Vorwort

Vorwort zur deutschen Ausgabe.

In dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, macht die revolutionäre Bewegung in Deutschland neue Schwierigkeiten durch. Die Herren Sozialdemokraten fühlen sich als Sieger. Im revolutionären Lager herrscht hier und da Verwirrung.

Aber es wäre die größte Charakterlosigkeit, anlässlich der zeitweiligen Misserfolge in Verzweiflung zu geraten. Der Weg der deutschen proletarischen Revolution ist wahrhaftig nicht mit Rosen bestreut. Dem deutschen Proletariat steht ein äußerst kluger Gegner in Gestalt der deutschen Bourgeoisie gegenüber, die vortrefflich organisiert ist und mit größter Geschicklichkeit manövriert. Ein noch gefährlicherer Gegner ist für das Proletariat die deutsche Sozialdemokratie, die, man muss ihr in dieser Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, eine unerhörte Elastizität und Anpassungsfähigkeit an den Tag legt, indem sie bald ihren rechten, bald ihren „linken“ bald ihr „Zentrum“ vorschiebt, heute in die bürgerliche Regierung eintritt, morgen aus derselben wieder austritt und die Komödie der „Opposition“ spielt, indem sie heute fast „revolutionäre“ Resolutionen fasst, morgen als die zuverlässigste Truppe der Konterrevolution auftritt. Es ist nicht leicht, gegen einen solchen Gegner zu kämpfen. Einzelne Niederlagen sind unvermeidlich, aber gerade durch diese wird das deutsche Proletariat gestählt werden und seinen endgültigen Sieg vorbereiten.

Aus Hamburg, wo die Arbeiter mit prachtvollem Heroismus kämpften, wird uns mitgeteilt: „Die Polizei wütet natürlich unumschränkt, aber weder die Organisation, noch die Arbeiterklasse hat das Gefühl, dass sie geschlagen wäre.“ Dessen ist sich auch die Bourgeoisie bewusst. Die heutige Nummer der Zeitung des Herrn Cuno bringt einen Artikel unter der charakteristischen Überschrift: „Nach dem Siege schnalle man den Gürtel fester!“

Gewiss. Noch einige solche „Siege“, und die Arbeiterklasse wird die Bourgeoisie vollständig schlagen.

Die Losung des „Festerschnallens des Gürtels“ wird auch für uns die richtige sein.

Die objektiven Ursachen, die die revolutionäre Krise in Deutschland hervorriefen, wirken weiter. Weder Kahr, noch General Müller, weder Hitler, noch sogar Stresemann „selbst“ werden diese objektiven Ursachen beseitigen können. Die ökonomische Krise spitzt sich von Tag zu Tag mehr zu. Die Bourgeoisie kann nicht regieren. Die inneren Gegensätze spitzen sich ebenfalls zu. Die internationale Lage des bürgerlichen Deutschland aber wird nicht nur nicht besser, sondern verschlimmert sich mit großer Geschwindigkeit.

Man schnalle den Gürtel fester,“ d. h. Arbeiter, bewaffne dich und verbessere deine Organisation. Das ist die Parole unserer Tage.

Wenn wir in der kürzesten Weise die Aufgaben formulieren sollten, die sich vor dem deutschen Proletariat in der gegenwärtigen Epoche erheben, so würden wir sagen, dass dieser Aufgaben zwei sind: 1. den Einfluss der „linken“ Sozialdemokratie zu liquidieren und 2. „die Revolution zu organisieren“.

Wir wollen uns deutlicher ausdrücken.

Einige Genossen sind der Ansicht, dass die Taktik der KPD. in Sachsen ein Fehler war. „Sachsen ist ein großer und vielleicht verhängnisvoller Fehler“, schreibt uns einer von den alten Genossen aus Deutschland.

Ist diese Diagnose richtig? Nein.

Jene, die die ganze Lage in Deutschland ausschließlich durch die sächsische Brille betrachteten, verfielen selbstverständlich in Provinzialismus und entstellten die Perspektive. Immerhin aber war das sächsische Experiment kein zufälliges, und es wird für die deutsche Revolution nicht verloren sein. Die Aufgabe aller Aufgaben in Deutschland läuft letzten Endes darauf hinaus, jene Arbeiterschichten — die Parteilosen mit einbegriffen — auf unsere Seite zu bringen, die noch den „linken“ Sozialdemokraten folgen. Gegenwärtig genießt die so genannte „linke“ Sozialdemokratie zweifellos noch einen bedeutenden Einfluss unter den deutschen Arbeitern. Die heutige „Linke“ spielt etwa dieselbe Rolle, wie sie in den Jahren 1919 /20 die Unabhängigen spielten. Wie an einen rettenden Anker klammern sich an die heutigen „linken“ Sozialdemokraten alle jene Schichten des Proletariats, die immer noch den blutigen Bürgerkrieg vermeiden zu können hoffen. Und diese Arbeiterschichten würden uns Kommunisten die Verantwortung zuschieben, wenn wir uns weigern würden, zusammen mit den „linken“ Sozialdemokraten das Land auf friedlichem Wege aus der Krise herauszuführen. Die Bedeutung des sächsischen Versuches besteht ja gerade darin, dass die erwähnten Arbeiterschichten an seinem Beispiel die Charakterlosigkeit und konterrevolutionäre Schäbigkeit dieser „linken“ sozialdemokratischen Arbeiterführer werden erkennen müssen.

