I. EINFÜHRUNG

I. TEIL

I. EINFÜHRUNG

Ende August 1870, kurz vor Sedan, als der militärische Sieg Preußens schon sehr wahrscheinlich war und es klar wurde, dass der Zusammenschluss Deutschlands zu einem einigen Reich — wenn auch von oben herab, nach Bismarcks Methode — unbedingt erfolgen musste, schrieb Karl Marx in seinem Brief an den Braunschweiger sozialdemokratischen Ausschuss der Eisenacher: „Dieser Krieg hat den Schwerpunkt der kontinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt.“ Und Marx fügte hinzu, dass damit eine große Verantwortlichkeit auf der deutschen Arbeiterklasse ruhe. Die deutschen Arbeiter würden selbst schuld sein, wenn sie nicht imstande sein würden, die ihnen zugefallene Rolle zu Ende zu führen.

Marx‘ Prophezeiung hat sich bewahrheitet. Die Pariser Kommune war der Abschluss eines ganzen Abschnitts in der Geschichte der französischen Arbeiterbewegung. Seither und besonders seit den achtziger Jahren — ist der deutschen Arbeiterbewegung die führende Rolle zugefallen. Wenigstens kann man sagen, dass die deutsche Sozialdemokratie zwei Jahrzehnte hindurch die ganze proletarische Internationale beherrscht hat. Ihr gehörte die ideelle Hegemonie in der zweiten Internationale fast seit Beginn ihrer Existenz bis zum Zusammenbruch der letzten Tage.

Für uns, die Sozialisten der jetzigen jungen Generation, ist daher so Vieles mit der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie verknüpft. Besonders für die russischen Sozialdemokraten. Wir sind erzogen worden und haben die russischen Arbeiter erzogen im Gefühl tiefster Achtung für die deutsche Sozialdemokratie. Wie sollten wir nicht stolz sein auf die deutsche Bewegung, wie nicht staunen über ihre Größe, sahen wir doch, wie vor unseren Augen eine mächtige, stolze Partei entstand, die eine Million Mitglieder und vier Millionen Wähler umfasste! Wir sahen die Gewerkschaften mit ihren drei Millionen klassenbewussten Arbeitern. Wie sollten wir nicht stolz sein, als wir sahen, dass nur in diesem Land die entrechtete Klasse, die Klasse der Lohnarbeiter eine so ungeheure aufklärende Tätigkeit entwickelte, einen so mächtigen Organisationsapparat, die Kultur der Zukunft, aufbaute?

In vielen Beziehungen war die deutsche Sozialdemokratie für uns ein Vorbild, ein unerreichbares Ideal. Wir nahmen sie uns zum Muster. Jedem jungen russischen Proletarier erzählten wir schon im ersten Gespräch, schon in der ersten Versammlung von der mächtigen deutschen Sozialdemokratie.

Und jetzt — welches Ende sehen wir! Aus dem unerreichbaren Ideal ist die deutsche Sozialdemokratie zu einem Spielzeug der imperialistischen Regierung und der „patriotischen“ Bourgeoisie „ihres“ Landes geworden. „Unsere patriotische Sozialdemokratie“, sagen die deutschen Imperialisten, ihr wohlwollend auf die Schulter klopfend. Die deutsche Bourgeoisie hebt ihren .‚Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie“ auf, da er „überflüssig geworden ist“. Durch ein Rundschreiben befiehlt die deutsche Militärclique, aus ihren militärischen Handbüchern diejenigen Seiten, die gegen den „inneren Feind“, die Sozialdemokratie, gerichtet sind, fort zu streichen. „Unsere“ Sozialdemokraten sind vollkommen zahm geworden!

Ihre Sozialdemokratie! Seht, wie treu sie zu ihrem „Vaterland“ und ihrem Kaiser steht, wie entschlossen sie sich im Namen der „Vaterlandsverteidigung“ von ihren sozialistischen „Vorurteilen“ losgesagt hat!

