V. VERTEIDIGUNGS- UND ANGRIFFSKRIEGE.

V. VERTEIDIGUNGS- UND ANGRIFFSKRIEGE.

(Von “gerechten” und “ungerechten” Kriegen.)

Der Verteidigungskrieg einst und jetzt.

Während der jetzigen Krise ist es zu einer beliebten Angewohnheit der herrschenden Klasse geworden, den Krieg so darzustellen, als wären “wir” die sich verteidigende und die Gegner die angreifende Seite. Diese Methode hat sich in Deutschland ebenso wie in allen kriegführenden Ländern eingebürgert. Und dies geschieht zu dem Zweck, um die demokratischen Traditionen des verflossenen Zeitalters im Interesse der heutigen imperialistischen Politik auszunutzen.

Die Ideologen und Geschäftsträger der Bourgeoisie wissen, dass die Einteilung der Kriege in Verteidigungs- und Angriffskriege in der Zeit der nationalen Bewegungen (ungefähr von 1789 bis 1871) eine große Rolle für die demokratisch gesinnten Elemente gespielt hat. Sie rechnen ganz richtig, dass die breiten Massen der Bevölkerung am leichtesten zu betrügen sind, wenn man sich auf die demokratische Ideologie der vergangenen Zeit stützt. Sie Wissen, dass während der Epoche 1789-1871 die Einteilung der Kriege in Verteidigungs- und Angriffskriege in den breitesten Massen der Demokratie Wurzel gefasst hat, dass die Verteidigungskriege in jener Zeit als gesetzmäßig und gerecht betrachtet wurden, während Angriffskriege die Empörung der Massen und ihre Bereitwilligkeit hervorriefen, auf der Seite der sich Verteidigenden zu kämpfen. Nur eine Kleinigkeit ist notwendig, damit das Ziel der bürgerlichen Imperialisten erreicht wird: das Kriterium der Verteidigungs- und Angriffskriege auf das neue Zeitalter zu übertragen, obgleich diese Einteilung hier jeden Sinn verloren hat. Die Bourgeoisie glaubt so sehr an dieses Mittel, dass sie in allen Staaten, ohne Unterschied der Regierungsform, der Sprache, der Kultur usw., nach diesem Mittel greift. Die “Technik”, von der der deutsche Imperialist Ruedorffer sprach, hat eine sehr große Verbreitung gewonnen. Die deutsche Monarchie, das parlamentarische England, das halb absolutistische Österreich, die Türkei und Bulgarien sie alle griffen nach dem “bewährten Mittel”. Sie alle, ohne Ausnahme, führten angeblich einen Verteidigungskrieg.

Alle verteidigen sich! Wer aber ist dann der Angreifer?

Wir sagten schon, dass das Kriterium des Verteidigungs- und Angriffskrieges sich mit der Zeit ebenso gewandelt hat, wie die Losung der “Vaterlandsverteidigung”. Die Losung der “Vaterlandsverteidigung” wie auch das Kriterium des “gerechten” Verteidigungskrieges entstanden im Zeitalter der nationalen Kriege. Damals bedeutete die Verteidigung des Vaterlandes zugleich die Verteidigung der nationalen Einigkeit gegen fremdländische Unterdrücker, sie bedeutete den Kampf um die Entwicklungsmöglichkeit einer höher stehenden Gesellschaftsordnung: des Kapitalismus der den Feudalismus ablösen sollte. Diese Vaterlandsverteidigung bedeutet heute im imperialistischen Zeitalter die Unterstützung des Finanzkapitals, das die Armee und den sonstigen Apparat des bürgerlichen Staates für sich in Anspruch nimmt und den Übergang vom Kapitalismus zu der inzwischen reif gewordenen höheren Entwicklungsstufe, dem Sozialismus, mit Gewalt zu verhindern sucht. In der Epoche 1789-1871 half das Kriterium des Angriffs- und Verteidigungskrieges, den Massen verständlich zu machen, wo der Freund und wo der Feind stand, wo der Unterdrücker und Vergewaltiger und wo der Verteidiger des sozialen Fortschritts. Und was bedeutet dieses Kriterium heute, im Jahre 1914? Es hilft den Feinden des sozialen Fortschritts die Volksmassen zu betrügen, sie darüber irrezuführen, wo ihr gemeinsamer Feind steht und wo die einzige Möglichkeit der Befreiung der Völker liegt.

Man kann überzeugt sein, dass auf jedem beliebigen europäischen Kongress der Mächte die imperialistischen Regierungen — trotz aller sie trennenden Gegensätze — einmütig der Ansicht sein würden, dass das Kriterium des Angriffs- und Verteidigungskrieges unbedingt erhalten bleiben muss. Und von ihrem Standpunkt aus hätten sie Recht. Mögen nur die Völker das Prinzip an und für sich anerkennen, das “eigene” Volk dann davon zu überzeugen, dass “wir” uns verteidigen “jene” aber angreifen — dürfte nicht mehr schwierig sein

Der Begriff des Verteidigungs- und Angriffskrieges.

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass man nicht nur zwischen zwei Zeitaltern zu unterscheiden habe, sondern auch zwischen zwei Begriffen: dem Verteidigungs- bzw. Angriffskriege im historischen Sinn und dem Verteidigungs- bzw. Angriffskriege im diplomatischen Sinn. Diesen Unterschied wollen wir näher erläutern.

Was verstand man unter Verteidigungs- und Angriffskrieg im Zeitalter der nationalen Kriege? Wie haben die besten Vertreter der Demokratie dieses Kriterium angewandt? Welche Anzeichen waren kennzeichnend dafür, um welche der beiden Gattungen es sich handelte? Genügte es, dass das Land X dem Land Y den Krieg erklärte, damit das Land X als das angreifende, das Land Y das sich verteidigende Lager betrachtet wurde? Oder: wenn im Krieg zwischen den beiden Ländern X und Y, unabhängig davon, wer zuerst den Krieg erklärt hatte, die Armeen des ersten Angriffsstrategie, die Armeen des zweiten die Verteidigungsstrategie in Anwendung brachten, genügte das, um das Land X den Angreifer das Land Y als Verteidiger zu betrachten? Oder: wenn beide Erscheinungen zugleich vorhanden waren, d. h., wenn Land X als erstes den Krieg erklärt hatte und außerdem seine Armee ins Land der Gegner eingedrungen war, genügte das, um Land X als das angreifende zu kennzeichnen?

Nein! Weder die diplomatische noch die strategische Seite sind erschöpfend für diese Frage. Entscheidend ist ein anderes, viel wichtigeres Moment: die Beurteilung vom Standpunkt der ganzen historischen Entwicklung. Welches der beiden Lager kämpfte für die Errichtung eines nationalen Staates, für die Beseitigung der Fremdherrschaft und der nationalen Zersplitterung? Welches der beiden Lager setzte durch diesen Krieg den nationalen Bewegungen innerhalb des Landes ein Ende, in welchem Land gingen dem Krieg lange Jahre nationaler Unterdrückung, und als Reaktion dagegen — lange Jahre nationaler Kämpfe voraus? Mit anderen Worten: welches der beiden Lager kämpfte für den historischen Fortschritt? Nur hierdurch konnte die Frage entschieden werden. Nicht unbedingt derjenige Staat, der als erster den Krieg erklärt hatte, führte einen Angriffskrieg; das konnte zutreffen, konnte aber auch nicht zutreffen. Derjenige Staat führte einen Angriffskrieg, der nach der ganzen Sachlage, nach den Umständen der Entstehung des Krieges als derjenige anerkannt werden musste, der der Errichtung eines einigen national-kapitalistischen Staates störend im Wege stand. Derjenige Staat führte einen Angriffskrieg, der durch diesen Krieg eine Politik unterstützte, die den historischen Fortschritt im oben beschriebenen Sinne hemmte. Und — umgekehrt: nicht derjenige Staat führte einen Verteidigungskrieg, an den die Kriegserklärung ergangen oder der zuerst vom Gegner überfallen, worden war, — das konnte zutreffen, konnte aber auch nicht zutreffen. Derjenige Staat führte einen Verteidigungskrieg, der den historischen Fortschritt vor den Angriffen eines gewaltigen Gegners schützte; der den Krieg führte um die Beseitigung der halbfeudalen Zersplitterung, um die Errichtung eines national-kapitalistischen Staates.

Der Kapitalismus war im Vergleich mit dem Feudalismus ein historischer Fortschritt. Im Vergleich mit dem Kapitalismus kann nur der Sozialismus als historischer Fortschritt anerkannt werden. Darum konnte man im Zeitalter der nationalen Kriege einen Verteidigungskrieg nur führen, wenn man den einheitlichen nationalen kapitalistischen Staat verteidigte gegen eine feudale oder halbfeudale Zersplitterung. Jetzt, im Zeitalter der imperialistischen Kriege, wo der Kapitalismus seine Stufe der höchsten Entfaltung erreicht hat, ist ein Verteidigungskrieg nur da möglich, wo ein siegreicher sozialistischer Staat gegen kapitalistisch-imperialistische Staaten verteidigt wird. In diesem Sinne schrieb 1882 Fr. Engels an Karl Kautsky, dass er Verteidigungskriege nach dem Siege des Proletariats, nach dessen Eroberung der Macht nicht für ausgeschlossen halte; das würden Kriege sein, in denen das Proletariat gezwungen wäre, seine sozialistischen Errungenschaften gegen die kapitalistischen Staaten zu schützen.1

So müssen wir zu unterscheiden verstehen zwischen einem Angriffskrieg bzw. Verteidigungskrieg im historischen Sinne — was das Wesentliche ist — und einem Angriffs- bzw. Verteidigungskrieg im diplomatischen (und strategischen) Sinne — was eine nebensächliche Bedeutung hat. Es gibt Fälle, in denen ein Verteidigungskrieg im historischen Sinn ein Angriffskrieg im diplomatischen oder strategischen Sinn ist; und umgekehrt. So z. B. die Kriege der großen französischen Revolution, von denen im ersten Kapitel die Rede war. Obgleich sie in diplomatisch-strategischer Beziehung oft reine Angriffskriege waren, so können sie doch in historischer Beziehung als Verteidigungskriege bezeichnet werden. Ihre historische Bedeutung bestand darin, dass sie die Errungenschaften der großen französischen Revolution verteidigen mussten gegen die Monarchien der Nachbarländer, die das Bestreben hatten, in Frankreich das alte Regime wiederherzustellen. Wäre es dem revolutionären Frankreich nicht gelungen, dem Ansturm Englands, das schon damals für seine koloniale Vorherrschaft kämpfte, Widerstand zu leisten, hätte Frankreich in den Kriegen gegen das gegenrevolutionäre Österreich nicht standgehalten, — es wäre nie imstande gewesen, die Errungenschaften von 1789 zu verteidigen und zu schützen.

