G. Sinowjew 19161000 Der »Defätismus« früher und jetzt

G. Sinowjew: Der »Defätismus« früher und jetzt.

[Sammelbuch des „Sozialdemokrat" Nr. 1. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 427-442]

Die Folgen dieses (russisch-japanischen) Krieges werden endlich die innere Krise lösen helfen. Es ist schwer zu sagen, welcher Ausgang des Krieges für uns wünschenswerter ist.

1904

B N. Tschitscherin.

Im Falle eines Sieges der zaristischen Regierung über Japan wird der Besiegte vor allem das russische Volk sein.

Iskra" Nr. 74 1904.

G. Plechanow.

Wenn der Weg zum Siege (über Deutschland) über die Revolution führen würde, würde ich auf den Sieg verzichten.

Staatsduma, 1916.

P. N. Miljukow.

Finis Galliae … Finis Poloniae! … Finis Rutheniae! … Das Ende Russlands! … Ein deutscher Sieg wird unsere ökonomische Entwicklung hemmen und die Europäisierung Russlands aufheben.

Sammelbuch „ Der Krieg" (russisch) 1916.

G. Plechanow.

Zehn Jahre liegen zwischen dem Beginn des jetzigen Krieges und dem Anfang des russisch-japanischen Krieges. Im ganzen zehn Jahre! Wie wenig Zeit, wie viel Leid! …

Die gewaltige politische Evolution, die in diesen zehn Jahren von bestimmten Gesellschaftsschichten Russlands durchgemacht worden ist, wird besonders anschaulich, wenn man sie unter dem Gesichtswinkel des Verhältnisses dieser Schichten zum „Defätismus" jetzt und im Jahre 1906 betrachtet!

Der „Defätismus" – avant le mot – existierte in Russland als breite gesellschaftliche Strömung während der ganzen Zeit des russisch-japanischen Krieges. Das ganze sozialistische Lager, alle aktiveren Schichten der bürgerlichen Demokratie und sogar ein beträchtlicher Teil der liberalen Gesellschaft wünschten damals mehr oder weniger bestimmt eine Niederlage des zaristischen Russlands herbei. Diese Strömung war so tiefgehend, die „defätistischen" Stimmungen waren so verbreitet, dass sogar die patriotischen Elemente es nicht immer wagten, allzu demonstrativ gegen die „Defätisten" zu hetzen. Die Funktion, die jetzt Plechanow und Konsorten obliegt, erfüllten damals die Burenin, Gringmut und Tichomirow.1

In den Jahren 1904/05 war die russische Sozialdemokratie bereits in zwei Lager gespalten. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bolschewiki und Menschewiki ergaben sich auch teilweise im Zusammenhang mit der Stellungnahme zum Kriege, wie z. B. in der Beurteilung der Parole: „Frieden um jeden Preis". Aber in der Frage des „Defätismus" waren die Bolschewiki und Menschewiki einig. Sowohl die einen als die anderen wünschten ganz bestimmt eine Niederlage der Regierung herbei. In dem Artikel „Die Einnahme Port Arthurs" schrieb das damalige Zentralorgan der Bolschewiki („Wperjod"):

Die Sache der russischen Freiheit und des Kampfes des russischen (und internationalen) Proletariats um den Sozialismus hängt in hohem Grade von den militärischen Niederlagen des Absolutismus ab. Diese Sache hat durch den militärischen Zusammenbruch viel gewonnen … Nicht das russische Volk, sondern der Absolutismus hat eine schmähliche Niederlage erlitten. Das russische Volk hat durch die Niederlage des Absolutismus gewonnen. Die Übergabe Port Arthurs ist der Auftakt zu der Kapitulation des Zarismus."

Und etwas früher schrieb im Zentralorgan der Menschewiki (in der neuen „Iskra") kein anderer, als G. Plechanow folgende Zeilen:

Ich sagte (auf dem internationalen sozialistischen Kongress in Amsterdam), dass im Falle eines Sieges der zaristischen Regierung über Japan der Besiegte vor allem kein anderer, als das russische Volk selbst sein würde … Die siegreiche zaristische Regierung könnte ihren Siegestaumel benutzen, um noch straffer die Ketten anzuspannen, mit denen sie das russische Volk fesselt. Ich erinnerte den Kongress an jene leider unbestreitbare historische Wahrheit, dass die auswärtige Politik der zaristischen Regierung von jeher eine Politik der Räuberei und des Überfalls war; dass diese Regierung von jeher bestrebt war, sich jene der uns umgebenden Völker zu unterwerfen, die nicht stark genug waren, um ihr genügend Widerstand zu leisten, und dass dadurch das eigentlich russische Land von einem ganzen Ring aus besiegten Nationalitäten umgeben wurde, die ihm in Form des Hasses das wiedergaben, was sie von ihm in Gestalt von Unterdrückung empfingen. Und ich fügte hinzu, dass unter dieser Politik die russische Bevölkerung selbst nicht weniger oder gar noch mehr litt, als die andern, denn kein Volk kann frei sein, wenn es als Werkzeug der Unterdrückung seiner Nachbarn dient … Und als ich all das sagte, war ich mir dessen bewusst, dass ich die Gedanken und Gefühle der überwiegenden Masse der russischen Bevölkerung zum Ausdruck brachte. Noch niemals ist die Stimme der russischen Sozialdemokratie in diesem Grade die Stimme der russischen Bevölkerung gewesen" („In Amsterdam", in „Iskra", Nr. 74, 20. September 1904). Klarer kann man sich nicht ausdrücken. Während des russisch-japanischen Krieges tritt Plechanow im Organ der Menschewiki und mit dem völligen Einverständnis der MenschewikiA) klar und deutlich als „Defätist" reinster Marke auf. Keine einzige Stimme des Protestes ertönt dagegen, weder auf dem internationalen Kongress in Amsterdam, noch von Seiten irgendeines russischen Sozialisten oder sogar nur Demokraten! Gegen Plechanow erscheint ein Artikel nur in den … „Moskowskija Wjedomosti", die ihm eine „schmähliche Handlung" vorwerfen.

