II. ZWEI ZEITALTER DES KRIEGES

II. ZWEI ZEITALTER DES KRIEGES

Die große französische Revolution und der nationale Krieg.

Die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts beginnt mit einer starken gegenrevolutionären Bewegung die gegen die große französische Revolution gerichtet ist. Das Schicksal der inneren Entwicklung des revolutionär-republikanischen Frankreich gerät in Abhängigkeit von den benachbarten monarchistischen Staaten Europas. Die französische Revolution besaß keinen stärkeren Feind als den äußeren. Die ganze Napoleonische Epoche war in erster Linie das Produkt der Kriege, die Frankreich zu führen gezwungen war, um dem Kampfe der europäischen Monarchien gegen die französische Revolution Widerstand zu leisten. Kein historischer Abschnitt illustriert so anschaulich den Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Politik wie die Jahre 1789 bis 1814. Rudolf Goldscheid sagt sehr richtig in seinem Buche über das Verhältnis der äußeren zur inneren Politik. „Die innere Politik denkt, aber die äußere lenkt.“ Ebenso ist es richtig, wenn er weiter bemerkt: „Die Geschichte irgendeines Volkes ist die Geschichte seiner Nachbarvölker“.1 Das Frankreich des Jahres 1789 musste sich bald im Laufe der Ereignisse überzeugen, dass von einer Sicherung der Errungenschaften der großen Revolution keine Rede sein konnte, ohne eine ganze Reihe von Verteidigungs- und Angriffskriegen nach außen zu unternehmen. Die monarchistischen Staaten, die Frankreich umgaben, bedrohten es mit direktem Überfall, mit Unterwerfung unter fremde Herrschaft. Diese fortgesetzte Drohung war ein großes Hemmnis auf dem Wege der französischen Revolution, aber trotzdem war gerade sie es, die der revolutionären Bewegung mehr Kraft verlieh, da sie diese zu einer nationalen stempelte, und so die gesamten Kräfte der Nation zusammenfasste. Unter dem Damoklesschwert der drohenden feindlichen Invasion und der Fremdherrschaft vereinigte sich das gesamte französische Volk, mit Ausnahme der hohen royalistischen Aristokratie, eines Häufleins konterrevolutionärer Emigranten und der Vertreter der königlichen Dynastie, die sich alle ganz offen mit den fremden monarchischen Mächten in Machenschaften gegen die Revolution im eigenen Land einließen. Olard hat Recht, wenn er in seiner „Französischen Revolution“ sagt, dass die europäische Koalition, die sich gegen Frankreich vereinigt hatte, von der munizipalen und der Jakobinerorganisation zurückgeschlagen wurde.

Den Anstoß zur national-staatlichen Bewegung gab gewiss das Verlangen nach Abwehr der Fremdherrschaft“ — sagt Bauer in seiner „Nationalitätenfrage“. Die Kriege der großen französischen Revolution sind ein klassisches Beispiel für die nationalen Kriege der beginnenden kapitalistischen Epoche. Als die französische Revolution den Versuch machte, den revolutionären Brand in die Nachbarländer zu werfen, als sie allen europäischen Königen und absolutistischen Monarchen den Krieg erklärte, da war dies nur ein Akt der Selbstverteidigung. Es genügte nicht, den Absolutismus innerhalb Frankreichs niederzuwerfen und mit Ludwig XVI. abzurechnen. Damit der Sieg der französischen Revolution ein vollständiger war, musste der Absolutismus außerhalb Frankreichs niedergerungen werden oder war es wenigstens notwendig, die Verteidigung Frankreichs gegen äußere Überfälle durchzuführen Das neu erstandene Frankreich musste vor fremder Unterjochung geschützt werden. Die Politiker und die Institutionen der französischen Revolution konnten im Augenblicke des ersten Sieges über das alte Regime diese Aufgabe in ihrer ganzen Tragweite nicht erkennen. Aber sehr bald nach den ersten Siegen wurde sie auf die Tagesordnung gesetzt. Auf rein empirischem Wege gelangten die Führer der französischen Revolution zur Erkenntnis, dass zur Sicherung der revolutionären Errungenschaften eine Reihe äußerer nationaler Kriege notwendig seien, dass zur Sicherung der französischen Revolution Frankreich selbst mit einer ganzen Reihe Tochterrepubliken umgeben werden müsse. Eine planmäßige und überlegte Politik verfolgte später in dieser Richtung der Konvent. Die Sachlage wurde immer klarer. Entweder hielt die neue republikanische Regierung den Überfällen fremder Mächte stand und führte in den Nachbarländern die Republik ein, oder die absolutistischen Nachbarländer mussten in einer Reihe von Kriegen nicht nur das republikanische Regime in Frankreich niederwerfen, nicht nur den Monarchismus wiederaufrichten, sondern das Land unter fremde Herrschaft bringen, vielleicht es aufteilen und die einzelnen Teile andern Ländern angliedern.2

So wurde der revolutionäre Kampf der Franzosen zu einer nationalen Sache. So gab uns diese grandiose Bewegung, die eine ganz neue Epoche in der Geschichte eröffnete, ein klassisches Beispiel nationaler Kriege, die eine ungeheure Bedeutung für die Geschichte und den Fortschritt der Menschheit gehabt haben.

Liberté des Mers! Egalité du droits de toutes les nations!“ (Freiheit der Meere! Gleichberechtigung aller Nationen!) — kündeten die Aufschriften auf den Fahnen der französischen Armee zur Zeit der revolutionären Kriege. Natürlich enthielten diese Devisen nichts Sozialistisches. Die Parole der „Freiheit der Meere“ war nur gegen England gerichtet, das die Meere beherrschte. Die Parole „Gleichberechtigung“ bedeutete nur die Gleichberechtigung im bürgerlichen Sinne.

Jedenfalls aber waren es Kriege, die die bürgerliche Revolution verteidigten, die gegen den Feudalismus gerichtet waren, und den bürgerlich-demokratischen Nationalstaat schufen, und insofern trugen sie zum Fortschritt bei.

Eben auf der Basis der Nationalität hatte die Erklärung der Menschenrechte die Grundlagen aller liberalen Forderungen entwickelt: ‚‚Le Principe de toute souverainité reside dans la nation‘‘ — schreibt Lamprecht.3 Die französische Revolution eröffnet auch in dieser Beziehung eine neue Geschichtsepoche. In ihr findet das Bestreben der siegreichen Bourgeoisie, den Nationalstaat zu begründen, zu sichern und zu verteidigen, ihren stärksten Ausdruck. Die nationale Unterjochung in ihrer größten, nacktesten Form — war in der dem Kapitalismus vorausgegangenen Epoche Gesetz. Das Entstehen des Kapitalismus äußert sich im Bestreben, selbständige Staaten zu bilden, d. h. die Unterdrückung durch fremde Staaten zu beseitigen.

Hierzu gibt es ausreichende wirtschaftliche Ursachen. Der entstehende kapitalistische Warenaustausch verlangt gebieterisch die Beseitigung der kleinen Staaten, der so genannten Kleinstaaterei. Er braucht ein einheitliches Zollsystem, eine einheitliche Gesetzgebung. Die Bourgeoisie muss danach streben, den Nationalstaat möglichst stark und groß zu gestalten. Diese kapitalistische Entwicklung steht der staatlichen Zergliederung und Zersplitterung feindlich gegenüber. Der entstehende Kapitalismus erfordert große, staatlich konsolidierte wirtschaftliche Territorien.

Wenn die kapitalistischen Staaten untereinander durch freien Warenaustausch verbunden wären, wenn sie ein einziges wirtschaftliches Gebiet darstellen würden, so könnte sich der Kapitalismus wie Otto Bauer richtig bemerkt — mit der Zergliederung der Nationen in eine Menge kleiner selbständiger Staaten vollkommen aussöhnen. In Wirklichkeit aber stellt der kapitalistische Staat fast immer ein mehr oder weniger selbständiges wirtschaftliches Gebiet dar. Zolltarife, die Steuerpolitik, das System der Eisenbahntarife, die Unterschiede in den herrschenden Gesetzen usw., das alles verursacht Schwierigkeiten im Handelsverkehr zwischen den verschiedenen selbständigen Staaten. Darum strebt der entstehende Kapitalismus nicht nur nach einem einfachen Nationalstaat, sondern nach einen nationalen. Großstaat. Je bevölkerter ein wirtschaftliches Gebiet ist, umso zahlreicher und größer können die Unternehmungen sein, in denen irgendeine Ware hergestellt wird. Bekanntlich bedeutet die Größe eines Unternehmens die Verringerung der Produktionskosten und die Steigerung der Produktivität. Unter sonst gleichen Bedingungen bedeutet sie eine größere Arbeitsteilung, sie gibt die Möglichkeit, die Verkehrsmittel zu verbessern usw. Einen fremden, ausländischen Markt kennen zu lernen ist viel schwieriger, als die Kenntnis der Bedingungen des eigenen inneren Markts.

All diese Vorzüge eines Großstaats haben die Völker des 19. Jahrhunderts klar gesehen, unmittelbar beobachtet. Sie alle sahen, wie Frankreich aufblühte, als die Zollgrenzen gefallen waren, die die französischen Provinzen voneinander trennten. Jeder Staat — nur ein Volk, jedes Volk — ein Staat! So lautet das Prinzip des entstehenden Kapitalismus. Selbstverständlich ist ein kleiner Staat nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch schwächer. Der Kapitalist braucht einen Staat, der seine Interessen verteidigen kann, wenn notwendig mit bewaffneter Macht. Auch dabei ist wiederum ein Großstaat notwendig im Vorteil. Dies noch ein Grund für das Bestreben, die Volksgenossen von fremder Herrschaft zu befreien und dem Nationalstaat anzugliedern.

Von den jetzigen Großstaaten ist kein einziger von Anfang an Nationalstaat gewesen. Im Gegenteil, sie alle sind als Nationalitätenstaaten entstanden, oder besser gesagt als Konglomerat von Stämmen, die noch keine Nation im wahren Sinne des Wortes darstellten. Die meisten dieser Staaten tragen jetzt noch die Spuren ihrer Zusammensetzung aus verschiedenen Nationalitäten an sich. Eine komplizierte Erscheinung tritt uns im öffentlichen Leben selten in reinem unverfälschten Zustand entgegen. Trotzdem haben wir ein Recht, den Zeitabschnitt 1789—1871 als diejenige Epoche zu charakterisieren, in der der Absolutismus beseitigt worden ist und in der in Europa die Nationalstaaten endgültig entstanden sind, —— eine Epoche, in der zur Erreichung dieses Ziels eine Reihe nationaler Kriege geführt wurden.

Die Heimat des heutigen Staates ist das Land, in dem die kapitalistische Warenproduktion am frühesten entstand und zur Entwicklung gelangte — Italien.4 Den ersten modernen Staat stellten die reichen italienischen Stadtrepubliken dar, in denen die Kapitalistenklasse den Staat als Werkzeug ihrer Klassenpolitik auszunutzen verstand. Aber trotzdem wurde Italien im Laufe der Geschichte in eine Menge kleiner und großer Staaten gespalten, die später von Spanien, Frankreich und Österreich geraubt wurden. Die volle nationale Einigung erreichte Italien erst nach allen anderen europäischen Großstaaten — mit Ausnahme von Deutschland.

Der Kampf um den Nationalstaat füllt viele Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts aus; er nimmt außerordentlich dramatische Formen an, führt zu einer Reihe von Kriegen und Volksbewegungen und gibt den Anstoß zu einer Reihe von Revolutionen.

Der Kampf um die Freiheit Italiens, um die Einigung Deutschlands und die Befreiung Griechenlands, Bulgariens, Serbiens und Rumäniens von türkischer Herrschaft, der Kampf der Polen um die Wiederherstellung des polnischen Staates bis zum Aufstand von 1863 — das alles sind Glieder ein und derselben Kette von Ereignissen. Das alles sind historisch außerordentlich wichtige Episoden aus der Epoche des Kampfes um den Nationalstaat. Auf dem Balkan zog sich dieser Kampf bis 1912—1913 hin, und noch in den Jahren 1914—1916, im Weltkrieg, hören wir seinen leisen Widerhall.

Im Großen und Ganzen schließt für West- und Zentraleuropa das Zeitalter der nationalen Kriege mit dem Jahre 1871 ab. Die neue, imperialistische Epoche mag sich hier und dort durch Momente nationalen Kampfes komplizieren — mit einer reinen und ganz unverfälschten Erscheinung haben wir es auch hier nicht zu tun — aber es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich jetzt um eine prinzipiell ganz andere Zeit handelt.