Um noch klarer zu sein, wollen wir noch einige Beispiele anfuhren. Wir wollen von nun ab zur Abkürzung nur zwei Ausdrücke gebrauchen: der Verteidigungskrieg im historischen Sinn und der Verteidigungskrieg im diplomatischen Sinn.

Der italienische Krieg 1859 als Beispiel eines Verteidigungskrieges im historischen, aber nicht im diplomatischen Sinn.

Der italienische Krieg 1859 ist das klassische Beispiel eines nationalen Krieges. Er war ein typischer Verteidigungskrieg, in der historischen Bedeutung dieses Wortes. Vom strategisch-diplomatischen Standpunkt dagegen war die Sache nicht so einfach. In Italien war seit langem die nationale Bewegung gegen die österreichische Fremdherrschaft im Wachsen begriffen. Nach dem Krimkriege gestaltete sich die Sachlage vom diplomatischen Standpunkt aus so, dass Österreich sich auf der internationalen Arena mehr oder weniger isoliert sah. Cavour, der politische Hauptführer Piemonts, hatte allen Grund, anzunehmen, dass der gegebene Moment für einen italienischen Krieg gegen Österreich günstig war. Er fing an, zum Krieg zu rüsten, stärkte seine Armee, warb Freiwillige usw. Gleichzeitig bereitete er einen Krieg auch in diplomatischer Beziehung vor. Er suchte einen Verbündeten und fand ihn in Napoleon III.

Auf Napoleons Einladung reitet Cavour zu ihm nach Plombières zu einer geheimen Besprechung, und dort schließen sie ganz geheim, selbst ohne das Wissen der Regierung der beteiligten Länder, ein Angriffsbündnis gegen Österreich. Napoleon will sich vor allem auf diplomatischem Wege das neutrale Verhalten Russlands sichern. Gleichzeitig aber werden alle notwendigen Schritte unternommen, um die beiden Armeen zu stärken. Alte Einzelheiten werden festgelegt. Frankreich stellt eine Armee von 200.000 Mann, die Napoleon selbst befehligen wird. Piemont liefert eine Armee von 100.000 Mann. Die Armeen vereinigen sich an einer bestimmten Stelle und führen einen bestimmten strategischen Plan durch. Im Falle eines Teilerfolges erhält Napoleon III. als Kompensation nur Savoyen, im Falle eines großen Erfolges auch noch Nizza.

Cavour ist so sehr erfüllt von dem Wunsch, sich in den solange erwarteten Kampf um die italienische Unabhängigkeit zu stürzen, dass er bereit ist, Österreich den Krieg zu erklären, obgleich eine solche Herausforderung einen unangenehmen Eindruck vorrufen und der ganzen Welt zeigen würde, dass dieser Krieg in diplomatischer Beziehung ein Angriffskrieg von Seiten Italiens sei. Aber Napoleon III. handelt kaltblütiger und vorsichtiger. Mit Hilfe von allerhand diplomatischen Hinterlisten ist er bemüht zu erreichen, dass die Kriegserklärung von Österreich aus erfolgt. Cavour treiben diese abwartenden Methoden Napoleons III. oft zur Verzweiflung. Er glaubt, dass Louis Napoleon durch seine Saumseligkeit die ganze Sache gefährde. Es gibt einen Moment, in dem es scheint, dass eine diplomatische Lage geschaffen ist, in der der Krieg überhaupt zur Unmöglichkeit wird. Cavour will in Verzweiflung Hand an sich legen. Das ist in dem Moment, als England auf Österreichs Bitten hin den Vorschlag macht, die Streitfragen auf einem Kongress zu schlichten, jedoch unter der Bedingung, dass Sardinien vorher abrüste, da der Kongress sonst nicht ruhig tagen könne. Napoleon III. tut, als sei er damit einverstanden. Er verlangt nur — dass auch Österreich abrüste. Österreich kann nicht darauf eingehen, da es ja weiß, dass in Piemont alle Kriegsvorbereitungen getroffen sind und dass ein Krieg früher oder später ausbrechen muss. Außerdem ist die finanzielle Lage Österreichs derart, dass es entweder den Krieg sofort anfangen muss, oder dies überhaupt nicht mehr kann. Das Kriegsbudget hat seinen Höhepunkt erreicht. Nach Beginn des Krieges könnte Österreich zwangsweise innere Anleihen durchführen, eine Reihe von Zahlungen einstellen, so dass auf diese Weise eine finanzielle Krise überwunden werden kann. Durch Hinausschieben des Krieges würde sich Österreich neue finanzielle Schwierigkeiten schaffen. So ist Österreich gezwungen, Sardinien den Krieg zu erklären, es schickt ihm das berühmte Ultimatum: Abrüstung innerhalb von drei Tagen. Als Cavour dies Ultimatum erhält, ist er glücklich, denn es bedeutet den Krieg. Cavour freut sich so sehr über dies Ultimatum, dass er dem österreichischen Gesandten, der ihm das Dokument überreicht, beinahe um den Hals fällt. Er weint vor Freude wie ein Kind, als seine Freunde ihn zum bevorstehenden Krieg beglückwünschen.

Österreich hat also im Jahre 1859 an Italien zuerst den Krieg erklärt, und es waren österreichische Regimenter, die als erste die feindliche Grenze überschritten, aber in diplomatischer Beziehung war nicht Österreich der Angreifer, denn für Österreich war der status quo sehr erwünscht, es wünschte den Krieg nicht und wäre ihm gern aus dem Wege gegangen. In diplomatischer Beziehung handelt es sich hier um einen Angriffskrieg von Seiten der Gegner Österreichs. Aber im tieferen, im einzig richtigen historischen Sinn war es dennoch für Italien ein Verteidigungskrieg, in dem die italienische Einheit, die einen historischen Fortschritt bedeutete, geschaffen und die halbfeudale nationale und staatliche Zersplitterung beseitigt wurde.

Welchen Sinn hatte der diplomatische Zweikampf zwischen Napoleon III. und Österreich? Warum waren beide Seiten so sehr darum bemüht, dass die Kriegserklärung vom Gegner ausging? Natürlich nur, weil die Führer der auswärtigen Politik den Eindruck, den der erste Schritt auf die Masse der Bevölkerung ausübt, für sich ausnutzen wollten. Jedes Lager ist bemüht In den Augen des Volkes den Gegner als den Schuldigen am Kriege hinzustellen.

Tschernyschewski, ein Zeitgenosse jener Ereignisse, beschreibt den Eindruck des österreichischen Ultimatums folgendermaßen:

Das freche Ultimatum hat alle neutralen Mächte und die öffentliche Meinung von ganz Europa gegen Österreich aufgebracht. Preußen, Russland, England protestierten gegen eine solche Handlungsweise in den schärfsten Ausdrücken. Die Zeitungen von ganz Europa waren empört über die sinnlose Unverschämtheit Österreichs. Der französische Imperator triumphierte: das österreichische Kabinett konnte nichts tun, was ihm lieber gewesen wäre. Die ganze diplomatische Taktik Napoleons ging darauf hinaus, Österreich vor Europa als den Schuldigen am Kriege hinzustellen, und jetzt hat Osterreich seinen Wunsch erfüllt, seine Hoffnung sogar übertroffen.”2

Weitsichtige Menschen wie Tschernyschewski hatten gleich erkannt, dass diplomatisch nicht Österreich am Kriege schuld war. Natürlich wussten das auch die protestierenden neutralen Mächte, aber für die breiten Massen des Volkes, für die Millionen, für die “die Zeitungen von ganz Europa” die öffentliche Meinung bilden, kam auch in diplomatischer Beziehung nur Österreich als angreifender Teil in Betracht.

Dies lehrt uns das Beispiel des italienischen Krieges von 1859. Wir sehen da sehr verwickelte Beziehungen. Napoleon III. steht — aus ganz eigennützigen “Kompensationsinteressen” — Italien zur Seite. Die nationale Freiheit bekümmert ihn ebenso wenig, wie der vorjährige Schnee. Er braucht Savoyen und Nizza, er muss seine Autorität stärken, um seine Lage innerhalb Frankreichs zu festigen. Im italienischen Krieg tritt er als Verteidiger des historischen Fortschritts auf — gegen seinen Willen. Ebenso erleichtert das reaktionäre Russland durch seine Neutralität Italiens Kampf gegen die österreichische Unterdrückung.

Und trotzdem war der Krieg 1859 in historischer Beziehung ein gerechter Verteidigungskrieg von Seiten Italiens, d. h. ein Krieg, in dem Cavour und Garibaldi auf Seiten des Fortschritts standen und für die Sache der bürgerlichen nationalstaatlichen Einigung gegen die feudale nationale und staatliche Zersplitterung kämpften.

