G. Sinowjew 19150212 Der Krieg und das Schicksal unserer Befreiung

G. Sinowjew: Der Krieg und das Schicksal unserer Befreiung

[„Sozialdemokrat", Nr. 37. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 51-57]

„… Jeder Russe, der zum Chauvinisten wurde, wird sich früher oder später vor dem Zarismus verbeugen …"

Fr. Engels1

Im Jahre 1891 beklagte sich Fr. Engels darüber, dass auch unter den russischen Revolutionären mitunter eine große Unkenntnis jener Seite der russischen Geschichte herrsche, die die Außenpolitik des Zarismus heißt. Engels fand dafür die psychologische Erklärung darin, dass uns russischen Revolutionären die zaristische Regierung derart verhasst sei und wir sie so verachten, dass wir sie für vollkommen unfähig halten, etwas Vernünftiges zu tun, und glauben, dass sie darin ebenso durch ihre Beschränktheit wie Korrumpiertheit gehindert werden würde.

Man könnte sich nichts Fataleres für unsere Bewegung vorstellen, als wenn wir auch jetzt einen solchen Vorwurf verdienten.

Die Außenpolitik, meinte derselbe Engels, ist unzweifelhaft jener Punkt, in dem der Zarismus sehr stark ist. Die russische Diplomatie (… „eine ebenso gewissenlose wie talentierte Bande") ist etwas in der Art eines modernen Jesuitenordens. Und dieser Orden ist stark genug, um im Notfall über die Launen des Zaren zu siegen und mit der Zersetzung innerhalb des eigenen Landes fertig zu werden.

Jetzt sehen wir wieder anschaulich diese „starke, sehr starke Seite" des Zarismus – seine Außenpolitik, deren Erfolge Engels durch die ausnehmend günstige geographische Lage, die ethnographischen Eigentümlichkeiten der russischen Grenzgebiete, die natürlichen Reichtümer usw. erklärte. Man darf sich nicht täuschen. In der Vorbereitung des jetzigen Krieges in der für den Zarismus günstigen Mächtegruppierung, die entstanden ist, gehört ein guter Teil der „Verdienste", dem Jesuitenorden, der russische Diplomatie heißt. Der Zarismus hat viel aufs Spiel gesetzt und – wehe unserem Lande, wenn er verspielen wird. Es unterliegt keinem Zweifel, dass, wenn etwas den Untergang des russischen Zarismus hinausschieben kann, es nur der jetzige Krieg ist.

Wie die Innenpolitik Abdul Hamids in der Türkei zu einer völligen Ohnmacht in der Außenpolitik geführt hat, so dass die Türkei en gros und en detail an die ausländischen Großmächte ausverkauft werden musste, so kann in Russland ein großer äußerer Erfolg des „Jesuitenordens" dazu führen, dass die Innenpolitik Nikolai Romanows, die unsere Heimat zerfleischt hat, noch für lange Jahre sich befestigen wird.

Das durch einen einfachen Sieg gekrönte Regime des 3. Juni wird in seinem Kampf gegen die russische Demokratie noch hundertmal mächtiger werden. Das Gefährliche, das man sich für das Geschick der inneren Entwicklung irgendeines Volkes vorstellen kann, ist ein großer äußerer Sieg der reaktionären Regierung, die das Volk in Unterdrückung hält. Ein neuer Blutzustrom zum absterbenden Organismus wird der schon erstarrenden Hand des Zarismus neue Kraft zuführen, damit sie mit noch größerer Wut die Gurgel Russlands, das ohnehin in dem Umklammern der Romanowschen Monarchie erstickt, zuschnüren kann.