Der Kampf um den Nationalstaat ist ein langwieriger Prozess, der viele Jahrzehnte der Geschichte in Anspruch nahm. „Seit dem Ausgang des Mittelalters arbeitet die Geschichte auf die Konstituierung Europas aus großen Nationalstaaten hin“, schreibt Fr. Engels in seiner Arbeit seines Nachlasses „Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches.“5 .„Solche Staaten allein“, fährt Engels fort, „sind die normale politische Verfassung des europäischen herrschenden Bürgertums, und sind ebenso unerlässliche Vorbedingung zur Herstellung des harmonischen internationalen Zusammenwirkens der Völker, ohne welches die Herrschaft des Proletariats nicht bestehen kann.“

Mit der Entwicklung des Handels, des Ackerbaus, der Industrie und mit der gleichzeitig immer fester werdenden Position der Bourgeoisie wächst überall das Nationalgefühl, die zerstückelten und unterdrückten Völker fangen an, nach Einigung und Selbständigkeit zu streben. Die Revolution des Jahres 1848 stellte sich darum überall — bis auf Frankreich, wo die nationale Einigung bereits vollzogen war — zur Aufgabe, nicht nur die allgemein befreienden, sondern im selben Maße auch die nationalen Forderungen der Völker zu erfüllen.

Nach 1789 ist das „von Wahnsinn erfüllte“ Jahr 1848 das wichtigste historische Ereignis dieses Zeitalters, das mit dem Jahr 1871 seinen Abschluss findet. Die Bourgeoisie fühlte sich endgültig als wichtigste Macht im zu neuem Leben erwachenden Europa. Wie das Jahr 1848 unmittelbar auch ausgegangen wäre, die Bourgeoisie war sich vollauf bewusst, dass die alte Zeit, die alte Lethargie ein für allemal zu Ende war. Infolge der in Kalifornien und Australien entdeckten Goldgruben und als Resultat einer Reihe von anderen Umständen beginnt eine Entwicklung der Welthandelsbeziehungen und ein Wachsen der Geschäfte des Handels, wie man es nie zuvor geahnt hatte. Die Bourgeoisie eines jeden Landes musste daran denken, wie sie sich dieser Entwicklung am besten anpassen konnte, um sich ihr Teil zu sichern.

Engels, der vor allem Deutschland im Auge hatte, beschreibt ausführlich die damalige wirtschaftliche Lage in Europa. Die Bourgeoisie empfand es als unhaltbaren Zustand, wenn sie alle paar Meilen auf neue Zollgrenzen stieß; ebenso unerträglich war, dass die Maß-, Gewichts- und Geldeinheiten so verschieden und chaotisch waren, dass die Industrie auf Schritt und Tritt durch bürokratische und fiskalische Hindernisse gehemmt wurde, dass die nationale Zerstückelung und Kleinstaaterei zum direkten, jedem Bourgeois fühlbaren Hemmnis in der Entwicklung der Industrie wurde. Hieraus —— das Bestreben der Bourgeoisie nach einem einheitlichen Nationalstaat. „Man sieht hieraus,“ bemerkt Engels, „wie das Verlangen nach einem einheitlichen ‚Vaterland‘ einen sehr materiellen Hintergrund besaß.“6

Nationale Kriege und nationale Revolutionen.

Die Bewegung in der Richtung des Nationalstaats war unvermeidlich. Aber das heißt nicht, dass alles glatt verlief, dass es keine Elemente gab, die diesem historisch notwendigen Prozess Widerstand leisteten. Hier sind immer verschiedene Kräfte ineinander verflochten, Handlungen und Gegenhandlungen, Elemente der Anziehung und Abstoßung, des Fortschritts und der Reaktion, eine Vorwärts- und eine Rückwärtsbewegung.

Auf dem Wege zur Erzielung des historisch Notwendigen und durch die ganze Ökonomie bedingten Nationalstaats standen die dynastischen Interessen der regierenden Häuser, standen die Interessen des Adels und der Aristokratie, die den Kampf um die Macht gegen die Bourgeoisie aufnahmen, standen die Interessen des ganzen gegenrevolutionären Europa. Daraus erklärt es sich, dass der Weg zum Nationalstaat über eine Reihe von Kriegen und Revolutionen führen musste.

Nach dem Jahre 1814 verteilen sich die Kriege und Revolutionen mehr oder weniger planmäßig. Sie folgen in kurzen Perioden aufeinander — 1820—1823, 1830—1835, 1859—1870. Eine gewisse Periodizität der Kriege und Revolutionen haben selbst bürgerliche Historiker anerkannt.7 Engels wies im Jahre 1885 darauf hin, dass seit der französischen Revolution (die, wenn man alle mit ihr verknüpften Ereignisse mitrechnet, vom Jahre 1789 bis 1815 dauerte) Revolutionen und überhaupt wichtige politische Umwälzungen sich in Europa periodisch ungefähr alle 15 bis 18 Jahre wiederholen: 1815, 1830, 1848-1852, 1870-71.

Die Kriege der französischen Revolution begannen im Zeichen des Kampfes gegen die fremdländische Herrschaft, im Zeichen der Verteidigung der nationalen Freiheit. Die napoleonische Epoche hat diese Kriege zu ihrem direkten Gegenteil gemacht. Napoleon hat das Nationalgefühl vieler Völker mit Füßen getreten. Dann aber wird Napoleon besiegt. Man müsste glauben, dass nun das Prinzip der nationalen Freiheit triumphieren müsse. In der Tat sieht es ganz anders aus. Der nationalen Freiheit stellen sich die dynastischen Interessen in den Weg. Auf dem Wiener Kongress (1815) versammeln sich nicht wahrhafte Vertreter des Volkes, sondern Fürsten und Diplomaten. Für den Wiener Kongress bedeutet die kleinste Dynastie — wie Engels sagt — mehr als das größte Volk. Deutschland und Italien werden wieder zerstückelt und zu Kleinstaaten gemacht. Polen wird zum vierten Mal geteilt, Ungarn wird unterjocht. Die europäische Karte ist so zurecht geschnitten, als wäre das spezielle Ziel verfolgt worden, einerseits die ganze Schamlosigkeit und Dummheit der Staatsmänner und Diplomaten, andererseits die ganze Ohnmacht und Hilflosigkeit der europäischen Völker in jenem historischen Moment zu offenbaren.

Die Lage, die der Wiener Kongress im Jahre 1815 geschaffen hatte, war geschwängert von einer ganzen Reihe neuer Erschütterungen. Die nationalen Bestrebungen wurden durch grobe Hand unterdrückt. Aber bald traten sie wieder hervor. Man konnte sie wohl für einige Zeit vertagen, man konnte aber das nicht töten, was dem ganzen Zeitalter zugrunde lag, was tief im wirtschaftlichen Leben jener Zeit wurzelte.

Die nationalen Bewegungen in Europa feiern im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ihre Auferstehung. Sie werden einerseits durch den russisch-türkischen Krieg 1828/29 zum Ausdruck gebracht, andererseits durch die Julirevolution 1830 in Frankreich.

Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem russisch-türkischen Krieg beginnt der Krieg der Griechen um ihre Selbständigkeit. Damit heben auf dem Balkan jene Bewegungen an, die noch bis in unsere Tage fortdauern.

Weitere Bewegungen beginnen nach der Julirevolution in Frankreich: In Belgien für die Befreiung aus holländischer Herrschaft, in Polen für die nationale Unabhängigkeit von Russland. in Italien für die nationale Befreiung von Österreichs Joch. In all diesen Ländern sind die Aufstände vorbereitet worden durch lange Jahre nationaler Unterdrückung. Die Julirevolution gibt nur den Anstoß, dient als Impuls, sie beschleunigt die Ereignisse. die im Laufe der Geschichte herangereift sind.

Der Wiener Kongress 1815 hatte die Länder nach eigenem Ermessen eingeteilt, wie es ihm für die reaktionären Monarchien Europas am günstigsten schien. Das Königreich der Vereinigten Niederlande war eine solche Frucht der reaktionären Politik der Heiligen Allianz. Belgien wurde unter dem Zepter Wilhelms I. (von Oranien) mit Holland vereinigt. Die Mächte, die Napoleon besiegt hatten, brauchten die vereinigten Niederlande als starke Wehr gegen Frankreich.

Belgien wurde dadurch faktisch unter die Herrschaft Hollands gestellt, Wilhelm von Holland übte von Tag zu Tag einen größeren Druck auf Belgien aus. Dieser Druck machte sich den Belgiern auf allen Gebieten fühlbar. Bei der Vereinigung Belgiens mit Holland besaß jenes nur 30 Millionen Gulden Schulden, dieses zwei Milliarden Gulden. Trotzdem wurde die Last der allgemeinen Staatsschuld gleichmäßig auf Belgien und Holland verteilt. Als Umgangssprache wurde auch für Belgien die holländische proklamiert.

All das musste zu Unruhen führen. In den Jahren 1828 und 1829 äußerte sich die Bewegung in Form von Petitionen. Für die Protestpetition wurden das erste Mal 70.000, das zweite Mal 300.000 Unterschriften gesammelt. Zunächst forderten die Belgier nur Reformen, nur eine weitgehende Autonomie. Aber allmählich wuchs die Bewegung und die Forderung vollständiger Unabhängigkeit, vollständiger Trennung von Holland wurde aufgestellt. Wilhelm beeilte sich jetzt, einige Zugeständnisse zu machen. Aber es war zu spät. Ende August 1830, unter dem Einfluss der Julitage von Paris wird die Unruhe in Brüssel stärker. Am 24. Juli soll der Geburtstag des Königs gefeiert werden ‚Auf den Straßen Brüssels erscheinen Plakate mit Mitteilungen: Am 23. findet Feuerwerk statt, am 24. Illumination, am 25. Revolution.8 In Brüssel ist Aufstand, die Bewegung wird in andere große Städte Belgiens geworfen. Die belgischen Soldaten der vereinigten Armee treten auf die Seite des aufständischen belgischen Volkes. Holländische Truppen ziehen gegen Belgien in den Krieg. Das in der Geschichte berühmt gewordene Bombardement Antwerpens beginnt. Die belgische Nationalversammlung verkündet die Unabhängigkeit Belgiens. Wilhelm von Oranien leistet weiter Widerstand, wozu er verschiedene internationale Kombinationen einsetzt. Der Kampf dauert fast ein Jahrzehnt. Erst am 19. April 1839 wird Belgien endgültig als unabhängiger neutraler Staat anerkannt. Und von nun an setzt sich die Monarchie in Belgien fest…

Einen nicht geringen Widerhall fand die Julirevolution in Polen. Der polnische Aufstand im Jahre 1830 wurde mit bewaffneter Macht niedergeworfen … Wir wollen darauf nicht näher eingehen … Seine historische Bedeutung ist allgemein bekannt.

Im Jahre 1831 beginnt eine Reihe national-revolutionärer Erhebungen in Italien — Modena, Reggio, Bologna, Parma usw. Wie ein reißender Strom schwillt der Hass an gegen das österreichische Joch. Österreichische Truppen im Verein mit „vaterländischen“ Unterdrückern des italienischen Volkes ersticken die Bewegung in Blut und Eisen. Der Galgen, Bajonette, Gefängnisse stehen an der Tagesordnung. Tausende von Kämpfern für die italienische Freiheit fallen als Opfer…

Jede große Umwälzung, jede europäische Revolution, jeder große Krieg wirft in jener Epoche unbedingt nationale Fragen auf und verursacht nationale Bewegungen. Denn in jener Zeit waren diese Fragen die schwierigsten, fast alten Bedingungen der damaligen Ereignisse lagen sie zugrunde.

Für ein bis zwei Jahrzehnte wird der Kampf um die nationale Freiheit unterdrückt. Mit ungeheurem Kräfteaufwand gelingt dem gegenrevolutionären europäischen Verband dieser Aufschub. Die Revolutionen des Jahres 1848 stellen die Frage des Nationalstaates von neuem auf die Tagesordnung. Die Frage wird zwar gestellt, aber — wieder nicht gelöst. Keine der 1848er Revolutionen endet mit einem vollen Siege des Volkes. Die Einmischung der reaktionären Staaten übt stellenweise wieder einen entscheidenden Einfluss aus auf den Ausgang des Freiheitskampfes der Völker. Erwähnt sei die Einmischung Russlands in die ungarische Revolution.