Im Jahre 1891, als die politische Atmosphäre in Europa besonders gespannt war und als es schien, dass bald ein Weltkrieg ausbrechen würde, schrieb Bebel, der schon damals der Führer der deutschen Sozialdemokratie war:

Und dann (d. h. wenn der Weltkrieg ausbricht) kommt, was kommen muss. Die niedergetretenen, über das Massenschlachten empörten, vom Generalbankrott und der Hungersnot ausgesogenen Völker werden sich ermannen und die Lenkung ihrer Geschicke in die eigenen Hände nehmen. In dieser großen Völkersymphonie spielt die Sozialdemokratie die erste Geige.“1

Dieser Artikel wurde ungefähr zur selben Zeit geschrieben, als Friedrich Engels mit seinem berühmten Artikel „Der Sozialismus in Deutschland“ hervortrat; in dieser Abhandlung gibt er der Hoffnung Ausdruck, dass der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nur noch gezählte Tage bevorstehen, dass der Sozialismus eine Frage der nächsten Zukunft sei. „Der Friede,“ schrieb damals Engels, „sichert den Sieg der deutschen sozialdemokratischen Partei in ungefähr zehn Jahren. Der Krieg bringt ihr entweder den Sieg in zwei bis drei Jahren, oder vollständigen Ruin, wenigstens auf fünfzehn bis zwanzig Jahre.‘‘2

Der Artikel Bebels ist dem Erfurter Parteitag gewidmet, demselben, auf dem das in der Geschichte der Internationale berühmt gewordene Erfurter Programm Annahme fand. Gerade in demselben Jahre 1891 hatte Georg Brandes einige Gespräche mit Bebel. Nach dem Tode Bebels erzählte Georg Brandes in der Presse mit dem Lächeln eines „nüchternen“ Menschen, wie Bebel zu jener Zeit voll „phantastischen“ Glaubens war, dass in fünf bis sechs Jahren etwa der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft kommen müsse.

Das war einmal … Die großen Vorkämpfer der Arbeiterklasse glaubten an einen nahen Sieg des sozialistischen Ideals. Sie hatten sich in der Lebensdauer der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geirrt; dem Kapitalismus sind viel mehr Tage gegönnt, als sie gedacht haben. Aber was würden sie gesagt haben, wenn jemand auf den Gedanken gekommen wäre, vorauszusagen, dass noch ein Vierteljahrhundert vergehen werde, dass die proletarischen Parteien aller Länder der Welt sich machtvoll entwickeln und Millionen von Arbeitern umfassen werden — aber nur, damit sobald der Weltkrieg wirklich ausbricht — die offiziellen sozialdemokratischen Parteien sich in ein und demselben Lager mit den schlimmsten Ausbeutern der Arbeiterklasse befinden, mit den schlimmsten Feinden des Sozialismus, mit den wütendsten Gegnern der Demokratie?

Dies ist zur Tatsache geworden!. Im Jahre 1891 prophezeite Bebel der deutschen Sozialdemokratie für den Fall eines Weltkriegs die erste Geige in der revolutionären Symphonie aller Völker. Seitdem sind 25 Jahre vergangen. Der Krieg brach aus. Er fand die deutsche Sozialdemokratie als ungeheure Viermillionenpartei vor, Aber an Stelle der ersten Geige in der revolutionären Symphonie der Völker nahm diese Partei die Rolle der ersten Trommel in der gegenrevolutionären, imperialistischen Raubsymphonie der Hohenzollern, der Kluck und Hindenburg auf sich. Und dies — aus eigenem Antrieb, nicht etwa aus Angst! Gibt es wohl in der Geschichte viele Fälle eines ähnlichen Zusammenbruchs, einer so unerhörten Verhöhnung des mächtigen Banners, dessen Anblick Millionen von Menschen mit Bewunderung erfüllte, das die besten Vorkämpfer und Denker der Menschheit mit ihrem Herzblut gefärbt hatten?