Österreich war 1859 — vom historischen Standpunkt — nicht darum der angreifende Teil, weit es zuerst den Krieg erklärt hatte, nicht, weil seine Armeen zuerst die feindlichen Grenzen überschritten hatten. Österreich war der angreifende Teil, obgleich die diplomatische Angriffstaktik Cavours und seiner Verbündeten Österreich zwang, zuerst den Krieg zu erklären. Italien (Piemont) war im Jahre 1859 der sich verteidigende Teil nicht, weil es das österreichische Ultimatum erhielt, sondern obgleich es dieses Ultimatum provoziert hatte.

Entscheidend ist der historische Sinn des Krieges. Die diplomatische Vorbereitung des Krieges spielt eine ganz untergeordnete Rolle.

Ein noch größeres Interesse in dieser Beziehung bietet das uns zeitlich näher stehende — in seiner Art ebenfalls klassische Beispiel des französisch-preußischen Krieges 1870/71. Verfolgen wir die diplomatische Vorgeschichte dieses letzten der großen nationalen Kriege in Europa! Es lohnt, hier ausführlicher zu verweilen.

Der deutsch-französische Krieg 1870/71, als Beispiel eines Verteidigungskrieges vom historischen und eines Angriffskrieges vom diplomatischen Standpunkt.

Marx und Engels haben vorausgesagt, dass das unvermeidliche Resultat des österreichisch-preußischen Krieges 1866 ein neuer Krieg sein werde. Trotzdem kam der Krieg 1870 für alle Sozialisten — und nicht nur für diese — sehr unerwartet.

Noch zu Beginn des Monats Juli im Jahre 1870, d. h. kaum zwei Wochen vor Ausbruch des Krieges, beschloss die französische Deputiertenkammer, die Zahl der Rekruten von 100.000 auf 90.000 herabzusetzen. Der Kriegsminister Lebeuf erklärte, dass er mit dieser Verminderung der Soldatenzahl vollkommen einverstanden sei, denn er hegte selbst den Wunsch, die friedlichen Bestrebungen seines Ministeriums zu unterstreichen. Der Vorsitzende des Ministerrats, Olivier, erklärte auf die Anfragen des Deputierten Jules Faure, dass der Friede nie so gesichert gewesen sei, wie in diesem Moment, der politische Horizont sei vollkommen klar, es gäbe im Augenblick keine Frage, die irgendwelche Komplikationen hervorrufen könnte. Dabei hing in jenen Tagen der Friede bereits an einem Haar. Hinter den Kulissen wurden die letzten Vorbereitungen zum Krieg getroffen…

War der Krieg 1870/71 in diplomatischer Beziehung ein Angriffskrieg von Seiten Preußens und ein Verteidigungskrieg von Seiten Frankreichs oder umgekehrt? Hat Bismarck diesen Krieg gewünscht, hervorgerufen und vorbereitet oder ist er ihm von Napoleon aufgezwungen worden. Das ist eine Frage, über die auch heute noch viel herumgestritten wird. Eine ganze Reihe besonders deutscher Historiker3 versuchen heute noch die Tatsache der Fälschung der berühmten Emser Depesche durch Bismarck zu leugnen. — Zu Beginn des Krieges waren jedenfalls alle der Ansicht, dass die französische Regierung der angreifende Teil sei, während Preußen nur gezwungen werde, sich zu verteidigen. Bebel erzählt in seinen Memoiren, dass Liebknecht und er damals schon den Verdacht hatten, dass in Wirklichkeit Bismarck der unmittelbar angreifende Teil war: dieser habe Jahre hindurch zum Kriege gerüstet, und ihn dann auch hervorgerufen, nur habe er es verstanden, die Sache von außen so zu deichseln, dass es aussah, als wäre Preußen überfallen worden und nur gezwungen, sich zu verteidigen. Doch — meint Bebel — sie hätten damals keine Beweise gehabt, um das fest behaupten zu können.

Wenn noch Beispiele aus der Geschichte notwendig wären, um zu beweisen, dass das Kriterium des Angriffs- und Verteidigungskrieges im engen, d. h. diplomatischen Sinn des Wortes, für die Sozialdemokratie im vergangenen Zeitalter unbrauchbar war, so könnte die Geschichte des deutsch-französischen Krieges als klassisches Beispiel dafür gelten. In der Bewertung der diplomatischen Ursachen des Krieges gab es sehr verschiedene Meinungen selbst unter Menschen. die sonst in ideell-politischer Beziehung enge Gesinnungsgenossen waren. Die ganzen Verhältnisse lagen so, dass im Moment, als die Ereignisse sich entwickelten, es tatsächlich fraglich war, wer unmittelbar angegriffen hatte.

Wie lagen die Verhältnisse, als im Jahre 1870/71 der Krieg ausbrach? Als Grund zur Kriegserklärung diente die ganz zufällig entstandene Frage über die Besetzung des spanischen Thrones. Dem Hohenzollernprinzen Leopold war dieser Thron angeboten worden. Erst lehnte er ihn dreimal ab, dann nahm er ihn an. Der preußische König Wilhelm I. stand dieser Angelegenheit vollkommen gleichgültig, zunächst sogar feindlich gegenüber. Er schrieb an Bismarck, er sei im Grunde genommen gegen dieses Unternehmen.

Aber in den Kreisen der französischen Regierung wünschte man, in dieser Kandidatur einen Casus belli zu sehen. Ein Hohenzollernprinz auf dem spanischen Thron ist eine Erniedrigung für Frankreich, eine Bedrohung der französischen Interessen — so hieß die Parole der französischen Kriegspartei.

Die Sache zieht sich ein Jahr hin. Dann aber naht die Entscheidung. Leopold ist bereit, sich auf den spanischen Thron zu setzen. Es beginnt eine furchtbare chauvinistische Hetze. Napoleon trägt seinem Gesandten Benedetti auf, zu König Wilhelm zu gehen, der sich zur Kur in Ems aufhält, und von diesem zu erzwingen, dass der Hohenzollernprinz auf den spanischen Thron verzichte. Wilhelm erklärt, dies sei eine Privatangelegenheit, die ihm nichts angehe. Benedetti jedoch besteht darauf, beginnt zu droben — und der Hohenzollernprinz zieht seine Kandidatur zurück. Hiervon macht der König bei einer zufälligen Begegnung dem Gesandten erfreut Mitteilung. Wilhelm fügt hinzu, dass nun wohl das Gespenst eines militärischen Zusammenstoßes zwischen Frankreich und Preußen endgültig verschwunden sei.

Aber Napoleon und seine Clique geben sich damit nicht zufrieden. Sie stellen eine neue Forderung auf: Wilhelm soll feierlichst garantieren, dass er auch in Zukunft unter keinen Umständen zulassen werde, dass irgendjemand aus dem Hause Hohenzollern den spanischen Thron annimmt. Wolle Preußen dafür keine Garantie geben, so werde Frankreich seine Interessen zu verteidigen wissen und vor den entschiedensten Maßnahmen nicht zurückschrecken. Das bedeutet eine direkte Drohung mit Krieg. Trotzdem gewährt Wilhelm dem Gesandten Benedetti von neuem eine Audienz und erklärt ihm in sehr loyaler Form, dass es der Garantie nicht bedürfe, und dass Frankreich jetzt, nachdem Prinz Leopold auf den spanischen Thron verzichtet habe, ganz ruhig sein könne. Er gestattete Benedetti in einer offiziellen Mitteilung an die französische Regierung von diesen seinen Worten Gebrauch zu machen.

Benedetti setzt sich mit seiner Regierung in Verbindung und bekommt den Auftrag, um jeden Preis feierliche Garantien zu verlangen. Von neuem sucht er König Wilhelm auf. Der König gewährt ihm keine Audienz, lässt ihm aber durch seinen Adjutanten mitteilen, dass Leopolds Verzicht auf den spanischen Thron ein endgültiger, und dass der Friede in keiner Weise gefährdet sei. Über alles Übrige könne das französische Ministerium mit dem preußischen Kabinett auf dem üblichen Wege verhandeln.

Zu gleicher Zeit sendet Abeken im Auftrage Wilhelms eine ausführliche Depesche an Bismarck, in der die Ereignisse der letzten Tage, die Verhandlungen mit Benedetti usw. in vollkommen friedlichem Ton mitgeteilt werden. Bismarck erhält das Recht, diese Mitteilungen, wenn er es für nötig erachtet, in der Presse zu veröffentlichen.

Als die Depesche aus Ems eintraf — erzählte Bismarck später selber — saß er mit Moltke und Roon beim Mittagessen. Nachdem er die Depesche mit den Augen überflogen hatte, gab er sie seinen Kollegen. Nachdem diese die Emser Depesche gelesen hatten, verging ihnen der Appetit: sie sahen, dass die Angelegenheit einen friedlichen Verlauf nahm, und dass alle ihre Hoffnungen auf einen baldigen Krieg zerstört wurden. Da nahm Bismarck — wie er selbst erzählt — ihnen das Telegramm aus der Hand und setzte sich an einen kleinen Seitentisch. Fünf Minuten Arbeit — und die Depesche sah ganz anders aus. Als Bismarck sie Moltke und Roon in der neuen Redaktion zeigte, da wurde ihre Stimmung wieder heiterer. “Nun klingt es ganz anders” — meinte der schweigsame Moltke — “vorher war es eine Scharade, jetzt ist es eine Fanfare!” Und die kleine, aber nette Gesellschaft setzt sich noch mit neuem Appetit an den Mittagstisch.

