst schnell zerschlagen, sie war einmal vielleicht ein Schritt vorwärts, als eine Aktion gegen den Opportunismus der damaligen Zeit verständlich. Aber, wer jetzt damit kommt, will die Bewegung um 15 Jahre zurück rücken, anstatt sie weiter zu führen. So steht die Frage in Frankreich und auch in anderen Ländern. Was folgt daraus? Es folgt daraus nicht, dass die Gewerkschaften der Partei einfach unterzuordnen sind. Es ist jetzt eine Diskussion in Frankreich im Gange, die sehr lebhaft wird. Fast täglich erscheinen Artikel in der „Humanité". Bisher, man muss es sagen, ist die Haltung unserer Bruderpartei in Frankreich noch nicht ganz klar, sie birgt noch viele Unklarheiten in sich. Die Genossen haben sich zunächst ein verzerrtes Bild gemacht und dann fühlen sie sich etwas unbehaglich. Das verzerrte Bild geht dahin, als ob wir wirklich eine direkte Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei fordern. Das ist nicht der Fall. Wir haben in Russland diese Entwicklung am deutlichsten durchgemacht und müssen sagen, die Gewerkschaften als solche sind der Partei nicht unterzuordnen. Wir kämpften jahrelang um Einfluss innerhalb der Gewerkschaften. Noch während der Oktoberrevolution hatten wir die Minderheit in ihnen, etwa 40 %, erst nach der Oktoberrevolution haben wir die Mehrheit gewonnen. Um geistigen Einfluss auszuüben, muss man auch zunächst die Mehrheit in den Gewerkschaften gewinnen. Also es handelt sich darum, dass die geistige politische Führung der Partei gehört, und dass die Partei sie erst durch lange harte Arbeit gewinnt, nicht durch Dekrete, nicht durch Resolutionen. Wir haben 15 Jahre mit den Menschewiki um den Einfluss in den Gewerkschaften gerungen. Das erfordert Zeit. Und wir haben immer unseren Genossen gesagt – ihr sollt den Einfluss in den Gewerkschaften durch tägliche Arbeit gewinnen, dadurch, dass der Kommunist sich in allen Alltagsfragen als der beste, der klügste, als derjenige zeigt, der am opferbereitesten ist. Durch diese alltägliche Arbeit während 15 Jahre haben wir den entscheidenden Einfluss in den Gewerkschaften gewonnen. Und wir haben auch jetzt die Gewerkschaften als solche der Partei nicht einfach untergeordnet, sondern wir haben die kommunistischen Zellen (Fraktionen) der Gewerkschaften als Glieder unserer Parteiorganisation betrachtet und die Parteiorganisation so ausgebaut, dass dieses Glied den Willen der Partei durchführt. Das ist ganz etwas anderes als einfache mechanische Unterordnung der Gewerkschaft unter die Partei. Also die französischen Genossen brauchen sich gegenüber den Syndikalisten nicht zu entschuldigen. Sie brauchen an das Zerrbild nicht zu glauben, dass wir die einfache Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei fordern. Was der Dritte Kongress von den Gewerkschaftlern fordern muss, das ist hundertmal mehr alltägliche Arbeit in den Gewerkschaften, überall dort, wo die Masse ist. Nicht nur während großer Bewegungen, sondern auch im alltäglichen Gewerkschaftskampfe, mag er auch noch so klein sein, überall soll der Kommunist Wegweiser sein, um den Einfluss seiner Partei jahrelang hartnäckig kämpfen, und, selbstverständlich, wo man den Einfluss gewonnen hat, den Einfluss der Partei auch durchsetzen. Wo wir auch nur drei Kommunisten haben, müssen sie sofort eine Zelle bilden. Die französischen Kommunisten müssen sich nur auf die Mitglieder ihrer eigenen Partei stützen. Mit allen anderen können wir einen Pakt schließen, aber verlassen können wir uns nur auf unsere Mitglieder. Das soll das Verhältnis der Gewerkschaften zur Partei sein: hartnäckiger ausdauernder Kampf um den Einfluss der Partei, Organisation der kommunistischen Elemente, Teilnahme an allen Alltagsarbeiten, keine mechanische Unterordnung. Die Hauptaufgabe ist, wir wiederholen es: wie gewinnen wir die Mehrheit in den Gewerkschaften? Man kann meinetwegen auch von Autonomie der Gewerkschaften im gewissen Sinne sprechen. Doch der Sinn der Autonomie ist nicht so zu verstehen, wie man sich das vielleicht vorstellt. Gewiss, es gibt Autonomie und „Autonomie". Wir wissen aus dem Kampf mit den Reformisten, dass diese Herrschaften diese Autonomie so aufgefasst haben, dass die Gewerkschaften eines sind, und die Partei etwas ganz anderes sein soll. Wir sind gegen eine solche Autonomie, gegen eine solche Unabhängigkeit, die auf sogenannten Neutralismus hinausläuft. Aber, selbstverständlich, sind wir auch dafür, dass die Gewerkschaftsbewegung einen gewissen freien Raum hat, dass die Partei sich nicht in alle kleinen Details einmengt, sondern dass sie nur die allgemeine Linie bestimmt, dass sie nur da eingreift, wo wirklich etwas politisch Wichtiges vorliegt – und das auch nur vermittels der kommunistischen