Ich glaube, es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass wir russischen Sozialdemokraten durch den Fall der deutschen Sozialdemokratie am schmerzlichsten berührt worden sind. Als die ersten Nachrichten von der „historischen Sitzung des Deutschen Reichstags am 4. August“ und von dem Verhalten der 110 sozialdemokratischen Abgeordneten bei uns eintrafen, da wollten wir dieser Tatsache keinen Glauben schenken, das Bewusstsein konnte sie nicht fassen. Es ist eine Lüge, sagten wir, eine schändliche Lüge! Die bürgerliche Presse bringt diese Lügennachricht, um die Stimmung wenigstens für einen Moment, wenigstens für die Zeit der ersten Mobilisierungstage aufrecht zu erhalten. Es kann doch nicht sein, dass an der Stelle, wo bisher der Montblanc in die Höhe ragte, jetzt plötzlich nur noch eine große, übel riechende Pfütze übrig geblieben ist! Dann kamen die reaktionären Zeitungen der Agrarier, in denen „unsere“ Sozialdemokraten in den Himmel gehoben wurden. Endlich kam auch der „Vorwärts‘, in dem schwarz auf weiß — und ohne ein Wort der Kritik — die Erklärung abgedruckt war, die der Abgeordnete Haase im Reichstag abgegeben hatte.

Es ist also doch wahr! Die deutsche Sozialdemokratie ist tot. Der sozialistische Simson ist enthauptet worden, geschändet ist das Banner der Arbeiterklasse…

Unser Banner ist erniedrigt. Das größte Unglück, das wir uns vorstellen konnten, ist über uns hereingebrochen. Millionen unserer Brüder werden im Weltkrieg zu Grunde gehen, Blut wird unsere Felder durchtränken. Unsere Mütter sind zu Not und Hunger verurteilt, vielleicht zum Hungertod. Aber was ist uns alles das im Vergleich mit dieser Verhöhnung des sozialistischen Banners, mit unseren in den Schmutz getretenen Idealen, die den ganzen Inhalt unseres Lebens und Kampfes ausmachten, mit all der Schande, die uns — wer? — die deutsche Sozialdemokratie bereitet hat. (Ebenso die französische Partei, die am selben Tage auch für die Kriegskredite gestimmt hat.)

Trotzdem, je mehr man über das Geschehene nachdenkt, um so mehr gelangt man zur Überzeugung, dass im historischen Sinne. dieser furchtbare Zusammenbruch der deutschen und der französischen Sozialdemokratie — so wie sie vor dem Jahre 1914 beschaffen waren — nicht ein Unglück, sondern ein Glück für die Arbeiterbewegung der ganzen Welt bedeutet. Wir mussten die Wahrheit über die jetzt bestehende Sozialdemokratie kennen, wir mussten uns überzeugen, wo unsere wirkliche Macht und wo unsere Schwäche lagen, wir mussten erkennen, was ist, und — je früher, desto besser.

Dass innerhalb der deutschen Sozialdemokratie nicht alles in Ordnung war, dafür hatte es im Laufe der letzten Jahre mehrfach Anzeichen gegeben. Der Revisionismus hatte sein Haupt erhoben. Das Verhältnis zum linken marxistischen Flügel wurde ein immer feindlicheres und nicht achtenderes. Jede revolutionäre Initiative wurde im Keime erstickt. Die Presse war farblos, selbst im Wahlkampf gewannen die Methoden prinzipienloser Kompromisse die Oberhand. Es sei zum Beispiel erinnert an die berühmte Dämpfung im sozialdemokratischen Wahlkampf während der Reichstagswahlen im Jahre 1912 um des Blocks mit den Liberalen willen. Im Jahre 1913 ging man sogar so weit, für die Militärkredite zu stimmen. Diese Abstimmung versuchte man damit zu rechtfertigen, dass die Sozialdemokratie ja immer für das System der direkten Steuern eingetreten und die Bourgeoisie ja darauf eingegangen sei, einen Teil der militärischen Ausgaben im Jahre 1913 durch direkte Steuern zu decken. Hieraus wurde der Schluss gezogen, dass die Sozialdemokratie nicht dagegen stimmen könne. Umsonst gab sich die linke Minderheit Mühe nachzuweisen, dass dag Entscheidende in der Bestimmung des Geldes läge, und wir es doch nicht bewilligen dürften, wenn es für den Galgen bestimmt ist, an dem wir selbst hängen würden, selbst wenn diese Ausgabe auf einem Wege gedeckt werden sollte, der der gerechteste der Welt wäre. Das „Zentrum“ und die Revisionisten überstimmten den linken Flügel und selbst Bebel rechtfertigte diese Abstimmung.

