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V. Die inneren Schwierigkeiten der deutschen Revolution.

Das gesamte gegenrevolutionäre Lager rechnet jetzt darauf, dass die deutschen Kommunisten, wenn sie zur Macht gelangt sein werden, sich nicht werden halten können und den Platz der faschistischen Bourgeoisie werden räumen müssen.

Eine Zeitlang war auch unter den deutschen Kommunisten die Meinung verbreitet, dass es leicht sein würde, die Macht in Deutschland zu erobern, dass aber die Hauptschwierigkeiten erst nach der Eroberung der Macht beginnen würden. Dass dem nicht ganz so ist, davon beginnen jetzt die weitesten Kreise der deutschen Kommunistischen Partei sich zu überzeugen. Gewiss werden die Schwierigkeiten nach der Eroberung der Macht nicht gering sein. Man darf sie nicht vergessen. Aber am meisten muss man jetzt an die Eroberung der Macht selbst denken. Diese ist durchaus nicht leicht und wird auch fernerhin nicht leicht sein.

Die faschistische Bourgeoisie hat gegen 600 000 bis an die Zähne bewaffnete und zu allem bereite Leute in ihrem Lager. Es ist wohl wahr, dass diese bewaffnete Macht der Gegenrevolution nicht die Sympathien der Massen hat, es fehlt ihnen der soziale Sauerstoff. Die aus vielen Millionen bestehenden Klassen werden auf der Seite der Kommunisten, und nicht auf der Seite der Gegenrevolution sein. Aber wenn man sich zum Entscheidungskampf rüstet, darf man nicht vergessen, dass der Erfolg eines solchen Kampfes, durch das ungeheure Übergewicht der Kräfte im entscheidenden Augenblick und an entscheidender Stelle bestimmt wird. Die Geschichte des jüngsten Aufstandes in Bulgarien ist in dieser Hinsicht außerordentlich lehrreich. Die Massen waren vollkommen auf der Seite der Aufständischen. Nichtsdestoweniger bestimmte das entscheidende Übergewicht, das Zankow durch die geringen, bis an die Zähne bewaffneten Stoßtrupps das Schicksal des Aufstandes.

Trotzdem ist es bereits jetzt angebracht, die inneren und äußeren Schwierigkeiten der deutschen Revolution nach ihrem Siege abzuwägen.

Im Inneren des Landes bestehen die Hauptschwierigkeiten in folgendem:

Die Verpflegungsschwierigkeiten. Der am besten organisierte, reiche Teil der deutschen Bauernschaft wird zweifellos im Verein mit den Gutsbesitzern der deutschen Sowjetregierung ernste Schwierigkeiten bereiten. Die Blockade des roten Sachsens, die bereits jetzt eingesetzt hat, ist ein Vorgeschmack dessen, was wir am Tage nach der Umwälzung in großem Maßstabs erleben werden.

Es folgen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Kohlenmangel, die Betriebsstilllegungen usw.

Ferner die Arbeitslosigkeit.

Sodann die innere Gegenrevolution die Faschisten, die Kornilow-Leute, die Vendée-Bezirke (Bayern), die franzosenfreundlichen reaktionären Separatisten, die Überreste der gegenrevolutionären Sozialdemokratie, das Großbauernelement usw.

Und schließlich die finanziellen Schwierigkeiten. Die Sowjetregierung Russlands hat vom Zarismus und der Koalitionsregierung einen Goldfonds geerbt, der u. a. 1400 Millionen Goldrubel betrug, und außerdem den noch nicht vollkommen entwerteten zaristischen Papierrubel. Die Sowjetregierung in Deutschland wird in dieser Hinsicht eine viel traurigere Erbschaft antreten.

Dessen ungeachtet behaupten wir mit voller Überzeugung, dass das deutsche Proletariat sich an der Macht halten wird. Die Unterstützung des deutschen Proletariats, sowie eines Teiles der städtischen und ländlichen Kleinbourgeoisie wird der proletarischen Regierung Deutschlands die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung sichern. Und das ist die Hauptbedingung zur Bewahrung der Macht.

Die deutsche proletarische Regierung wird die Hauptlehren der russischen Revolution beherzigen. Sie wird alles aufbieten, um einerseits zwischen Stadt und Land, anderseits zwischen dem Proletariat und der städtischen Kleinbourgeoisie zufrieden stellende Beziehungen aufrecht zu erhalten. Die proletarische Regierung Deutschlands braucht keineswegs eine absolute Nationalisierung des Handels, der Kleinindustrie, der kleinen Bodenparzellen usw. vorzunehmen. Im Gegenteil, solange der Widerstand der kleinen und mittleren Besitzer die proletarische Regierung Deutschlands im Interesse des Selbstschutzes nicht zu äußersten Maßnahmen zwingt, wird diese Regierung eine äußerst vorsichtige und im höchsten Grade aufmerksame Politik in Bezug auf diese Bevölkerungsschichten befolgen müssen. Die proletarische Regierung Deutschlands wird vom ersten Augenblick ihrer Tätigkeit an hinsichtlich der Kleinbourgeoisie, der Intelligenz, der Handwerker, der kleinen und mittleren Bauern usw. — mit Erfolg — eine Politik befolgen, die die Sympathien der Kleinbourgeoisie in Stadt und Land für die Sowjetregierung Deutschlands genügend befestigen wird.