Jetzt war es klar, dass der Krieg kommen musste. Die herausfordernd gefälschte Emser Depesche wurde in der Presse der ganzen Welt veröffentlicht, in den Kreisen Napoleons gärte es gewaltig. Am 19. Juli erklärte Frankreich Preußen den Krieg. Die französische Deputiertenkammer billigte diesen wichtigen Beschluss der napoleonischen Regierung unter Opposition einer kleinen Minderheit.

So sah die äußere Entstehungsgeschichte des französisch-preußischen Krieges aus. Wer war also vom diplomatischen Standpunkt aus der angreifende, wer der sich verteidigende Teil?

In seinen außerordentlich interessanten Memoiren besteht Bismarck darauf, dass Frankreich den Krieg hervorgerufen habe. Aber aus den Tatsachen, die er selbst schildert, geht klar und deutlich hervor, dass er, Bismarck, es war, der den Krieg vorbereitet und hervorgerufen hat.

Bismarck erzählt, dass er in der Nacht nach der Schlacht bei Sedan mit einer Gruppe höherer Offiziere das Schlachtfeld zu Pferde besichtigte. Es war sehr dunkel. Bismarck kannte nicht alle Offiziere, die sich in seiner Suite befanden. Man sprach voll den Ursachen, die den Krieg unmittelbar hervorgerufen hatten. Bismarck bemerkte, dass er die Franzosen absolut nicht verstehen könne, er hätte immer geglaubt, dass die Kandidatur des Prinzen Leopold auf den spanischen Thron den Franzosen sogar angenehm sein würde. Die persönlichen Beziehungen des Prinzen Leopold zum französischen Hof seien immer ausgezeichnete gewesen. Außerdem hätte er, einmal auf dem spanischen Thron, eine spanische und nicht preußische Politik verfolgen müssen. Da aber Spanien an Frankreich grenzt und mit diesem Land viele gemeinsame Interessen teilt, musste Spanien bemüht sein, mit den mächtigen Nachbar in Frieden zu leben. Niemand hätte verlangen können, dass Spanien gegen Frankreich für Preußen Partei ergreife.

Ganz unerwartet für Bismarck erklang plötzlich aus der Dunkelheit eine Stimme des Protestes. Unter den Offizieren befand sich nämlich Prinz Leopold selber und protestierte gegen die Behauptung, er, der Hohenzollernprinz, hätte irgendwie Sympathien für Frankreich haben können.

Bismarck sah ein, dass Prinz Leopold — unter den gegebenen Umständen protestieren musste, er entschuldigte sich sogar vor ihm. Aber aus diesem Zwischenfall, behauptet Bismarck, ginge klar hervor, dass er den spanischen Thron für den Prinzen Leopold gar nicht so besonders wünschte.

Vielleicht war es auch so. Der spanische Thron an und für sich konnte auf Bismarck keine besondere Anziehungskraft ausüben. Aber der spanische Zwischenfall war ihm sehr willkommen, als eine unersetzliche Kriegsursache. Vor allem, weil das eine Ursache war, die die Möglichkeit gab, die Schuld dem Gegner zuzuschieben. Bismarck sagt in seinen Memoiren, er sei immer der Meinung gewesen, siegreiche Kriege seien nur dann leicht zu rechtfertigen, wenn diese Kriege aufgezwungen seien (oder dem Volk als aufgezwungen erscheinen, könnte er sagen).

Jedenfalls beweist der Zwischenfall, den Bismarck erzählt, nichts, was für die Frage wesentlich wäre. Wie sehr Bismarck den Krieg wünschte, ist schon daraus ersichtlich, dass Bismarck — nach seiner eigenen Erzählung — zurücktreten wollte, als der spanische Zwischenfall auf friedlichem Wege beigelegt werden sollte. Von diesem seinem festen Entschluss hatte er schon dem Kriegsminister Roon und dem General Moltke Mitteilung gemacht. Er konnte eine solche “internationale Unverschämtheit” von Seiten Frankreichs eben nicht dulden! Er konnte seine Ehre und die Ehre Preußens der “Politik” nicht opfern. Ein “Rückzug” Preußens im spanischen Konflikt hätte eine Erniedrigung bedeutet.

Seine Demission ist beschlossen. Er hat sie bereits in der Tasche. Da blitzt plötzlich ein netter Hoffnungsstrahl auf. Die Emser Depesche trifft ein. “Ohne ein Wort hinzuzufügen” hat er sie nur “reduziert” und “die Fassung” so geändert, dass der “Unterschied” in der Wirkung des gekürzten Textes … kein Ergebnis stärkerer Worte war, sondern nur der Form, welche diese Kundgebung als eine abschließende erscheinen ließ, während sie in der Redaktion Abekens bloß als ein Bruchstück einer schwebenden und in Berlin fortzusetzenden Verhandlung erschienen wäre.4 Nur! Nicht mehr und nicht weniger …

Der spanische Zwischenfall kam Bismarck deshalb auch so erwünscht, weil er hoffte (siehe seine Memoiren), dass Spanien über die Einmischung Frankreichs in seine inneren Angelegenheiten entrüstet sein und Frankreich ebenfalls den Krieg erklären würde. Dies traf bekanntlich nicht ein. “Spanien hat uns im Stich gelassen”, bemerkt Bismarck melancholisch.

Bebel erzählt in seinen Memoiren, dass die absolute Kampfbereitschaft der preußischen Armee im Moment des Kriegsausbruches auf ihn und seine Freunde einen tiefen Eindruck gemacht habe. Dieser Umstand öffnete Bebel und seinen Gesinnungsgenossen die Augen darüber, wo der unmittelbar angreifende Teil zu suchen war. Andererseits aber ging aus vielen wichtigen Episoden vor der Kriegserklärung klar hervor, dass die Regierung Napoleons den Krieg herausforderte. Von der Fälschung der Emser Depesche hatte damals noch niemand eine Ahnung. Dieses “Amtsgeheimnis” wurde von der deutschen Diplomatie sorgfältig bewahrt. Es macht dem Scharfblick Wilhelm Liebknechts große Ehre, dass er schon im Jahre 1873 sofort nach Erscheinen der offiziellen Bekanntmachungen des preußischen Generalstabes über den französisch-preußischen Krieg erkannt hat, dass die Eimer Depesche gefälscht war und dass er — öffentlich in der Presse — Bismarck diese Fälschung zuschob.5 Aber zu Beginn der Ereignisse sah auch Liebknecht nicht alle Finessen des Bismarckschen Spiels …

Drei Jahrzehnte nach diesen Ereignissen schrieb Jaurès eine ganze Abhandlung über den französisch-preußischen Krieg. Am wenigsten lag ihm natürlich daran, Bismarck und das Bismarcksche Preußen zu rechtfertigen. Aber aus seinen Ausführungen geht klar hervor, dass ein großer Teil der Schuld am Kriege 1870/71 das bonapartistische Frankreich traf. Jedenfalls ist es klar, dass die Lage sehr kompliziert und verwickelt war, so dass im Moment, als die Ereignisse sich abspielten, es sehr schwer hielt, festzustellen, auf welcher Seite die unmittelbare Schuld am Kriege zu suchen war.

Seit 1867 intrigiert Bismarck systematisch, um Frankreich in einen Krieg hineinzuzwingen. Der spanische Zwischenfall ist ihm sehr gelegen, denn er schafft Verhältnisse, die es ermöglichen, der Außenwelt die Dinge so darzustellen, als sei Frankreich der unmittelbar angreifende Teil. Andererseits — sagt Jaurès — bemühte sich Louis Napoleon krampfhaft das ganze Jahr 1869 hindurch, ein Angriffsbündnis Frankreich-Österreich-Italien gegen Preußen zustande zu bringen. Österreich zeigt dabei die größte Unentschlossenheit, denn es fürchtet, Preußen anzugreifen, ist aber absolut geneigt, ein Verteidigungsbündnis gegen Preußen abzuschließen. Noch unmittelbar vor der Kriegserklärung im Juli 1870 ist die Diplomatie Napoleons fest davon überzeugt, dass Österreich Frankreich gegen Preußen aktiv unterstützen werde.

Bismarck wandte allerhand Listen an. Jaurès nimmt an, dass Bismarck, Roon und Moltke absichtlich — während der Konflikt sich abspielte — in die Sommerfrische gegangen waren, um vor dem breiten Publikum ihr Alibi aufrechtzuerhalten und um mit größerem Erfolg die ganze Schuld für die Entstehung des Krieges Frankreich zuzuschieben. Aber auch der französische Minister de Gramon benahm sich — nach Jaurès Ansicht — wie ein Mann, der vollkommen in Verwirrung geraten war. Er hielt drohende Reden, er suchte die Leidenschaften zu entfesseln, er stellte unmögliche Forderungen. Schon nach Leopolds Verzicht auf den spanischen Thron telegrafierte Benedetti an de Gramon, dass weitere Demonstrationen von Seiten Frankreichs unvermeidlich einen Krieg hervorrufen würden Aber das bonapartistische Ministerium setzt seine einmal eingeschlagene Politik fort. Es scheint ihm, dass der Augenblick einem Angriff auf Preußen günstig sei.

Im letzten Moment versuchen einzelne einflussreiche Mitglieder der Deputiertenkammer den Krieg aufzuhalten. Thiers erklärt, es sei eine Verrücktheit (“c‘est une folie”) von Seiten der französischen Regierung. Auch andere stimmen ihm bei. Aber — es ist zu spät. Der Konflikt ist zu weit entwickelt.