Das waren Unheil verkündende Symptome. Oft wollte man den Ernst dieser Symptome nicht sehen. Oft schlossen wir diesen Tatsachen gegenüber die Augen. Natürlich waren wir gegen die Bewilligung des Militäretats im Jahre 1913 (es handelte sich um die Verstärkung der Armee, die Wilhelm II. gleich nach der Reise Poincarés nach Russland ins Werk setzte, da dort bekanntlich über neue Rüstungspläne verhandelt wurde). Doch wir fassten es als einen mehr oder weniger zufälligen Fehler auf. Wir dachten nicht einen Augenblick daran, dass dies der Beginn der ganzen Epoche gewesen sei, in der die deutschen Sozialdemokraten vom Standpunkt des Sozialismus zum Standpunkt des Imperialismus übergehen würden. Zu ungeheuerlich wäre uns eine solche Annahme erschienen. Zu schmerzlich wäre es gewesen, an solch eine Möglichkeit zu glauben.

Jetzt aber, in der Beleuchtung der Ereignisse vom 4. August und 2. Dezember 1914 sehen wir die Abstimmung im Jahre 1913 in einem ganz anderen Licht. Der Fall der Mehrheit der deutschen Sozialdemokraten ist kein zufälliger. Nein, in der Tatsache, die durch ihre Ungeheuerlichkeit die Herzen aller wahren Sozialisten erschüttern musste an jenem denkwürdigen 4. August 1914, ist nur das in Erscheinung getreten, was in den Tiefen der deutschen Sozialdemokratie herangereift war.

Ebenso hatte man schon lange das Gefühl, dass — was den Internationalismus anbetrifft —— nicht alles in Ordnung sei in der deutschen Sozialdemokratie In der Internationale bestanden diesbezüglich unklare, aber bittere Empfindungen, über die man sich kaum Rechenschaft geben konnte. Und aus diesen Befürchtungen machten die Genossen der verschiedenen Parteien kein Hehl. Nach dem Stuttgarter Kongress, auf dem die Frage des internationalen Kampfes gegen den Krieg eine dominierende Rolle spielte, schrieb, Karl Kautsky:

Es bedurfte nicht geringer Arbeit in Stuttgart, das Missverständnis aufzuklären, als gedenke die deutsche Sozialdemokratie sich im Falle eines Krieges außerhalb des Bereiches der internationalen Solidarität zu stellen ... Es bedurfte nicht geringer Arbeit, das Missverständnis aufzuklären und der Internationale das Bewusstsein beizubringen, dass das deutsche klassenbewusste Proletariat dagegen gefeit ist, durch irgendwelche Mittel oder Situationen zur Kriegsbegeisterung verhetzt zu werden, dass sein internationales Empfinden so stark ist wie je, dass die Internationale stets auf das Proletariat Deutschlands rechnen kann. Als dies am letzten Tag des Stuttgarter Kongresses unzweideutig kundgegeben wurde, da ging ein Aufatmen der Erleichterung durch den Kongress, das bald zu stürmischem Jubel anschwoll.“3

Welch bittere Ironie liegt jetzt in diesen Worten Kautskys! Man hat uns versprochen, „unter keinen Umständen“ dem chauvinistischen Rausch zu unterliegen. Aber kaum waren die „Umstände“ da, als die ganze offizielle deutsche Sozialdemokratie sich im Lager der wütendsten Chauvinisten einfand. Zu Beginn des Krieges gab es keine einzige einigermaßen einflussreiche Gruppe, die an die Pflichten des deutschen Proletariats gegenüber seinen Arbeiterbrüdern in den anderen Ländern erinnert hätte — keine einzige Gruppe, die die Ehre der deutschen Sozialdemokratie gerettet hätte…

Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Essen fand nach dem Stuttgarter Kongress statt. Auf diesem Parteitag wurde die Frage des Kampfes gegen den Krieg und der internationalen Pflichten der deutschen Sozialdemokratie sehr eingehend verhandelt. Wie wir weiter unten sehen werden, haben sich schon damals ziemlich gefährliche Symptome gezeigt. Kautsky aber schrieb, die Debatten dieses wichtigen Parteitags zusammenfassend: „Die Internationale darf also mit vollster Zuversicht der deutschen Sozialdemokratie vertrauen Sie wird stets ihre Pflicht erfüllen.“4

Nun haben wir die Zeit erlebt, da die deutsche Sozialdemokratie „ihre Pflicht erfüllt“ — gegenüber dem Imperialismus ihres Vaterlandes. Den internationalen Sozialismus aber hat sie schmählich verraten. Schlimmer als das. Wir haben die Zeit erlebt, wo direkter und wissentlicher Verrat am sozialistischen Banner „Pflichterfüllung“ genannt wird, solche Leute aber wie Karl Kautsky behaupten heute noch wie im Jahre 1907, dass sie alle gute Sozialisten geblieben seien, dass der Verständigung nur einige kleine „geographische“ Missverständnisse im Wege stehen!

