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VII. Das Herannahen der deutschen Revolution und die Taktik der Einheitsfront.

Im Augenblick, da wir diese Zeilen schreiben, hinkt die deutsche Koalitionsregierung auf beiden Füßen, auf dem rechten (das weiße Bayern) wie auch auf dem linken (das rote Sachsen). Das Kräfteverhältnis ist äußerst unsicher. Das Gleichgewicht ist verloren gegangen. Jeden Augenblick kann der erste große Stein herunterrollen, worauf dann mit Geräusch und Getöse die ganze Decke zusammenstürzen wird. Die deutsche Sozialdemokratie ist, soweit es sich um den Zentralapparat der Partei handelt, noch immer ein zuverlässiger Bundesgenosse der konterrevolutionären Bourgeoisie (und wird es offenbar bis ans Ende sein).

Gleichzeitig machen die sich lostrennenden linken Gruppen und Organisationen der Sozialdemokratie die ersten Schritte zur Zusammenarbeit mit den deutschen Kommunisten. Der Sozialdemokratische Parteivorstand spaziert nach wie vor, Arm in Arm mit der reaktionären Bourgeoisie und den weißen Generalen herum, gleichzeitig scheint aber der linke Flügel der Partei einen Fuß in das Lager der proletarischen Revolution zu setzen. Ein rotes Sachsen (genauer gesprochen, ein blassrosarotes Sachsen), ein weißes Bayern und eine gelbe Zentralregierung, das ist die Lage in dem Augenblick, wo wir diese Zeilen schreiben. (Den 22. Oktober 1923.)

Bei einer solchen Lage besteht natürlich der heiße Wunsch, den Vorhang beiseite zu reißen und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Wie werden sich die Ereignisse in der nächsten Zukunft entwickeln? Werden die eine Übergangsform darstellenden „Arbeiterregierungen“ Sachsens und Thüringens eine einigermaßen andauernde Zeitspanne hindurch bestehen? Wie schnell und wie weit wird die Differenzierung in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie gehen?

Es ist gegenwärtig durchaus an der Zeit, die Frage, was die Taktik der Einheitsfront für Deutschland war und fernerhin sein soll, ins Auge zu fassen.

Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die deutsche Kommunistische Partei die Einheitsfronttaktik im Großen und Ganzen mit großem Erfolg angewendet hat. Durch die richtige Anwendung dieser Taktik hat die Kommunistische Partei die Mehrheit der deutschen Arbeiter erobert, — ein Erfolg, von dem vor zwei, drei Jahren auch nur zu träumen schwierig war. — Die Einwendungen der „linken“ Kommunisten, (wir meinen damit gewisse Durchaus-„Theoretiker“; die den linken kommunistischen Organisationen angehörenden Arbeiter haben mit ihrem Klassengefühl das Wesen der Einheitsfronttaktik richtig erfasst) die darauf hinweisen, dass die KPD. sich bei der Durchführung der Einheitsfronttaktik auf die rückständigen Schichten des Proletariats, auf die Masse und nicht auf den Vortrupp eingestellt hat, schießen neben das Ziel. Bestand doch der ganze Sinn der Einheitsfronttaktik gerade darin, die Nachhut an den Vortrupp heranzuziehen, die Durchschnittsarbeiter, die noch der konterrevolutionären Sozialdemokratie Gefolgschaft leisten, den führenden Arbeitern, die schon anfingen, sich den Kommunisten anzuschließen, näher zu bringen. Es ist doch kein Zufall, dass die Einheitsfronttaktik nach der Märzaktion 1921 und nach den italienischen Ereignissen im Herbst 1922 Gestalt und Wesen annahm. Gerade die italienischen und deutschen Ereignisse haben es dem Kerntrupp der Kommunistischen Internationale gezeigt, dass bedeutende Schichten, zuweilen die Mehrheit der Durchschnittsarbeiter, noch der Sozialdemokratie Gefolgschaft leisten.