Die Kriege der Epoche, die zwischen 1848 und 1871 liegt, tragen einen vorwiegend nationalen Charakter. Dieser Umstand bedeutet aber nicht, dass es in diesem Zeitraum nicht auch andere Kriege gegeben hat, für die einfache Eroberungslust ausschlaggebend war, Kriege, die durch die Kolonialpolitik alter Kolonialstaaten, wie z. B. England, hervorgerufen wurden. Einen solchen Charakter tragen die Kriege Englands gegen China in den Jahren 1840, 1856, 1860. Ein solcher war der russisch-türkische Krieg im Jahre 1828, der damals lokalisiert werden konnte, und in vielen Beziehungen war es auch der Krimkrieg, der sich durch Einmischung fremder Staaten komplizierter gestaltete. Damals, im nationalen Zeitalter, wurde der nationale Krieg dadurch kompliziert, dass von Zeit zu Zeit Elemente hinzutraten, die auf Raub von Kolonien ausgingen. Im jetzigen Zeitalter der imperialistischen Kriege können wohl von Zeit zu Zeit nationale Momente hervortreten, aber in Wirklichkeit spielen solche Momente jetzt eine ganz untergeordnete Rolle. Die Epochen an und für sich sind gänzlich verschieden…

Das Jahr 1848 hat das nationale Problem in den Vordergrund gerückt. Und je mehr sich die Vertreter des alten Regimes seit der Gegenrevolution von 1849 die Mühe geben, nationale Bestrebungen zu unterdrücken, mit um so größerer Kraft entfaltet sich die Bewegung innerhalb der unterdrückten Nationalitäten. Die nationale Frage wird zur wichtigsten Frage in Europa, zum Mittelpunkt der ganzen europäischen Politik. Das Leben stellt diese Frage so sehr in den Vordergrund, dass eine Figur wie Napoleon III. seine ganze Karriere auf dem Gebiete der internationalen Politik eigentlich nur auf dem nationalen Problem aufbaut. Das bonapartistische Spiel des „Nationalitätenprinzips“ ist das Alpha und Omega seines „Systems“! Fast die ganzen zwanzig Jahre hindurch, in denen er ganz allein Frankreich beherrscht, betreibt er seine „Nationalitätenpolitik“. Und späterhin verdankt die zweite hervorragende Gestalt dieser Epoche, Bismarck, derselben „Nationalitätenpolitik“ die Rolle, die ihm zufiel.

Zwischen Napoleon III. und Bismarck besteht natürlich ein großer Unterschied. Der erste lavierte zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, der zweite zwischen Junkertum und Bourgeoisie, der erste vertrat Frankreich, das schon lange Jahre hindurch die Rolle des Unterdrückers fremder Völker (in erster Linie Deutschlands) spielte, der zweite vertrat die Interessen des zerstückelten und unterdrückten Deutschtand. Aber Napoleon III. und Bismarck haben viele gemeinsame Merkmale, die ganze Epoche hat ihnen beiden einen unverwischbaren Stempel aufgedrückt. Engels und Marx hatten vollkommen recht, als sie mehrfach behaupteten, dass Bismarck der ins Deutsche übersetzte Napoleon III. sei.

Napoleon III. trieb seine Nationalitätenpolitik, nach einem Ausdrucke Bismarcks, um des Trinkgeldes willen. Der Bonapartismus konnte sich innerhalb Frankreichs nur halten, wenn er auf der internationalen Arena seine Position festigte, wenn es ihm gelang, Frankreich wieder eine der ersten Geigen im europäischen Konzert spielen zu lassen, und von Zeit zu Zeit „Trinkgelder“ in Form von Annexionen und Kompensationen einzuheimsen. Aber der Geist der Zeit war derart, dass einem Politiker wie Napoleon III. zur Verwirklichung dieser Aufgabe nichts anderes übrig blieb, als die Ausbeutung des Befreiungskampfs der unterdrückten Völkerschaften gegen fremde Herrschaft. Napoleon III. besaß immer einen politischen Instinkt. Er empfand richtig, dass es sich hier um einen Prozess von ungeheurer Wichtigkeit handelte, dass die nationale Frage auf der Tagesordnung bleiben würde, bis die Frage des Nationalstaats gelöst sein würde, und dass bei richtiger Ausnützung dieses Problems man genug politische Beute davontragen konnte, um bis ans Lebensende auszukommen.

Während der Krimkriege schlug Napoleon III. zuerst vor, den nationalen Krieg aller kaukasischen Völker gegen Russland zu organisieren, dann —— den Aufstand der Polen und Finnländer. Während des italienischen Krieges (1859) versuchte Napoleon III. mit Hilfe von Kossuth die Ungarn gegen Deutschland aufzuwiegeln. Überhaupt die ganze „italienische“ Politik Napoleons III., seine ganze Politik der Unterstützung Italiens gegen Österreich, war durch dasselbe Bestreben geleitet: aus den reif gewordenen sozialen Vorbedingungen zur nationalen Zusammenfassung unterdrückter und zerstückelter Völker für sich selbst Nutzen zu ziehen.

das Nationalitätenprinzip sei eine bonapartistische Erfindung, die ausgeheckt wurde, um den napoleonischen Despotismus innerhalb Frankreichs zu stützen … Nach dem Coup d‘état von 1851 musste Louis-Napoleon, der Kaiser von ‚Gottes Gnaden und durch den Willen des Volkes‘, einen demokratisierten und volkstümlich klingenden Namen für seine Außenpolitik finden. Was konnte besser sein, als auf sein Panier das Nationalitätenprinzip zu schreiben?“ So schrieb Fr. Engels über die „Nationalitätenpolitik“ Louis Napoleons9 noch im Jahre 1866, d. h. vier Jahre bevor der Stern Napoleons III. unterging.

Schon der Pariser Kongress, der nach dem Krimkrieg im Jahre 1856 einberufen wurde, brachte einen großen politischen Sieg für Napoleon III. Er erreichte nicht nur, dass das bonapartistische Frankreich von neuem eine Position unter den Großmächten erlangte, er erzwang außerdem die Autonomie für das rumänische Volk und die Diskutierung der italienischen Nationalfrage. In diesen beiden Ländern diente ihm die Nationalfrage als Spekulationsobjekt —- ebenso wie die nationale Zerstückelung Deutschlands für ihn eine noch größere und Profit bringendere Spekulation darstellte.

Die Legende erzählt, dass Napoleon III. schon in seiner frühesten Jugend und dann nach seiner Thronbesteigung den heiligen Schwur geleistet hätte, sein Leben der Befreiung und Einigung Italiens zu widmen, der jüngeren Schwester Frankreichs, mit der es die gemeinsame lateinische Kultur verband. Aber Napoleon III. hat wohl später diesen Schwur vergessen, und Orsini, der Freund Mazzinis, musste im Januar 1858 durch ein Attentat auf das Leben Napoleon III. diesen an seinen Hannibalschwur erinnern…

In Wirklichkeit waren die Dinge viel einfacher. Die italienische Einigung und alle nationalen Fragen, die mit der italienischen Einigung im Zusammenhang standen, waren für das bonapartistische Frankreich nur ein Objekt eigennütziger Geschäfte. Die ungeheure nationale Erhebung des italienischen Volkes, die stürmische und leidenschaftliche Bewegung, die ganz Italien bis in alle Schichten hinein erfasste, die eine Reihe national- demokratischer Aufstände hervorrief und Figuren wie Garibaldi und Mazzini hervorbrachte, diese Bewegung wurde von der französischen bonapartistischen Bourgeoisie durch deren Geschäftsträger und Diplomaten für ihre Zwecke ausgenutzt. Im Jahre 1859 leistete Napoleon III. Sardinien aktive Hilfe gegen Österreich. Im Jahre 1866 half er durch seine Neutralität Preußen gegen Österreich. Beide Male unterstützte er angeblich die nationale Einigung, das erste Mal die Einigung Italiens, das zweite Mal die Deutschlands. Aber der Lauf der Weltgeschichte wollte es, dass sich die nationale Einigung Italiens sowie auch Deutschlands erst nach dem Sturze Bonapartes im Kriege 1870/71 vollzogen.

Die Kriege 1859, 1864, 1866 und 1870/71 sind eng miteinander verknüpft. Nur in ihrer Summe haben diese vier Kriege die Einigung Italiens und Deutschlands mit sich gebracht und das Kaisertum in Frankreich gestürzt. Darum wollen wir den Verlauf der Ereignisse während dieser vier nationalen Kriege systematisch verfolgen.

Die nationale Einigung Italiens.

Das national zersplitterte Italien (und Deutschland) war, wie wir schon sagten, für das bonapartistische Frankreich ein wahrer Schatz. Die ganze auswärtige Politik Napoleons III. orientierte sich nach dieser Zersplitterung und den daraus folgenden Kriegen und Volkserhebungen. Wie Engels einmal behauptete, erachtete Napoleon III. die Ausbeutung der nationalen Bewegungen in diesen beiden Ländern als ein unantastbares Recht, sich „Kompensationen“ zu erhandeln. Und solange es sich um Italien handelte, war die Politik Napoleons III. von Erfolg gekrönt.

Seit dem Jahre 1849 wurde Italien unbeschränkt von Osterreich beherrscht, gegen das sich natürlich innerhalb des zerstückelten und unterjochten Landes immer mehr eine allgemeine Unzufriedenheit geltend machte. Die nationale Bewegung zugunsten der Einigung Italiens wurde mit jedem Jahre stärker. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes erforderte gebieterisch die Einigung. Diese Aufgabe konnte nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden, sie harrte irgendeiner Lösung.

Aber außerdem war auch die internationale diplomatische Lage einer Erhebung gegen Italiens Unterdrücker, gegen Österreich, günstig. Und daran klammerte sich Napoleon III. Nach den Krimkriegen wurde Österreich zum Angriffspunkt für alle Regierungen. Der Krimkrieg hatte ihnen allen nur geringe Resultate gebracht. Die Westmächte (England, Frankreich) wollten diesen Krieg nicht ernstlich führen. Nach dem Kriege beschuldigten sie Österreich., dass am Ausgange des Krieges nur seine Unentschlossenheit schuld wäre — in Wirklichkeit aber war ihr eigenes Verhalten die Ursache für den Ausgang des Krieges.10

Außer der Unzufriedenheit von Seiten Englands und Frankreichs zog sich Österreich selbstverständlich auch die Unzufriedenheit Russlands zu. Die Hilfe, die das offizielle Russland im Jahre 1849 Österreich in Ungarn erwiesen, hat ihm Österreich während der Krimkriege schlecht gedankt. Natürlich war nun der Überfall auf Österreich für Russland eine Genugtuung. Da Napoleon England, Russland und Italien auf seiner Seite hatte, hatte er nicht nötig, auf Preußen Rücksicht zu nehmen, das nach dem Pariser Kongress überhaupt nur noch von oben herab behandelt wurde. Der Krieg gegen Österreich für die Befreiung Italiens „bis zur Adria“ im Frühling 1859 wurde also im Einvernehmen mit Russland proklamiert. So kam es, dass für die Idee der Völkerbefreiung, für die nationale Einigung nicht nur das eigennützige bonapartistische Frankreich kämpfte, sondern auch das alte reaktionäre Russland. Ein Bild für Götter! Die nationale Bewegung in Italien war an und für sich eine fortschrittliche, sie war durch die Umstände des wirtschaftlichen und politischen Lebens hervorgerufen worden. Und diese tief im Leben wurzelnde und unter den damaligen Bedingungen fortschrittliche Bewegung nutzten die dunklen Kräfte des reaktionären Europa für ihre eigenen, selbstsüchtigen Ziele aus! So wollte es die Geschichte.

Im Frühjahr 1859 wurde der Krieg erklärt, und im Sommer desselben Jahres war er bereits zu Ende. Österreichs Position in Italien war nicht endgültig beseitigt. Zu einer vollen Einigung Italiens, wie man sie im Programm vorgezeichnet hatte, kam es nicht. Nur Piemont wurde erweitert. Dafür bekam das bonapartistische Frankreich Savoyen und Nizza. Napoleon III. bekam sein „pourboire“ (Trinkgeld). Der Traum der Bonapartisten ging in Erfüllung. Zwischen Frankreich und Italien wurden die Grenzen des Jahres 1801 wieder hergestellt.

Das italienische Volk konnte natürlich durch diesen Ausgang des Krieges nicht befriedigt sein. Um die Einigung Italiens endgültig herbeizuführen, brauchte man nicht nur den Krieg, sondern auch die Revolution. Und um die Einigung Italiens zu sichern, genügten nicht Krieg und Revolution in Italien; noch drei andere Kriege und die Revolution in Frankreich waren dazu erforderlich.