Die Partei der Arbeiterklasse nahm vollkommen klar und eindeutig eine „defätistische" Haltung ein. Das war die Haltung der russischen Revolutionäre überhaupt und darunter auch der bekanntesten Führer der Partei der Sozialrevolutionäre. Über die damalige Stimmung in diesen letzteren Kreisen kann man z. B. nach den Memoiren des verstorbenen G. A. Gerschuni urteilen. Gerschuni saß damals in der Peter-Pauls-Festung. Vom russisch-japanischen Kriege und den Niederlagen der zaristischen Heere erfuhr er zuerst durch seinen Verteidiger Karabtschewski. Dieser bedeutendste russische Terrorist beschreibt sein Rendezvous mit dem bekannten russischen Rechtsanwalt, einem typischen Repräsentanten der damaligen oppositionellen „Gesellschaft" folgendermaßen:

„… Voller Ungeduld wartet man, dass diese ganze Komödie zu Ende ist, und man unter vier Augen mit dem Verteidiger bleibt, dem einzigen lebendigen Menschen aus nicht feindlichem Lager, der das Recht dazu hat.

Nach langen qualvollen Zeremonien wird die Tür der Zelle zugeschlagen, und ich bleibe mit ihm allein, unter vier Augen!

- Ist noch Plehwe in der Regierung? Lebt er?

- Ja. Aber es gibt große Neuigkeiten: wissen Sie, dass der Krieg erklärt ist?

Krieg?! Mit wem?

- Mit Japan. Unsere Kreuzer fliegen in die Luft, wir haben schon Niederlagen! …

- Also eine zweite Krimkampagne? Port-Arthur-Sebastopol? Ex Oriente lux?

- Ungefähr.

- Und wie ist das Land? Von „patriotischem" Taumel erfasst? Lechzt es danach, sich mit dem „Führer auf dem Throne" zu verbünden?

- Ja, natürlich. Aber alles ist bedeutend übertrieben und gemacht. Der Krieg ist nicht populär. Niemand war auf ihn vorbereitet und niemand will ihn jetzt haben."

Merkwürdig", fügt G. A. Gerschuni hinzu, „hier in der halbdunklen Zelle der Peter-Pauls-Festung wurde mir alles auf einmal so klar … Man fühlte, dass etwas unendlich Hartes, unendlich Schweres, unendlich Trauriges im Anzug ist, das für unser Land die Rolle jenes Donnerschlages spielen wird, der die Schlafenden wecken und den Vorhang zerreißen und einäschern wird, der vor der Majorität des Landes das wahre Wesen des absolutistischen Regimes verdeckt" …B

Im Jahre 1904 wurde der „Defätismus" Plechanows auf dem internationalen Kongress in Amsterdam mit stürmischem Applaus begrüßt. Im Jahre 1914 verfasst der Präsident der Internationale, Vandervelde, im Empfangszimmer des belgischen Kriegsministers, gemeinsam mit dem russischen Botschafter Fürst Kudaschew das „Manifest" an die russischen Sozialisten, in dem sie aufgerufen werden, den gerechten Krieg, der vom russischen Zaren geführt werde, zu unterstützen!

Im Jahre 1904 vernimmt in der halbdunklen Zelle der Peter-Pauls-Festung ein russischer Revolutionär und Terrorist, bebend vor Aufregung, aus dem Munde eines Repräsentanten der russischen liberalen Gesellschaft die Kunde von den defätistischen Strömungen in Russland. Im Jahre 1915 wird das „patriotische" Manifest Plechanows von den Moskauer Scharfmachern abgedruckt. Und es wäre nicht verwunderlich, wenn die zaristischen Kerkermeister dieses Manifest zum Hohn unter den russischen Revolutionären verteilen würden, die jetzt die Peter-Pauls- und andere Festungen füllen!

Erst zehn Jahre sind seitdem verstrichen! … Wie weit sind wir seitdem … zurückgegangen …

Als Port-Arthur fiel, befand sich G. A. Gerschuni bereits in der Schlüsselburg zusammen mit den übrigen Schlüsselburger Häftlingen. Durch eine „Kriegslist" gelang es ihnen, von einem Schlüsselburger Gendarmen herauszubekommen, dass Port Arthur gefallen war. „Wir zitterten am ganzen Leibe: Port Arthur gefallen! … Port Arthur gefallen, so wird auch der Absolutismus fallen, – das war das Leitmotiv unserer Gedanken"C) – das war die Stimmung der Revolutionäre in der Schlüsselburg.

Und genau so war die Stimmung der russischen Revolutionäre, die sich auf freiem Fuße befanden. Man erinnere sich z. B. an den Roman von W. Ropschin, Als wär' es nie gewesen", der soviel Aufsehen erregte. 2) In diesem Roman bemüht sich der Verfasser, das, was war, darzustellen. Und was stellt sich dabei heraus? Das ganze revolutionäre Milieu, in dem sich der Verfasser während des russisch-japanischen Krieges bewegte, war entschieden „defätistisch" gestimmt. Nur der Hauptheld des Romans – der Terrorist Andrej, der Prototyp des „gescheit gewordenen" Ropschin – jenes Ropschin, der jetzt die Stütze des Blättchens „Birschewija Wjedomosti" darstellt, nur er allein, der damals schon entmagnetisierte Revolutionär, leidet unter dem Bewusstsein, dass sein Beruf des Revolutionärs ihn gewissermaßen verpflichte, einer Niederlage „unserer" Armeen herbeizuwünschen. Der Held des Herrn Ropschin verlässt Russland und begibt sich ins Ausland, an die „terroristische Arbeit", da liest er in der Zeitung die Meldung von dem Debakel der russischen Flotte bei Zussima. Er fühlt, dass er, als Revolutionär, sich über dieses Debakel freuen müsste, genau so, wie während des ganzen Krieges sich alle jene Revolutionäre freuten, denen er begegnet war. Aber als „sensitiver" Mensch, als Doppelgänger Ropschins, des Verfassers des „Fahlen Rosses", kann er sich damit nicht abfinden. Da beginnt sein tragischer Konflikt mit sich selber, ein Konflikt, der später seine Lösung darin findet, dass er zu den … „Birschewija" geht. An und für sich interessiert uns jetzt dieser Konflikt nicht. Ropschin hat hier für uns nur ein Interesse als Zeuge, der in belletristischer Form die Tatsache des epidemischen „Defätismus" unter den russischen revolutionären Intellektuellen im Jahre des russisch-japanischen Krieges festlegte.