Jaurès zeichnet die Lage so: zwei Intrigennetze seien mehrere Jahre vor dem Krieg unauflöslich gesponnen worden. An den Ufern der Seine sei dem Krieg ebenso eifrig vorgearbeitet worden wie an den Ufern der Spree. Bismarck habe sich als der Schlauere erwiesen. Jetzt, nach den Ereignissen, sei dies klar. Aber die Verantwortung für den Krieg treffe auch die abenteuerlustige Regierung Bonapartes.6

Ein anderer französischer Sozialist (jetzt kann man sagen — gewesener Sozialist), der auch nie besondere Sympathien für die Deutschen gehabt hat, Gustav Hervé, wagt es noch im Jahre 1905 nicht, mit Bestimmtheit zu sagen, welcher Teil der unmittelbar angreifende im Jahre 1870 gewesen ist. “Frankreich hat zuerst den Krieg erklärt,” schreibt Hervé, “aber wenn es wahr ist, dass Bismarck, wie er selbst behauptet, den Text der berüchtigten Emser Depesche gefälscht hat, so muss man anerkennen, dass auch die deutsche Regierung zum mindesten die halbe Verantwortung für die Kriegserklärung trägt.”7

Das Beispiel des französisch-preußischen Krieges zeigt uns mit aller Deutlichkeit eines: das formale Kriterium, das nachweisen soll, wer zuerst angegriffen hat, wer zuerst den Krieg erklärt hat, gibt der Sozialdemokratie keinen Ausgangspunkt für die Festlegung ihrer Taktik im Zusammenhang mit dem Krieg. Hätten die deutschen Sozialdemokraten während des französisch-preußischen Krieges nur dies formale Kriterium angewandt, so hätten sie eine Menge Fehler gemacht, und sie hätten ihre Pflichten kaum erfüllt.

In strategisch-diplomatischer Beziehung hat Napoleon III. diesen Krieg begonnen. Er hat als erster den Krieg erklärt, seine Regimenter haben zuerst die Grenzen überschritten. Aber andererseits haben die Tatsachen bewiesen, dass Bismarck ihn mit schlauen Manövern dazu gezwungen hat — ebenso wie 1859 Napoleon III. Österreich zu einem solchen Schritt zwang. Im Augenblick der Ereignisse — in Anbetracht der sehr verwickelten Situation — konnten selbst die fortgeschrittensten Männer jener Zeit den Zusammenhang der Dinge nicht richtig erkennen. Hieraus entstanden viele Fehler. Aber sich auf diese Fehler zu berufen, sie zur Theorie zu erheben, wie es jetzt die Sozialchauvinisten tun, — würde bedeuten, die Frage wissentlich zu verwirren.

Formell, vom diplomatischen Standpunkt betrachtet, war Napoleon III. schuld am Kriege. Tatsächlich war Bismarck viel schuldiger. Aber die Frage, wer in diplomatischer Beziehung der Schuldige war, tritt gänzlich zurück vor der Frage der für die ganze Welt wichtigen historischen Bedeutung dieses Krieges. In historischer Beziehung handelte es sich unbedingt für Deutschland um einen Verteidigungskrieg — und daran können Bismarcks Machenschaften nichts ändern. Bismarck hätte zuerst den Krieg erklären können, ebenso wie im Jahre 1859 Cavour beinahe als erster den Krieg begonnen hätte. Bismarcks Intrigen hätten noch schmutziger sein können, als sie es in Wirklichkeit waren. In historischer Beziehung hätte Preußen dennoch einen Verteidigungskrieg geführt. Warum? — Weil es sich für Preußen, wie wir schon öfters betont haben, um die historisch notwendig gewordene Einigung Deutschlands und um die Beseitigung der feudalen Zersplitterung handelte. Weil das bonapartistische Frankreich lange Zeit hindurch als direktes Hindernis auf dem Weg zu dieser Einigung stand, weil Napoleon III. sie absolut zu verhindern suchte. Seine ganze Position in Europa war durch die nationale Zersplitterung Deutschlands bedingt. Sogar noch 1866 war Napoleon III., wie wir sahen, bemüht, sich “Kompensationen” auf der deutschen Rheinseite zu erhandeln. Napoleon III. war jetzt der Hauptfeind, der die deutsche Einigung zu verhindern suchte. Ein Sieg über Napoleon III. musste zwei wichtige Tatsachen zur Folge haben. Erstens die Einigung Deutschlands: gelang es — eine Einigung von unten, auf revolutionärem Wege, wenn nicht, dann die Einigung von oben, durch Bismarck. Zweitens: Frankreich wurde vom Bonapartismus befreit, mit Louis Napoleon wurde der schlimmste Vertreter der europäischen Reaktion beseitigt.

Aus diesem Grunde ist es — ganz unabhängig davon, wer vom diplomatischen Standpunkt der Urheber des Krieges war — richtig, wenn man sagt, dass in historischer Beziehung Napoleon der angreifende, Deutschland dagegen der sich verteidigende Teil war. Aus dieser vollkommen richtigen Ansicht zogen manche Sozialisten jener Zeit den ganz falschen Schluss, dass sie aus diesem Grunde sich auf den Standpunkt Bismarcks stellen, für die Kriegskredite stimmen, den Burgfrieden erklären, bürgerliche Patrioten werden müssten usw. Aber diese Schlussfolgerung war ganz falsch. Auch im nationalen Krieg haben die Sozialisten ihre besonderen Aufgaben. Marx und Engels, Liebknecht und Bebel haben, wie wir in den vorigen Kapiteln sahen, ein Beispiel sozialistischen Verhaltens auch in einer solchen Situation gegeben.

Der Krieg 1877/78 als Übergang zu einem neuen Zeitalter.

Wir sagten schon, dass der Krieg 1870/71 der letzte große nationale Krieg in Europa war, bei dem man von den Interessen des Sozialismus und der Demokratie ausgehend — das Kriterium des Angriffs- und Verteidigungskriegs in historischem Sinn dieses Wortes anwenden konnte.

Und der Krieg 1877/78? War er nicht auch ein nationaler Krieg? Auf diese Frage kann man mit Ja und mit Nein antworten.

Für die Serben, Bulgaren, Rumänen usw. handelte es sich uni die nationale Unabhängigkeit, und für sie trug der Krieg einen national-freiheitlichen Charakter. In allen Ereignissen der Jahre 1876, 1877 und 1878 auf der Balkanhalbinsel hörte man das Echo des nationalen Kampfes, auf militärische Zusammenstöße folgten nationale Erhebungen. Andererseits aber standen alle Ereignisse unter dein Zeichen des imperialistischen Wettkampfs zwischen Russland und England. Diese beiden Großmächte machten die kleinen Balkanvölker zu ihren Werkzeugen, für diese aber ging es dabei um Leben und Tod. Das ging am klarsten aus dem Berliner Kongress hervor. Das imperialistische England, das sich auf seine Seemacht stützte, und den Antagonismus zwischen Russland und Österreich ausnutzte, zwang Russland zu einer Revision des St. Stephano-Vertrages. Auf dem Kongress zu Berlin im Jahre 1878 kamen — wie ein Rabenschwarm — die Diplomaten der europäischen Mächte herbeigeeilt, um für ihre Regierungen ein möglichst saftiges Stück zu ergattern. England erhielt die Insel Zypern, Russland nahm sich Bessarabien wieder zurück und erhielt außerdem Batum, Ardagan und Kars. Österreich erhielt das Protektorat über Bosnien und die Herzegowina. Bismarck wurden als “ehrlichem Makler” verschiedene Vorteile für den deutschen Handel in den Dardanellen und dem Bosporus zugesagt. Am meisten erhielt Russland, mehr als 30.000 Quadratkilometer musste der Sultan “abtreten”. Frankreich wurde damals, wie später erst bekannt wurde, von England im geheimen Tunis garantiert. Im Jahre 1881 hat dann Frankreich, mit Bismarcks Erlaubnis und Englands stiller Unterstützung, von Tunis Besitz ergriffen. Zypern für Tunis, Tunis für Zypern! Die Bulgaren und Serben kämpfen um ihre nationale Unabhängigkeit; das gibt Frankreich den Anlass, in Afrika Tunis zu rauben! Ein bester Beweis dafür, dass schon im Kriege 1877/78 imperialistische Motive eine ungeheure Rolle spielten, — wenigstens bei den Hauptregisseuren des Dramas.

Was hat der Kampf um die wirkliche nationale Unabhängigkeit zu tun mit den imperialistischen Raubzügen, die in diesem Kriege England und die anderen imperialistischen Großmächte unternommen haben?

Der bulgarische Bauer legt natürlich in diesen Krieg seine ganze Seele hinein. Er kämpft wirklich, um die nationale Befreiung. Der unerhörte, von den Türken ausgeübte Druck hatte eine starke nationale Bewegung hervorgerufen. Die wirtschaftliche und kulturelle Unterjochung wurde noch besonders gestärkt durch den Druck, der in religiöser Beziehung ausgeübt wurde. Als die bulgarischen Soldaten die Kirchenglocken der Feldkirche hörten, die Karl von Rumänien gebaut hatte, gerieten sie in Ekstase. Diese Kirchenglocken kamen ihnen wie ein Himmelsgeschenk vor. Die Türken hatten den Bulgaren viele Jahre hindurch verboten, Glocken in den Kirchen zu haben. Für die bulgarischen Bauern bedeutete dieser Glockenton den Vorboten der Befreiung vom türkischen Joch. Aber die wirklichen Regisseure des Unternehmens — die Imperialisten Englands, Frankreichs usw. — hegten Interesse für einen ganz anderen Klang, für den Klang des Geldes, des Goldes, das aus den erhandelten Gebieten herauszuschlagen war. Die nationale Einigung an und für sich interessierte sie sehr wenig. Das Resultat des Krieges war, dass das serbische Volk plötzlich in vier Teile gespalten war: die serbischen Teile der Türkei und Österreichs, Montenegro und das eigene Land. Die Bulgaren wurden in zwei Teile geteilt. Ebenso die Rumänen. Die Bourgeoisien der Großmächte haben ohne irgendwelche Gewissensbedenken die kleinen Völkerschaffen, die in den Kampf um ihre nationale Unabhängigkeit eingetreten waren, völlig zersplittert.

