G. Sinowjew 19161106 Der »Internationalismus« des »Bundes«

G. Sinowjew: Der »Internationalismus« des »Bundes«.

[„Sozialdemokrat" Nr. 56. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 362-365]

Der Sozialist ist verpflichtet, „sein Vaterland" in jedem Kriege zu „verteidigen", – das ist der Grundsatz des Sozialchauvinismus. Die aufrichtigeren Sozialchauvinisten stellen diese These ohne jede Vertuschung auf. Mag unsere Regierung unrecht haben, mag sie zuerst den Krieg begonnen haben, mag ihre ganze Auslandspolitik vor dem Kriege fehlerhaft, ja noch mehr als das – verbrecherisch gewesen sein, – aber – man darf doch das Volk nicht für die Fehler, ja selbst für die Verbrechen der Regierung strafen. Wenn der Krieg einmal zur Tatsache geworden ist, und wenn unserem Lande ein feindlicher Einfall droht, so müssen wir uns verteidigen. Und zwar müssen wir dies tun, unabhängig von dem Inhalt, den Zielen und dem Sinn des Krieges. Eine Niederlage meines Vaterlandes ist das größte aller nur denkbaren Übel. Und daher: ob mein Vaterland nun recht oder unrecht hat, es ist mein Vaterland!

Nicht alle Sozialchauvinisten drücken sich mit solcher Offenheit aus. Die Mehrzahl zieht es vor, von der Verteidigung der „Kultur", der „Freiheit", vom Kampf gegen den Militarismus u. a. m. zu sprechen. Aber sie handeln doch alle nach diesem Prinzip. Die Unterstützung „ihrer" Bourgeoisie, „ihrer" Regierung, das ist das A und das O der ganzen sozialchauvinistischen Taktik. Die Sozialchauvinisten wären keine Fortsetzer des Opportunismus, wenn sie anders handeln, wenn sie die Herrlichkeiten der „Zusammenarbeit der Klassen", der „nationalen Vereinigung" usw. vergessen würden.

Bemerkenswert ist z. B. der Fall der bulgarischen Sozialchauvinisten (der „Weitherzigen"). Bis zum Eintritt Bulgariens in den Krieg waren sie russophil, wie ein bedeutender Teil ihrer regierenden Klassen. Aber kaum war die germanophile Strömung unter den herrschenden Schichten zum Siege gelangt, kaum nahm das bulgarische „Vaterland" am Kriege gegen Russland teil, da gingen die „weitherzigen" Opportunisten unverzüglich auf die Seite des deutschen Imperialismus über und bilden jetzt die beste Stütze „ihrer" Regierung. Oder nehmen wir den Führer der schwedischen Opportunisten, Branting. Jetzt ist er frankophil. Aber wer zweifelt auch nur eine Minute daran, dass Branting, wenn Schweden morgen in den Krieg gegen Russland träte, in das Ministerium der „nationalen Verteidigung" eintreten, den „Burgfrieden" predigen und durch dick und dünn den Krieg „seiner" Bourgeoisie und „seiner" Regierung gegen die franko-russische Koalition unterstützen würde?

Immer mit meiner Regierung, immer mit meiner Bourgeoisie, das ist die Devise des Sozialchauvinismus, sowohl des anglo-franko-russischen, als auch des deutsch-austro-bulgarischen, wie auch des schwedischen und des holländischen.

Immer mit meiner Regierung! Aber – was geschieht dann, wenn ich zur Kriegszeit nicht eine, sondern ganze zwei Regierungen habe, und es außerdem im Laufe von ein, zwei Jahren ungewiss ist, welche dieser Regierungen zum Schlusse Herr der Lage bleiben wird? Was dann, wenn der Krieg mein Territorium in zwei Teile geteilt hat, und die Bourgeoisie beider Teile mich mit gleicher Wärme in die süßen Umarmungen des „Burgfriedens" lockt?

Die Opportunisten aus dem „Bund"1 erwiesen sich in einer solchen Lage. Und die Antwort, die sie auf die oben gestellte Frage erteilten, wirft das grellste Licht auf den Charakter des Opportunismus im Allgemeinen und auf seinen leiblichen Bruder – den Sozialchauvinismus im Besonderen. Die Kriegstaktik des „Bundes" wird, man kann wohl sagen, ein ewiges und unvergängliches Beispiel der opportunistischen „Synthese" bleiben. – Wenn ich jetzt auch zwei Regierungen und zwei Bourgeoisien habe, so werde ich doch das Grundgebot des Sozialchauvinismus, das da lautet: immer mit meiner Regierung und mit meiner Bourgeoisie! – nicht verletzen. Die Lage ist schwierig, es gibt aber doch einen Ausweg. Ich teile meine Organisation in zwei „Einflusssphären". Ein Teil des „Bundes" wird den austro-deutschen Block und jenen Teil „meiner" Bourgeoisie unterstützen, die sich nach dem deutschen Imperialismus orientiert. Der andere Teil des „Bundes" wird den franko-russischen Block unterstützen und jenen Teil „meiner" regierenden Klassen, die sich nach dem zarischen Doppeladler „orientieren". Das sagten sich die scharfsinnigen opportunistischen Führer des Bundes. Bei einigem guten Willen lässt sich auch aus der schwierigsten Lage ein Ausweg finden und den Prinzipien des Sozialchauvinismus trotzdem treu bleiben. Diese Kapitaleinlage, mit der die Führer des „Bundes" die Schatzkammer des internationalen Sozialchauvinismus bereichert haben, beweist unwiderleglich, dass dem wirklich so ist.