Doch nicht allein die Mitglieder revolutionärer Parteien wünschten damals eine Niederlage „Russlands" herbei, nein, die ganze städtische Demokratie überhaupt wünschte es. Wer diese Epoche nicht selbst direkt in Russland durchgemacht hat, der mag ein solches „Zeitdokument" kennen lernen, wie die „Memoiren über den russisch-japanischen Krieg" von W. Weressajew. Der Verfasser dieses Werkes gibt nach der ihm eigentümlichen Gewohnheit eine photographisch genaue Kopie dessen, was er selbst gesehen hatte. Als Resultat erhalten wir das Bild eines „Defätismus", der in allen Schichten der demokratischen Gesellschaft außerordentlich verbreitet war. Das ganze sogenannte „dritte Element" – Ärzte, Statistiker, Lehrer, Studenten, alle, die einigermaßen oppositionell gestimmt waren, alle, die an dem weiteren Gedeihen der Romanowschen Monarchie nicht unmittelbar interessiert waren – sie alle sind gegen den Krieg und sehnen sich nach einer Niederlage der Zarenheere.

Aber nicht die Demokratie allein! Wir sagten bereits, dass ein gut Teil der Liberalen im russisch-japanischen Kriege „defätistisch" war. Das erscheint jetzt geradezu unwahrscheinlich. Und dennoch war es so. Ganz zu Beginn des Krieges hat sich ein Teil der Liberalen in „Patriotismus" gestürzt. Aber schon sehr bald stellte sich ein anderer Teil der Liberalen dagegen. In dem Brief „Einige Worte über die Stellungnahme der russischen Gesellschaft zum Kriege", den wir in Struves Zeitschrift „Oswoboschdenje" finden, meldet Herr Semetz (wenn wir uns nicht irren, war dies ein Pseudonym für Koljubakin) aus Russland, dass ein Teil der gemäßigten Politiker gegen den „Patriotismus" ankämpfe. Aus Anlass der Verfügungen einiger Landmannschaftsversammlungen (z. B. im Gouvernement Charkow) betreffs die freiwilligen Flottenspenden schreibt Herr Semetz, dass derartige Maßnahmen in der Gesellschaft Entrüstung erzeugen. „Es erscheint uns unbegreiflich," schreibt Herr Semetz, „wie die Landmannschafts-Vertreter ein Recht haben, einen Tribut zugunsten der Flotte zu erheben … In der Form dieser Spenden selber (durch besondere Deputationen an den Zaren) war nicht wenig Mache und Byzantinismus … Wir haben bereits in dieser Zeitschrift auf die seltsame Tatsache hingewiesen, dass an der Deputation der Petersburger Landmannschaft solche Männer teilnahmen, wie Stassjulewitsch und Arsenjew."

Fast in allen höheren Lehranstalten, diesem Gradmesser der öffentlichen Meinung", fährt Herr Semetz in seinem Briefe fort, „protestieren die meisten Studenten gegen die untertänigen Manifestationen und Kundgebungen für den Krieg." Zur Charakterisierung dessen, wie weit die ablehnende Haltung gegenüber dem Kriege selbst unter den gemäßigten Schichten der gebildeten Gesellschaft gehe, meldet Herr Semetz, dass B. N. Tschitscherin, „dem ja niemand Antipatriotismus oder Staatsfeindlichkeit vorwerfen kann", „einige Tage vor seinem Tode geäußert hat, dass die Folgen dieses Krieges vielleicht endlich zur Lösung der inneren Krise beitragen werden, und dass es schwer zu sagen ist, welcher Ausgang des Krieges dazu erwünscht wäre." Herr Semetz hebt speziell das Wichtige und Symptomatische dieser Worte hervor. Und Herr P. Struve fügt seinerseits hinzu: „Wir halten es für nötig zu betonen, dass diese Meldung über B. N. Tschitscherins Auffassung des Krieges der glaubwürdigsten Quelle entspringt; sie harmoniert übrigens vollkommen mit der Meinung, die der verstorbene Gelehrte in seinem bekannten Buche „Russland am Vorabend des XX. Jahrhunderts", das in Berlin erschienen ist, geäußert hat." („Oswoboschdenje", Nr. 21, 1904, S. 369.)

Es sei schwer zu sagen, welcher Ausgang des Krieges wünschenswert wäre! Ist es denn nicht derselbe „Defätismus", nur in ausweichender Form? Und wer äußert diese Ansicht im Jahre 1904? Ein Mann von den gemäßigtsten Ansichten, der nicht einmal Kadett sein würde!

Der Redakteur des „Oswoboschdenje" selbst, P. Struve, hat einen Platz auf dem rechten Flügel seiner Gruppe eingenommen. In dem Brief an die Studenten vom 11./24. Februar 1904 schreibt Herr Struve: „Wie seltsam, dass Russen bis jetzt noch nicht „Es lebe die Armee" zu rufen verstehen und wagen. Die Armee ist ja das bewaffnete Volk … Die Armee … das ist nicht Herr Alexejew … Die Armee, das ist der russische Soldat."D)

Aber die Losung Eurer patriotischen Manifestationen", fahrt Struve fort, „darf nicht allein ,Es lebe die Armee!' sein. Ihr müsst diese Losung in einem Atemzug mit anderen, weit wertvolleren und weit patriotischeren Losungen aufstellen (!): Es lebe Russland, es lebe die Freiheit, es lebe das freie Russland!"

Ganz zu Beginn des Krieges proklamiert Struve eine Art „Burgfrieden". „In diesem schwierigen Moment", schreibt er, „sind schärfere und kriegerische Losungen unangebracht und daher nicht wünschenswert, denn jetzt heißt es, auf dem gemeinsamen Boden festen Fuß fassen, dem Boden, der für alle russischen Menschen durch das nationale Unglück, den Krieg, geschaffen worden ist." Aber schon zwei, drei Monate später wechselt Struve die Position. Unter dem Einfluss der russischen Stimmungen schwenkt er bedeutend nach links. Schon am 29. April 1904 schreibt er: „Das heutige Russland ist ein Kerkerland. Es ist unerträglich, in diesem Kerker zu leben … Zerschlagt die Ketten, zertrümmert das Gefängnis … Ein Gefängnis kann nicht unbesiegbar sein … Die Geschichte kennt nur eine unbesiegbare Armee, das ist die Armee jenes Landes, das durch einen erstaunlichen Elan des nationalen Geistes soeben das Gefängnis der absolutistischen Monarchie zerschmettert hat (es handelt sich offenbar um die Armee der französischen Revolution). Weder Verrat, noch innere Zwistigkeiten, noch völliger finanzieller Ruin haben die Kräfte dieser Armee vermindert, und sie hat gesiegt" („Oswoboschdenje", Nr. 22, S. 385/386).