In Italien hatte zu der Zeit die Großindustrie gerade ihre Entfaltung begonnen. Die Arbeiterschaft war lange noch nicht expropriiert und proletarisiert; in den Städten besaßen die Arbeiter oft noch ihre eigenen Produktionsmittel, im Dorf herrschte das kleinbäuerliche Eigentum oder der Pächter, der in den Städten in verschiedenen Industriezweigen nur Gelegenheitsarbeit leistete. Daher war die Energie der italienischen Bourgeoisie noch nicht paralysiert durch das Vorhandensein von Klassengegensätzen zwischen ihr und dem reifen, klassenbewussten Proletariat.11 Der revolutionäre Geist der italienischen Bourgeoisie war nicht verflogen, die Geschichte hatte ihr noch eine revolutionäre Mission vorbehalten.

Österreich blieb der nationale Unterdrücker Italiens. Es unterstützte die italienische Zersplitterung. Innerhalb Italiens besaß Österreich mehr oder weniger ergebene Freunde unter den italienischen Fürsten, den Regenten einzelner italienischer Provinzen. Die Beseitigung der nationalen Zersplitterung bedeutete für diese Fürsten den Verlust der Macht und des Einkommens. Nur unter dem Schutze einer fremden Macht wie Österreich konnten sie ihr Regime der Unterdrückung innerhalb der Kleinstaaterei aufrechterhalten. In der öffentlichen Meinung des Landes verband sich daher das feindliche Verhältnis zu den italienischen Fürsten mit dem feindlichen Verhältnis zum verhallten Österreich. Die Herrschaft der Fürsten wurde identifiziert mit der Fremdherrschaft Österreichs. Die Wut und den Hass gegen Osterreich übertrug man auf die italienischen Machthaber. Die nationale Bewegung gegen die äußere Fremdherrschaft Österreichs wurde so gleichzeitig zu einer revolutionären Bewegung des italienischen Volkes gegen seine inneren Herrscher, gegen die eigenen italienischen Fürsten. Die italienischen Fürsten bildeten ein Hindernis auf dem Wege zur Einigung des italienischen Vaterlandes. Um die Befreiung und Einigung des Vaterlandes zu erzielen, musste das italienische Volk nicht nur den äußeren Feind unschädlich machen, sondern auch den inneren Feind niederringen. Übrigens lag das politisch-progressive Element ähnlicher nationaler Bewegungen eben darin, dass sie unbedingt zu einem unversöhnlichen Kampf (oft sogar zum Bürgerkrieg) der Volksmassen gegen die höchsten Spitzen führen mussten…

In Italien wurde dank den oben beschriebenen Bedingungen die Stadtbourgeoisie zum Vorkämpfer für die nationale Unabhängigkeit. Sie wurde nicht nur von den städtischen Volksmassen unterstützt, sondern in bedeutendem Maße auch vom Landadel, dessen Interessen auch oft geschädigt wurden durch das Regime der Fürsten, die Österreichs Diener waren. Das stärkte ungeheuer die Kraft der nationalen Bewegung der Italiener. Nach dem Kriege 1859 blieb als Hauptaufgabe der Sturz der Fremdherrschaft in Venedig. Eine Einmischung von Seiten Frankreichs und Russlands war jetzt unmöglich. Die national- revolutionäre Bewegung in Italien wurde immer breiter und nahm ein immer stürmischeres Tempo an. Auf der Bildfläche erscheint der Held Garibaldi. Mit etwa tausend Freiwilligen besiegt er das Königreich Neapel, versetzt er einen herben Schlag den Interessen Bonapartes und erreicht die tatsächliche Einigung Italiens. Italien wird frei, und seine Einigung ist im Wesentlichen vollendet. Und dies gelingt nicht den hinterlistigen Schachzügen Napoleons 1 II., sondern der Revolution

Aber zur vollständigen Einigung fehlte auch nach dem Jahre 1866 der Anschluss Roms. Die Niederlage Napoleons III. im französisch-preußischen Krieg war notwendig, um auch die Angliederung Roms zu erzielen. Im August 1870 mussten die französischen Truppen Napoleons III. Rom verlassen, um die französische Position gegen die preußischen Armeen zu unterstützen. Papst Pius IX. lehnte trotzdem alle Friedensverhandlungen mit dem König von Italien zwecks der Angliederung Roms ab. Da griff der König Victor Emanuel II. zur Gewalt. Am 20. September 1870 begann die italienische Armee Rom zu beschießen. Die ewige Stadt ergab sich. Die Bevölkerung Roms stimmte mit 133.681 Stimmen gegen 150712 Stimmen für den Anschluss an das Königreich Italien. Die Einigung war vollzogen. In kurzer Zeit konnte die Residenz des Königs nach Rom verlegt werden

Die nationale Einigung Deutschlands.

Einen anderen Weg schlug die Einigung Deutschlands ein. Hatte in Italien eine Revolution von unten nach oben die größte Rolle gespielt, so fiel in Deutschland der Bismarckschen „Revolution von oben“ die entscheidende Bedeutung zu.

Von Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an und noch viel früher durchlebte Deutschland eine sehr langwierige und sehr schwere Epoche der fürchterlichsten nationalen Unterdrückung, hauptsächlich von Seiten Frankreichs. Immer wieder machte der Eroberer Experimente am lebendigen Leib Deutschlands, immer mehr wurde es zersplittert, immer öfter die Zusammensetzung geändert, direkt oder indirekt wird bald dieser, bald jener Teil dem Eroberer untergeordnet.

Aber Deutschland wurde nicht nur von Frankreich, sondern auch von Russland unterdrückt. Beim Friedensschluss in Teschen (1779) tritt Russland neben Frankreich als Protektor Deutschlands auf. Deutschland aber wird zum direkten Teilungsgegenstand von Frankreich und Russland. Während des Tilsiter Friedens (1807) trägt Russland viel zu Preußens Schande hei. Olmütz bedeutete den Höhepunkt des russischen Einflusses auf deutsche Angelegenheiten und der Erniedrigung Preußens durch Russland.13

Aber im Laufe der siebeneinhalb Jahrhunderte fremder Unterdrückung litt Deutschland besonders schwer unter Frankreich. Den Höhepunkt bildete das Zeitalter der napoleonischen Kriege und die Gründung des so genannten Rheinbunds (im Juli 1806). Aus einzelnen deutschen Fürstentümern schuf Napoleon den Rheinbund, ordnete ihn sich in jeder Beziehung unter und bedang sich das Recht aus, von diesen ihm untergeordneten deutschen Ländern eine 63.000 Mann starke Armee zu fordern, wenn Frankreich in irgendeinen Krieg gegen irgendeine Macht, selbst gegen Deutschland, verwickelt werden sollte. Napoleon begnügte sich nicht mit der Rivalität zwischen Preußen und Österreich. Er bemühte sich, im Rheinbund noch ein „drittes Deutschland“ (la troisieme Allemagne) zu schaffen, um die Gegensätze unter den Deutschen noch mehr zu verschärfen, die Zersplitterung zu vergrößern und eine Lage zu schaffen, in der eine Einigung Deutschlands noch unmöglicher schien. Die Verfassung des Rheinbunds war eine ungeheure Erniedrigung für Deutschland, eine so ungeheure, dass der Kaiser es vorzog, auf die Krone zu verzichten. Der deutsche Historiker Gentz nennt diese Verfassung eine „Schimpf- und Spottkonstitution von Sklavenvölkern unter Despoten, die wieder unter einem Oberdespoten standen“‘14

Der grausamste Friede, den Napoleon je einem besiegten Gegner aufgezwungen hat, war der Friede in Tilsit. Preußen wurde im wahren Sinne des Wortes verstümmelt. Man ließ ihm nur 2856 Quadratmeilen mit 4.594.000 Einwohnern. Und auch das nur auf die Fürsprache Alexander I. hin. Russland erhielt Bjelostok. Alexander 1. schloss mit Napoleon einen Scheinvertrag über Verteidigung und Angriff. Russland erhielt die Herrschaft über den ganzen Osten, Frankreich über den Westen.

Während der so genannten Befreiungskriege, die bis zum Jahre 1815 dauerten, leistete Deutschland Frankreich Widerstand. Aber die nationale Unterdrückung hörte damit nicht auf. Die Politik des Widerstands gegen die Einigung Deutschlands vererbte sich von Napoleon I. auf Napoleon III. Noch vor dem deutsch-französischen Krieg stand Napoleon III. als größtes Hindernis auf dem Wege zur Einigung Deutschlands. Noch am Vorabend des Jahres 1866 erhandelte er sich von Preußen einige Länder am Rhein als „Kompensation‘‘ für sein neutrales Verhalten im Kampfe gegen Österreich

Wir sprachen schon oben von den sozial-wirtschaftlichen Faktoren, die als treibende Kräfte zur Gründung von Nationalstaaten und zur Konsolidierung großer national zusammengefasster wirtschaftlicher Territorien in Betracht kommen. All diese allgemeinen Betrachtungen treffen auch für die Einigung Deutschlands zu.

Das fremdländische Joch und die staatliche Zersplitterung waren für das Schicksal der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands von schlimmstem Einfluss. Die Nachbarländer richteten eins nach dem andern Zollsperren gegen deutsche Waren auf. England verhinderte die Einfuhr von Holz und Brot aus Deutschland. Deutschland, in viele Staaten zersplittert, konnte es nicht durchsetzen, dass die fremden Staaten den deutschen Kaufleuten einigermaßen annehmbare Bedingungen zubilligten. In der Petition, die dem preußischen König eingereicht wurde, schrieben die niederrheinischen Fabrikanten, dass alle Märkte Europas für ihre Waren durch Zollbarrieren geschlossen waren, während alle Waren Europas in Deutschland einen offenen Markt fänden.

Noch verderblicher für die deutsche Industrie war der Umstand, dass sie auch keinen irgendwie bedeutenderen inneren Markt besaß. Jeder der einzelnen deutschen Staaten stellte eigene Zollschranken auf, erhob besondere Steuern usw. Mehr als das: selbst innerhalb der Grenzen eines und desselben Staates stellten die einzelnen Provinzen besondere Staaten dar und übernahmen aus dem Mittelalter ihre eigenen Rechte, eine eigene Gesetzgebung und eigene Steuern. Kein Wunder, dass das damalige Deutschland mit seinen unzähligen Grenzsperren dem Franzosen de Pradt wie ein großes Gefängnis vorkam, dessen Bewohner nur durch Gitter miteinander verkehren konnten.

Noch im Jahre 11806 gab es 67 besondere Zolltarife, von denen elf Akzisetarife die stattliche Anzahl von 2775 Gegenständen besteuerten.15 Nach dem Jahre 1815 bildeten die deutschen Fürstentümer und Freistädte, deren Zahl 300 betrug, 39 vollkommen getrennte Gebiete.

Erst allmählich und nach Überwindung großer Schwierigkeiten beginnt die Zolleinigung der einzelnen deutschen Staaten. Im Jahre 1841 tritt das Herzogtum Braunschweig dem Zollverein bei. Im Jahre 1842 Luxemburg.16 In den Jahren 1837 und 1839 gelingt es dem Zollverein, die ersten Handelsverträge mit Holland abzuschließen, im Jahre 1841 mit England, 1839 mit Griechenland, 1841 mit der Türkei, 1844 mit Belgien. Im Jahre 1853 wurde der preußisch-österreichische Handelsvertrag abgeschlossen.17 Gute zwei Jahrzehnte der Entwicklung waren notwendig, damit die Zolleinigung Deutschlands noch einen Schritt vorwärts machen konnte, zum Zollparlament. Das Zollparlament war der Anstoß zum Zusammenschluss des Deutschen Reiches. Nach dem Vertrag vom 8. Juli 1867 wurde unter dem Vorsitz Preußens ein besonderer Bundesstaat gegründet. Von 58 Stimmen gehörten 17 Preußen, 6 Bayern, Sachsen und Württemberg je 4, Baden, Hessen je 3 usw. Und gleichzeitig wurde ein Zollparlament gegründet, das aus den Reichstagsmitgliedern des Norddeutschen Verbandes und aus süddeutschen Deputierten bestand, die auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählt waren.

Die Einigung Deutschlands wurde zu einer absoluten wirtschaftlichen Notwendigkeit. Aber ihr standen viele Hindernisse im Wege. Vor allem die Zersplitterung und militärische Ohnmacht. Das junge Deutschland besaß keine Flotte und konnte sich lange Zeit hindurch nicht einmal mit dem kleinen Dänemark messen. Die besten deutschen demokratischen Dichter jener Zeit gaben in ihren Werken dem Wunsche nach Einigung Ausdruck, nach der Erlangung der hierzu notwendigen Macht. Von der Bildung einer deutschen Flotte träumt Herwegh:

Um deiner Toten Asche musst du streiten.