Und in der Tat. Nehmen wir jenen Teil des „Bundes", der in dem von den Deutschen besetzten Warschau tätig ist. Die Politik dieses Teiles ist – sozialchauvinistisch. Aber ihr Sozialchauvinismus ist hauptsächlich in germanophile Farben gekleidet. Die von dem Warschauer „Bund" herausgegebene jüdische Zeitung „Lebensfragen" verficht ganz unzweideutig die Politik des deutschen Sozialchauvinismus. In Nr. 1 dieser Zeitung ist der Grundfrage der Gegenwart ein Artikel gewidmet unter dem Titel „Die Internationale und der Krieg". „In einem Lande wie Deutschland", lesen wir in dieser Zeitung, „wo die Sozialdemokraten mit ihrer Mitgliederzahl von einer Million und ihren 4 Millionen Wählern eine kolossale Kraft darstellen, würde ein so neutrales Verhalten, ein solcher Verzicht auf die Teilnahme am Kampfe mit den äußeren Feinden zu einer bedeutenden Schwächung des eigenen Landes führen, die Siegeschancen stark vermindern und die Gefahr einer Niederlage erhöhen. Mit anderen Worten, sich weigern, seinem Lande zu helfen, würde bedeuten, einem anderen feindlichen Lande Beihilfe leisten. In diesem Kriege würde das bedeuten, dem russischen Zarismus helfen, und für eine solche Hilfe wären die russischen Arbeiter ihren deutschen Genossen gewiss nicht dankbar."

Ist dies nicht die Sprache Davids und Südekums? …

Der einflussreichste Führer des „Bundes", W. Medem, lässt seine Artikel unter einem Umschlage mit denen des Grafen Reventlow, eines der hervorragendsten Vertreter des deutschen Imperialismus, erscheinen. Auch Legien, Südekum und Scheidemann drucken ihre Artikel jetzt hauptsächlich zusammen mit denen der Imperialisten ab. Und W. Medem will seinen würdigen Lehrern in nichts nachstehen.

Nehmen wir jetzt jenen Teil des „Bundes", der auf dem Territorium, das in den Händen des Zaren verblieben ist, seine Tätigkeit ausübt. Oh, dort finden die Bundisten andere, nicht weniger große Vorbilder: Potressow, Gwosdew Tschchenkeli, „Nascha Sarja", „Samosaschtschita".

Es ist gar nicht solange her, dass die Resolutionen der „Konferenz des Zentralkomitees des Bundes", die im Frühjahr 1916 in Russland stattfand, veröffentlicht wurden („Bulletin" des Auslandskomitees des „Bundes", September 1916). An der Konferenz nahmen Delegierte aus Minsk, Hornel, Kiew, Charkow Krementschug, Jekaterinoslaw, Petersburg und Delegierte des Zentralkomitee des Bundes teil. Diese Konferenz verewigte sich durch folgende Thesen:

Als der Krieg ausbrach … war die Arbeiterklasse … in allen Länder: gezwungen, an der Landesverteidigung teilzunehmen. Nur nach Beendigung des Krieges (!) wird der Augenblick zur Entscheidung der Frage kommen, in welchem Maße die taktischen Schritte der einzelnen Sektionen der Arbeiterinternationale richtig waren."

Das Vorspiel ist aus der Oper von K. Kautsky. Als der Krieg „ausbrach (nach langjähriger Vorbereitung durch die Imperialisten beider Koalitionen“ hatten die Arbeiter aller Länder das gleiche „Recht", ihr „Vaterland" zu „verteidigen". Wer recht hatte, und wer unrecht, das werden wir „nur nach Beendigung des Krieges" entscheiden. Aber jetzt, und auch im Namen der Arbeiterinternationale, mögen die Arbeiter aller Länder einander den Hals abschneiden

Dann geht die Symphonie weiter, aber jetzt ist die Musik schon von Potressow und Plechanow (es ist bekannt, dass es nicht so schwer ist, die „Lehre des Kautsky von heute mit den Predigten der Plechanow-Potressow, sowie mit den Lehren der Scheidemann-David in Übereinstimmung zu bringen):

Die Konferenz begrüßt daher die Tätigkeit des Exekutivkomitees de Internationalen Sozialistischen Büros (bekanntlich ist Herr Emil Vandervelde sein Vorsitzender) und besonders (!) die seines Sekretärs, des Genossen Huysmans, der nicht aufgehört hat, während der ganzen Zeit des Krieges in der genannten Richtung zu wirken. Zusammen mit dem Exekutivkomitee ist die Konferenz der Meinung, dass die Internationale ihre Tätigkeit nur (!) in der alten Organisationsform wieder aufnehmen soll."