Noch niemals war der Zusammenhang der Außenpolitik Russlands mit dem Los seiner Innenpolitik, mit dem Schicksal seiner Befreiung, seiner Auferstehung zu neuem Leben so evident, wie im jetzigen Kriege. Die fünf Jahre, von 1903 bis 1908, angefangen von der Epoche der unmittelbaren Vorbereitung zum Krieg gegen Japan bis zur Annexion von Bosnien und Herzegowina sind die Dämmerung der Außenpolitik des Zarismus, Jahre der Erniedrigung und der Niederlage für den russischen „Jesuitenorden". In diesen Jahren gewöhnten wir uns wieder zu sehr an den Glauben, dass der russische Zarismus auch auf dem Gebiete der Außenpolitik zu nichts fähig sei; wir überschätzten seine äußeren Niederlagen, obwohl wir mit eigenen Augen sahen, wie der Zarismus in den Jahren 1905/6 trotz alledem immer noch auf der äußeren Arena Trümpfe fand zur Unterdrückung der Revolution (französische Anleihen, Unterstützung von Seiten Deutschlands usw.). Doch jetzt ist es schon vollkommen klar, dass in den fünf Jahren, 1909 bis 1914, der Zarismus sich die ganze Zeit hindurch zur Revanche in der Außenpolitik vorbereitete und dass im gegenwärtigen Moment schon der direkte Kampf um die Verwirklichung der Resultate dieser Vorbereitungsarbeit vor sich geht.

Der chauvinistische Wind, der so verheerende Folgen für die ganze Internationale hatte, hat auch uns russische Sozialisten nicht verschont. Wir zahlten ihm einen hohen Tribut schon in Gestalt Plechanows allein. Wir mussten es erleben, dass russische Sozialisten dem Zarismus einen Waffenstillstand anboten, dass man uns sagte: Wir sind bereit, noch einige Jahre Zarenherrschaft zu dulden, wenn nur „unsere" Armee jetzt den „preußischen Militarismus" zerschmettert. Und das geschieht zu einer Zeit, da unsere Arbeiterdelegierten ins Gefängnis geworfen und unsere Genossen, Moskauer Proletarier, allein wegen Zugehörigkeit zu unserer Partei zu sechs Jahren Katorga verurteilt werden!

Wir sind Russen und treten daher für den Sieg Russlands ein!", sagt man uns, als ob ein Sieg des russischen „Jesuitenordens" ein Sieg Russlands, d. h. ein Sieg der russischen Arbeiter, Bauern, des russischen Volkes sei. Als ob das russische Volk in der Tat eine Unterjochung Galiziens, die Eroberung von Konstantinopel und der Meerengen, die Angliederung Persiens usw. brauchte. Wir haben es erlebt, dass man, wenn man vom Sieg Russlands spricht, vergisst, dass ein solcher Sieg in Wirklichkeit in erster Linie ein Sieg des russischen Zarismus wäre.

Wir sind Russen und deshalb treten wir für die Niederlage des russischen Zarismus ein, – diese Formel steht uns, russischen Sozialisten, viel mehr zu Gesicht, wenn schon einmal argumentiert werden muss, dass „wir Russen" sind.

Aber ein Sieg Russlands" wird uns eine gesteigerte Entwicklung des Kapitalismus und damit auch ein gesteigertes Wachstum der Arbeiterbewegung bringen. Daraus folgt, dass „wir als Marxisten" … usw. Banalisiert doch die große Lehre des Marxismus nicht, Ihr Herren! Ihr rechtfertigt die schlimmste Karikatur auf den Marxismus, die von den Gegnern des Marxismus je entworfen wurde. Da eine Entfaltung des Kapitalismus fortschrittlich sei, so wollen wir Kneipen eröffnen, den Kapitalismus anpflanzen! Wir wollen zum Kapital in die Lehre gehen, unterstützt den „durchlauchtigsten Höchstkommandierenden", der dem vaterländischen Kapitalismus den Weg bahnt. – Stellt man sich auf den Standpunkt, dass man beim Kapital in die Lehre gehen und im Fabrikkessel ausgekocht werden muss, dann hat Südekum jedenfalls ebenso recht wie Ihr. Denn sein „deutscher" Kapitalismus ist keineswegs schlechter, aber in vieler Hinsicht besser, mächtiger und fortschrittlicher als der russische. Es ist Sache der Sozialdemokratie, die Arbeiterklasse, die sich auf Grund des Kapitalismus entwickelt, zu organisieren im Kampfe gegen das kapitalistische Regime. Haben wir denn so gründlich alles vergessen und nichts hinzugelernt, dass man beweisen muss, dass Sozialismus und Internationalismus nicht dasselbe sei? …

