G. Sinowjew 19150201 9. Januar 1905 – 9. Januar 1915

G. Sinowjew: 9. Januar 1905 – 9. Januar 1915

[„Sozialdemokrat", Nr. 37. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 41 f.]

Freudelos beging das Weltproletariat und in erster Reihe wir, Proletarier Russlands, den ersten zehnjährigen Jahrestag des 9. Januar. 10 Jahre – voller Schicksalswendungen, Siege und Niederlagen, kurzen Triumphes und langer, qualvoll langer Verfolgungen. Wer hätte 1905 geglaubt, dass noch 10 Jahre vergehen werden und unser Land noch immer von der jahrhundertelangen Schmach des Zarismus nicht befreit sein wird, dass der 9. Januar 1915 die gewählten Deputierten der russischen Arbeiterklasse im Gefängnisse unter der Drohung der Katorga, unsere Partei ausgeblutet und ganz Russland unter den Füßen Nikolai Romanows finden werde? – Und dennoch kam es so … Der 9. Januar 1915 vergeht unter den Zeichen des Verfalles nicht nur in Russland, nein, wir erleben die Bacchanalen der Weltreaktion, zügelloses Feiern der konterrevolutionären, der dem Proletariat und der Demokratie feindlichen Kräfte in ganz Europa.

Es besteht ein gewisser Zug der Ähnlichkeit zwischen dem, was das russische Proletariat am 9. Januar 1905 erlebt hat und dem, was das europäische Proletariat jetzt nach 10 Jahren erlebt. In der Bewegung des 9. Januar 1905 war potentiell der Grundstein gelegt zu einem Protest von ungeheurer Stärke gegen das alte Regime, gegen die Zarenherrschaft, gegen unser ganzes System der Armut und Sklaverei. Aber in dieser Bewegung steckten auch Elemente der Schwäche, Überbleibsel des Althergebrachten, Vertrauen zum Zaren und den finstersten Kräften der Geistlichkeit. Wie immer es auch war, die Massen der Petersburger Arbeiter marschierten am 9. Januar 1905 nicht hinter der roten Fahne, sondern – mit Heiligenbildern und Zarenportraits, sie gingen zum Zaren, zu ihrem Herrn, um Gnade zu erflehen.

Hunderttausende Petersburger Arbeiter wurden am 9. Januar 1905 in gewissem Sinne nicht unter ihrer Flagge mobilisiert, aber unter einer fremden, uns feindlichen. Gerade so findet der 9. Januar 1915 Millionen europäischer Arbeiter unter fremden, uns feindlichen Bannern mobilisiert. Der ganze mächtige Apparat der europäischen Bourgeoisie, der ganze Mechanismus der Staatsgewalt, ihre hundertstimmige Presse, die Schule, die Kirchenkanzel, alles mögliche ist in Bewegung gesetzt worden, um die Arbeiter zu betrügen, um sie zu überzeugen, dass die Losung: „Vaterlandsverteidigung", in der Epoche des imperialistischen Krieges eben unsere proletarische Losung sei …

Welch Entsetzen! Welch ungeheurer Rückfall! …

Und doch … und sie bewegt sich doch! Erinnert Ihr Euch noch an das donnernde Erwachen der russischen Arbeiterklasse, der ganzen russischen Demokratie nach dem Aderlass vom 9. Januar 1905? Solch donnerndes Erwachen werden wir nach dem Kriege 1914/1915 erleben, nach jenem Weltgemetzel, das die kilometerlangen Felder der gegenwärtigen Kriegsfronten mit Menschenblut tränkt und Hunderte von Flüssen in Frankreich und Russisch-Polen, in Serbien und der Türkei rot färbt.

Die Stunde der Vergeltung wird kommen. Die Morgenröte des Bürgerkrieges wird aufgehen. Der Tag des wirklich letzten und entscheidenden Kampfes wird nahen. Und einstweilen möge es finster ringsum sein, möge uns von der unerwartetsten Seite Feigheit und Verrat auflauern. Wir vertrauen auf unser altes Banner. Und wir begrüßen heiß die ersten schwachen Kampfesschimmer nach entladener Katastrophe. Wir strecken brüderlich unsere Hand entgegen den ersten edlen Mutigen und Vorkämpfern unserer großen Sache. Je finsterer die Nacht, desto heller die Sterne …

1. Februar 1915.

G. Sinowjew.

Kommentare