IX

IX. Die deutsche Revolution und die russische Gegenrevolution.

Die Aufmerksamkeit der ganzen Welt wird immer mehr auf die Ereignisse gelenkt, die in Deutschland heranreifen. Nur ganz blinde Menschen sehen nicht, dass in der nächsten Zeit in Deutschland das Schicksal Europas entschieden wird, dass die wichtigste Seite in der Geschichte der Weltrevolution umgeblättert wird, dass Ereignisse herannahen, die das Schicksal der neuesten politischen Geschichte auf lange Jahrzehnte hinaus bestimmen.

Natürlich reagiert jede Klasse auf die Ereignisse in Deutschland auf ihre Art. Die fortgeschrittensten Arbeiter der ganzen Welt begreifen vollkommen klar den Zusammenhang der deutschen Revolution mit dem Schicksal des internationalen Proletariats. Wenn das Gros der proletarischen Masse das noch nicht klar begreift, so fühlt es das doch instinktiv. Das westeuropäische Kapital, insbesondere das französische, hat bis in die letzte Zeit hinein gute Miene zum bösen Spiel gemacht, zog ein harmlos lächelndes Gesicht und tat so, als ob die „Anarchie“ in Deutschland es nicht interessiere. Aber besonders energisch reagiert auf die Ereignisse in Deutschland die russische Gegenrevolution der Bürgerlichen und Gutsbesitzer. Sie ist nicht nur aufgescheucht, sondern sie erlebt eine richtige Kurssteigerung. Vom Sieg der Gegenrevolution über das deutsche Proletariat erwartet die russische Bourgeoisie und erwarten die Gutsbesitzer, die mit eisernem Besen in die weißgardistische Emigration hinausgefegt worden sind, ihre Rettung. Und auf ihre Art haben sie vollkommen Recht. Wenn sie überhaupt noch durch irgendetwas gerettet werden können, so nur durch den Sieg der europäischen Bourgeoisie über die deutsche Revolution.

Vergeblich versuchen einzelne abgeklärte „Sowjet“-Bourgeois das Temperament ihrer „Brüder“, der weißen Emigranten, zu kühlen. Die Zeitung der SRs, „Dni“ (Nr. 276), teilt mit: „Ein intelligenter Mensch, der den Bolschewiki ebenso fern steht wie den Marsbewohnern, schreibt aus Russland nach Deutschland: Kehrt möglichst schnell nach Hause zurück, wir sind hier schon im stillen Hafen, und bei Euch entbrennt erst das Oktoberfeuer.“

Man lacht ihn aus. Er hat das Erstgeburtsrecht der Bourgeoisie für das Linsengericht eines sowjetischen „stillen Hafens“ verkauft. Er begreift nicht; dass nur die Niederlage des deutschen Oktobers noch die russische Bourgeoisie und die Gutsbesitzer retten kann.

Aufmerksam beobachtet die Vorgänge in Deutschland die Zeitung Miljukows, des Führers der bürgerlichen und gutsbesitzerlichen Emigranten: „Das Traurigste für Deutschland ist, dass der politische Todeskampf des Reichs nirgends auf die Todestraurigkeit einer patriotischen Unruhe stößt. Der Reichstag ist noch ehrloser als das russische Vorparlament im Oktober 1917 war.“ („Poslednije Nowosti“ Nr. 1027.)

In Belgrad hat sich der weiße Gutsbesitzerstab versammelt. Hier wird auch die Zeitung „Nowoje Wremja“ gedruckt, die aus Petersburg ausgewandert ist. In dieser Zeitung kann man lesen:

Es ist ganz klar, dass, wenn in Europa der Entschluss aufkommen würde, die Sowjetregierung zu stürzen und die Ordnung in Russland wiederherzustellen, das hauptsächlich mit den Kräften der russischen weißen Emigration selbst ausgeführt werden würde. Von Europa müsste man Geldmittel, technische Unterstützung und vielleicht den Schutz der Etappe verlangen, während die bewaffnete Operation selbst zweifellos mit den Kräften derjenigen Russen durchgeführt werden würde, welche dem Großfürsten Nikolai Nikolaijewitsch und dem General Wrangel folgen würden.“

Und weiter:

Nehmen wir einmal das Unwahrscheinlichste an. Die Kerntruppen der russischen Armee des Generals Wrangel seien zerstreut, die Intervention werde ausschließlich durch Ausländer gemacht. Selbst in diesem durchaus unwahrscheinlichen Fall würden die Sympathien jedes russischen Patrioten, ganz unabhängig von seiner Orientierung und seiner politischen Anschauung, auf Seiten der Ausländer sein müssen. Es ist klar, dass eine bewaffnete Intervention, zu der sich Europa entschlösse, nicht um unserer schönen Augen willen und nicht aus Sympathie für uns unternommen werden würde, sondern ausschließlich deshalb, weil die Interessen Europas es erfordern.“ („Nowoje Wremja“, 20. August 1923.)