Die alte Internationale hatte einen kleinen unangenehmen Zwischenfall Aber nichtsdestoweniger – es lebe diese alte Internationale, mit Huysman und Vandervelde an der Spitze! …

Damit aber der Leser nicht im Geringsten darüber im Zweifel ist, wohin der Kurs des russischen Teiles des Bundes gerichtet ist, fährt die Konferenz fort

Die russische Arbeiterklasse – darunter auch die jüdischen Arbeiter … - kann demgegenüber nicht gleichgültig bleiben, ob es gelingen wird, alle schrecklichen Folgen, die eine Niederlage im jetzigen Kriege nach sich ziehen müssen, zu vermeiden."

Es ist wahr, in unserem Lande werden die Verfolgungen „der Arbeiterklasse und der unterdrückten Nationalitäten" (es gab noch zu wenig Judenpogrome!) noch immer fortgesetzt und sogar in verstärktem Maße. Aber die Konferenz brennt nichtsdestoweniger vor Begierde, „das Land vor einem von außen kommenden Debakel zu retten" (Tschcheidse, das bist Du!). Wie bekannt, gibt es dafür ein sicheres Mittel: in die von Gutschkow geleiteten zarischen Komitees für Kriegsindustrie eintreten. „Von diesem Standpunkte ausgehend, erachtet die Konferenz die Teilnahme der Arbeiter an den kriegsindustriellen Ausschüssen als zweifellos äußerst wichtig" …

Wie wird sich aber der russische Teil des Bundes mit dem deutschen Teile des Bundes vertragen? Oder bekämpfen Liber und Medem einander ebenso wie Scheidemann und Renaudel?

Nichts dergleichen! Die Sozialchauvinisten des Bundes sind Praktiker. Sie schweigen einfach von einander, da sie finden, dass es bequemer sein wird, erst nach dem Friedenskongresse die endgültige „Orientierung" zu wählen.

Den Zwischenraum im Weltraume füllen die vollendeten Kautskyaner des Bundes aus in der Art Jonows, der wen und was man nur will, miteinander „aussöhnt". Das Auslandskomitee des Bundes zitiert die Resolution der Konferenz und schließt in versöhnlichem Tone:

Ungeachtet einiger (!), unserer Meinung nach, falscher Ansichten, ist die Taktik unserer Genossen in Russland (und die Taktik Eurer Genossen in Warschau, meine Herren?), die in den Beschlüssen der Konferenz formuliert wurde, im Großen und Ganzen richtig (!!) und verfolgt die Linien des Internationalismus (hm! hm!), und das ist die Hauptsache."

Die Teilnahme an den Ausschüssen für Kriegsindustrie und die Unterstützung des Zarismus in seiner „Verteidigung" gegen Galizien, die Türkei u. a. m. bewege sich „auf der Linie des Internationalismus"! Wer will, mag's glauben!

Weiter drückt das Auslandskomitee des Bundes der Konferenz gegenüber seine Billigung aus, weil sie die „Versuche, künstlich einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Haag (Vandervelde-Plechanow) und Zimmerwald zu konstruieren", verurteilt. Zum Schluss bleibt nur noch übrig, Kautsky ein Glückwunschtelegramm zu senden, und der „Internationalismus" des Bundes wird den Zyklus seiner Heldentaten erschöpft haben.

Der Leser sieht: der Bund ist die einzige Organisation in der „alten" Internationale, die schon jetzt eine gewisse Synthese des Sozialchauvinismus beider Schattierungen gegeben hat. In Warschau und in Łódż sprechen wir im Dialekte Scheidemanns. In Minsk und Hornel sprechen wir im Dialekte Gwosdews. Und trotzdem sind wir „einig". Wünschen wir diesen prinzipienfesten Leuten Erfolg! … Renaudel und Plechanow wollen Südekum und Legien noch nicht die Hand drücken. Wenn ihr Ehebund aber wieder zu Recht bestehen wird, werden Medem und Liber – und zugleich auch der Mitarbeiter des „Bulletins" des „Bund", L. Martow, – in der „wieder aufgerichteten" Internationale einen Ehrenplatz zugewiesen erhalten. Ehre den Pionieren! …

6, November 1916.

G. Sinowjew.

1 Gemeint ist der Allgemeine jüdische Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland (jiddisch Algemeyner Yidisher Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland, אַלגמײַנער ײדישער אַרבײטערסבונד אין ליטע,פוילן און רוסלאַנד, russisch Всеобщий еврейский рабочий союз в Литве, Польше и России)

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