Mag sein. Aber eine Niederlage der russischen Armee wird auf das russische Volk zurückfallen. Die eventuelle Kontribution werden die Arbeiter und Bauern zahlen müssen. Ruiniert werden ja unsere Armeen werden. Die Hunderttausende gefallener Soldaten sind ja Arbeiter und Bauern … Richtig, antworten wir. Aber wird denn der Sieg „Russlands", d. h. des russischen Zarismus nicht auch von denselben Armeen bezahlt werden müssen? Werden nicht Hunderttausende von Söhnen Russlands auch in diesem Falle auf den Todesfeldern ihr Leben lassen? Und wir, als internationale Sozialdemokraten sollen wünschen, dass nicht wir, sondern, sagen wir, der österreichische oder deutsche Arbeiter und Bauer von diesem „Russland" ruiniert werde? Opfer, ungeheure, unzählige Opfer werden in jedem Fall und von allen Seiten da sein. Der Unterschied ist nur der, dass im Fall eines Sieges „Russlands" die innere Lage des wirklichen Russlands noch trostloser, noch härter werden wird.

Ja, aber dann solidarisieren sie sich einfach mit den preußischen Junkern und der österreichischen Monarchie, dann führen sie Krieg gegen den russischen Zarismus in demselben Geiste wie Südekum u. Comp., dann greifen sie im Kampfe gegen den Zarismus zu Parolen, die den Klassenstandpunkt vertuschen! Nein, das ist nicht so. Das wäre so, wenn wir uns auf den Standpunkt Kautskys oder Plechanows stellten, wonach die ganze Frage dadurch erschöpft wird, dass jeder Arbeiter „sein Vaterland verteidigen" und dieses Recht auch den anderen zugestehen muss. Das wäre so, wenn wir nicht als Verrat am Sozialismus jene Politik des angeblichen „Kampfes gegen den Zarismus" brandmarken würden, die heuchlerisch von den österreichischen und deutschen Sozialdemokraten verkündet wurde. Das wäre so, wenn wir nicht von allen sozialistischen Parteien den Kampf gegen die Regierung ihres eigenen Landes fordern würden, wenn wir nicht die Losung: „Überleitung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg" für alle Länder mit einer einigermaßen entwickelten Arbeiterbewegung proklamiert hätten. Wenn unser … eifriger Parvus verkündet: „Für uns kann es nur (!) eine Losung geben -- Kampf gegen den Zarismus! – das bezieht sich nicht nur auf die sozialistischen Parteien Deutschlands und Österreich-Ungarns, die ihr Vaterland (!) gegen die Zarenarmee verteidigen müssen, das bezieht sich auch auf die sozialistischen Parteien der ganzen Welt." (Vergl. sein Flugblatt „Kampf gegen den Zarismus", Konstantinopel, Oktober 1914.) – Darauf antworten wir:

Nein, unsere Losung kann nicht „nur" gegen den Zarismus gerichtet sein! Und Eure Phrase von der Vaterlandsverteidigung ist ebenso verlogen wie die Phrasen Südekums. Jawohl, gegen den Zarismus! aber – nicht nur gegen den Zarismus, sondern auch gegen den Kaiserismus, noch weiter gefasst: gegen den Imperialismus sowohl den deutschen wie den englischen, den französischen und den belgischen. Wir erleben einen typisch imperialistischen Krieg, den Krieg des Anfangs vom Ende des Kapitalismus. Wir werden kämpfen um den Sturz des die Menschheit entehrenden Zarismus. Aber Euch, deutsche, englische und französische Genossen, Arbeiter, rufen wir auf, zusammen mit uns gegen Euren Imperialismus zu kämpfen, der Millionen von Proletariern vor die Kanonenläufe gestellt hat. Gegen den Zarismus und gegen den bürgerlichen Imperialismus – das ist unsere Losung. Kommt, wir wollen die Umwandlung der imperialistischen Kriege in den Bürgerkrieg vorbereiten! Und mag die deutsche (und französische) Sozialdemokratie momentan für unseren Appell taub sein, wir können unserem Banner nicht untreu werden, weil ihm Haase und Noske oder sogar Jules Guesde und Plechanow untreu geworden sind. Wir sind fest überzeugt, dass unser Appell früher oder später einen glühenden Widerhall in den Herzen der Arbeiter aller Länder finden wird. Und wir kämpfen gegen zwei Fronten: sowohl gegen Plechanow und Guesde, wie auch gegen Parvus und Südekum.