Ha! Schlummern nicht aus deiner Hansa Zeiten

Auch deutsche Helden drin?

Und Freiligrath, der spätere intime Freund von Marx und Engels, singt in seinen „Flottenträumen“:

Sprach irgendwo in Deutschland eine Tanne:

O könnt ich hoch als deutscher Kriegsmast ragen,

O könnt ich stolz die junge Flagge tragen,

Des einigen Deutschland in der Nordsee Banne!

Der hervorragendste Vertreter des jungen bürgerlichen Deutschland, Friedrich List, spricht von dem furchtbaren Schaden, den die staatliche Zersplitterung den Interessen der wirtschaftlichen Entwicklung zufügte, in folgenden Worten:

Achtundvierzig Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll- und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu zahlen. Wer aber das Unglück hat, auf einer Grenze zu wohnen, wo drei oder vier Staaten zusammenstoßen, der verlebt sein ganzes Leben mitten unter feindlich gesinnten Zöllnern und Mautnern; der hat kein Vaterland!“18

Die Herrschaft Vieler ist die Versklavung Aller“ — so hieß die Formel der entstehenden deutschen Großbourgeoisie. Auf Schritt und Tritt ihrer Tätigkeit empfand sie, dass die staatliche Zersplitterung (Herrschaft Vieler bedeutete Herrschaft vieler Fürsten) die wirtschaftliche Entwicklung paralysierte, zur Versklavung Aller führte, den wirtschaftlichen Fortschritt aufhielt, das rasche Tempo der kapitalistischen Entwicklung hinderte. Besonders bemerkbar machte sich bei jedem Schritt die wirtschaftliche Abhängigkeit von England „Zu Haus unein, nach außen klein“, diese Worte Dingelstedts waren damals im Munde aller gebildeten Vertreter der deutschen Bourgeoisie.19 Zu jener Zeit entstand das Lied:

Von der Maas bis an die Memel,

Von der Etsch bis an den Belt,

Deutschland, Deutschland über alles,

Über alles in der Welt.

Es ist bemerkenswert, dass dies Gedicht von dem berühmten Demokraten Hoffmann von Fallersleben stammt, der sicher nicht ahnte, dass diesem Lied beschieden war, zur Marseillaise der Junker, Antisemiten und Imperialisten zu werden. Damals war in dem Liede nur der Wunsch nach Einigung enthalten, der Wunsch, den später Bismarck in den Worten ausdrückte: „Unser Recht ist das Recht der deutschen Nation, zu atmen, sich zusammenzuschließen.“

Preußen oder Österreich?

Die Einigung Deutschlands wurde eine immer unaufschiebbarere, immer brennendere wirtschaftliche Notwendigkeit. In den Jahren 1848/49 verzögerte der Sieg der deutschen Gegenrevolution auch die deutsche Einigung. Der nachrevolutionären Periode fiel diese wichtige Aufgabe zu. In den sechziger Jahren wurde sie von neuem auf die Tagesordnung gestellt. Wie konnte die deutsche Einigung trotz allem zustande kommen?

Es gab zwei Methoden: entweder durch eine Revolution von unten, d. h. durch Sturz der zahlreichen Könige und Fürsten und durch Schaffung eines republikanischen Regimes; oder durch eine „Revolution“ von oben, durch eine Reihe von Kriegen, wobei die kleineren deutschen Staaten von den größeren verschluckt werden mussten. In diesem Fall stand man vor der Frage: Preußen oder Österreich? Welches von beiden würde diese „Revolution von oben“ vollbringen, welches die kleineren Staaten um sich vereinigen? Würden sich die deutschen Staaten zu einem Großdeutschland zusammenschließen unter Einschluss Österreichs, oder würde es Preußen gelingen, Österreich aus dem deutschen Verbande zu verdrängen und unter seiner Diktatur ein Kleindeutschland zu schaffen? „Drei Wege lagen offen, nachdem die fast ausnahmslos nebelhaften Versuche von 1848 gescheitert waren, aber auch eben dadurch manches Übel zerstreut hatten“, schreibt Fr. Engels

Der erste Weg war der der wirklichen Einigung durch Beseitigung aller Einzelstaaten, also der offen revolutionäre Weg. Dieser Weg hatte soeben in Italien zum Ziel geführt; die savoyische Dynastie hatte sich der Revolution angeschlossen und dadurch die Krone Italiens eingeheimst. Solch kühner Tat aber waren unsere deutschen Savoyer, die Hohenzollern, und selbst ihre verwegensten Cavours à la Bismarck, absolut unfähig. Das Volk hätte alles selbst tun müssen. (Es hätte eine Reihe von Kriegen selbst durchführen müssen. d. Verf.) ... eine Zwangslage wäre geschaffen, worin Deutschland kein anderer Ausweg blieb als die Revolution, die Verjagung sämtlicher Fürsten, die Herstellung der deutschen einheitlichen Republik.

Wie die Dinge lagen, konnte dieser Weg zur Einigung Deutschlands nur betreten werden, wenn Louis Napoleon den Krieg um die Rheingrenze anfing. Dieser Krieg unterblieb jedoch. Damit hörte aber auch die Frage der nationalen Einigung auf, eine unaufschiebbare Lebensfrage zu sein, die gelöst werden musste von heute auf morgen, bei Strafe des Untergangs.

Der zweite Weg war die Einigung unter der Vorherrschaft Österreichs. Österreich hatte 1815 die ihm durch die napoleonischen Kriege aufgedrängte Lage eines kompakten, abgerundeten Staatsgebildes völlig beibehalten. Aber es war schwächer als Preußen. Seine vormaligen abgetrennten Besitzungen in Süddeutschland beanspruchte es nicht wieder. Metternich umgab seinen Staat nach der deutschen Seite hin mit einer förmlichen chinesischen Mauer. Die Zölle hielten die stofflichen, die Zensur die geistigen Produkte Deutschlands draußen, die namenlosen Passschikanen beschränkten den persönlichen Verkehr auf das notwendigste Minimum. Wie vor, so nach der Revolution blieb Österreich der reaktionärste, der modernen Stimmung am widerwilligsten folgende Staat Deutschlands, und dazu — die einzige noch übrige spezifisch katholische Großmacht. Je mehr die nachmärzliche Regierung die alte Pfaffen- und Jesuitenwirtschaft wiederherzustellen strebte, desto unmöglicher wurde ihr die Hegemonie über ein zu Zweidritteln protestantisches Land.

Kurz, die deutsche Einheit unter Österreichs Fittichen war ein romantischer Traum und erwies sich als solcher, als die deutschen Klein- und Mittelfürsten 1863 in Frankfurt zusammentraten, um Franz Joseph von Österreich zum deutschen Kaiser auszurufen. Der König von Preußen blieb einfach weg und die Kaiserkomödie fiel elend ins Wasser.

Blieb der dritte Weg: die Einigung unter preußischer Spitze. Die Februarrevolution kam und die Wiener Märztage und die Berliner Revolution vom 18. März. Die Bourgeoisie hatte gesiegt, ohne ernsthaft zu kämpfen, sie hatte den ernsthaften Kampf, als er kam, gar nicht einmal gewollt. Denn sie, die noch vor kurzem mit dem Sozialismus und Kommunismus jener Zeit kokettiert hatte (am Rhein namentlich), merkte jetzt plötzlich, dass sie nicht nur einzelne Arbeiter gezüchtet hatte, sondern eine Arbeiterklasse, ein zwar noch halb im Traum befangenes, aber doch allmählich erwachendes, seiner Natur nach revolutionäres Proletariat. Und dies Proletariat, das überall den Sieg für die Bourgeoisie erkämpft hatte, stellte, namentlich in Frankreich, bereits Forderungen, die mit dem Bestand der ganzen bürgerlichen Ordnung unvereinbar waren; in Paris kam es zum ersten furchtbaren Kampf zwischen beiden Klassen am 23. Juli 1848, nach viertägiger Schlacht unterlag das Proletariat. Von da an trat die Masse der Bourgeoisie in ganz Europa auf die Seite der Reaktion, verband sich mit den eben erst von ihr mit der Hilfe der Arbeiter gestürzten Bürokraten, Feudalen und Pfaffen gegen die Feinde der Gesellschaft, eben dieselben Arbeiter.“20

Da die deutsche Bourgeoisie sich mit der Reaktion ausgesöhnt hatte, war es unvermeidlich, dass innerhalb des konterrevolutionären Blocks das Junkertum die Oberhand gewann. Das drückte auch dem Verlauf der nationalen Einigung Deutschlands einen unverwischbaren Stempel auf. Diese Einigung, die schon längst zur wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeit geworden war, wird jetzt von Preußen in Gestalt des preußischen Junkertums in die Hand genommen. Das preußische Junkertum bringt aus seiner Mitte den Fürsten Bismarck hervor. Im Jahre 1863 ist Bismarck bereits am Ruder. Der „eiserne“ Kanzler beginnt die nationale Einigung durch eine „Revolution von oben“ zu verwirklichen, durch eine Politik „von Blut und Eisen“. Deutschland steht eine Reihe von Kriegen bevor. In diesen spielt das dynastische Element eine große Rolle. Aber ihrer objektiven Bedeutung nach sind diese Kriege nationale Kriege, in ihnen wird die Frage der Beseitigung der nationalen Zerstückelung Deutschlands und der Gründung der deutschen Einheit gelöst. Bismarck schafft diese Einheit nach eigenem Plan. In drei blutigen Kriegen wird das einige deutsche Reich gegründet, denn die Demokratie (und die Sozialdemokratie) war zu schwach, um die deutsche Republik zu schaffen. Dieses Reich trägt sofort eine reaktionäre Färbung, obgleich Bismarck zur rascheren Lösung der Frage zum allgemeinen Wahlrecht greifen musste, das den Kitt bilden sollte, der die deutschen Staaten unter der Hegemonie Preußens zusammenhielt. So wird die Frage der Einigung Deutschlands gelöst, wenn auch auf Bismarcks Art, auf die Art des Junkertums…

Die Kriege 1864, 1866, 1870/71.

Die Reihe der nationalen Kriege Bismarcks eröffnet der Krieg des Jahres 1864. Nach dem Tode des Königs Friedrich VII. von Dänemark zeigten Holstein mit seiner fast durchweg deutschen Bevölkerung und Schleswig mit seiner vorwiegend deutschen Bevölkerung das Bestreben, sich von Dänemark zu trennen und an Deutschland anzuschließen. Die Volksvertretungen beider Staaten ernannten den Herzog von Augustenburg zum Regenten. Die Frage des Schicksals der beiden Herzogtümer wurde auf diese Weise zu einer nationalen Frage. Die deutschen Patrioten erhoben eine lärmende Agitation für die Befreiung der Herzogtümer von der nationalen Unterdrückung der Dänen. Im Januar 1864 unternimmt Preußen zusammen mit Österreich einen Krieg gegen Dänemark, und bald wird er gewonnen. Jedoch die Herzogtümer fallen nicht dem deutschen Herzog von Augustenburg zu, wie es die patriotische öffentliche Meinung Deutschlands verlangt hatte, sondern Preußen und Österreich beschließen, den Raub zu teilen. Preußen erhält Schleswig, Österreich Holstein.

Unmittelbar nach dem Kriege 1864 spitzt sich immer mehr die Frage zu, unter wessen Hegemonie sich Deutschland vereinigen soll. Preußen oder Österreich dies Dilemma steht jetzt am dringendsten auf der Tagesordnung. Bismarck drängt zu einem Kriege gegen Österreich, zum Ausschluss Österreichs aus dem deutschen Bund und zur Gründung eines zentralisierten, Preußen unterstellten Kleindeutschland.

Zum Kriege gegen Österreich rüstend, sichert sich Bismarck die Neutralität Russlands (durch Unterstützung gegen die Polen), und freundschaftliche Beziehung seitens Frankreichs (durch Zubilligung von Kompensationen an Napoleon III.) und seitens Italiens (durch Auslieferung Venedigs).

In einigen entscheidenden Schlachten trägt Preußen mit Blitzesschnelle den Sieg über Österreich davon. Bismarck nimmt Osterreich das eben mit ihm zusammen erkämpfte Holstein wieder weg und annektiert außerdem Hannover, Kassel, Hessen-Nassau, die freie Stadt Frankfurt. Er will Österreich nicht endgültig zerstören, denn er überlegt, dass dank der deutschen Minderheit in Österreich die Deutschen die Möglichkeit haben, viele Millionen slawischer Österreicher zu beherrschen. Aus diesem Grunde ist er in seinen Forderungen „bescheiden“. Er kämpft gegen den unersättlichen Appetit der preußischen Hofkreise. Und er führt seine gemäßigten Forderungen durch, die Deutschland bald die Möglichkeit geben, sich in der auswärtigen Politik auf ein Bündnis mit dem besiegten Österreich zu stützen.