Auf die jetzige Terminologie angewandt, bedeutet dies, dass P. Struve im Jahre 1904 die Losung aufstellte: „Revolution für den Sieg". Diese Losung war damals und bleibt auch jetzt eine nationalistische und abenteuerliche Losung. Aber jedenfalls, ist es nicht kennzeichnend, dass der rechtsstehende Liberale im vorletzten Kriege, den „Russland" führte, die Position einnahm, die im jetzigen Kriege von den „links stehendsten" unter den Sozialisten, die den Krieg akzeptierten, eingenommen wird?

Das war die Stufenleiter der Stimmungen im russisch-japanischen Kriege.

* *

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Dass das russische Proletariat, die russische Sozialdemokratie, die russischen Revolutionäre aller Schattierungen damals eine Niederlage „Russlands" im Namen der Befreiung des russischen Volkes herbeiwünschten, – ist begreiflich und natürlich. Das bedarf keiner besonderen Erklärungen. Aber wie soll man die Tatsache erklären, dass ein gut Teil der russischen liberalen Bourgeoisie, derselben Bourgeoisie, die jetzt vor Chauvinismus trunken ist, die jetzt vor dem Zarismus noch mehr auf dem Bauche rutscht, als die Schwarzen Hundert im russisch-japanischen Kriege es taten, ebenfalls „defätistisch" gestimmt ist?

Das lässt sich unserer Meinung nach durch zwei Ursachen erklären. Erstens ist die russische Bourgeoisie am jetzigen Kriege wirtschaftlich unvergleichlich mehr interessiert, als dies im russisch-japanischen Kriege der Fall war. Zweitens – und das ist die Hauptsache – erlebte damals die russische Bourgeoisie, die jetzt durch und durch konterrevolutionär ist, den Gipfelpunkt der Opposition gegen den Absolutismus und musste ihrer politischen Lage nach den revolutionären Strömungen Tribut zahlen.

Die liberale Philosophie der Geschichte will uns weismachen, dass der russisch-japanische Krieg einzig und allein durch die Besobrasow, Alexejew, Abasa hervorgerufen wurde, die in ihrem persönlichen Interesse handelten und sich von Rücksichten zugunsten ihrer Holzindustrie-Gesellschaft am Flusse Yalu leiten ließen. Der russisch-japanische Krieg sei bloß ein „Kolonialabenteuer" gewesen, auf das die und die Männer spekuliert hätten, die einen Einfluss bei Hofe genossen.

Das ist so und nicht so. Das Hofgesindel wollte natürlich in dem russisch-japanischen Kriege seine Geschäfte machen. Im Jahre 1910 publizierte Burzew die Geheimnote des Grafen Lambsdorff und das geheime Violettbuch, das dem russisch-japanischen Konflikt gewidmet ist. Der Bevollmächtigte des Spezialkomitees für den Fernen Osten, Abasa, depeschierte 1904 an den sich damals in Port Arthur befindenden Besobrasow: „Witte erzählte hier meinem Minister, dass Du die ganzen zwei Millionen verausgabt hast. Wisse, dass der Herr (d. h. Nikolaus II.) meint, Du dürftest außer den dreihundert keinen Rubel antasten ohne jeweilige Genehmigung. Gestern wurden wieder Deine Vermutungen über die Stärkung der Garnison und die Arbeiten im Bassin gemeldet. Der Herr ließ antworten, dass er alles von Dir Vorgebrachte annehme. Im Gespräch drückte Majestät stark sein volles Vertrauen zu Dir aus." Das alles erinnert sehr an einen chiffrierten Briefwechsel zwischen abgekarteten Dieben und Spitzbuben höchsten Kalibers. Dass der „Herr", Nikolaus II., und seine „Knechte", Abasa, Besobrasow und Konsorten, an der Mandschurei ordentlich zu „verdienen" trachteten, – das ist sehr glaubwürdig.

Doch zugleich muss man auch einsehen, dass der russisch-japanische Krieg in der ganzen auswärtigen Politik des Zarismus wurzelte. Diesen Krieg kann man natürlich als „Kolonialabenteuer" bezeichnen. Jedoch nur in dem Sinne, in dem die Jagd der imperialistischen Großmächte nach Kolonien überhaupt ein „Abenteuer" darstellt. Hinter Japan stand England. Der russisch-japanische Krieg war in hohem Grade die Folge der traditionellen Animosität und des langjährigen Wettkampfes zwischen Russland und England. Die deutschen Imperialisten drängten den Zarismus nach dem Fernen Osten, damit sie selbst eine größere Bewegungsfreiheit im Nahen Osten bekämen. In den Kreisen, die für die auswärtige Politik „Russlands" bestimmend waren, wollten die einen sich auf den Fernen Osten, die anderen auf den Nahen Osten konzentrieren. Jedenfalls war die Sache nicht so einfach. Die Besobrasow, Alexejew und Konsorten stahlen natürlich und fischten im Trüben. Doch der russisch-japanische Krieg ist nicht allein von dieser Handvoll Hofabenteurer hervorgerufen worden. Er bildete den unvermeidlichen Epilog zu dem imperialistischen Wettkampf, der schon im japanisch-chinesischen Kriege 1894 begonnen hatte.

Und in diesem Sinne war am russisch-japanischen Kriege auch die russische Bourgeoisie interessiert.

Aber dieses Interesse ging lange nicht so weit, wie im Kriege 1914-16.

Vor allem fehlte im herrschenden Lager selbst die Einmütigkeit darüber, ob „Russland" in diesem Moment seine Schritte nach dem Fernen Osten lenken solle. Bekanntlich hat sogar der ominöse Abasa 1903 in seiner Denkschrift an den Zaren geschrieben: „Ich bemerkte bereits, dass ich ein japanisches Protektorat in Korea für Russland für unschädlich halte"E).

Japan besiegen, hieß einen „Zutritt" zu einer Reihe neuer Märkte gewinnen, hieß, die Position des russischen Imperialismus in Bezug auf den englischen Imperialismus verbessern. In diesem Sinne verlangte das ökonomische „Interesse" der russischen Bourgeoisie einen Sieg „Russlands". Aber ein Teil der Ideologen des russischen Imperialismus trug sich damals schon mit einem anderen Plan herum, dem der Annäherung an das imperialistische England ungefähr auf derselben Basis, wie sie 1907 verwirklicht wurde.