Welche Schmach, welch unglaublicher Tiefstand! Der ideelle Zusammenbruch der deutschen und überhaupt der offiziellen europäischen Sozialdemokratie — ist umso größer, wirkt umso tödlicher, je größer ihre quantitative Macht ist. Mit Stolz berichten jetzt mündlich und schriftlich die Führer der deutschen Sozialdemokratie, dass die deutsche aktive Armee zu einem Drittel aus Sozialdemokraten besteht, dass sie mehr als 40 Korps der deutschen Armeen ausmachen. Und die Statistik beweist, dass dem wirklich so ist. Haben sich aber unsere früheren Genossen überlegt, welche Bedeutung diese Tatsache hat? Verstehen sie, dass sie ihr Verbrechen gegenüber dem internationalen Sozialismus noch mehr unterstreicht? Man überlege, was eine sozialistische Partei, die in der Armee unter je drei Soldaten ein Mitglied hat, alles machen könnte wenn sie sozialistisch geblieben wäre!

Ja, ihr habt viel in der Hand gehabt, Genossen von einst! Das alles habt ihr verspielt um der schönen Augen eurer vaterländischen Imperialisten willen. Ihr wart der Stolz und die Hoffnung des internationalen Sozialismus ihr seid zu seiner Schande geworden.

Der Zusammenbruch der zweiten Internationale ist vor allem der Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie. Und der Zusammenbruch dieser letzteren ist vor allein der Zusammenbruch des Opportunismus, des Revisionismus, der in den letzten Jahren in der deutschen Sozialdemokratie die Oberhand gewonnen hatte. Die Revisionisten hatten schon längst innerhalb der deutschen Sozialdemokratie sozusagen einen Staat im Staate gebildet. Die Führer der Gewerkschaften, fast sämtlich Revisionisten, hatten schon längst ihre eigene Zentrale, die dem Parteivorstand ihren Willen diktierte; sie besaßen ihre eigenen Zeitschriften, in denen die Herren Schippel, Calwer, Hildebrand usw. tonangebend waren. Der Parteischule stellten sie ihre eigene Schule gegenüber, in der Führer revisionistischer Richtung ausgebildet wurden. Als Gegensatz zur „Neuen Zeit“ schufen sie ihre Zeitschrift die „Sozialistischen Monatshefte“, die alle Führer des Opportunismus vereinigten.

Das allmähliche „Anwachsen“ der Opportunisten in der deutschen Partei war in den letzten Jahren so weit, dass diese tatsächlich die Herren der Lage waren. Der Parteivorstand spielte nur noch die Rolle eines Dieners der Fraktion. Die „Sozialistischen Monatshefte“ waren vielmehr das zentrale Organ der Partei als die „Neue Zeit“. Das so genannte „marxistische Zentrum“ mit Haase und Kautsky an der Spitze, war an den revisionistischen Wagen festgebunden und wurde mitgeschleift …

Die revisionistischen Ideen haben triumphiert innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Die Epoche des verheerenden imperialistischen Krieges, die Epoche, da die Arbeiter der verschiedenen Länder gegeneinander — der Bruder gegen den Bruder aufstanden, diese Epoche war dem Triumphe der revisionistischen Ideen günstig. Aber der Sieg des Revisionisten wird ein Pyrrhussieg sein. Sein Triumphzug über die Leichen der auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen getöteten Proletarier wird gleichzeitig sein Weg zum Grabe sein. Was der Revisionismus in der Praxis ist, davon haben sich die Arbeiter jetzt mit eigenen Augen überzeugt. Und wenn die trübe Welle des Chauvinismus verebbt sein wird, dann werden sie beginnen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.