Gut, aber Ihr irrt Euch einfach in der Berechnung. Sollte „Russland" auch unterliegen, so wird Deutschland dennoch die Revolution nicht zulassen, Deutschland wird dem Zarismus zu Hilfe kommen. – Wohl möglich, antworten wir darauf. Ein baldiger Bund „Deutschlands" mit „Russland" ist eine Perspektive, die in beiden Fällen viel Wahrscheinlichkeit für sich hat. Wir glauben keineswegs, dass der Zarismus nach einer militärischen Niederlage von außen auf keinerlei Hilfe gegen die Revolution rechnen könnte. Eine russische demokratische Revolution bedroht zu sehr die Interessen der allmächtigen europäischen Plutokratie, als dass sie nicht dem Zarismus im schlimmen Moment zu Hilfe eilte. Aber bei sonst gleichen Verhältnissen ist unsere Lage, die Lage des wirklichen Russland, die Aussicht der Revolution viel größer nach einem militärischen Debakel des Zarismus, als nach dessen Sieg. Und jedenfalls wollen wir nicht vergessen, dass ein Sieg „Russlands" momentan eine unmittelbare und absolute Verschlechterung der Lage für einige Millionen Galizier bedeutet, dass ein solcher Sieg „Russlands" eine Lösung der nationalen Fragen in Russland im Geiste des Purischkewitsch, also im Geiste der Knute und des Galgens anbahnt, der nationalen Frage, die sich auf viele Millionen der ukrainischen, polnischen, jüdischen und anderen Bevölkerung bezieht.

In Berücksichtigung der Lage, die wir jetzt sehen, kann man drei Perspektiven entwerfen.

Die erste: „Russland" siegt. Der Zarismus bekommt Galizien und in dieser oder jener Form auch Konstantinopel mit den Meerengen. Frankreich gerät in eine noch viel größere Abhängigkeit vom Zarismus. Der Stern des russischen „Jesuitenordens" gewinnt einen noch nie dagewesenen Glanz. Der russische Militarismus nimmt Dimensionen an, von denen nicht einmal Deutschland träumte. Viele Millionen Arbeiter und Bauern kann das zaristische „Russland", das über schier 200 Millionen Einwohner verfügt, als Kanonenfutter verwenden. Vom Goldregen der Kontributionen wird ein gut Teil auch der Bourgeoisie zufallen, die dadurch endgültig an den Wagen des Zarismus gekettet wird. Die Ukraine ist erdrosselt. Das verschobene Todesurteil über Finnland ist vollstreckt. Die „Lösung" der Agrarfrage im Geiste Stolypins wird erleichtert durch die Verdünnung der Bauernbevölkerung: eine Million oder gar zwei der jüngsten und tatkräftigsten Bauern sind zum Ruhme „Russlands" erschlagen. Der russische „Jesuitenorden" erhält auf internationaler Arena die Diktatur. Alles beugt sich vor ihm. Der russische Zarismus braucht es nur zu wollen, und jede Befreiungsbewegung in einem beliebigen Lande ist erstickt. Die europäische Reaktion schleudert die Arbeiterbewegung der Welt und vor allem die Arbeiterbewegung Russlands auf Jahrzehnte zurück. Für den Sozialismus entstehen neue ungeheure Schwierigkeiten.