1918-1919, als die Weltrevolution uns sehr nahe schien, suchten wir eine Annäherung an die Arbeiter über die Köpfe der Führer der Sozialdemokratie hinweg. Die Jahre 1920-1921 haben uns überzeugt, dass die breiten Arbeitermassen ohne die sozialdemokratischen Organisationen und sozialdemokratischen Führer nicht erfasst werden können. Wir gingen daher zur Einheitsfronttaktik über. Je mehr sich die KPD. in der zweiten Hälfte des Jahres 1921, in den Jahren 1922 und 1923 auf den Durchschnittsarbeiter einstellte, je mehr sie der Stimmung der Nachhutschichten des deutschen Proletariats Rechnung trug, um so richtiger verwirklichte sie die Einheitsfronttaktik, um so erfolgreicher bereitete sie vor die Eroberung dieser entscheidenden Schichten des Proletariats für den Kommunismus.

In der heutigen deutschen Situation jedoch tritt die Anwendung der Einheitsfronttaktik zweifellos in eine neue Phase.

Diese Taktik bleibt auch für das heutige Deutschland richtig in dem Sinne, dass wir auch jetzt ein ganzes System von Ergänzungsmaßnahmen anwenden müssen, um jene, noch rückständigen Schichten des Proletariats, die nach wie vor der Sozialdemokratie Gefolgschaft leisten, oder parteilos bleiben, für uns zu gewinnen. Wir sind aber keine Doktrinäre, sondern Dialektiker. Haben sich die Umstände geändert, so müssen wir es auch verstehen, die Anwendung der Einheitsfronttaktik zu ändern. Die Aufgabe, die mittleren und die Nachhutschichten des Proletariats an den Vortrupp heranzuziehen, ist im Großen und Ganzen mit Erfolg vollbracht. Im gegenwärtigen Stadium der deutschen Ereignisse steht schon eine andere Aufgabe im Vordergrund. Wir müssen auf das aufmerksamste darauf achten, dass eine unrichtige Anwendung der Einheitsfronttaktik die Revolution jetzt nicht hindert und die Entschlossenheit des Vortrupps nicht lähmt, der es im nötigen Moment verstehen muss, alles auf eine Karte zu setzen.

Ein alter Genosse schrieb uns aus Hamburg nach dem großen Streik im August 1923 folgendes:

„…diese Woche hat uns gezeigt, dass wir trotz aller Erfolge und Misserfolge der Einheitsfronttaktik an die Massen gegen den Willen der Sozialdemokratie und nicht in einer Einheitsfront mit ihr, herangekommen sind. Der gesamte Gang des deutschen öffentlichen Lebens, die ganze Taktik der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in der Vergangenheit und namentlich in der vergangenen Woche geben keinerlei Grundlage für die Annahme, dass die Taktik unseres Gegners (der Sozialdemokratie) in der Frage der Einheitsfront sich ändern wird. Sie kann sich erst dann ändern, wenn diese als Bremse wird dienen können, und wenn die bankrotten Sozialdemokraten versuchen werden, die Einheitsfront auf ihre eigene Art zu schaffen, um die Bewegung zu hindern oder uns in den Abgrund mitzureißen.“

Diese Folgerung des alten Genossen, der zu keiner der in der KPD kämpfenden Richtungen gehört, scheint uns völlig richtig und höchst zutreffend zu sein. Der Genosse hat durchaus recht, wenn er weiter schreibt: „Die Ereignisse beweisen, dass wir bei aller unserer ablehnenden Haltung der Sozialdemokratie gegenüber ihren Gehalt an Arbeitern und ihre Fähigkeit, die Interessen der Arbeiter zu verteidigen, überschätzt haben. Darin besteht eben unser Fehler. Die Sozialdemokratie ist zu tief in den kleinbürgerlichen Sumpf gesunken. Sie wird lieber in ihm zugrunde gehen, als auch nur den geringsten Versuch machen, aus ihm herauszuklettern. Man muss sehen, mit welchem Hass sie gegen jeden Versuch der Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer elementarsten Tagesbedarf auftritt, um sich zu überzeugen, dass die Sozialdemokraten und ihre Freunde aus den Gewerkschaften für die Arbeiterklasse für immer verloren sind und dass die Arbeiterklasse von ihnen nicht die geringste Hilfe zu erwarten hat. Im Gegenteil, man muss von ihnen alles Schlimme, wie von den erbittertsten Feinden, erwarten. Man muss blind sein, um das nicht zu sehen.“

Die letzte Folgerung müssen sich besonders unsere Genossen aus der KPD. merken. Der Fehler einer Reihe russischer Bolschewiki (darunter auch des Verfassers dieser Zeilen) unmittelbar vor dem Oktoberumsturz 1917, bestand gerade darin, dass wir durch die Macht der Gewohnheit die „Arbeitersubstanz“ der russischen Menschewiki und SR überschätzten und dass wir noch immer hofften, dass diese Parteien in der letzten Minute lieber aus dem kleinbürgerlichen Sumpf herausklettern als in ihm zugrunde gehen würden. Diesen ungeheuer gefährlichen Fehler dürfen unsere Genossen in der KPD keinesfalls wiederholen.