Der Krieg 1877/78 hat gezeigt, dass selbst in einem so entlegenen Winkel Europas wie der Balkanhalbinsel die Großmächte sofort eingriffen und in ihrem imperialistischen Wettkampf die Elemente des nationalen Kampfes schließlich ganz untergingen. Das Kriterium des Verteidigungs- und Angriffskriegs war historisch überwunden. Ein neues Zeitalter brach an, in dem nach der ganzen Lage der Dinge ein solches Kriterium jeden Sinn verloren hatte. Der Krieg 1877/78 bildete den Übergang zu diesen, neuen Zeitalter. In den späteren Kriegen spielte das nationale Element eine gewisse Rolle Aber diese Rolle war eine ganz untergeordnete. Wir geben sogar zu, dass selbst im Kriege 1914/16 es einen entlegenen Winkel in Europa gibt, wo das nationale Element noch eine kleine Rolle spielt, und zwar meinen wir damit das nationale Element im österreichisch-serbischen Konflikt. Aber das ist nur eine Episode, eine kleine Einzelheit, die an dem imperialistischen Charakter des Krieges nichts ändert.

Die diplomatisch-strategische Beurteilung des Verteidigungs- und Angriffskrieges konnte nie als Kriterium für die Demokratie dienen. Das zeigen die Beispiele des italienischen und des deutsch-französischen Krieges. Das beweisen auch die Kriege des 20. Jahrhunderts. Beispiele: der Balkankrieg 1912 (d. h. der Krieg der slawischen Völker gegen die Türkei) und der zweite Balkankrieg 1913 (d. h. der Krieg slawischer Völker untereinander). Wendet man das Kriterium vom diplomatischen Standpunkt an, so kommt man zu ganz anderen Resultaten. Nicht die Türken haben den Krieg erklärt — für sie war der status quo günstig — sondern die slawischen Völker. Konnte die Demokratie darum für die Türkei Partei ergreifen, die angeblich angegriffen wurde? Natürlich nicht! Im Jahre 1913 hat Bulgarien den Krieg angefangen, nicht Serbien. Bulgarien war — in diplomatischer Beziehung — der unmittelbar schuldige Teil (wir sehen hier von der Rolle Russlands ab). Konnte aus diesen Tatsachen die Demokratie die Schlussfolgerung ziehen, dass sie sich auf die Seite Serbiens gegen Bulgarien stellen müsse?

Mit Beginn des neuen Zeitalters hat sich der alte Maßstab auch in historischer Beziehung überlebt. Denn die ganze Umgebung, alle Bedingungen sind andere geworden. Einst behauptete Wilhelm Liebknecht, dass die Demokratie im Falle eines Angriffskriegs die Pflicht habe, denjenigen zu unterstützen, der sich verteidigt; er verglich den angreifenden Teil mit einem einfachen Dieb und Räuber, der in ein fremdes Haus einbricht, um irgend etwas, was der Hausbesitzer selbst notwendig braucht, fort zu tragen. Jetzt ist es anders. Im imperialistischen Zeitalter werden Kriege geführt von einer ganzen Reihe patentierter Diebe und Räuber um die Verteilung des Vermögens (und Lebens) dritter Personen. Hier gibt es für ehrliche Leute nichts zu tun — als nur den kürzesten Weg zu finden, der all diese Diebe, die ganze Bande unschädlich macht. Wenn zwei Einbrecher sich um die Beute streiten — welch ehrlicher Mensch kümmert sich darum, welcher von beiden den Kodex der Räubermoral zuerst verletzt hat? Es ist geradezu lächerlich, hier vom Kriterium eines gerechten Verteidigungskrieges zu sprechen…

Moderne Sklavenhalter.

In gewissem Sinne sind alle Kriege der außereuropäischen Völker, die ja nur zu Objekten der imperialistischen Politik gemacht wurden, “gerechte” Verteidigungskriege. Diese Völker werden nach Belieben verteilt. An ihrem lebendigen Leib werden Sektionsversuche angestellt. Die europäischen Imperialisten handeln mit ihnen wie mit Vieh. Die imperialistischen Großmächte Europas verteilen ganze Erdteile untereinander.

Als Wilhelm II. kurz vor Ausbruch des russisch-japanischen Krieges an Nikolaus II. das berühmte Telegramm sandte: “Der Admiral des Atlantischen Ozeans begrüßt den Admiral des Stillen Ozeans” — was bedeutete das politisch? Das bedeutete, dass die deutschen Imperialisten dem russischen Zaren und den russischen Imperialisten vorschlugen, alle Völker Asiens zu unterdrücken unter der Bedingung, dass der Zar und die russischen Kapitalisten die deutschen Imperialisten nicht hinderten, alle Völker Afrikas zu unterdrücken und auszubeuten. Das war ein Vorschlag, die Sklaven unter die Sklavenhalter zu verteilen.

Die Bevölkerung der Kolonien bedeutet für die Herren Imperialisten nichts anderes als Arbeitsvieh. Ein kleines Beispiel: Im Jahre 1904 kam es in der südwestafrikanischen Kolonie Deutschlands zum Aufstand der Hereros. Die unglückliche einheimische Bevölkerung hatte die Qualen und Martern nicht ertragen können, denen sie die von Wilhelm II. geschickten Kulturträger Jahre hindurch unterwarfen. Die deutschen Kaufleute plünderten die Bevölkerung aus und brachten sie an den Bettelstab. Die deutschen Offiziere und Gendarmen schlugen und töteten die unglücklichen Hereros — im Interesse der Aufrechterhaltung der “Disziplin”, die Frauen und Kinder wurden unbarmherzig misshandelt. Als die Hereros sich auflehnten, schickte Wilhelm neue Regimenter hin, Die Hälfte der männlichen Bevölkerung der Kolonie wurde getötet. Zu Tausenden wurden die Hereros mit ihren Familien in die heiße, wasserlose Sandwüste getrieben, wo sie verdursten mussten…

Zehn Jahre sind seit diesen Unmenschlichkeiten vergangen; die Deutschen empfinden den Mangel an Arbeitskräften in jener Kolonie — und nun tut es ihnen leid: Wie “unzweckmäßig” haben wir gehandelt, sagen sie, warum nur haben wir so viel Arbeitsvieh sinnlos hingemordet. Einer der hervorragendsten Vertreter des deutschen Imperialismus, Paul Rohrbach, schreibt im Jahre 1915 in seinem Buch “Unsere koloniale Zukunftsarbeit” folgende zynischen Worte:

Als der Aufstand (der Hereros) ausgebrochen war, überließ man seine Bekämpfung nicht dem damaligen Gouverneur Leutwein und seinen erfahrenen alten Offizieren, sondern schickte einen Oberbefehlshaber, der keine Vorstellung davon hatte, dass nach dem späteren Wort Dernburgs — die Eingeborenen das größte wirtschaftliche Aktivum einer afrikanischen Kolonie sind. Gegen die Hereros wurde der Vernichtungskrieg erklärt, und etwa die Hälfte des Volkes ging in dem nahrungs- und wasserlosen Sandfeld zu Grunde. Ebenso fiel alles Vieh der unzweckmäßigen (!) Kriegführung zum Opfer. Natürlich mussten die Aufständischen gestraft, vor allen Dingen entwaffnet werden, aber sie zur Hälfte auszurotten, war so verkehrt wie möglich. Die gefährliche Arbeiternot, die jetzt in Südwestafrika herrscht, geht hauptsächlich auf die Kriegführung von 1904/05 zurück. Sie ist schuld daran, dass jetzt die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie verlangsamt wird.”8

Ist das nicht die Sprache eines Sklavenhalters?

Die Imperialisten aller Länder behandeln die Völker, die die Objekte ihrer imperialistischen Ausbeutung bilden, als Sklaven. Selbstverständlich lehnen sich die Sklaven gegen ihre Peiniger auf und selbstverständlich wird das Streben dieser Völker nach Freiheit und Unabhängigkeit umso stärker, je öfter sie die Möglichkeit haben, gegen ihre Unterdrücker Verteidigungskriege zu führen.

Die Sozialisten müssen diese Kriege der Kolonialvölker gegen ihre europäischen imperialistischen Herrscher als gerechte Verteidigungskriege anerkennen. Und zwar ganz unabhängig davon, wer der unmittelbar angreifende Teil ist.

Der Burenkrieg vom Standpunkt des Angriffs und der Verteidigung.

Im Jahre 1877 erklärten die englischen Imperialisten die Burenrepublik zu einem Teil Englands. Lange Jahre hindurch bedienten sie sich allerhand Vergewaltigungsmaßnahmen, dann — sich auf eine Petition von 2500 (!) Buren stutzend, die angeblich freiwillig um die Angliederung an England gebeten hatten — beschlossen die englischen Imperialisten, energischer zu handeln. Die Buren unterwarfen sich zunächst. Im Jahre 1881 aber sammelten sie genügend Kräfte, — und unter der Führung von Krüger, Praetorius und Joubert — überfielen sie die englische Armee, und diese erlitt eine schwere Niederlage. Das war der erste Akt des Burendramas. Wieder hatten die Buren angefangen. Am 9. Oktober 1899 sandte die Regierung der Burenrepublik der englischen Regierung ein Ultimatum, das aus vier Punkten bestand: 1. Der Konflikt muss durch ein Schiedsgericht geschlichtet werden, 2. England muss seine Armeen von der Grenze zurückziehen, alle Reserven, die vom 1. Juni ab nach Südafrika geschickt waren, müssen nach England zurückgerufen werden, 4. das Militär, das sich auf Kriegsschiffen befindet, darf nirgends in Südafrika gelandet werden.