Jetzt liegt die Sache ganz anders. Jetzt winkt der russischen Bourgeoisie ein viel fetterer Bissen. Es genügt das eine Wort Konstantinopel auszusprechen, um zu begreifen, was für die russische Bourgeoisie jetzt auf dem Spiele steht. Konstantinopel zuliebe sind keine Opfer zu teuer, insbesondere, wenn diese Opfer hauptsächlich vom Proletariat und vom Bauerntum getragen werden. „Der Weg nach Konstantinopel führt über Berlin", verkündete am Vorabend des Krieges in einem (wahrscheinlich von Sasonow) bestellten Artikel Professor von Mitrofanow, der diesen Artikel in Form eines offenen Briefes an Delbrück veröffentlichte. „Der Krieg wird um das türkische und österreichische Erbe geführt", proklamiert Struve offen. Der Krieg hat freilich imperialistische Motive, erkennen die Stützen des russischen LiberalismusF) an. Aber es gibt Imperialismus und Imperialismus. Ist denn „unser" Streben nach Konstantinopel nicht ein „berechtigtes" und „gerechtes" Streben?

,Die Konstantinopel-Frage ist für Russland von besonderem Interesse und Wichtigkeit. Sie ist für uns die Frage nach unserem täglichen Brot und unserer ganzen politischen Machtstellung", schreibt der „Philosoph" unserer liberal-imperialistischen Bourgeoisie, Fürst E. N. Trubetzkoj. Für das „Volk" schreibt dieser „religiöse Denker": „Als ewiges Gebot Gottes umfasst Sophia den ganzen Erdball, der als Ganzes verbunden ist durch den einen Gedanken, durch den einen Geist Gottes". Zur Gewinnung der „Intelligenz" zitiert er Verse von Wladimir Solowjew. Aber für wirklich „sachliche" Männer, für die Bourgeoisie, hat er die Erklärung:

Erstens passiert fast drei Viertel des von uns exportierten Getreides die Meerengen; folglich ist die Frage der Meerengen zugleich auch eine Frage der ganzen wirtschaftlichen Gegenwart und Zukunft Russlands …"

Zweitens ist an die wirtschaftliche Frage auch die Frage nach dem ganzen politischen Sein und der ganzen politischen Macht Russlands unlösbar geknüpft." Konstantinopel ist für Russland „jene Perle aus dem Evangelium, der zuliebe es alles hingeben muss, was es besitzt"G).

Das ist schon etwas anderes als der „Geist Gottes". Da wird klipp und klar ausgesprochen, welcher Art die Geldsackinteressen sind, die für die russische Bourgeoisie mit der „Perle aus dem Evangelium" verknüpft sind.

So konnten die russischen Liberalen im russisch-japanischen Kriege nicht schreiben. So interessiert waren sie am damaligen Kriege nicht.

Das ist eine der Ursachen, warum 19143 gewisse Liberale sich mit dem „Defätismus" abfinden konnten, mit dem sich jetzt absolut kein Bourgeois abfinden kann.

Die andere Ursache ist, wie wir bereits bemerkt haben, noch viel wichtiger. Im Jahre 1904 erlebte die russische liberale Bourgeoisie den Honigmond ihres „Revolutionarismus". Herr Peter Struve, der jetzt fast ein Mann aus der „Nowoje Wremja" ist, gab damals im Auslande das illegale Organ des russischen Liberalismus heraus („Oswoboschdenje"). Der linke Flügel dieser Gruppe proklamierte offen die Revolution als die einzig mögliche Erlöserin. Die Arbeiterklasse schien ihnen damals noch „für die Revolution" wichtig zu sein, und sie hatte sich noch nicht in der Praxis davon überzeugen können, dass die russische Sozialdemokratie das ganze Proletariat mit sich reißen würde, wenn sie ihm bewies, dass die Revolution „für die Arbeiterklasse" sehr wichtig ist.

Seit jener Zeit bis zum Anfang des jetzigen Krieges sind zehn Jahre verflossen. Darunter wiegt das eine Jahr 1905 manches Jahrzehnt auf. Vor der russischen Bourgeoisie erhob sich in seiner ganzen Größe ein neuer Feind: das revolutionäre Proletariat. Aus Furcht vor der wahrhaft demokratischen Revolution, der die Arbeiterklasse ihren Stempel aufgedrückt hatte, wählte die russische Bourgeoisie das kleinere Übel. Sie zog es vor, sich lieber mit der Zarenmonarchie auszusöhnen, selbst auf der Basis des 3. Juni, als sich dem „elementaren Wahn" hinzugeben, der in den Seelen der Liberalen 1905 für lange Zeit einen so grässlichen Schreck hinterlassen hat. Die russische Bourgeoisie wurde konterrevolutionär.

Die Niederlage des Zarismus an der äußeren Front im Jahre 1904 war der letzte Tropfen, der den Kelch zum Überlaufen gebracht hat. Der Zusammenbruch des Zarenheeres im Kriege mit Japan hat die Revolution endgültig „ausgelöst". Doch man darf nicht vergessen, dass derselbe Schauplatz der auswärtigen Politik für den Zarismus zum Ausgangspunkt der Verbesserung seiner Lage innerhalb des Landes wurde. Die Frage der auswärtigen Politik wird zum Hebel des Sieges des Zarismus über die Revolution. Die auswärtige Politik des Zarismus stellt den Kristallisationspunkt dar, um den herum sich der neue konterrevolutionäre Block formiert.

Der Zarismus lockte die Bourgeoisie gerade am meisten durch die Perspektiven seiner Außenpolitik. Die Bourgeoisie hoffte gewissermaßen auf der auswärtigen Arena Revanche zu nehmen für ihre Zugeständnisse an die feudale Reaktion auf dem Gebiet der Innenpolitik. Schon 1905 will die liberale Bourgeoisie den Zarismus nicht stören (faktisch hilft sie ihm), Anleihen von Frankreich zu nehmen. 1906 sind die Verhandlungen Russlands mit England über die Aufteilung der „Einflusssphären" in Persien in vollem Gange. Die Anglomanen des russischen Liberalismus sind unendlich glücklich. Endlich wird auch die Triple-Entente zur Tatsache. Das Entzücken der gesamten Bourgeoisie hat keine Grenzen. Ihr eröffnen sich Perspektiven der Einnahme von Konstantinopel und der Meerengen, man verspricht ihr goldene Berge. Nun verkauft sie sich endgültig, mit Haut und Haaren an den Zarismus. Jahrelang hilft die russische Bourgeoisie dem Zarismus, Vorbereitungen zu dem jetzigen Krieg zu treffen. Die „Ideologen" erfinden in aller Eile die Theorie des „Großen Russlands". Die „Praktiker" des Liberalismus geben sich bis zur Selbstverleugnung der Aufgabe hin, „die militärische Macht Russlands" zu heben und tun alles Denkbare, um den russischen Militarismus zu stärken. Der japanische Krieg wurde ohne die liberale Bourgeoisie vorbereitet – an der Vorbereitung des Krieges 1914 nimmt die liberale Bourgeoisie den aktivsten Anteil.