Die Sache ist klar: Europa wird aus Anlass der deutschen Revolution von neuem eine bewaffnete Intervention gegen den Bund sozialistischer Sowjetrepubliken brauchen. Der Stern Nikolai Nikolaijewitschs und des Generals Wrangel wird wieder aufgehen. Wenn es der europäischen Bourgeoisie gelingen wird, die deutsche proletarische Revolution zu erdrücken und einen Stoß gegen Sowjetrussland zu führen, dann wird die „Armee“ Nikolai Nikolaijewitschs und Wrangels von neuem zu aktivem Kriegsdienst gegen die Arbeiter und Bauern Russlands aufgerufen werden. Um die „öffentliche Meinung“ auf diesen längst erwarteten Moment vorzubereiten, druckt dieselbe „Nowoje Wremja“ (Nr. 695) ein gefälschtes Manifest „An die Arbeiter und Proletarier der Welt“ ab, das angeblich von „Arbeitern Petrograder Fabriken“ unterschrieben ist. In diesem Manifest kann man folgendes lesen:

Wehe uns! Wir waren sehr erfreut, als die Note der englischen Regierung kam und wir glaubten, dass Lord Curzon unser Befreier werden würde. Aber unsere Hoffnungen sind betrogen worden. Jetzt hoffen wir noch auf unsere Verbündeten, die Franzosen und insbesondere auf Herrn Poincaré. Wir hoffen, dass das französische Volk uns helfen wird, uns von unsern blutigen Bedrückern zu befreien. Wir hoffen auf Frankreich, Belgien und Polen.“

Die Fälschung ist grobschlächtig. Man darf schon nicht sonderlich wählerisch in seinem Geschmack sein, um sich zum Abdruck einer solchen Fälschung zu entschließen. Aber weshalb war gerade eine solche Fälschung heute der Saison entsprechend?

Woher kommt plötzlich die Nachfrage nach solchen Dokumenten? Es ist klar: es roch nach einem neuen Braten, einer neuen Intervention „Europas“ gegen den Bund sozialistischer Sowjetrepubliken.

Es muss der Eindruck erweckt werden, dass sogar die bekannten Aufrührer, die Arbeiter der Petrograder Fabriken, ihre Hoffnungen auf Curzon, Poincaré und das bürgerliche Polen setzen. Ein jedes Gemüse wächst zu seiner Zeit.

Auch der General Krasnow regt sich.

Es kommt mir vor, als ob ich Eure Frage spüre und nicht nur Eure, sondern auch die vieler Kosaken: Wann? Ich antworte mutig: Bald.“

Die nationalen Ideen, die den Kommunismus vernichten, ergreifen allmählich die ganze Welt. Sie sind in Italien aufgetaucht, haben auf Bulgarien übergegriffen, verstärken sich in Bayern, ergreifen allmählich Frankreich.“

Die Stunde kommt, wo die rote Fahne herunter gerissen und ersetzt sein wird durch das nationale Banner. Die Stunde kommt, wo an die Stelle der roten Armee die russische Armee treten wird, deren Führer der Großfürst ist. Dieser Tag ist nicht mehr fern.“ (Abdruck des Flugblatts „Der Kubaner“ in „Nowoje Wremja“ vom 5. Oktober 1923.)

Und damit gar kein Zweifel möglich ist, erklärt „Nowoje Wremja“:

Jawohl, nur starke Männer können die für ihr Volk notwendige Politik machen und ihr Land zu Erfolgen führen, nicht aber ein Parlament. Solcher starken Männer gibt es in Europa nur drei: Poincaré, Paschitsch und Mussolini, und um sie herum wird vorläufig die Politik Europas gebaut werden, Europas politisches und wirtschaftliches Leben.

Wenn die Welt auf drei Walfischen ruht, so steht auch Europa auf drei Walfischen und der vierte wird, wenn er kommt, möglicherweise das Gleichgewicht Europas stören. Aber das Gleichgewicht der ganzen Welt erfordert, dass dieser Walfisch nicht in Europa sei, sondern auf der Grenze zwischen Europa und Asien stehe. Dieser notwendige Walfisch ist das nationale Russland.“ („Nowoje Wremja“ Nr. 726.)

Es rührt sich das ganze Weißgardistengesindel. Herr Miljukow kokettiert noch mit dem Gedanken der Verurteilung einer neuen Intervention. Aber von Tag zu Tag wird sein „Widerstand“ schwächer. Er ist „gezwungen“, seinen Opponenten nachzugehen. Wenn es nur der internationalen Bourgeoisie gelingen würde, das Rückgrat der deutschen proletarischen Revolution zu brechen und das bürgerliche Polen gegen Sowjetrussland in Bewegung zu setzen, so wird man selbstverständlich Miljukow nicht allzu lange zu überreden brauchen, um sein „Einverständnis“ für eine neue Intervention zu erhalten.