Die zweite: „Russland" trägt keinen entscheidenden Sieg davon, kann aber rechtzeitig einen Frieden mit Deutschland abschließen. Z. B. nach einer eventuellen Einnahme von Warschau durch die Preußen – einem Moment, der der deutschen Diplomatie zum Abschluss eines Separatfriedens mit „Russland" besonders günstig erscheint. Es ist möglich, dass das Zarenrussland, den „ruhmreichen Geboten der Ahnen" folgend, auf diese oder jene Weise Serbien im Stich lassen und es gegen Galizien eintauschen wird. Es ist möglich, dass Russland nach einem Friedensschluss mit Deutschland es allein den Kampf gegen England „ausfechten" lassen wird, um die beiden zu schwächen und selber gegen Konstantinopel vorzurücken. Die Folge ist vorübergehend eine russisch-preußische „heilige Allianz". „Russland" erhält einen neuen Aufschub zur Erfüllung der von den Ahnen ererbten historischen Aufgaben, d. h. der Eroberung von Konstantinopel. Derselbe Aufschub erstreckt sich auch auf die Innenpolitik „Russlands" gegen Russland. „Die inneren Türken" bleiben Herren der Situation.

Die dritte: Der russische Zarismus hat militärisch Schiffbruch erlitten. Und welche internationalen Kombinationen auch entstanden sein mögen, innerhalb des Landes wird der Brand des Volksaufruhrs entfacht. Russland stürzt den Zarismus. Dadurch ist auch die Herrschaft des „Jesuitenordens" gebrochen. Das demokratische Russland nimmt auch das Geschick seiner Außenpolitik in die eigene Hand. Es verschwindet jeder Boden für eine franco-russische Allianz in ihrer jetzigen reaktionär-chauvinistischen Gestalt. An Stelle des Bundes „Frankreichs" mit „Russland" tritt der Bund der französischen und russischen Demokratie. Die Initiative des Kampfes geht in gewissem Sinne zum russischen Proletariat über, ähnlich, wie wir es 1905 gesehen haben. Die demokratische Revolution springt von Russland auf die anderen Länder über und wird zum Präludium der sozialen Revolution in Westeuropa. Wie die französische Revolution einen Weltkrieg gegen die Könige zu führen suchte, so erklären wir dem Kapital den Weltkrieg. Dem europäischen Proletariat schließt sich das amerikanische an. Die Stunde hat für unsere Unterdrücker geschlagen …

In allen drei Fällen gehen Millionen und Abermillionen unserer Brüder zugrunde, sind die Opfer von Seiten der Arbeiter ungeheuerlich, fließen Meere von Blut und Tränen. Aber nur in diesem dritten Fall sind diese Opfer nicht umsonst gewesen. Welcher russische Revolutionär, Sozialist, Demokrat kann in der Wahl schwanken?

Für uns, revolutionäre Sozialdemokraten, dominiert über diesen drei Möglichkeiten natürlich eine andere, für uns aller wichtigste Alternative: Wird es dem internationalen Räubergesindel, nach dem was es angezettelt hat, glimpflich ergehen, oder wird es den Proletariern in diesem oder jenem Lande schon jetzt, unabhängig von dem Gang und dem Ausgang der militärischen Operationen gelingen, die Ära des Bürgerkrieges zu eröffnen, wird der Protest auch in andere Länder überspringen, werden wir nicht jetzt schon Zeugen von proletarischen Bewegungen werden, die mit einem Schlag alle Pläne der Imperialisten der verschiedenen Länder zunichte machen werden? Unsere wichtigste Perspektive, unsere Hauptaufgabe ist: Ohne zu ruhen, jetzt schon daran zu arbeiten, dass dem genau so werde. Dass schon der erste imperialistische Weltkrieg gleich durch den Anfang des Bürgerkrieges gekennzeichnet werde.

Aber wir dürfen nicht ignorieren, dass dieser oder jener Ausgang der kriegerischen Operationen unseren Befreiungskampf, sei es auch nur in Russland, selber erleichtern oder erschweren würde. Und so sagen wir:

Ja, wir sind für eine Niederlage „Russlands", denn sie würde den Sieg Russlands, seine Entsklavung, seine Befreiung von den Fesseln des Zarismus fördern. Wo sind die Fälle in der neuesten Geschichte Europas, wo der äußere Sieg einer reaktionären Regierung zur demokratischen Freiheit innerhalb des Landes geführt hätte? Das Gegenteil ist die Regel. Erinnern wir uns an den Krieg 1870/71, wo der äußere Sieg Preußens zu einer elfjährigen Epoche des Sozialistengesetzes geführt hat.