Der Krieg hat viele Werte umgewertet. Auch die deutsche Sozialdemokratie muss umgewertet werden. Wir hatten den Glauben, eine wertvolle Perle zu besitzen, aber es stellte sich heraus, dass sie nicht echt war. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt.

Man glaube nicht, es handle sich bei der deutschen Sozialdemokratie nur um den Mangel an Internationalismus. Es ist unmöglich, nur in den Fragen des Militarismus, des Kampfes gegen den Krieg, in die Fußstapfen der Bourgeoisie zu treten, in allen anderen Fragen aber guter und zuverlässiger Sozialist zu bleiben. Nein, das Verhalten während des Krieges hat gezeigt, dass die deutsche (und die französische) Sozialdemokratie im innern faul war, dass wir vor dem Untergang einer ganzen historischen Generation stehen.

Etwas war faul im Staate Dänemark. — Wir hatten es längst vermutet. Jetzt ist es zu einer absoluten Tatsache geworden, der gegenüber man die Augen nicht verschließen darf, will man nicht selbst zum Verräter werden. Furchtlos muss der Wahrheit ins Auge geschaut werden. Man muss sich vollkommen darüber klar werden, was die deutsche Sozialdemokratie war und was sie jetzt ist. Die russische Sozialdemokratie hat als erste diese Pflicht zu erfüllen. Sie muss ihr Verhältnis zur jetzigen deutschen Sozialdemokratie revidieren, selbst wenn dies die traurigsten politischen Folgen hervorrufen sollte.

Als man uns ständig predigte, dass wir russische Sozialdemokraten rasch eine „europäische Partei“ werden müssten, da verstand mau unter „Europa“ meist nur Deutschland mit seiner jetzigen offiziellen Sozialdemokratie. Nach dem, was mit der deutschen Sozialdemokratie geschehen ist, müssen sicht die russischen Arbeiter sehr überlegen, ob sie diesen „europäischen“ Weg einschlagen wollen…

Der Revidierung unseres Verhältnisses zur deutschen Sozialdemokratie ist der größte Teil des vorliegenden Buches gewidmet.

Es wäre aber falsch, wollte man sich vor sich selbst verbergen, dass nicht nur die deutsche Sozialdemokratie in diesem Krieg einen Zusammenbruch erlitten hat. Die an Bedeutung nächste sozialistische Partei wir sprechen von der französischen hat unter anderen Bedingungen, unter anderen äußeren Umständen denselben Verrat am sozialistischen Banner verübt. Mehr als das. Der Zusammenbruch hat die ganze zweite Internationale betroffen, die vollkommen auseinander gefallen, die durch die Ereignisse 1914-1916 restlos zerstört worden ist.

Die deutsche Sozialdemokratie hat nicht im luftleeren Raum gehandelt. Ihre Entwicklung stand in innigem Zusammenhang mit der ganzen internationalen Lage, mit der Entwicklung des Sozialismus und der Arbeiterbewegung in den anderen Ländern. Natürlich wird in dieser Arbeit auch das Schicksal des internationalen Sozialismus überhaupt berührt werden müssen. Wie man den Charakter des jetzigen Krieges nicht erfassen kann, ohne sich mit der Politik aller wichtigsten Mächte zu befassen, so kann man die Ursachen des Zusammenbruchs der Internationale nicht verstehen, ohne die Evolution aller wichtigeren Parteien verfolgt zum haben.

Aber vor allem werden wir uns mit der deutschen Sozialdemokratie beschäftigen müssen, und zwar, weil die deutsche Sozialdemokratie, wie schon gesagt, im ganzen historischen Zeitabschnitt 1889-1914 eine dominierende Rolle gespielt hat. Sie war die Sozialdemokratie, die Personifizierung der Sozialdemokratie. Das ist uns übrigens im Verlaufe dieser Arbeit besonders klar geworden. Begonnen wurde sie als Abhandlung über den Krieg und die deutsche Sozialdemokratie, im Prozess der Arbeit aber wurde sie zu einem Buch über den Krieg und die Sozialdemokratie überhaupt.

1 „Neue Zeit“, September 1891, S. 36

3 Neue Zeit“, 1907, S. 856.

4 a.a.O., S. 858.

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