Selbstverständlich wird die proletarische Regierung Deutschlands zu einer entschiedenen revolutionären Nationalisierung der Groß- und Mittelindustrie greifen müssen und greifen. Aber insoweit es von der Proletarierregierung abhängen wird, wird sie diese Maßnahme nur in dem Maße durchführen, wie tatsächlich die Möglichkeit einer rationellen Organisierung der Groß- und Mittelindustrie auf sozialistischer Grundlage vorhanden ist. Die proletarische Regierung Deutschlands wird nicht vergessen, wo die starke Seite der russischen neuen Wirtschaftspolitik liegt.

Die Lebensmittelfrage. Diese wird der deutschen Proletarierregierung bedeutende Schwierigkeiten verursachen. Aber nicht ohne Grund heben deutsche sozialdemokratische Arbeiter bereits jetzt in jeder Versammlung den Umstand hervor, dass die deutschen Arbeiter teilweise schon heute russisches Sowjetbrot essen. Wenn eine bedeutende Menge russischen Getreides bereits jetzt in das bürgerliche Deutschland strömt, — warum sollte dann nicht ein weit größerer Strom in das proletarische Deutschland gehen?

Was die Kohle anbetrifft, so befindet sich Deutschland bereits jetzt nach der Besetzung des Ruhrgebiets in dieser Hinsicht in äußerst schwieriger Lage. Selbstverständlich kann man kaum auf ein rasches Aufblühen der Volkswirtschaft gleich nach der Umwälzung rechnen. Aber unter gewissen Verhältnissen könnte die proletarische Regierung Deutschlands den Vertretern der französischen Schwerindustrie den Vorschlag machen, selbst die Kohlenversorgung unter der Bedingung zu übernehmen, dass auch die Interessen der Volkswirtschaft des proletarischen Deutschlands dabei gesichert würden. Unter günstigen Umständen ist es nicht ausgeschlossen, dass Sowjetdeutschland in der Tschechoslowakei und in Polen Kohlen kaufen könnte.

Die Zahl der Arbeitslosen wird in Deutschland auf jeden Fall in der nächsten Zeit groß sein. Nur eine proletarische Regierung könnte den Arbeitslosen wirksamen Beistand erweisen. Selbstverständlich wird die proletarische Regierung im Interesse des Selbstschutzes unverzüglich an die Bildung einer deutschen Roten Armee schreiten müssen

ungeachtet dessen, dass dadurch die Schwierigkeiten für die deutsche Revolution seitens der französischen und anderer Imperialisten wachsen würden. Die deutsche Regierung würde eine bedeutende Anzahl arbeitsloser Arbeiter in dieser Armee unterbringen können.

Die Gefahr der Gegenrevolution im Innern und die finanziellen Schwierigkeiten werden der Proletarierregierung Deutschlands nicht wenig Mühe verursachen. Aber unüberwindliche Schwierigkeiten gibt es hier nicht. Das proletarische Deutschland mit ihnen im Allgemeinen nach dem Muster Sowjetrusslands und selbstverständlich mit den den Verhältnissen entsprechenden Änderungen fertig werden.

Als Russland die Oktoberrevolution begann, hatte es bei einer Bevölkerung von 160 Millionen — 7 bis 8 Millionen Arbeiter. Deutschland zählt 20 Millionen Arbeiter bei einer Bevölkerung von 60 Millionen. Das kleine Häuflein russischer Proletarier hat wahre Wunder an Energie und Organisation vollbracht. Im Grunde genommen war gerade dieses Häuflein die Seele der Verteidigung Sowjetrusslands an einem Dutzend Fronten. Es hat die große russische Revolution gerettet. Welche Wunder an Energie das zwanzigmillionenköpfige deutsche Proletariat — der Kern des internationalen Proletariats — vollbringen wird, das kann man vorläufig kaum beurteilen.

Das deutsche Proletariat kann durchweg lesen und schreiben. Es ist kultivierter als die Arbeiterklasse Russlands. Es hat bei der deutschen Sozialdemokratie eine schwere, aber an Erfahrung reiche „Schule“ durchgemacht. Nach all jenen Verrätereien der Sozialdemokratie, die es über sich ergehen lassen musste, kann es nicht mehr leicht betrogen werden.