Hatte nicht Wilhelm Liebknecht recht, der während des deutsch-französischen Krieges schrieb: „Hat man denn je gehört, dass eine despotische Regierung nach einem erfochtenen Sieg liberal geworden wäre? Mit besiegten Regierungen geschah das mitunter für kurze Zeit. Beispiel: Preußen 1806 oder Österreich 1866."

Vorboten dessen, wie der Zarismus innerhalb seines Landes seinen Sieg ausnutzen würde, sehen wir jetzt schon, da er nur Galizien besetzt hält. Die Verhaftung der Arbeiterdelegierten ist nur eine kleine Andeutung der Folgen, die sich aus einem eventuellen Sieg des Zarismus in der Außenpolitik ergeben würden. „Nowoje Wremja" spricht jetzt schon offen davon, dass ein äußerer Sieg allein imstande wäre, „ein für allemal der Revolution ein Ende zu machen."

Wenn man sagt, dass es jetzt nicht an der Zeit wäre, gegen den Zarismus zu kämpfen, denn der äußere Feind stehe vor der Tür, so müssen wir an jenen Bojaren2 aus der Zeit Iwan des Grausamen zurückdenken, der ebensolche Einwände mit den einfachen und schönen Worten beantwortete:

Was heißt Tatare, Pol' und Deutscher

Im Vergleich mit ihm?

Was heißet Seuch' und Hunger,

Wenn der Zar selbst ein reißend Tier? …"

Die „reißenden Tiere" der Romanowschen Dynastie zerfleischen schon seit mehr als drei Jahrhunderten das russische Volk. Wir haben's ihnen zu verdanken, wenn Männer unseres Landes erklären mussten, sie schämten sich, Russen zu sein. Und in dem Moment, da das „reißend Tier" zum Sprung ausholt, um seine Zähne nicht nur in das eigene Volk, sondern auch in das lebende Fleisch einer ganzen Reihe anderer Völker einzugraben, da sollen wir, russische Revolutionäre, wir, die uralten Feinde dieses Tieres, die Generationen lang im Kampf gegen dieses Tier zugrunde gingen, da sollen wir uns sagen: Wir wollen die reißende Bestie nicht anrühren, denn sie ist unser, ist russisch! …

Die russischen Sozialisten, die dem Chauvinismus verfallen sind, haben dem Zarismus erst einen Finger gereicht. Aber – er möge nicht ihre ganze Hand haben wollen! Wir wünschen ihnen das eine: dass an ihnen sich nicht die Prophezeiung unseres großen Lehrmeisters Friedrich Engels bewahrheite, wonach „jeder Russe, der zum Chauvinisten wurde, sich früher oder später vor dem Zarismus verbeugen wird, wie wir es am Beispiel des Leo Tichomirow3 sahen."

Krieg dem russischen Zarismus, unerbittlicher Krieg, Krieg ohne jeglichen Waffenstillstand, Krieg auf Leben und Tod! Es ist nicht nur unser Recht, sondern es ist unsere Pflicht, uns die äußeren Schwierigkeiten des russischen Zarismus zu nutze zu machen – denn auch der Zarismus würde seinen äußeren Sieg dazu benutzen, um ganz Russland endgültig in einen Kerker zu verwandeln.

12. Februar 1915.

G. Sinowjew.

1 Dieses und das folgende Zitat sind dem Aufsatz von Engels: „Die auswärtige Politik des russischen Zarentums" entnommen, der in der russischen Revue „Sozialdemokrat" erschienen war. (London 1890, S. 176 ff.)

2 Gemeint ist Fürst Kurbski, der zu Iwan IV. in Opposition stand und nach Litauen flüchtete.

3 Ehemaliger Narodnik aus den 90er Jahren, der später einer der ärgsten Erzreaktionäre wurde, Verfasser einer Schmähschrift: „Warum hörte ich auf, Revolutionär zu sein."

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