Die KPD muss natürlich alles Mögliche tun, um jene Schichten der sozialdemokratischen Arbeiter, die noch zwischen den Sozialdemokraten und Kommunisten schwanken, für sich zu gewinnen. In diesem Sinne sind Verhandlungen nach Art der unlängst in Hamburg und Berlin stattgefundenen wahrscheinlich notwendig. Die mit solchen Verhandlungen verbundenen Gefahren sind aber gegenwärtig riesengroß. Wir haben in der Berliner „Roten Sturmfahne“ vom 15.-17. Oktober 1923 eine ausführliche Schilderung der letzten „Verhandlungen“ mit den Führern der angeblich linken Berliner sozialdemokratischen Organisation* gelesen. Eine ganze Woche lang wurden diese Verhandlungen vorbereitet, drei Tage lang wurden sie geführt und im Augenblick, wo wir diese Zeilen schreiben, sind sie immer noch nicht beendet.

Ganz entschieden, die deutschen Faschisten könnten sich nichts Besseres wünschen. Zu einer Zeit, wo jede Minute kostbar ist, wo die deutsche Konterrevolution fieberhaft arbeitet, wird im wichtigsten Arbeiterzentrum — in Berlin — lange Tage hindurch die Frage eines Abkommens erörtert, findet ein Feilschen über jedes Komma statt und teure Zeit wird vergeudet. Würde die KPD während solcher Verhandlungen und in der Hoffnung auf ihren Erfolg praktischen Vorbereitungen aller notwendigen Maßnahmen auch nur um ein Haar abschwächen, würde sie überhaupt umfangreiche politische Pläne mit der Hoffnung auf ein Bündnis mit den sozialdemokratischen Führern ausarbeiten, sie würde dadurch ein wahres Verbrechen begehen. Wir sind fest überzeugt, dass die deutsche Kommunistische Partei einen solchen Fehler nie begehen wird. Verhandlungen sind Verhandlungen und Arbeit ist Arbeit.

Der Hamburger Genosse hat Recht. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass ein Moment, in welchem die konterrevolutionären Führer der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften sich formell der Einheitsfront anschließen werden, eintreten wird und dass er nicht mehr fern ist; das wird in dem Augenblick sein, wo eine Rettung der Bourgeoisie mit irgendwelchen anderen Mitteln völlig unmöglich sein wird. Die Kommunisten müssen sich klar die Frage stellen: Einheitsfront zu welchem Zwecke? Zu welchem Zwecke schließen die Führer der konterrevolutionären Sozialdemokratie, die das Proletariat tausendmal verraten haben, jetzt in der zwölften Stunde sich der Einheitsfront an? Die Antwort wird klar sein: sie tun das, um den revolutionären Willen der proletarischen Massen von innen heraus zu lähmen und um zu versuchen, den revolutionären Staat und vielleicht auch die proletarische Regierung selbst in einen Diskussionsklub, in eine Schwatzbude umzuwandeln. Eine solche „Unterstützung“ von Seiten der Herren Sozialdemokraten kann für die proletarische Revolution gefährlicher werden als ein offener Widerstand. Eine solche „Hilfe“ kann für die Revolution direkt verhängnisvoll werden.

Man muss alles Mögliche tun, um den größtmöglichen Teil der Sozialdemokratie und der parteilosen Arbeiter durch eine richtige Anwendung der Einheitsfronttaktik für uns zu gewinnen. Wir haben nach wie vor an der Verwirklichung dieser Aufgabe zu arbeiten. Gleichzeitig ist aber eine andere, noch wichtigere Aufgabe entstanden: immer daran zu denken, dass die entscheidenden Handlungen des proletarischen Vortrupps ganz bestimmt trotz der sozialdemokratischen Führer und gegen sie werden geschehen müssen. Nur im Lichte dieser zweiten Aufgabe kann die erste richtig gelöst werden.