Schon nach dem Siege Preußens im Jahre 1866 und nach der Erklärung Österreichs, dass es aus dem deutschen Bund ausscheide, bemüht sich Napoleon III. aus allen Kräften, den völligen Zusammenschluss Deutschlands zu verhindern, indem er zwei Einigungen zu erzielen sucht, den norddeutschen und süddeutschen Staatenbund. Aber der süddeutsche ist nicht zustande gekommen. Das Jahr 1866 wird zum Triumphjahr für die „kleindeutsche“ Politik. In den Jahren 1866/67 wird die Organisation des norddeutschen Staatenbundes vollendet. Er umfasst ganz Deutschland bis auf die vier süddeutschen Staaten. Das ist kein Staatenbund mehr, sondern ein Bundesstaat, kein Bund einzelner vollständig selbständiger Staaten, sondern ein Staat, der aus dem Zusammenschluss einzelner früher selbständiger Staaten hervorgegangen ist.

Auf diese Weise stürzt Bismarck zugunsten Preußens die drei legitimsten deutschen Fürsten. Sein „Christentum“, seine Pietät leidet absolut nicht unter der Verjagung der drei ehrwürdigen und gesetzmäßigen „christlichen“ Fürsten. „Es war eine vollständige Revolution“, bemerkt hierzu Engels „Wir sind natürlich die letzten, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Was wir ihm vorwerfen, ist im Gegenteil, dass er nicht revolutionär genug, dass er nur preußischer Revolutionär von oben war, dass er eine ganze Revolution anfing in einer Stellung, wo er nur eine halbe durchführen konnte, dass er, einmal auf der Bahn der Annexionen, mit vier lumpigen Kleinstaaten zufrieden war.“21

Die Gründung des Norddeutschen Staatenbundes bedeutete noch nicht den völligen Zusammenschluss Deutschlands. Es handelte sich eher um ein Kompromiss zwischen dem Streben nach einer vollen nationalen Einigung und der partikularistischen Tradition. Preußen stellte sich an die Spitze des Staatenbundes, es bildete das Präsidium. Der norddeutsche Reichstag wurde zwar auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählt, ihm aber stand der Bundesrat gegenüber, und Bismarck balancierte zwischen diesen beiden Institutionen hin und her, sich bald auf die eine, bald auf die andere stützend.

Jedenfalls bedeutete die Gründung des norddeutschen Staatenbundes einen politisch entscheidenden Schritt. Die Tendenz, den Staatenbund zu ignorieren, den norddeutschen Reichstag zu boykottieren, die Versuche Wilhelm Liebknechts, das Geschehene nicht anzuerkennen, und seine Vorliebe für Österreich nach dem Jahre 1867 waren zweifellos ein Irrtum. Die Einigung Deutschlands unter Österreichs Führung wurde zu einer Unmöglichkeit. Preußen hatte unbedingt gesiegt.

Der Widerstand Österreichs war gebrochen. Aber die deutsche Einigung hatte noch einen, nicht weniger starken Feind — das bonapartistische Frankreich, Napoleon III. Für sein neutrales Verhalten im Kriege 1866 versprach Bismarck Napoleon III. entsprechende „Kompensationen“. Aber er gab sie ihm nicht. Nachdem Bismarck Österreich besiegt hatte, nachdem er zur Zusammenfassung Deutschlands um Preußen geschritten war, konnte er der ganzen Sachlage nach Napoleon III. keine deutschen Länder abtreten. Die preußische Großmachtpolitik gestattete es nicht. In einem Konflikt, zu dem Luxemburg den Anlass gab, ging Napoleon III. wieder leer aus. Er fühlte sich betrogen. Sein Prestige innerhalb Frankreichs, wo er sich nur mittels äußerer militärischer und diplomatischer Siege halten konnte, begann zu sinken. Die Uneinigkeit, die Zersplitterung Deutschlands war eine notwendige Vorbedingung für den Bonapartismus in Frankreich. Indessen aber musste Napoleon sich sagen, dass der endgültige Zusammenschluss Deutschlands dicht bevorstand und dass damit die goldenen Tage des Bonapartismus gezählt waren.

Thiers‘ bezeichnete es später als die größte Dummheit Napoleons III., dass er die entscheidenden Schritte zur nationalen Einigung Deutschlands und Italiens (1859, 1866) zugelassen habe. Denn die Hegemonie Frankreichs konnte sich nur halten, solange Italien und Deutschland in eine Reihe kleiner und mittelgroßer Staaten zersplittert waren. Jetzt wurde diese Tatsache auch Napoleon III. klarer als je zuvor.

Der entscheidende Moment kam. Jetzt oder nie — musste sich Napoleon III. sagen. Entweder er musste im Kriege Preußens Macht schwächen, die kleinen Staaten losreißen und die Zersplitterung Deutschlands wieder herbeiführen, oder — der Bonapartismus war gestürzt. Der Moment musste Napoleon III. auch darum besonders günstig erscheinen, weil er auf die Unterstützung Österreichs (Rache für Sadowa), Dänemarks (Revanche für Schleswig-Holstein) und sogar auf die Unterstützung Italiens rechnen konnte.

Andererseits aber wünschte auch Bismarck den Krieg gegen Frankreich. Dass der endgültige Zusammenschluss Deutschlands erst nach einem siegreichen Kriege gegen Frankreich zustande kommen würde, war vollkommen klar. Die militärische Rüstung Preußens in jenem Moment war — wie die Erfahrung der Jahre 1864 und 1866 lehrte — eine ausgezeichnete; sie war bedeutend besser als die Frankreichs. Zwei Siege hatte Preußen bereits errungen. Die deutschen Kleinstaaten beugten ihr Knie vor Ehrfurcht. Die diplomatische Lage Preußens war nicht schlecht, denn bei der gegebenen Kräfteverteilung konnte Bismarck mit viel mehr Recht darauf rechnen, dass Österreich neutral bleiben werde, was durch die Ereignisse auch bestätigt wurde.

Bismarck suchte ebenfalls den Krieg und stellte Napoleon III. überall Fallen. Beide Seiten waren bemüht, die Umstände so zu gestalten dass der Gegner als Angreifer erschien. Bismarck war der Geschicktere, und er erreichte es, dass im Sommer 1870 Frankreich an Preußen zuerst den Krieg erklärte.22

Die Pläne Bismarcks gingen vollkommen in Erfüllung. Die militärische Vorbereitung Preußens war tatsächlich derjenigen Frankreichs überlegen. Der partikularistische Süden Deutschlands ging in bestem Einverständnis mit dem vereinigten Norden gegen Frankreich. Die gemeinsam erfochtenen Siege über Napoleon III. haben den Norden mit dem Süden am besten zusammengefügt und so die Einigung Deutschlands gefördert. Am 4. September 1870, nach Sedan, fiel das zweite französische Kaiserreich. Napoleon III. war besiegt, die Republik proklamiert. Während der Belagerung von Paris wurde in Versailles die Gründung des einigen Deutschen Reiches feierlich verkündet. Der letzte Feind der deutschen Einigung war gestürzt. Die Einigung Deutschlands von oben war vollendet. So oder anders, aber die Bedingungen für die erfolgreiche kapitalistische Entwicklung Deutschlands waren endgültig gesichert.

Der preußisch-französische Krieg hat die politische Lage in Europa vollkommen geändert. Er hat die deutsche Einigung geschaffen, den allmächtigen Einfluss des Papstes gebrochen und damit die Einigung Italiens vollendet, er hat das zweite Kaiserreich gestürzt und die dritte französische Republik geschaffen. Soweit hatte dieser Krieg eine Bedeutung für den Fortschritt. Aber die Einigung Deutschlands wurde von oben herab vollzogen durch Bismarck und das Junkertum. Darum war der gewaltsame Raub von Elsass-Lothringen möglich geworden. Der Krieg 1870/71 hat die elsass-lothringische Frage geschaffen, in deren Zeichen späterhin neue, sehr reaktionäre Mächtegruppierungen zustande kamen. Außerdem hat der Krieg 1870/71 die Neutralität des Schwarzen Meeres beseitigt und somit die Orientfrage wieder akut gemacht.

Das waren Elemente, die den Krieg 1870/71 komplizierten. Aber an und für sich war der Krieg der letzte große nationale Krieg in West- und Zentraleuropa. Mit diesem Kriege schließt der Zyklus der großen europäischen Kriege, deren objektive Aufgabe es war, große, fest zusammengefügte nationale Staaten zu schaffen, die für die erfolgreiche Entwicklung des Kapitalismus notwendig waren und die einen historisch progressiven Charakter trugen. Deutschland konnte sich kraft besonderer Umstände erst später als die anderen Staaten zu einem einigen nationalen Staat zusammenschließen. Darum war es Deutschland, das den Zyklus der großen nationalen Kriege vollendete. Dank dieser spät erreichten Einigung ist es gekommen, dass in Deutschland zu der Zeit bereits eine zahlreiche Arbeiterklasse vorhanden war und dass eine mehr oder weniger organisierte sozialdemokratische Arbeiterpartei existierte, die in diesem Krieg eine selbständige Position einnehmen musste. Von dieser Position wollen wir in einem anderen Kapitel ausführlicher sprechen…

Die nationale Einigung Deutschlands und Italiens befriedigte ein lang empfundenes schmerzliches Sehnen dieser Nationen. Das vollzog sich freilich nach dem Niedergang der Revolution von 1848 nicht durch innere Bewegungen, sondern durch äußere Kriege. Der Krimkrieg von 1854/56 stürzte in Russland die Leibeigenschaft und erzwang die Beachtung der industriellen Bourgeoisie durch die Regierung des Zaren. 1859, 1866 und 1870 wurde die Einigung Italiens, 1866 und 1870 die Deutschlands, freilich unvollständig, vollzogen, 1866 eine liberale Ära in Österreich veranlasst, auch in Deutschland die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, einer gewissen Presse- und Koalitionsfreiheit angebahnt. Das Jahr 1870 vollendete diese Ansätze und brachte Frankreich die demokratische Republik. Und in England war 1867 eine Wahlreform durchgesetzt worden, die den oberen Schichten der Arbeiterschaft und den unteren des Kleinbürgertums das Wahlrecht verlieh, das ihnen bis dahin fehlte. Damit waren für alle Klassen der europäischen Nationen, mit Ausnahme des Proletariats, staatliche Grundlagen geschaffen, auf die sie ihre Existenz bauen konnten.“23

Im Zeitraum 1789—1871 gab es, wie wir schon bemerkt haben, natürlich auch Kriege, die man nicht national nennen kann. Ein krasses Beispiel hierfür liefert der englisch-chinesische Krieg 1841/42, zu dem der Opiumverkauf den Anlass gab. Doch nicht von solchen Kriegen ist hier die Rede.

Die nationalen Kriege sind Kriege, die durch eine langjährige Epoche nationaler Unterdrückung durch fremdländische Mächte hervorgerufen werden; es sind Kriege, denen meist stürmische nationale Bewegungen unter den durch fremde Herrschaft unterjochten Völkerschaften vorausgegangen sind; es sind Kriege, die gegen den Absolutismus und Feudalismus gerichtet sind; es sind Kriege, deren objektive Aufgabe es ist, das durch die wirtschaftliche Notwendigkeit hervorgerufene Bedürfnis nach Gründung von großen wirtschaftlich fest zusammengefügten nationalen Staaten zu befriedigen; es sind historisch progressive Kriege, die dem jungen Kapitalismus den Weg zur Herrschaft ebnen; es sind Kriege, in denen die Bourgeoisie eine fortschrittliche, oft revolutionäre Rolle spielt, wodurch sie sich von der imperialistischen Epoche der Allmacht des Finanzkapitals unterscheiden, in der die Bourgeoisie in allen kapitalistischen Ländern reaktionär wird und dein Untergang preisgegeben ist; es sind Kriege, in deren Verlauf das Proletariat erst beginnt, sich als Klasse zusammenzuschließen, während in der imperialistischen Epoche das Proletariat zum einzigen Träger der freiheitlichen Bestrebungen wird und die Entwicklung nicht im Zeichen des Kampfes zwischen Feudalismus und Bourgeoisie, sondern des Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat vor sich geht; diese Kriege standen am Beginn der kapitalistischen Ära und unterscheiden sich grundlegend von den jetzigen imperialistischen Kriegen

Nationale und imperialistische Kriege.