Den Illusionen hinsichtlich der Möglichkeit eines langen und dauerhaften Bündnisses mit den „linken“ Sozialdemokraten muss ein Ende gemacht werden. Eine solche „linke“ Gattung gibt es in Deutschland „unter den Führern“ nicht. Es gibt Sozialdemokraten, die unter bestimmten Umständen zu parlamentarischen Kombinationen mit den Kommunisten bereit sind, aber es gibt keine sozialdemokratischen Führer, die zu einem entschiedenen Kampf gegen die Bourgeoisie bereit wären.

Wir wissen nicht und niemand kann wissen, wie lange das Intermezzo dauern wird, das durch das gegenwärtige Kräfteverhältnis geschaffen wird, aber der Schwerpunkt der ganzen politischen Arbeit der KPD beruht, solange die heutige Lage fortdauert, darin, möglichst schnell und möglichst radikal den Einfluss der „linken“ Sozialdemokratie zu liquidieren. Das ist gegenwärtig eine der wichtigsten, vielleicht die wichtigste politische Voraussetzung unseres Sieges.

Die andere Aufgabe besteht darin, die Revolution zu „organisieren“

Wir werden diesen Ausdruck sofort näher erläutern.

Schon am Vorabend der Revolution von 1905, als eben erst die Streitigkeiten zwischen den Bolschewiki und Menschewiki in Russland begannen; stellten beide Fraktionen zwei kurze, lapidare Formeln auf, die die Taktik jeder dieser Fraktionen am besten charakterisierten. Die revolutionärsten der damaligen Menschewiki (Martow) stellten die Formel auf: „Die Revolution entfesseln“. Die Bolschewiki, mit Lenin an Spitze, stellten dieser Formel die Formel: „Die Revolution organisieren“ entgegen. Und je mehr sich der Aufstand des Jahres 1905 näherte, desto zuversichtlicher ertönte diese Forderung der Bolschewiki - „die Revolution organisieren“. Und im Jahre 1917 gedachten wir dieser Formel „die Revolution organisieren“ um so häufiger, je mehr wir uns dem Oktober näherten.

Es mangelte selbstverständlich nicht an gegen uns gerichteten Beschuldigungen des Blanquismus, Putschismus usw. Aber wir überließen es den Menschewiki, zu sagen, was ihnen beliebte, während wir selbst das taten, was wir für notwendig hielten.

Wenn ihr nicht müßig von der Revolution schwatzt, wenn eure Worte von der „Entfesselung“ der Revolution nicht nur Worte sind, so müsst ihr mit uns zusammen gerade zur Organisierung der Revolution übergehen, sagten wir zu den Menschewiki.

Revolution und Aufstand sind keine Synonyme. Der Aufstand ist nur ein Teil der Revolution, jedoch nicht unwichtiger, ein für sie entscheidender Teil. Wer den Sieg der Revolution will, muss den Sieg des Aufstandes wollen. Wer aber diesen letzteren will, der muss es verstehen, diesen Aufstand zu organisieren.

Selbstverständlich kann keinerlei Organisation objektive Kräfte ersetzen, die für die Revolution arbeiten, wenn nicht die ganze Situation eine revolutionäre ist. Wenn das ganze Klassenverhältnis nicht Unvermeidlichkeit zur revolutionären Krise führt, wird keine Organisation von Revolutionären die Revolution „machen“ können. Wenn aber alle objektiven Voraussetzungen der Revolution vorhanden sind, wenn das gegenseitige Verhältnis der Klassen, wenn die ökonomische Lage innerhalb des Landes, wenn die anderen wichtigen Faktoren der inneren und äußeren Politik für die Revolution arbeiten, so ist die organisatorische Vorbereitung des Aufstandes von entscheidender Bedeutung.