Zellen (Fraktionen). In diesem Sinne können wir nichts gegen die Autonomie einwenden. Und dadurch wird auch das Verhältnis der Kommunistischen Internationale zur Roten Gewerkschaftsinternationale entschieden. Auf die Initiative der Kommunistischen Internationale ist die Rote Gewerkschaftsinternationale gegründet worden. Sie besteht erst seit einem Jahre, sie steht noch im Anfang ihres Kampfes. Zunächst hatten wir eine fast einheitliche Organisation. Jetzt, wo die Rote Gewerkschaftsinternationale gewachsen ist, muss eine gewisse Differenzierung geschaffen werden, es muss der Roten Gewerkschaftsinternationale eine gewisse Selbständigkeit gegeben werden. Gewiss, der idealste Zustand wird sein, wenn wir eine einheitliche Internationale haben werden, die alle Zweige der Arbeiterbewegung zusammenfassen wird. Aber auch jetzt müssen wir sagen, die Kommunistische Internationale als Ganzes soll nicht eine einfache arithmetische Summe der verschiedenen kommunistischen Parteizentralen sein. Sie ist etwas mehr. Wir sind hier nicht nur 40 Zentralkomitees, wir wollen eine Zusammenfassung aller Bedürfnisse der Bewegung darstellen. Wir wollen dem gesamten Proletariat, das für seine Befreiung kämpft, die Orientierung geben. Wir wollen den Kampf leiten – in den Sowjets, in den Gewerkschaften, in den Bildungsorganisationen in den Konsumgenossenschaften usw. Das alles muss zusammengefasst sein in der Kommunistischen Internationale. Sie ist der Kopf der ganzen Bewegung, sie leitet den ganzen Befreiungskampf des Proletariats, und nicht nur den politischen, im engeren Sinne des Wortes. Die Rote Gewerkschaftsinternationale muss eine gewisse Selbständigkeit erhalten. Zunächst müssen wir sie so ausbauen, dass wir eine gegenseitige Vertretung haben, und allmählich wird sie sich inniger verwachsen. Wir müssen das tun aus Gründen der Vorsicht, wir müssen das tun, weil das Bild der Gewerkschaftsbewegung in der ganzen Welt zu bunt, zu verschiedenartig ist. Vergleichen Sie Italien und Norwegen, Tschechoslowakei und England, Deutschland und Frankreich, – ein ganz verschiedenes Bild! Ganz verschiedene Stufen der Entwicklung! Und damit müssen wir rechnen und müssen darum eine solche elastische Organisationsform finden, die möglichst schnell dazu führt, dass wir allmählich verwachsen zu einer gemeinsamen einheitlichen Organisation, die die Kommunistische Internationale sein soll. Was wir also vorschlagen, ist, dass wir auf dem Wege zur großen einheitlichen Internationale eine gewisse Differenzierung machen und uns nicht davor fürchten. Wir müssen den Bedürfnissen der Bewegung entgegenkommen, uns ihnen nicht hartnäckig entgegenstellen, sondern die organisatorischen Schwierigkeiten verstehen, in jedem Lande elastisch vorgehen, weil hier große Schwierigkeiten sind, kein Mittel vergessen, um die Gewerkschaften den gelben Führern aus der Hand zu reißen, weil das der springende Punkt ist, das Hauptmoment im Kampfe für die proletarische Revolution. Das wird nicht bedeuten, dass wir zwei parallele Internationalen haben werden. Auch darin liegt eine große Gefahr, wenn sich zwei Internationalen bilden, die eifersüchtig nebeneinander stehen werden. Eine gewisse Autonomie und eine selbstverständliche Elastizität in organisatorischer Beziehung muss unbedingt darauf dringen, dass die politische Führung bei der Kommunistischen Internationale bleibt, dass wir täglich miteinander verhandeln, unsere gegenseitigen Vertretungen haben, uns auf Schritt und Tritt gegenseitig helfen, um die Schwächen der Bewegung zu überwinden. Wir müssen alles tun, dass beide Internationalen zusammenarbeiten, sie gehören zueinander wie zwei Arme. Das ist unsere Marschroute. Wir sind überzeugt, dass wir auf diese Weise diese Schwierigkeiten überwinden, wir müssen den Genossen einprägen, dass es keine wichtigere Aufgabe gibt, als die Mehrheit in den Gewerkschaften zu gewinnen. Wenn wir das haben, dann haben wir alles. Wenn wir die letzte Bastion der Bourgeoisie zerstört und auf ihr die rote Fahne der Kommunistischen Internationale gehisst haben, dann können wir sagen, jetzt sind die größten Schwierigkeiten vorbei, jetzt ist uns der Sieg sicher. Die Beschlüsse, die der Gewerkschaftskongress fassen wird, werden von größter internationaler Bedeutung sein. Wir müssen alles versuchen, um zu gemeinsamen Beschlüssen zu kommen, alles tun, um die beiden Organisationen zusammenzuhalten. Wenn es gelingt, gemeinsam die Schwächen der Bewegung zu überwinden, gemeinsam gegen die Amsterdamer Internationale, gegen den Sozialpatriotismus und Sozialpazifismus vorzugehen, so ist unser Sieg absolut sicher, und zwar in ganz kurzer Zeit. (Lebhafter Beifall und Applaus.) |
Grigori Sinowjew > 1921 >