Der nationale Druck, die schweren Folgen der nationalen Zersplitterung, legten sich als besonders schwer zu tragende Last natürlich auf die unteren Bevölkerungsschichten, auf die Arbeitenden und Besitzlosen, auf die Demokratie im weiten Sinne dieses Wortes. Diese musste unter der fremden Herrschaft und unter der Zersplitterung des Vaterlandes am meisten leiden. Es ist daher selbstverständlich, dass sie zum Hauptträger der nationalen Bewegung wurde, die das Ziel hatte, die Fremdherrschaft zu stürzen, die Zersplitterung zu beseitigen und national zusammengefasste Staaten zu gründen. Die Devise „Vaterlandsverteidigung“ wurde zu der Zeit zum Schlachtruf der Demokratie.

Wir haben gesehen, welch ungeheure Rolle im Zeitraum 1789—1871 die nationale Bewegung in Frankreich, Italien und Deutschland gespielt hat. Diese Bewegung ging wie ein reißender Sturmwind übers Land und erfasste Millionen und Abermillionen Menschen, die unter dem Joche des nationalen Druckes stöhnten, ganze Völker wurden bis zum Grund erschüttert, das ganze öffentliche und politische Leben war Jahrzehnte hindurch von dieser Bewegung beherrscht. Die Verteidigung des Vaterlandes vor neuer Zerstückelung durch fremde Unterdrücker (Frankreich) der Kampf um die Beseitigung der nationalen Zersplitterung, die wie ein schwerer Albdruck auf dem ganzen öffentlichen Leben lastete (Italien, Deutschland) — diese Ziele erfüllten alle, sie wurden zum Hauptnerv der ganzen politischen Entwicklung Europas.

Gerade in jener Zeit tauchte die Parole der „Vaterlandsverteidigung“ zum ersten Mal auf und erfreute sich bald einer ungeheuren Popularität in den weitesten Bevölkerungsschichten.

Damals mussten Millionenmassen, die unter dem Joch der nationalen Zersplitterung stöhnten, diese Parole auffangen. Damals besaß diese eine historisch-progressive Bedeutung, denn sie war gerichtet gegen den Absolutismus und Feudalismus, sie unterstützte den Kampf gegen die Überbleibsel des Mittelalters, die jetzt Staatsformen weichen mussten, die der Epoche des wachsenden Kapitalismus entsprachen. Die nationalen Kriege 1789—1871 mussten in der Psyche der breitesten Volksmassen eine unverwischbare Spur hinterlassen. Ganze Generationen haben an diesen Kriegen unmittelbaren Anteil genommen, Hunderte und Hunderttausende haben ihr Gut und Blut geopfert. Diese Kriege schufen eine ungeheure Anzahl von Helden. Volksdichter besangen sie, es entstanden ganze Legenden, die von Mund zu Mund gingen; vom Kampf um die nationale Befreiung handelte das einfache Volkslied, in der Kirche, in der Schule sprach man von ihm. Diese Tradition unterstützte auch der fortgeschrittenste, aufgeklärteste Teil der Bourgeoisie. Man kann sich leicht vergegenwärtigen, welche tiefe Spuren all das im Bewusstsein der Massen hinterlassen musste, wie viel Hass gegen Frankreich sich in Deutschland und gegen Deutschland in Frankreich, in Italien gegen Österreich und in Österreich gegen Italien ansammeln musste. Besonders innerhalb der unteren Schichten der Stadt- und Landbevölkerung. Denn ein entwickeltes, zahlreiches Proletariat konnte es im Zeitalter der nationalen Kriege noch nicht geben: diese Kriege bildeten den Beginn des Kapitalismus, also auch den Beginn des Proletariats als Klasse.

Diese Ansammlung des nationalen Hasses, hervorgerufen durch hundertjährige nationale Kriege, diese Überlieferungen aus der Zeit 1789-1871 werden jetzt von den herrschenden Klassen der verschiedenen Länder ausgenutzt, um auch den jetzigen rein imperialistischen Krieg zu einem nationalen zu stempeln, um so die Herzen von Millionen Menschen auch jetzt noch höher schlagen zu lassen beim Wort „Vaterlandsverteidigung“. Der ganze ungeheure Apparat der Staatsinstitutionen, der Presse, des Parlaments usw. wurde in allen Ländern gleichzeitig in Bewegung gesetzt, um die in den Massen erhaltene Psychologie und die Überlieferung des vergangenen Zeitalters auszunutzen und die Massen für die ihnen fremde Sache unter dein alten nationalen Banner der „Vaterlandsverteidigung“ zu mobilisieren.

Diese Ausbeutung gelingt den herrschenden Klassen umso mehr, je anhaltender die Spuren sind, die die nationale Unterdrückung und die nationalen Kriege in der Psychologie der Massen des betreffenden Landes hinterlassen haben. Es ist bemerkenswert, dass die Massen der Kleinbourgeoisie und die zurückgebliebenen Schichten des Proletariats dem Märchen, der Krieg 1914/16 sei ein nationaler, nirgends so blind Glauben schenkten wie in Frankreich und in Deutschland. Nirgends hatte die Bourgeoisie einen solchen Erfolg mit der Parole der „Vaterlandsverteidigung“, nirgends rief diese eine so ungeheure nationale Erhebung hervor wie in Frankreich und Deutschland. Vielleicht noch in Italien wiederholte sich dasselbe, obgleich die wahren Motive der italienischen Imperialisten nach der ganzen Sachlage absolut offen hervortreten mussten.

In Frankreich leben noch die Traditionen der nationalen Kriege aus der Epoche der großen französischen Revolution, es lebt noch der Hass gegen den „Preußen“, der 1870 Paris belagerte usw. In Deutschland wiederum lebt noch die Erinnerung an die lange, qualvolle Zeit der nationalen Zerstückelung, an die Zeit, da Frankreich das deutsche Volk unterdrückte und seinen Zusammenschluss verhinderte. In Italien ist gegen den Österreicher, den langjährigen Unterdrücker, ein grenzenloser Hass zurückgeblieben. Und obgleich es sich jetzt um etwas ganz anderes handelt, obgleich jetzt die Bourgeoisie und die Regierungen aller Länder — unter dem Drucke des allmächtigen Finanzkapitals —— eine Raubpolitik führen, die mit den Interessen des Volkes nichts zu tun hat, so machte sich doch das Erbe der früheren Zeit sehr bemerkbar. In Frankreich, Deutschland und Italien hat die Phrase des nationalen Schutzes, der Vaterlandsverteidigung, der Befreiung unterdrückter Brüder usw. im imperialistischen Krieg unserer Tage einen ganz besonderen Erfolg — einen viel größeren als in Russland und England.

Die Bourgeoisie und ihre Politiker und Diplomaten missbrauchen vollkommen bewusst den „nationalen Krieg“ und die „Vatertandsverteidigung“. Mehr als das. Sie haben den jetzigen imperialistischen Krieg genau so, wie er sich verwirklicht hat, systematisch vorbereitet, und die bürgerlichen Geschäftemacher und Diplomaten haben vorher ganz offen geäußert, dass sie, um Erfolg für ihre Sache zu haben und um den Widerstand der sozialistischen Arbeitermassen gegen den Krieg zu schwächen, diesen einen Verteidigungskrieg vortäuschen müssten. Die deutschen Imperialisten zum Beispiel wussten genau, dass das deutsche Proletariat ihnen in ihrer Kriegs- und Raubpolitik ein starkes Hindernis sein würde. Sie wussten, dass man, um mit Erfolg Krieg führen zu können, dieses Proletariat betrügen, ihm einreden müsse, es sei dies ein nationaler Krieg zur Verteidigung des Vaterlandes. Und sie verhandelten ganz offen über die Frage, wie man dem deutschen Proletariat am besten Sand in die Augen streuen, wie man den imperialistischen Krieg am Geschicktesten zu einem nationalen machen könne.

Einer der hervorragendsten Vertreter der deutschen Diplomatie, Ritzner, der (unter dem Pseudonym Ruedorffer) kurz vor Kriegsausbruch ein Buch mit dein Titel „Grundzüge der Weltpolitik“ veröffentlichte, schreibt ganz offen über die Vorbereitung zum Kriege: „Gelingt es dem internationalen Sozialismus, den Arbeiter innerlich ganz aus dem Gefüge der Nation zu lösen und zu einem bloßen Glied der Klasse zu machen, so hat er gesiegt, denn die Mittel der reinen Gewalt müssen für sich allein auf die Dauer unhaltbar sein. Gelingt dies indes dem internationalen Sozialismus nicht, bleiben, wenn auch nur unbewusst, innere Bande bestehen, die den Arbeiter an den Organismus knüpfen, der Nation heißt, so bleibt der Sieg des internationalen Sozialismus so lange fraglich, als diese Bande bestehen.“24

Was muss man aber tun, um dem Sozialismus eine Niederlage zu bereiten und sich die Hände frei zu machen für imperialistische Kriege, für diejenigen Kriege, die nach Ansicht desselben deutschen Imperialisten Ruedorffer für die „Interessen des Kapitals“ notwendig sind? Dafür gibt es nur ein Mittel: die imperialistischen Kriege in die Ideologie der nationalen Kriege kleiden; bei den Arbeitermassen die Vorstellung wecken, als ob sie auch jetzt ihr „Vaterland verteidigten“ in einem angeblich nationalen Krieg.

Ruedorffer fährt fort: „Die Regierungen mögen durch die Rücksicht auf die Friedenstheorien des Sozialismus vielleicht veranlasst sein, bei ihren (imperialistischen) Unternehmungen sorgfältig auf die Deckung durch das nationale Gefühl bedacht zu sein, wobei sich nichts in der Sache, sondern nur manches in der politischen Form und der Technik (!) ändert, deren sich die moderne Politik zu bedienen hat.“25

Was der deutsche Imperialist Ruedorffer offen bekennt, gilt natürlich nicht nur für Deutschland oder nur für die Bourgeoisie und die Regierungen einer einzigen Gruppe der kriegführenden Mächte. Nein, es ist die Grundlage der bürgerlichen Politik überhaupt im Zeitalter der imperialistischen Kriege. Wir haben nur ein typisches Beispiel angeführt.

Man kann den Volksmassen nicht direkt sagen: geht und opfert euch millionenweise auf den Schlachtfeldern, weil „unsere“ Bourgeoisie belgische und französische Kolonien in Afrika braucht, oder weil „unsere“ Bourgeoisie in dem oder jenen Land die oder jene „Einflusssphäre“ gewinnen will usw. Um die Begeisterung der Massen zu wecken, gebraucht die Bourgeoisie ein besseres Mittel: sie appelliert an die Überlieferungen der früheren Epoche; durch die populäre Losung der „Vaterlandsverteidigung“ entzündet sie das Nationalgefühl. Für den Krieg ist dies eine Notwendigkeit. Ebenso wie man für den Krieg Munition vorbereiten, die Technik verbessern muss, ebenso ist es notwendig, das Volksbewusstsein für ihn zu bearbeiten. Man muss auf die „Deckung durch das Nationalgefühl“ bedacht sein. Das ist — nach dem bezeichnenden Ausdruck des deutschen Diplomaten Ruedorffer — die einfachste Methode und „Technik“.

Wie herrlich vervollkommnet diese imperialistische „Technik“ ist, wie ausgezeichnet sie in diesem Kriege funktioniert hat, sieht man zum Beispiel an Bulgariens Schicksal.

In Bulgarien sind die nationalen Traditionen besonders lebendig. Der Hass gegen die Türken, von denen die Bulgaren viele Jahre hindurch unterdrückt worden sind, ist sehr groß.

W. G. Korolenko hatte kurz vor Kriegsausbruch Gelegenheit, die Bulgaren in der Dobrudscha zu beobachten. Er beschreibt folgende Szene in einer bulgarischen Schule in einem kleinen, abgelegenen Dorf. Um an einem literarischen Abend teilzunehmen, an dem die Befreiung Bulgariens gefeiert werden sollte, waren viele bulgarische Lehrer und Lehrerinnen zusammengekommen. „Junge Lehrer und Lehrerinnen, die den unseren sehr ähnlich sehen, aber mutige Augen und leuchtende, begeisterte Gesichter haben, trugen patriotische Gedichte ihrer Dichter vor, und im kleinen Schulzimmer herrschte eine Atmosphäre, die vollkommen erfüllt war von Eindrücken früherer Kämpfe. „Die Türken haben dich tyrannisiert“, diese Worte wiederholten sich immer wieder. Braungebrannte, schnurrbärtige und krummnasige bulgarische Krämer, alte und junge Frauen lauschten begierig den poetischen Ergüssen, die sie an die eben ausgefochtenen nationalen Kämpfe erinnerten. Blut, Tod durch Bajonette, mutige Verachtung aller Qualen und Rache den Unterdrückern!“

Der nationale Hass ist gegen die Türken gerichtet. Und was sehen wir? Der Krieg beginnt — und mit welcher Leichtigkeit gelingt es dem deutschen Imperialismus im Jahre 1915 mit Hilfe seiner bulgarischen „jungen Leute“, diesem Hass eine andere Richtung zu geben… die Türken werden plötzlich zu den besten Freunden: so will es das deutsche Finanzkapital, der deutsche Imperialismus. Und haben wir im Verlauf dieses Krieges nicht noch mehr solcher Verwandlungen gesehen?