Die deutsche Revolution ist in dieser Hinsicht in die entscheidende Phase eingetreten. Die Lichter sind niedergebrannt, und die Blumen sind verwelkt. Alle Illusionen sind erbarmungslos zerstört. Die Frage des Sieges des Proletariats ist zu einer Frage der Bewaffnung und Organisation geworden. Unter den Millionen-Massen der Arbeiter ist das brennende Bedürfnis nach Bewaffnung erwacht. Alle Mittelwege wurden bereits gegangen, alle Kompromisse erprobt, die ganze weiße Magie der rechten und „linken“ Sozialdemokraten, alle parlamentarischen Zauberkünste ausprobiert, und das Resultat ist: Hungersnot, Ströme von Blut und Orgien des Faschismus. Die Revolution organisieren — das ist es, worauf die KPD die Aufmerksamkeit der Avantgarde der Arbeiterklasse lenken muss, das ist es, wofür sie alle die Zeit verwenden muss, die ihr noch bis zu den entscheidenden Schlachten zur Verfügung bleibt.

Die Losung „Generalstreik“ ist ausgegeben worden. Deutschland geht diesem Generalstreik mit Unvermeidlichkeit entgegen.

Die Losung der Einheit von unten herauf ‚ d. h. der Einheit aller Arbeiter gegen die konterrevolutionären Führer, ist ausgegeben worden. Deutschland geht mit Unvermeidlichkeit dieser Einheit von unten herauf entgegen.

Selbstverständlich werden gewisse Teile der Arbeiter trotzdem neutral oder bis zum letzten Augenblick schwankend bleiben. Die Kräftekonstellation wird im entscheidenden Augenblick wahrscheinlich folgende sein: die kommunistische Avantgarde reißt die Mehrheit oder fast die Mehrheit der entscheidenden Arbeiterschichten mit sich fort. Ein Teil der übrigen Arbeiter wahrt wohlwollende Neutralität in Bezug auf die Kommunisten, der andere Teil schwankt. Die rechten Führer der Sozialdemokratie stehen zusammen mit der Bourgeoisie und den weißen Generalen auf einer Seite der Barrikade, die „linken“ Führer pendeln zwischen den zwei Feuerlinien hin und her.

Bereits der weiße Umsturz in Bayern bedeutete, dass die Initiative zeitweilig in die Hände des Gegners übergeht. Das bedeutet ja aber, dass unter der gegenwärtigen Lage der Dinge in Deutschland der Gegner uns in die Hände arbeiten wird. Der General Müller wird vielleicht jenen Teil der sächsischen Arbeiter, der noch dem „linken“ Sozialdemokraten Zeigner folgte, eher von den friedlichen Illusionen heilen.

Die Ereignisse jagen einander mit schwindelerregender Schnelligkeit. Die Aufgaben, die sich auf die Schultern der Avantgarde des deutschen Proletariats und seiner kommunistischen Partei legen, sind wahrhaft riesengroß. Es hat einzelne Niederlagen gegeben und wird sie noch geben. Vorläufig haben unsere Arbeiter noch keine Kämpfe gegen die Reichswehr zu bestehen gehabt. Aber unsere Hauptstreitkräfte haben sich noch nicht an den Kämpfen beteiligt. Die Hauptarmeen des Proletariats sind noch nicht in den Kampf geführt worden. Das Schlimmste, was wir tun könnten, wäre, dem Nörgeln und inneren Zwistigkeiten Raum zu geben. Noch niemals waren diese Streitigkeiten so schädlich und verbrecherisch wie gegenwärtig. Fehler sind unvermeidlich. Wenn wir aber keine sehr großen Fehler begehen werden, so wird sich das Kräfteverhältnis von Tag zu Tag zu unseren Gunsten verändern.

Die Hauptperspektive, die in unserer, in der zweiten Oktoberhälfte geschriebenen Broschüre skizziert ist, behält, hoffen wir, ihre Richtigkeit.

Unbeugsamer Wille zum Kampf, Unerschütterlichkeit des Entschlusses, Festigkeit der Hand und Klarheit des Blickes — das ist es, was die Avantgarde des deutschen Proletariats im gegenwärtigen Augenblick braucht.

Die „linke“ Sozialdemokratie wird bald politisch geschlagen sein. Die KPD wird mit Unterstützung aller lebendigen Kräfte des deutschen Proletariats lernen, die Revolution zu „organisieren“. Die Stunde wird schlagen, und es werden Ereignisse eintreten, die historisch unvermeidlich sind. Es gibt keine Macht in der Welt, die das Schicksal der deutschen Bourgeoisie von ihr abwenden könnte.

Niemand wird unseren Händen den Sieg entreißen …

Moskau, den 2. November 1923.

G. Sinowjew.

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