Der großrussische Imperialismus ist eng verknüpft mit dem großrussischen Nationalismus, mit der Unterdrückung der „Fremdstämmigen" durch die Stolypinsche Politik, mit der ganzen Politik vom 3. Juni bis zur Revolution „von oben". All das sind Glieder einer und derselben Kette. Die „Lösung" der inneren Krise mit Hilfe des konterrevolutionären Stolypin-Gutschkowschen Reformismus, der gemeinsame Kampf gegen die Arbeiterklasse und das arme Bauerntum, die souverän-imperialistische Außenpolitik – das sind die Punkte, auf denen sich faktisch die russische Bourgeoisie (einschließlich der „linkesten" Kadetten) und der „erneuerte" Zarismus geeinigt haben. Der russische Liberalismus verwandelt sich in Nationalliberalismus.

Die russische liberale Bourgeoisie ist an die Außenpolitik des Zarismus geschmiedet, wie der Sträfling an die Galeere. Die Schwarze-Hundert-Regierung braucht sich jetzt nicht mehr zu genieren, sie kann, wie man sagt „die Füße auf den Tisch legen". Die Bourgeoisie lässt sich alles gefallen. „Er lacht über Eure Angst und Eure Ohnmacht; rührt ihn nicht an", sagt der nationalliberale W. Maklakow in seiner Sage vom Chauffeur (der Regierung), der im Automobil Euren liebsten Menschen, Eure Mutter, d. h. Russland, fährt. „Und er (der Zarismus als Chauffeur) hat Recht: Ihr (Liberale) dürft ihn nicht anrühren, selbst wenn Furcht oder Empörung Euch so weit erfassen sollten, dass Ihr, die Gefahr vergessend, Euch selbst vergessend, ihm mit Gewalt das Steuer entreißen wolltet."

Das ist der Grund, warum die ganze russische Bourgeoisie jetzt eine unversöhnliche Gegnerin des „Defätismus" ist. – Ihr seid gegen die Niederlage, meine Herren? – kann der Zarismus sagen. – Nun, dann ist Eure ganze Opposition keinen Heller wert. Dann müsst Ihr mich lieb haben, so wie ich nun einmal bin, – Ihr seid gegen „Defätismus", meine Herren Sozialpatrioten? kann der Zarismus fortfahren. – Ihr seid für den Sieg um jeden Preis? Nun, dann seid auch Ihr in meinen Armen angelangt! Dann ist die Parole der hitzigsten Köpfe unter Euch – „Revolution für den Sieg" – nur eine Spielerei. In der Tat seid auch Ihr meine Vasallen.

Im Jahre 1904 trat der Gemäßigtste unter den Repräsentanten der russischen gebildeten Gesellschaft, B. N. Tschitscherin, als mehr oder weniger offener Anhänger der Niederlage seiner Regierung im Kriege mit Japan auf. Im Jahre 1916 erklärte der Vertreter der „linken" liberalen Partei, Herr Miljukow, dass er auf den Sieg verzichten würde, wenn er über die Revolution führe. Da haben wir die ganze Evolution des russischen Liberalismus nach 1905 wie auf der flachen Hand.

Am Vorabend des Jahres 1905 hat das revolutionäre Proletariat Russlands sogar einen Teil der Bourgeoisie zum „Defätismus" hingerissen. Im Jahre 1914 riss die konterrevolutionäre russische Bourgeoisie einen Teil der „marxistischen" Intellektuellen und eine Handvoll Arbeiter, mit Plechanow, Gwosdew und Konsorten an der Spitze, mit sich. Der Sieg des Opportunismus in der Arbeiterbewegung Westeuropas und der Zerfall der Zweiten Internationale halfen nur der chauvinistischen russischen Bourgeoisie, diese Aufgabe verwirklichen.

Im Jahre 1904 sahen wir die politische Hegemonie des Proletariats über die Bourgeoisie. Im Jahre 1914 wurden wir Zeugen der Hegemonie der Bourgeoisie über einen Teil der „Sozialisten".

1904 war in Russland nicht allein das Proletariat revolutionär. Daraus ergab sich damals die weite Verbreitung des „Defätismus". 1914-16 war in Russland nur das Proletariat revolutionär. Daraus ergeben sich „defätistische" Stimmungen nur im Proletariat, daraus ergeben sich die Schwankungen gewisser Schichten sogar unter jenen sozialdemokratischen Intellektuellen, die sich den Sozialchauvinisten nicht angeschlossen hatten.

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Unter sonst gleichen Verhältnissen trägt die Niederlage der despotischen Regierung im Außenkriege stets dazu bei, dass das Volk diese Regierung stürzt. Es ist absolut unmöglich, dies ernsthaft zu leugnenH). „Die braven Türken haben die Explosion um Jahre beschleunigt durch die Keile, die sie nicht nur der russischen Armee und den russischen Finanzen, sondern der die Armee kommandierenden Dynastie (Zar, Thronfolger und noch andere Romanows) höchst eigenpersönlich erteiltenI)." Das schrieb Karl Marx 1877. Die ganze neueste Geschichte Russlands kann als ausgezeichnete Illustration des Grundsatzes dienen, dass die äußeren Niederlagen der reaktionären Regierungen der demokratischen Bewegung innerhalb des Landes nützen.

Diesen Grundsatz verstehen wohl auch die gebildeten Reaktionäre. Ein Beispiel. Der bekannte deutsche Kriegshistoriker, der kluge Konservative Hans Delbrück, hat in seinem kürzlich erschienenen Buche „Regierung und Volkswille" die Lage der Armee in Frankreich und in Deutschland verglichen. In Frankreich besteht ein parlamentarisches Regime, das in Deutschland „Gott sei Dank" nicht besteht. In Deutschland untersteht die Armee allein dem Monarchen. In Frankreich ist die Armee gezwungen, wechselnden parlamentarischen Regierungen, „Advokatenregierungen", Gehorsam zu leisten. Delbrücks Junkerherz fühlt sich tief verletzt für die Armee, auch wenn sie eine französische Armee ist. „Wie kann eine Armee, die die Traditionen des großen Napoleon mit all ihren Siegen, mit all ihrem Ruhm hat, sich einer solchen Regierung unterwerfen?" fragt Delbrück, und er antwortet: „Weil sie die Besiegte von Sedan ist!"