Ohne alle Formalitäten abzuwarten, die mit der Erörterung des Ultimatums in der englischen Deputiertenkammer zusammenhingen, überfielen die Buren die englischen Truppen. Sie waren der angreifende, England formell der sich verteidigende Teil. Und die Engländer verkündeten der ganzen Welt, ihr Krieg sei gerecht, sie seien überfallen worden usw. Und trotzdem war der Burenkrieg ein gerechter Krieg von Seiten der Buren, und das Weltproletariat ergriff für diese Partei.

Warum? Weil das Burenvolk für seine Unabhängigkeit kämpfte.9 Der englische Imperialismus aber kämpfte um die Erbeutung der im Jahre 1867 entdeckten Diamantlager in Kimberley.

Jahrzehnte hindurch haben die englischen Imperialisten die Buren unterdrückt, sie politisch und wirtschaftlich ausgebeutet. Im Jahre 1896 unternahm der Vertreter Englands in Südafrika, Jamson, eine Kavallerieattacke gegen die Buren, wobei viele unschuldige Bürger ums Leben kamen. Späterhin erklärte er, er hätte zur “Selbstverteidigung” greifen müssen. In Wirklichkeit aber gingen die englischen Flinten etwas früher los, als es den Plänen der englischen Regierung passte. Diese war genötigt, so zu tun, als sei sie mit ihrem Vertreter unzufrieden. Er wurde einem Gericht überwiesen, erhielt 13 Monate Gefängnis, wurde dann aber wegen “schwacher Gesundheit” amnestiert. Das war eine ebenso heuchlerische Komödie von Seiten der englischen Imperialisten wie das berühmte Beileidstelegramm, das Wilhelm II. aus Anlass dieser Ereignisse den Buren sandte. Die englischen und die deutschen Imperialisten spielten mit den Buren wie die Katze mit der Maus.

Daher war der Krieg der Buren gegen die Engländer von außen gesehen ein Angriffskrieg — in Wirklichkeit ein gerechter Verteidigungskrieg.

Der abessinische Krieg vom gleichen Standpunkt aus betrachtet.

Oder ein zweites Beispiel: der Krieg Abessiniens gegen Italien im Jahre 1896.

Seit 1881 nahm sich Italien ein Gebiet am Roten Meer nach dem anderen. Die Lager von Gold, Elfenbein. Gummi, Kaffee, Baumwolle usw. reizten immer mehr den Appetit der italienischen Imperialisten. Am 2. Mai 1889 gelang es Humbert, dem König von Italien, Menelik einen Vertrag aufzubinden, der Abessinien in vollkommene wirtschaftliche Abhängigkeit von Italien brachte. In den Jahren 1894-1897 gehörte auch Kassala schon den Italienern, die es dann für klingende Münze an die Engländer weiterverkauften. Die italienischen Imperialisten fühlten sich in ihren Eritrea-Kolonien immer mehr “zu Hause”. Aber um sich diese Kolonien endgültig zu sichern, sorgte der italienische Ministerpräsident Crispi für immer größere Verstärkung der dort befindlichen italienischen Armee. Im Jahre 1896 beschloss er, sie um 10.000 Mann zu vergrößern. Da überfiel Menelik, ohne die neuen 10.000 italienischen Soldaten abzuwarten, die Italiener mit einer Armee von 90.000 Mann und bereitete ihnen am 1. März 1896 bei Abba Kapima eine vollkommene Niederlage. Im Dezember wurde dann der italienisch-französisch-englische Vertrag abgeschlossen, der die Unabhängigkeit Abessiniens anerkannte, und nur das Prinzip der “offenen Tür” festlegte.

So hat Abessinien im Jahre 1896 zuerst den Krieg an Italien erklärt. Äußerlich war Abessinien also der angreifende Teil, in Wirklichkeit aber führte es einen gerechten Verteidigungskrieg gegen die italienischen Imperialisten.

China und die Großmächte.

Betrachten wir China. Dieses Land hat den Appetit der Großmächte besonders gereizt. Wir wollen dabei etwas ausführlicher verweilen.

Als klassisches Beispiel eines Unterdrückungskriegs der Zeit, die der imperialistischen Epoche unmittelbar voranging, kann der Krieg gelten, den England 1840-1842 gegen China wegen des Opiumverkaufs führte.

Der englische Handel in China war Monopol der englisch-ostindischen Gesellschaft. Im Interesse ihrer Bereicherung passte sich die Gesellschaft vollkommen den Verordnungen der chinesischen Behörden an; diese betrachteten die “Barbaren” aus dem Westen von oben herab und waren der Ansicht, dass die “Barbaren” das Handelsrecht in China nur dank besonderer Gnade der Söhne des Himmels besäßen. Die englischen Kapitalisten wehrten sich gegen eine solche Auffassung ihrer Rechte.

Am 22. April 1834 wurde das Monopol der englisch-ostindischen Gesellschaft durch das englische Parlament aufgehoben.10 England bemühte sich, das Recht des freien Handels in China zu erwerben.

Schon 1834-1836 wäre es aus diesem Anlass beinahe zu einem militärischen Konflikt gekommen. England versuchte, sich in China häuslich niederzulassen; es war der Auffassung, dass nach dem geltenden internationalen Recht die nichtchristlichen Völker überhaupt nicht gleichwertig seien. So erklärt das Verhalten Englands ein Verteidiger der englischen Politik, Eitel (“The History of Hongkong”).

In diesen ohnehin sehr gespannten Verhältnissen spielte der Konflikt aus Anlass des Opiumhandels eine entscheidende Rolle.

Der Opiumhandel erreichte in China einen ungeheuren Umfang. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrug die Zahl der jährlich eingeführten Opiumkisten 4.100, das heißt sie war 20 mal so groß wie 20 Jahre vorher. Im Jahre 1820 wurden schon 10.000 Kisten eingeführt, 1830 18.000 Kisten, 1835 30.000.11

Gegen diesen Handel mit Opium, der von großem Schaden für die chinesische Bevölkerung war, da er Trunksucht, Krankheit und Degeneration förderte, — erhob die chinesische Regierung entschiedenen Protest. Das Schmuggeln wurde streng bestraft. Der chinesische Kommissar Liu beschlagnahmte und vernichtete im Jahre 1839 20.283 Kisten Opium. Trotzdem wurde die indische Opiumernte doch wieder nach China eingeführt.

Liu griff zu einschneidenderen Mitteln. Er zwang alle Engländer, sich nach Hongkong zurückzuziehen. Und obgleich Liu im November 1839 neue, für die Engländer wohl annehmbare Bedingungen für den Opiumhandel vorschlug, beschloss England doch, Krieg zu führen.

Der Krieg begann. Schon am 26. Januar 1841 besetzten die Engländer Hongkong. Die Grausamkeit der Engländer kannte keine Grenzen. Die Chinesen leisteten verzweifelten Widerstand gegen die “niederen Wesen, gegen die sich Götter und Menschen auflehnten”. Die Chinesen wollten sich nicht lebendigen Leibes den Engländern gefangen geben. In chinesischen Lagern, die von den Engländern besetzt werden sollten, töteten die Chinesen, bevor sie sich der englischen Übermacht ergaben, ihre Frauen und Kinder und verübten dann Selbstmord. Die chinesischen Regimentsführer — Offiziere und Generale — zogen es vor, sich selbst umzubringen, auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, ehe sie sich den Engländern gefangen gaben. So groß war die Grausamkeit der Engländer und so groß der Hass der Chinesen.

England hat natürlich das unglückliche China besiegt. Am 29. August 1842 wurde in Nanking der Friede unterzeichnet. Die Insel Hongkong ging auf Grund dieses Friedensvertrages für immer in den Besitz der Engländer über. Kanton, Schanghai und andere Häfen wurden für den englischen Handel freigegeben. Das System des Monopols wurde aufgehoben. England erhielt das Recht, seine Konsuln nach China zu entsenden. China zahlte 21 Millionen Dollar für das vernichtete Opium, für Kriegsentschädigung usw.

Damit begannen die großen europäischen Feldzüge gegen China.

Der Friede von 1842 hat nur für kurze Zeit das gespannte Verhältnis zwischen England und China gebessert. China konnte dem Ansturm der europäischen Mächte keinen Widerstand leisten. In der europäischen Presse wurde die bevorstehende Teilung Chinas offen besprochen. Den englischen Imperialisten schloss sich Napoleon III. an. 1856-1860 musste China einen Krieg gegen England und Frankreich führen. Der Hass gegen England wuchs immer mehr. In Hongkong wurde eine Verschwörung entdeckt, die das Ziel hatte, alle dort wohnenden Engländer zu vergiften. Der Plan gelang nur deswegen nicht, weil die Nahrung (Brötchen) eine zu große Dosis Arsenik enthielt. So groß war die Erbitterung der Chinesen. Die Engländer bestanden auf eine Erweiterung ihrer Rechte in China. Sie begannen einen neuen Krieg, bombardierten und vernichteten ganze Städte. Im Jahre 1858 diktierten sie China den Frieden zu Tientsin. England erreichte, dass noch etwa zehn chinesische Häfen für den englischen Handel geöffnet wurden. Die Handelstarife wurden zu Englands Gunsten abgeändert, das Recht, einen englischen Gesandten nach China zu entsenden, wurde anerkannt, China zahlte Kontribution usw. Ein Punkt des Friedensvertrags (der 7.) lautete: Der Ausdruck “Barbaren” darf auf keinen einzigen englischen Untertan mehr angewandt werden.12

Mit solchen Mitteln stellten die Imperialisten ihre “Ehre” wieder her, und so traten sie der Auffassung über “Barbarentum” entgegen.13

Die zweite imperialistische Macht handelte in derselben Weise. Grausamkeiten, die Chinesen an französischen Beamten verübt hatten, wurden von den französischen Truppen — schon kurz vor Friedensschluss — in der Weise gerächt, dass 200 Schlösser und Tempel und eine sehr wertvolle Bibliothek verbrannt wurden. Dann diktierten sie den Chinesen in Peking einen Frieden, der mit dem von Tientsin übereinstimmte, in einigen Punkten ihn noch verschlechterte.