Es gab eine Zeit, wo wir bei der Verwirklichung der Einheitsfront in Deutschland den sozialdemokratischen gewöhnlichen Arbeitern sagen konnten: alles hängt von deiner Partei ab; würde sich deine Sozialdemokratische Partei entschließen, ihre Pflicht gegenüber der Arbeiterklasse ehrlich zu erfüllen, ginge sie zusammen mit uns Kommunisten gegen die Bourgeoisie, so könnten wir auf friedlichem Wege, vielleicht sogar ohne Bürgerkrieg, eine Arbeiterregierung schaffen. 1918/1919 war das tatsächlich in vollem Umfange möglich. Die deutsche Sozialdemokratie hielt zu jener Zeit das Schicksal Deutschlands in ihren Händen.

Gegenwärtig wäre eine solche Behauptung, aufgestellt von uns, eine historische Unwahrheit und würde nur demokratische Illusionen verbreiten. Die deutsche Sozialdemokratie hält schon nicht mehr das Schicksal Deutschlands in ihren Händen. Der friedliche Ausgang hängt nicht mehr von ihr ab. Nur die proletarische Revolution kann den heutigen deutschen Knoten durchhauen. Die deutschen Kommunisten müssen natürlich durch jene Schichten der sozialdemokratischen Arbeiter, die unserem Einfluss zugänglich sind, auf die deutsche Sozialdemokratische Partei einen Druck ausüben, um sie zu zwingen, soweit das überhaupt möglich ist, der Konterrevolution nicht zu helfen. Die deutschen Kommunisten müssen aber die gewöhnlichen sozialdemokratischen Arbeiter vor allem davon überzeugen, dass es gegenwärtig, selbst wenn es gelingen würde, an die Spitze der gesamten Sozialdemokratie „linke“ Führer zu stellen, keinen friedlichen Ausweg gibt und dass nur ein schwerer Kampf Deutschland aus den Krallen der Konterrevolution retten kann.

Um die Frage ganz kurz zu formulieren: die Taktik der Einheitsfront, die im internationalen Maßstabe richtig war und bleibt, ist in Deutschland im Wesentlichen durchgeführt. Der Grundkern der Arbeiterklasse hat sich erhoben, oder ist im Begriffe, sich zu erheben. Die Nachhutschichten des Proletariats nähern sich dem Vortrupp. Die Aufgabe des Vortrupps besteht schon jetzt darin, die herangezogenen Massen in den Kampf zu führen.

Die Taktik der Einheitsfront war und bleibt ein breit angelegtes strategisches Manöver der Avantgarde der Arbeiterklasse. Nur offene Feinde des Proletariats, wie die Herren Sozialdemokraten oder alte Weiber, wie manche Führer der „Unabhängigen“, konnten in einem solchen strategischen Manöver etwas Schlimmes sehen. Die Arbeiterklasse ist nicht gleichartig. Ihr Kulturniveau, ihre politische Schulung ist nicht die gleiche. Das ist das ganze Unglück der unterdrückten Klasse. Der Vortrupp dieser Klasse hat sich auf eine hohe Stufe erhoben, indem er sich bewusst zu einer Kommunistischen Partei organisiert hat. Er hat daher nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, alles mögliche zu tun, um die Rückständigen heranzuziehen, und wenn er zuweilen, im Interesse der Erreichung dieses Zieles, in der Sprache dieser Rückständigen sprechen muss, so nur aus pädagogischen Gründen. Um einem Analphabeten das Lesen beizubringen, muss man es ihm zuweilen silbenweise beibringen. Wird aber der Analphabet das Lesen erlernt haben, so werden wir bestrebt sein, ihm das Kommunistische Manifest und nicht die Werke Scheidemanns und Vanderveldes beizubringen.

Die Taktik der Einheitsfront ist richtig. Es ist bloß notwendig, dass im heutigen kochenden und brodelnden Deutschland, wo der Vortrupp heute oder morgen sich in den entscheidenden Kampf stürzen und die schwere proletarische Infanterie hinter sich führen wird, — dass in diesem Deutschland die Taktik der Einheitsfront nicht in ihr direktes Gegenteil sich verwandelt.

* Allerdings hatte zu dieser Zeit die Neuwahl der Berliner Leitung der SPD noch nicht stattgefunden.

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