Nun übertragen wir das einmal auf Deutschland, Preußen", fährt unser Kriegshistoriker fort, „stellen wir uns ein parlamentarisches Regiment vor und nehmen, wen Sie wollen aus dem Abgeordnetenhaus oder Reichstag und lehren ihn bei uns Kriegsminister sein. Wer auch nur die geringste Fühlung mit unserem Offizierskorps und unserer Generalität hat, weiß, dass das eine Unmöglichkeit ist, dass unsere Armee auch erst ein Sedan von der anderen Seite erlebt haben müsste, um das über sich ergehen zu lassen." („Regierung und Volkswille", Berlin 1914, S. 135/136.)

Wahrhaftig, in diesen wenigen Worten des klugen Junkers steckt mehr historischer Sinn, als im endlosen Räsonnieren unserer Propagandisten von: „Weder Sieg noch Niederlage!" Der wahre Sinn des Militarismus, die wahre Bestimmung der Armee als Stütze der Reaktion im Kampfe gegen die Demokratie, die wahre Bedeutung dessen, dass die äußeren Niederlagen der volksfeindlichen Regierungen im historischen Treffen der revolutionären und konterrevolutionären Kräfte von Bedeutung sind – auch das ist in diesen wenigen Worten von Delbrück außerordentlich plastisch skizziert.

Um seinen Gedanken näher zu erläutern, illustriert ihn Delbrück durch folgendes „populäres" Beispiel. Als 1870 in den Schlachten bei Metz die Deutschen den Franzosen eine Reihe von Niederlagen beibrachten und die Armee Bazaines umzingelten, da sahen Napoleon III. und Mac Mahon klar ein, dass strategische Rücksichten einen Rückzug der anderen geretteten Hälfte der Armee gegen Paris fordern. „Wäre die Armee nach Paris zurückgegangen, dann ist eigentlich nicht abzusehen, wie wir Frankreich, wenigstens so vollständig wie wir es nachher gesehen haben, hätten besiegen können." Aber aus politischen Rücksichten konnte Napoleon III. nicht nach Paris gehen. „Die Kaiserin und die Regierung in Paris baten flehentlich, nicht nach Paris zu gehen; denn wenn der Kaiser soweit zurückweichen müsse, dann sei die Revolution sicher und das Kaisertum verloren." (Ebenda, S. 139.) Bekanntlich lenkte Napoleon die übriggebliebene Armee gegen Norden, um Bazaine, der in Metz eingeschlossen war, zu Hilfe zu kommen. Dies gelang nicht. Napoleon wurde geschlagen, und die Revolution setzte dennoch das Kaisertum ab.

Der Kriegshistoriker Delbrück sieht ausgezeichnet den engen Zusammenhang zwischen Niederlage und Revolution. Eine solche Nüchternheit der Auffassung könnte man manchem unserer Revolutionäre nur wünschen … .

Aber wenn die Sozialisten aller Länder eine Niederlage ihrer Regierung herbeiwünschen würden, wer sollte dann siegen? Man würde ja dann eine Art „Pandefätismus" bekommen! Dieses Argument wird gegen uns systematisch wiederholt. Erst in diesen Tagen wiederholten es die Kautskyaner aus dem „Vorwärts"J), diejenigen, die gegen die Kriegskredite stimmen, insofern „die Grenzen unseres Vaterlandes nicht bedroht sind."

Unsere Antwort auf dieses Argument wird klar, wenn wir folgende Episode aus der Geschichte des internationalen Sozialismus anführen.

1885 spitzte sich der langjährige Konflikt zwischen England und Russland aus Anlass der Afghanistanfrage außerordentlich zu. Es roch nach Pulver. Der Krieg schien unvermeidlich zu sein. In dieser Zeit erwarteten die besten Vertreter des revolutionären Marxismus: Engels, Bebel, Guesde, dass die soziale Revolution in verhältnismäßig kurzer Zeit ausbrechen würde. Jedenfalls „steuerten" sie der Revolution entgegen. Und nun in dieser Situation tritt Jules Guesde, der damals unzweifelhaft Marxist und Revolutionär war, mit einem Artikel über den drohenden englisch-russischen Krieg auf.

Ein Krieg zwischen England und Russland kann das Finale beschleunigen, kann das Ende der bürgerlichen Gesellschaft näher bringen. Aber – wem soll man den Sieg wünschen, wem die Niederlage? England oder Russland? Guesde antwortet: Ich wünsche beiden eine Niederlage.

Eine Niederlage Russlands – ich schrieb es bereits vor einem Monat und werde nicht ermüden, es zu wiederholen – eine Niederlage Russlands bedeutet das Ende des Zarismus, die politische Befreiung Russlands … Russland, zerschmettert in Zentralasien, bedeutet das Ende des Zarismus … Und das erste Ergebnis, das unvermeidliche Ergebnis einer politischen Revolution in Petersburg wird die Befreiung des werktätigen Deutschlands sein. Befreit vom Moskauer Alpdruck, gewiss, dass ihre Pläne von der russischen Armee des Zaren Alexander, die hinter Wilhelm stünde, nicht durchkreuzt würden – wird die deutsche Sozialdemokratie endlich die Möglichkeit erlangen, auf den Ruinen des Kaiserreichs von Blut und Eisen den revolutionären Ball zu eröffnen (d'ouvrir .., ie bal révolutionnaire), das proletarische 1789 zu feiern … Ein Bankrott Russlands wird die alte Welt erschüttern" …

Eine Niederlage Englands würde ebenso große und glückliche Folgen haben. Schon allein die Tatsache, dass alle militärischen Kräfte Englands an einer Stelle konzentriert werden müssten, würde dazu führen, dass Irland, befreit vom Belagerungszustand, frei aufatmen könnte. Dann kann Irland mit Gewalt seinen Willen der Insel der Brudermörder diktieren, während Sudan und folglich auch Ägypten ihrerseits sich von den Wohltaten der Zivilisation befreien würden, die ihnen Wolseley auf den Bajonettspitzen bringt … Gleich nach den ersten Misserfolgen Englands … würde sofort eine „Absplitterung'' (décollage) der größten und ausgebeutetsten Kolonien beginnen … Aber wenn ein entscheidendes Ereignis eintritt, wenn England Indien verliert … dann werden wir einen Zusammenbruch erleben, wie ihn die Menschheit seit Aufhebung des römischen Reiches nicht erlebt hat. Kein Punkt auf dem Erdball wird davon unberührt bleiben."