Das Kriterium des Angriffs- und Verteidigungskrieges entstand ebenfalls in der Epoche der nationalen Kriege 1789 bis 1871. Die Demokratie und der entstehende Sozialismus mussten einen Unterschied machen zwischen Verteidigungs- und Angriffskrieg. Dieser Unterschied bestand in der diplomatischen Vorgeschichte der Kriege, nicht darin, wer zuerst den Krieg erklärte, wer den ersten Schuss abgegeben hatte. Nein, die Frage ging vom Standpunkt des historischen Fortschritts viel weiter. Ein Angriffskrieg war ein Krieg, der das Ziel verfolgte, die Überlieferungen des Absolutismus und Feudalismus zu schützen und zu sichern, die nationale Unterdrückung und nationale Zersplitterung fortzusetzen, die Gründung einheitlicher nationaler Staaten zu verhindern. Ein Verteidigungskrieg war ein Krieg, der das objektive Bestreben hatte, die Reste des Feudalismus zu beseitigen, und der der wirtschaftlichen Notwendigkeit, einen nationalen Staat zu gründen, entgegenkam. Diese Einteilung der Kriege der vergangenen Epoche in Angriffs- und Verteidigungskriege hat im Bewusstsein der Demokratie eine tiefe Spur hinterlassen. Heute greift die Bourgeoisie nach diesen Überlieferungen wie nach einem Strohhalm. Alles Mögliche wird in Bewegung gesetzt. Die Bourgeoisie und die Regierung eines jeden Landes scheut keine Mühe, keine Millionen, um nur ihren Krieg als Verteidigungskrieg“, den Krieg des Gegners als „Angriffskrieg“ darzustellen. Im imperialistischen Zeitalter hat das Kriterium des Verteidigungs- und Angriffskrieges dasselbe Schicksal wie die Parole „Vaterlandsverteidigung“.

Die Bourgeoisie und die Regierungen Deutschlands, Österreichs (und nicht nur dieser Länder) beuten die Überlieferungen des Zeitalters der nationalen Kriege genau so aus, wie sie die religiösen Vorurteile der Massen, die politischen Vorurteile einzelner Bevölkerungsschichten, zum Beispiel des Bauerntums usw., ausbeuten.

Und den Imperialisten gelingt diese Verdummung des Volkes umso leichter, je mehr sie ihre Methoden „internationalisieren“. Der Umstand, dass die berühmte „Technik“ gleichzeitig in allen Ländern in einem alleuropäischen Maßstab angewandt wird, erleichtert den Imperialisten jedes einzelnen Landes ihren Betrug.

Die Opportunisten des Sozialismus in den verschiedenen Ländern haben sich unbewusst dieser ideell-politischen Ausbeutung gefügt, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, dass es sich nur um eine „Technik“ von Seiten der Bourgeoisie handelt. Angelegenheit der deutschen (und anderen) Sozialisten wäre es gewesen, der Arbeiterklasse behilflich zu sein, dieser betrügerischen „Technik“ gegenüber standzuhalten und dem Nationalismus, der von neuem sein Haupt erhob, Widerstand zu leisten. Anstatt dessen hat der opportunistische Teil der Sozialisten sich selbst der bürgerlichen „Technik“ gebeugt und ist selbst sozialchauvinistisch geworden. Es war gewiss nicht leicht, Widerstand zu leisten. Die „Technik“ der Bourgeoisie ist eine sehr hoch stehende. Ihr ist es gelungen, eine nationalistische Massenpsychose hervorzurufen. Doch dies verpflichtet die deutschen (und die anderen) Sozialisten nicht zur Kapitulation, sondern zu noch heftigerem Widerstand…

In den imperialistischen Kriegen des jetzigen Zeitalters können nationale Elemente und rein dynastische Interessen eine Rolle spielen. Aber diese Rolle ist nur eine zufällige, eine episodische. Im Zeitalter der nationalen Kriege waren auch, wie wir gesehen haben, Elemente anderer Art hinzugetreten. Aber im historischen Sinne können und müssen wir zwei besondere Epochen unterscheiden: die der nationalen und die der imperialistischen Kriege. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Vertreter des Imperialismus, die Vertreter des allmächtigen Finanzkapitals immer bemüht sein werden, die imperialistischen Kriege in den Augen des Volkes auszuschmücken, sie „durch das nationale Gefühl zu decken“.

Der Krieg 1914/16 enthält ebenfalls nationale Momente: der Österreichisch-serbische Konflikt, die Zusammenstöße auf dem Balkan sind mit nationalen Fragen eng verknüpft. Überhaupt ist die nationale Frage im Osten Europas noch von großer Bedeutung. Aber im Allgemeinen spielt das nationale Element in diesem Kriege eine ganz untergeordnete Rolle und ändert nichts an seinem allgemein imperialistischen Charakter. Wenn noch Beweise dafür notwendig wären, dass in den jetzigen Kriegen der Imperialismus die hauptsächlich treibende Kraft ist, so könnte der Krieg 1914/16 dies am besten illustrieren. Wer hat es noch nicht begriffen, dass in diesem ganzen Kriege die mächtigen imperialistischen Interessen Englands, Deutschlands, Frankreichs usw. tonangebend sind?

Nationale Kriege, wie wir sie in der Epoche 1789—1871 gesehen haben, sind jetzt nur noch in Asien möglich oder in großen, sich rasch entwickelnden Kolonien. Von Seiten Chinas, Indiens sind nationale Kriege möglich, Kriege um ihre Befreiung vom Joch der europäischen Staaten, um die Beseitigung der Fremdherrschaft, die bestrebt ist, sie zu zersplittern und zu knechten. Solche Kriege sind auch möglich von Seiten großer afrikanischer, südamerikanischer und australischer Kolonien, die nach voller Unabhängigkeit streben, aber auch diesen Kriegen müsste das imperialistische Zeitalter seinen Stempel aufdrücken. Diese Länder würden allerdings nicht als Subjekte, sondern als Objekte des Imperialismus auftreten. Aber das Stadium des Kapitalismus, das in Europa erreicht ist, wird sich durch tausend Folgen auch in diesen Ländern bemerkbar machen da sie mit vielen Fäden an Europa gebunden sind.

Marx und Engels haben schon im Jahre 1847 (als das „Kommunistische Manifest“ verfasst wurde) mit dem geistigen Auge die allgemeine historische Evolution überschaut, die jetzt vor sich geht. Zur Zeit, da der Kapitalismus im Entstehen begriffen war, musste der Kampf des Proletariats nationale Formen annehmen. Aber er muss seinem Wesen nach immer mehr international werden und er muss im internationalen Maßstab dazu führen, dass die kapitalistische Produktionsweise durch eine andere, von diesem Prinzip verschiedene, ersetzt wird.

Obgleich nicht dem Inhalte, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden … Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.“ (Geschrieben im Jahre 1847. D. Verf.) „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.“26

Die Arbeiter haben kein Vaterland“, sagten Karl Marx und Friedrich Engels. Wie weit entfernt davon ist die Losung der „Vaterlandsverteidigung“, die jetzt unter dem Einfluss der Bourgeoisie von den deutschen und anderen Sozialchauvinisten, die Marx‘ Namen missbrauchen, verteidigt wird!

Die Sozialchauvinisten haben oft die „besten Absichten“. Sie glauben. dass sie die Bourgeoisie schieben. Aber —

Du glaubst zu schieben, doch du wirst geschoben.“

In Wirklichkeit folgen die Sozialchauvinisten nur den „technischen“ Manipulationen der Ruedorffer aller Länder. Indem sie den Ruedorffern helfen, den jetzigen Krieg zu einem nationalen zu stempeln, werden die Sozialchauvinisten im besten Falle zu einem blinden Werkzeug der Imperialisten.

Aber, wir sind vorausgeeilt…

1 Rudolf Goldscheid. Das Verhältnis der äußeren Politik zur Inneren. Ein Beitrag zur Soziologie des Weltkrieges. S. 14 und 30.

2 Man glaube nicht, dass der Kampf des revolutionären Frankreich gegen die monarchistischen Mächte nur hervorgerufen war durch den Kampf der bürgerlich-demokratischen Gesellschaftsordnung gegen die feudale, obgleich diese Ursachen die vorherrschenden waren. Auch die Konkurrenz zwischen Frankreich und England auf kolonialem Gebiet spielte eine wesentliche Rolle.

3 Deutsche Geschichte von Karl Lamprecht, Dritte Abteilung, Neueste Zeit, III. Band, Berlin 1907, S. 353.

4 Vergl. Otto Bauer und Karl Kautsky „Nationalität und Internationalität“.

5 Siehe diese Serie ausgezeichneter Artikel von Engels, die Bernstein in der „Neuen Zeit“ 1895/96 veröffentlicht hat. XIV. Jahrgang, Bd. 1, S. 679. [“Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, Marx Engels Werke, Band 21, S. 405-461, hier S. 407]

7 S. z.B. Seignobos „ Die politische Geschichte des gegenwärtigen Europa“ I, 2.

8 A. Stern „Geschichte Europas 1830-1848“, Band I, S. 100.

9 Frederic Engels „What have the working classes to do with Poland?“ (To the Editor of the „Commonwealth“.) [“Was hat die Arbeiterklasse mit Polen zu tun”, Marx Engels Werke, Band 16, S. 153-163, hier S. 156f.]

10 Engels nennt den Krimkrieg eine ungeheure Komödie von Fehlern, bei der man sich auf Schritt und Tritt fragen muss: wer ist es, der den anderen betrügt? Aber diese Komödie hat der Menschheit fast eine Million Menschenleben gekostet. England führte den Krieg, um ein weiteres Anwachsen Russlands auf Kosten der Türkei zu verhindern Aber außerhalb dieser Grenzen war es für England und Frankreich nur ein „Scheinkrieg“. Und die damalige russische Diplomatie hat es fertig gebracht diesen Krieg zu einer Reihe ernster Niederlagen für Russland zu gestalten. Siehe die Artikel von Engels in der „Neuen Zeit“ 1895/96, XIV. Jahrgang, Bd. 1, S. 682, 693.

12 Vergl. „Geschichte der neuesten Zeit“ von Gottlob Egelhaaf, Stuttgart 1908.

13 Es handelt sich um die Konferenz in Olmütz am 29. November 1850, hervorgerufen durch den Konflikt zwischen Preußen und Österreich wegen Schleswig-Holsteins. Russland wurde in der Person Nikolaus I. als Schiedsrichter angerufen. Es zwang Preußen, auf die Verbindung mit Schleswig-Holstein zu verzichten. Nikolaus stellte sich auf die Seite Österreichs und behandelte Preußen nur mit Verachtung.

14 Vergl. „Handbuch der deutschen Geschichte“, herausgegeben von Bruno Gebhardt, S. 403 f.

15 Deutsche Geschichte von Karl Lamprecht, Bd. III, S. 421, 1907.

16 Bruno Gebhardt, a.a.O., S. 604.

17 Geschichte Europas von 1830 bis 1848 von Alfred Stern, 3. Band, Seite 238 f.

18 Lamprecht, S. 421.

19 Vergl. Dr. Gustav Stresemann „Englands Wirtschaftskrieg gegen Deutschland“, 1915, S. 15.

20 Engels, a.a.O., S. 685-711.

21 a.a.O., S.717.

22 Die diplomatische Vorgeschichte des Krieges 1870/71 wird in den nächsten Kapiteln dieser Arbeit ausführlicher behandelt, im Zusammenhang mit dem Kriterium des Verteidigungs- und Angriffskrieges.

23 Karl Kautsky „Der Weg zur Macht“, 1909, S. 63-64. — Diese Broschüre hat Kautsky geschrieben, bevor er nach rechts abschwenkte

24 Ruedorffer „Grundzüge der Weltpolitik“, 1914, S. 173.

25 a.a.O., S. 178.

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