Die russischen Bauern, Arbeiter und Rotarmisten müssen wissen, dass unser Schicksal mit dein Schicksal des deutschen Proletariats nicht nur deshalb verbunden ist, weil wir als Kommunarden mit dem Kampfe der Werktätigen in andern Ländern sympathisieren. Nein, wir sind auch mit unserem Gut und Blut daran interessiert, als Klasse, die an der Spitze unseres Staates steht. Deutschland in einige „unabhängige“ Staaten zerfetzen, an deren Spitze ebenso viele gehorsame Handlanger stehen, die proletarische Avantgarde abschlachten und dann, nach kurzer Zeit, das weiße Deutschland gegen Sowjetrussland marschieren lassen, — das ist der Plan der europäischen Bourgeoisie, die von Herrn Poincaré geführt wird, das ist der Plan, auf den die russische Bourgeoisie, die russischen Gutsbesitzer rechnen und um dessentwillen sie ihre Reihen neu formieren, das ganze Pack, das die Zeitungen „Nowoje Wremja“, „Poslednije Nowosti“, „Rul“ und andere wenig ehrenwerte Zeitungen herausgibt. Die europäische Bourgeoisie und die russische Gegenrevolution rechnen damit, dass das weiße Polen, das weiße Finnland, das weiße Lettland und das weiße Rumänien unbedingt alles gegen die russische Revolution unternehmen werden, was ihnen befohlen wird, und dass es ihr gelingen wird, nach Unterdrückung des deutschen Proletariats auch noch das weiße Deutschland, zusammen mit diesen Staaten und den im Auslande lebenden und dem Kommando des Generals Wrangel und Nikolai Nikolaijewitschs unterstehenden russischen weißen Offiziere gegen die russischen Arbeiter und Bauern zu werfen. Dann wäre für sie das Spiel gewonnen.

Der Sieg der europäischen Bourgeoisie über die deutsche proletarische Revolution wird notwendigerweise den Kampf der russischen Gegenrevolution gegen die russischen Arbeiter und Bauern beleben. Wenn es Nikolai Nikolaijewitsch und Wrangel tatsächlich gelingen würde, unterstützt von einer internationalen Intervention, in unser Arbeiter- und Bauernland einzudringen, so würde das bedeuten, dass die Macht der Gutsbesitzer wieder hergestellt, dass den Bauern das Land wieder fortgenommen und den „gesetzlichen“ Besitzern zurückgegeben werden würde, dass Generationen russischer Arbeiter und Bauern gezwungen sein würden, die Schulden des Zaren zu bezahlen, dass die weißgardistischen Offiziere versuchen würden, eine neue weiße Bauernarmee zu schaffen und sie zum Krieg gegen die europäischen Arbeiter zu zwingen. Diese sehr wenig komplizierte Mechanik den Millionen Arbeitern und Bauern unseres ganzen Verbandes der Sowjetrepubliken klarzumachen — das ist die wesentliche Grundaufgabe des Tages. Und was kann der Sieg der deutschen proletarischen Revolution den Arbeitern und Bauern unseres Sowjetverbandes geben?

Der Gedanke des Bündnisses zwischen Deutschland und Sowjetrussland ist schon heute in Deutschland äußerst populär und hat Millionen von Anhängern. Das proletarische Deutschland würde vom ersten Tag seiner Existenz an das engste Bündnis mit Sowjetrussland schließen. Dieses Bündnis könnte unberechenbare Vorteile für die werktätigen Massen Deutschlands wie auch unseres Sowjetverbandes bringen. Sowjetrussland mit seiner vorwiegend ländlichen Wirtschaft und Deutschland mit seiner vorwiegenden Industrie ergänzen einander auf das beste. Das Bündnis zwischen Sowjetdeutschland und Sowjetrussland würde eine gewaltige wirtschaftliche Kraft bilden. Ein solches Bündnis hätte alle wirtschaftlichen Quellen zu seiner Verfügung, die zum Gedeihen sowohl Sowjetdeutschlands wie Sowjetrusslands notwendig sind, von jeder Art von Rohstoffen an bis zu den modernsten und letzten Erzeugnissen der Industrietechnik. Die Landwirtschaft Sowjetrusslands würde von einem solchen Bündnis ungeheuer profitieren, denn unser Dorf wurde unter günstigen Bedingungen die notwendigen landwirtschaftlichen Maschinen, Kunstdünger usw. erhalten. Die Großindustrie Deutschlands würde nicht minder gewinnen, denn sie würde in hohem Grade mit Rohstoffen und Absatzmärkten versorgt sein.

Das Bündnis mit einer siegreichen proletarischen deutschen Revolution kann schnell und radikal die gefährlichen Seiten unseres „NEP“ unschädlich machen. Das Bündnis eines proletarischen Deutschland mit Sowjetrussland würde eine neue Phase des NEP schaffen, würde die Entwicklung unserer Staatsindustrie beschleunigen und befestigen und würde die Tendenzen der neuen Bourgeoisie zur Besetzung der Herrschaft in der Wirtschaft unseres Sowjetverbandes an der Wurzel abschneiden.

Ein solches Bündnis würde auch in hohem Grade die Hebung des Kulturniveaus in den breitesten Schichten der Bevölkerung beider Länder beschleunigen. Dieses Bündnis hätte unzählige Folgen des Fortschritts auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens nicht nur für beide Länder, sondern für die ganze Welt.

Deshalb muss das Schicksal der deutschen Revolution so stark die Arbeiter und Bauern des ganzen Bundes der Sozialistischen Sowjetrepubliken interessieren.

Kommentare