Und Guesde schließt:

Welches dieser beiden gleich unterdrückenden, dennoch verschiedenartigen Regimes auch unter den Schlägen des Gegners fallen sollte … dies wird die Bresche sein, durch die die neue Gesellschaftsordnung Einlass finden wird. Deshalb können wir die freie Wahl (carte blanche) dem Gott der Siege überlassen. Wie er auch handeln mag, er wird für uns handeln."K)

Ist denn eine solche Fragestellung nicht „Pandefätismus"? Guesde sprach damals nicht von der „Vaterlandsverteidigung"; auch die Parole: „Weder Sieg noch Niederlage" stellte er nicht auf. Er wünschte die gleiche Niederlage allen seinen Gegnern. Er entfachte den Aufstand der Kolonien gegen die imperialistischen Metropolien. Ein englischer oder russischer Sozialist, der sich die damaligen Ansichten Guesdes zu eigen machte, müsste ebenso „Defätist" werden. Der „Pandefätist" Guesde war revolutionärer Marxist.

Welcher der niederträchtigen imperialistischen Kolosse im räuberischen Kriege 1914/16 auch fallen möge, dies wird die Bresche werden, durch die die proletarische Revolution ihren Einzug halten wird – so muss ein revolutionärer Sozialist unserer Tage argumentieren. Und deshalb kann er nicht anders, als „Pandefätist" sein.

Die Niederlage deines Vaterlandes ist das größte Übel, das ärgste Unglück, das dich treffen kann – das ist der Grundgedanke, mit dessen Hilfe die Sozialchauvinisten die rückständigeren Schichten der Arbeiter in den verschiedenen Ländern für sich gewinnen. Viele glauben daran aufrichtig. Wie der Antisemitismus der „Sozialismus der Dummköpfe" genannt wurde, so könnte man auch den Sozialchauvinismus als „Patriotismus der Dummköpfe" bezeichnen. Alles, was sie wollen, nur nicht die Niederlage „unserer"- Regierung! Zu diesem konterrevolutionären Gedanken werden die Arbeiter von den Sozialchauvinisten aller Länder erzogen. Daraus ergibt sich logisch: damit „wir" keine Niederlage erleiden, müssen wir „ihnen" eine Niederlage beibringen.

Gegen diese Auffassung kann man mit dem Kautskyschen: „Weder Sieg noch Niederlage" nicht kämpfen. Mitnichten. Wir müssen den Arbeitern zeigen, wie die Niederlage der eigenen Regierung in der Geschichte wiederholt dem Volke den größten Nutzen brachte, zur Geburtshelferin der Revolution wurde, d. h. die wohltätigsten Folgen für die ganze Menschheit hatte.

Tastend gelangen auch die Internationalisten der anderen Länder zu dieser Auffassung. Im heutigen Deutschland konnte es die revolutionäre Tradition von 1905, konnte es auch eine bestimmte „defätistische" Tradition nicht geben. Aber wir wissen wohl, dass auch unter den deutschen und österreichischen Internationalisten konsequente „Defätisten" vorhanden sind. Die Geschichte wird es noch zeigen …

Im imperialistischen Kriege 1914/16 kann man nicht konsequenter Internationalist sein, ohne „Defätist" zu sein. Je mehr der Internationalismus erstarken wird, umso mehr wird diese Wahrheit an Boden gewinnen.

Oktober 1916.

G. Sinowjew.

1 Rechtsradikale chauvinistische Politiker.

A In liquidatorischen Kreisen wird behauptet, dass zu Beginn des russisch-japanischen Krieges Plechanow in der Beurteilung des Krieges schwankte und erst unter dem Einfluss der anderen Redakteure der damaligen „Iskra" diese Position einnahm. Inwiefern dies wahr ist, können wir nicht beurteilen. Jedenfalls enthalten die Worte Plechanows, die wir zitiert haben, nicht die Spur von Schwankungen.

B G. A. Gerschuni: „Aus der jüngsten Vergangenheit" (russisch), Paris, 1908, S. 47-49.

C G. A. Gerschuni: „Aus der jüngsten Vergangenheit" S. 144.

2 Der Verfasser Ropschin (Sawrakow), der ehemalige Terrorist, war bekanntlich unter Kerenski Minister und ist jetzt einer der konterrevolutionären Führer gegen die Bolschewiki. Der Roman selbst ist ebenso wie sein „Fahles Ross" ein Ausdruck des Katzenjammers der früheren terroristischen Tendenzen des Verfassers, der sein Werk nach der Niederlage der Revolution 1905-1906 schrieb.

D Das ist ganz im Sinne der jetzigen Plechanowschen These: „Russland gehört nicht seinem Zaren, sondern der ganzen werktätigen Bevölkerung" …

E Die Ansicht, die von Seiner Durchlaucht dem Konter-Admiral Abasa in der Sitzung unter dem Vorsitz Seiner Majestät in Zarskoje Selo am 16. 12. 1903 geäußert wurde. Seite 59 der Denkschrift.

F Man vergleiche z. B. die Aufsätze von Prof. Grimm, Maxim Kowalewski, P. Miljukow im Sammelbuch: „Die Probleme des Weltkrieges" (russisch).

G Fürst E. N. Trubetzkoj: „Die nationale Frage Konstantinopel und Hagia Sophia", Moskau 1915 (russisch) Seite 3-9.

3Muss offenbar 1904 heißen!

H Dass die Niederlage der imperialistischen Regierungen im jetzigen Kriege einem Volke in seinem Kampfe um die Freiheit entgegen kommen kann, das verstehen die Sozialchauvinisten sehr wohl auch jetzt, wenn die Rede nicht von „unserer", sondern einer fremden Regierung ist. Plechanow und Konsorten versuchen zu beweisen, dass nur eine Niederlage Deutschlands dem deutschen Volke die Freiheit bringen würde. Lensch und Konsorten beweisen ebenso eifrig, dass nur eine Niederlage Englands dem englischen Volke die Freiheit bringen würde. Man kann auch jetzt als „Defätist" für die feindliche Regierung auftreten, aber nur nicht als Defätist für die eigene Regierung.

Ein russischer Revolutionär, der jetzt für die Niederlage „Russlands" eintritt, ist nach Plechanows Meinung ein Diener des deutschen Kaisers. Aber diente denn Plechanow 1904 dem japanischen Mikado und nicht dem internationalen Proletariat? …

I „Briefe und Auszüge aus Briefen an F. A. Sorge u. A." Stuttgart 1906, S. 156.

J Vergl. den Leitartikel im „Vorwärts" vom 27. August 1916.

K „Le socialisme et le radicalisme en 1885" par Jean Jaurès, Seite 118-123. „Discours parlementaires", Tome I-er, Paris 1904.

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