Der deutsche Durchschnittsarbeiter wird nicht ein schlechterer, sondern ein besserer Roter Soldat sein als der russische Arbeiter. Dafür sind viele gewichtige Gründe vorhanden. In den Kriegsjahren 1914 bis 1918 war der Prozentsatz der Arbeiter in der Armee Wilhelms II. bedeutend größer als der Prozentsatz der Arbeiter in der Armee Nikolaus II., denn die russische Armee war hauptsächlich eine Bauernarmee. Die ersten Rotgardistentruppen der Arbeiter Russlands waren als militärische Einheiten äußerst schwach. Der russische Durchschnittsarbeiter in der Roten Garde wusste nicht, wie man ein Gewehr zu halten hat. Bei dem deutschen Durchschnittsarbeiter, der in der Armee Wilhelms II. gedient hat, ist so etwas ausgeschlossen.

Wenn man auf den Weg zurückblickt, den die internationale Arbeiterklasse zurückgelegt hat, so gelangt man zur Überzeugung, dass die Klasse der Lohnarbeiter, die den untersten Platz der sozialen Pyramide inne hat und nicht über genügende politische Erfahrungen und Kultur verfügt, die herrschende Klasse der Bourgeoisie unmöglich auf einmal besiegen kann. Augenscheinlich ist es ganz unvermeidlich, dass die Arbeiterklasse zum mindesten in jenen Ländern, die sich, im internationalen Maßstabe gesprochen, zuerst zum Kampf gegen die bürgerliche Ordnung erheben, anfangs einige bedeutende Niederlagen erleiden muss, ehe sie es lernt zu siegen. So war es auch mit der Arbeiterklasse Russlands. Ohne die schwere Niederlage des Jahres 1905 hätte die russische Arbeiterklasse im Jahre 1917 schwerlich siegen können. Jedenfalls wäre ihr dieser Sieg nicht so verhältnismäßig leicht zugefallen. Bereits im Jahre 1905 haben die russischen Arbeiter es gelernt, Räte zu bilden, sich zu bewaffnen, Kampftruppen zu organisieren, sich auf den Barrikaden zu schlagen, Beziehungen zur Bauernschaft, zu den Soldaten, zu den Eisenbahnern usw. anzuknüpfen. Darum konnte im Jahre 1917 die Erfahrung vom Jahre 1905 in kolossal erweiterten Maßstabe angewandt werden. Und trotzdem bedurfte es noch der Lehre der Julitage vom Jahre 1917, um den Hauptkern der Arbeiterklasse Russlands endgültig zu stählen.

Man muss zugeben, dass die deutsche Arbeiterklasse in dieser Hinsicht genügende „Übung“ und genügend viele „Dienstjahre“ besitzt. Die Niederlage von 1918/19 konnte ihr als große Lehre dienen. Man kann sich jetzt wohl kaum vorstellen, dass in Deutschland wiederum ein Sowjetkongress denkbar wäre, der sich selbst auflöst und die Macht einer Nationalversammlung übergibt. Der Kelch der Niederlagen und des sozialdemokratischen Verrats ist bis zur Neige geleert worden.

Aber auch die Lehre des Märzaufstandes vorn Jahre 1921 ist nicht vergeblich gewesen. Die proletarische Avantgarde Deutschlands hat sich an einem drastischen Beispiel mit eigenen Augen und zudem in der schmerzlichen Form einer schweren Niederlage davon überzeugt, dass der Heroismus der Avantgarde nur dann den Sieg davonträgt, wenn diese Avantgarde nicht zu weit vorausgeeilt ist und sich eine ununterbrochene Verbindung mit der schweren Infanterie, mit dem Hauptkern des Proletariats, und sogar mit seinen Nachzüglern gesichert hat. Die Märzfehler des Jahres 1921 können jetzt gleichfalls nicht mehr wiederholt werden.

Die inneren Schwierigkeiten der deutschen Revolution werden unmittelbar nach dem erfolgreichen Umsturz groß, aber nicht unüberwindlich sein. Es ist bereits jetzt unerlässlich, dass die aufsteigende Klasse und jene Partei, der die Zukunft gehört, darüber nachdenken. Aber der ganze Kollektivverstand des revolutionären proletarischen Deutschlands, die gesamte politische Erfahrung der Kommunistischen Partei, der ganze revolutionäre Wille, die ganze revolutionäre Begeisterung und der ganze Enthusiasmus, alle Organisationsarbeiten der proletarischen Avantgarde, alle Geisteskräfte der in den Vordergrund tretenden Heldengeneration der deutschen Proletarierrevolution — alles, alles, worüber die deutsche Arbeiterklasse jetzt nur verfügt, müssen in der gegenwärtigen Epoche lediglich für eine Sache aufgeboten werden: für die Sache der allseitigen Vorkehrungen zum Entscheidungskampf.

Es gilt die Stunde wahrzunehmen! Gegenwärtig besteht die historische Aufgabe darin, an entscheidender Stelle zu siegen, alle Kräfte zu konzentrieren, um die deutsche Bourgeoisie ins Herz zu treffen, so dass sie sich nie wieder erholen kann.

Das ist die Aufgabe aller Aufgaben. Das übrige kommt von selbst.

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