Im November 1860 zwang General Ignatjew China, nicht nur den Vertrag von Aigun zu bestätigen, sondern noch das ganze Gebiet östlich vom Ussuri an Russland abzutreten.

1880 ergreift Japan Besitz von der chinesischen Insel Ziukin.

1895 dehnt Russland seinen Besitz in China noch weiter aus, es liebäugelt mit Korea, England nimmt sich Port Hamilton, eine Insel südlich von Korea.

1884/85 ist China gezwungen, gegen Frankreich zu kämpfen das den ganzen südlichen Teil von Cochin-China geraubt hatte. Im Juli 1885 unterschreibt China den Frieden, verspricht, sich in die Beziehungen zwischen Frankreich und Annam nicht einzumischen, und zahlt eine große Kontribution.

Im Juli 1886 geht Birma endgültig in englischen Besitz über, und 1890 wird China gezwungen, das Protektorat Englands über den Himalajastaat Sikkim anzuerkennen.14

1894 bricht der chinesisch-japanische Krieg aus. Die deutschen Imperialisten freuen sich, dass die Tötung von zwei Missionaren ihnen einen entsprechenden Anlass bietet; sie bedrohen China mit einem Krieg und erhalten daraufhin Kiautschau für 99 Jahre in Pacht. Kiautschou für die Köpfe von zwei Missionaren. Die deutschen Imperialisten wären nicht abgeneigt, ein so vorteilhaftes Geschäft jeden Monat abzuschließen. Im Jahre 1899 versuchte auch Italien, für sich etwas zu ergattern, aber China besaß die Kraft, ihm die Tür zu weisen.

Die imperialistischen Mächte haben China nicht nur expropriiert, nicht nur immer als Objekt imperialistischer Raubzüge betrachtet, sie mischten sich außerdem in die innern Angelegenheiten Chinas, spielten dort eine gegenrevolutionäre Rolle und unterstützten die chinesische Reaktion. Beispiele dafür gibt es zur Genüge.

Anfang der fünfziger Jahwe beginnt in China eine Aufstandsbewegung, die unter dem Namen Taiping bekannt geworden ist. Diese Bewegung, die einen etwas religiösen Charakter trug (sie erinnerte an die Bewegung der Wiedertäufer), richtete sich zu gleicher Zeit gegen die herrschende chinesische Dynastie. Die Bewegung gewann immer mehr Anhänger und wurde von Stadt zu Stadt getragen. Zwischen den Truppen der Dynastie und den Taiping-Truppen bestand ein regelrechter Kriegszustand. Die Dynastie bereitete den Aufständischen eine sehr blutige Niederlage. Die Truppen der imperialistischen Mächte aber hielten es für ihre Pflicht, dieses blutige Werk zu unterstützen. Eine besonders traurige Rolle spielten die Soldaten der edlen Großmacht Frankreich bei der Vertreibung der Aufständischen aus Schanghai im Jahre 1855. 1.700 Rebellen wurden, nachdem sie sich ergeben hatten, hingerichtet, und dies unter Mitwirkung dieser Großmacht. Als Belohnung dafür forderte und erhielt Frankreich eine Erweiterung seiner Niederlassungen.

An der Niederwerfung des chinesischen Aufstands im Jahre 1858 nahm auch Russland teil — als Äquivalent für seine Amurunternehmungen.

Aber die Bewegung Taiping dauerte auch noch in den 60er Jahren fort. Den Truppen, die der chinesischen Dynastie treu geblieben, wurde es immer schwieriger, mit der Bewegung fertig zu werden. Die chinesische Reaktion sah sich immer häufiger gezwungen, an die europäischen Großmächte zu appellieren. Und diese kamen ihr gern entgegen, — natürlich nicht ohne entsprechende ..Kompensationen”. Im Jahre 1862 übernahmen es die englischen und französischen Truppen, die 60-Kilometer-Zone um Schanghai von den Aufständischen zu “säubern”. Im Februar 1862 stellten die Franzosen 900 Soldaten. die Engländer 1000, die den chinesischen Regimentern, die Li-hung-tschang führte, angegliedert wurden. Zusammen mit diesen kämpften sie gegen die Rebellen.

Die Tradition dieser “gegenrevolutionären” Politik der Großmächte in China setzte das imperialistische Deutschland während der chinesischen Revolution 1911 fort. In seinem, von den deutschen Behörden offiziell durch eine Prämie ausgezeichneten Buch erzählt Schüler, dass im Norden Chinas Tschingtou allen hochgestellten Beamten und Adligen Schutz gewährte, die ihr Leben und ihr Hab und Gut in diesen sichern Zufluchtsort retten konnten. Merkwürdigerweise beklagt sich der Verfasser darüber, dass während des Aufstands die revolutionäre chinesische Presse den Hass gegen die Deutschen wegen ihrer “angeblichen” Unterstützung der Dynastie durch Waffen, Munition usw. ständig schürte.

Darf man sich nach all dem wundern, dass der Hass gegen die europäischen Mächte in China groß ist? Kann man — ohne zu heucheln —— behaupten, dass Europa gezwungen ist, die Ausbrüche des chinesischen Fanatismus durch Verteidigungskriege zu beantworten?

Im Jahre 1899 entsteht in China die Gesellschaft ‚‚Ta-tin-tin (Gesellschaft des großen Messers)”. Im Jahre 1900 entsteht der Geheimbund der “Großen Faust” (die Engländer nannten die Mitglieder dieser Gesellschaft Boxer), der sich den Kampf gegen die Europäer und ihre Vertreibung aus China zum Ziel setzte. Es kam zu Exzessen. Die Chinesen überfielen die europäischen Konsuln, töteten z. B. den deutschen Konsul v. Ketteler usw. Daraufhin schickten die europäischen Regierungen Truppen nach China, die dort Grausamkeiten verübten, im Vergleich mit denen die Taten der Boxer als unschuldiges Kinderspiel gelten konnten.

Was aber hatte die Bewegung der Boxer hervorgerufen? Der Umstand, dass die Imperialisten aller Länder wie eine Horde hungriger Wölfe über China hergefallen waren.

Im Jahre 1894 führte China einen Kampf gegen Japan wegen Koreas. Die Japaner siegten und diktierten den Chinesen in Tschimonoseki den Frieden. Gleich mischten sich die europäischen Imperialisten in diese Angelegenheit. Die Beute ihres japanischen Kumpans ließ ihnen keine Ruhe. Nach dem Frieden von Tschimonoseki stand den Japanern Formosa, Port Arthur und eine Milliarde Kontribution zu. Korea sollte selbständig werden. Da vereinigten sich gegen Japan: Russland, Frankreich und Deutschland. Um Sand in die Augen zu streuen, wurde behauptet, dass die Einmischung durch die Gefahr der Unabhängigkeitserklärung Nordchinas hervorgerufen sei. In Wirklichkeit verspürten Russland sowohl wie Deutschland nur Raubgelüste. Auch in Deutschland hatte der Imperialismus sein Haupt erhoben. Deutschland beschloss, Kiautschou für sich in Anspruch zu nehmen … Am 4. Mai 1895 wurde Japan gezwungen, Port Arthur und Liau-tung an China zurückzugeben. Für diesen “Freundesdienst” wurden die vier Großmächte folgendermaßen belohnt: Deutschland erhielt Kiautschou für 99 Jahre in Pacht, das 1914 von den Japanern genommen wurde. Russland bekam Port Arthur für 35 Jahre in Pacht, England “pachtete” Wei-hai-wei, Frankreich Kwang-tschou-wan.15

So wurde China von den europäischen Imperialisten aufgeteilt und geplündert. Natürlich wurde dadurch eine gerechte Empörung unter der chinesischen Bevölkerung hervorgerufen, die in ihrer Verteidigung gegen die Räuber zu verzweifelten Mitteln griff. Kein ehrlicher Mensch kann behaupten, dass die europäischen Regierungen im Jahre 1900 während des Boxerkriegs einen gerechten Verteidigungskrieg führten. Und dass die Konsuln der europäischen Regierungen von den Chinesen überfallen worden sind, ändert nichts an den Tatsachen.

Die Insel Kuba.

Kriege, geführt von Völkern gegen Imperialisten, von denen sie abhängig sind, sind gerechte Verteidigungskriege. Imperialistische Kriege gegen Kolonialvölker sind ungerechte Angriffskriege. Kriege, die die Imperialisten untereinander ausfechten, haben den Zweck, Sklaven aufzuteilen oder neu einzuteilen, und sind darum zu verurteilen; keine der beiden Seiten fährt einen “gerechten Verteidigungskrieg”.

Betrachten wir zur Veranschaulichung dieses letzten Falles den Krieg Spaniens gegen die Insel Kuba und Amerikas gegen Spanien um die Insel Kuba.

Die Insel Kuba wurde seit jeher durch Spanien unterdrückt. In den Jahren 1868-1878 sind auf der Insel Kuba eine Reihe von Aufständen zu verzeichnen. Es wird der Insel die gleiche Autonomie zugestanden, die alle spanischen Provinzen besitzen. Von 1881 ab sendet Kuba 30 Deputierte und 14 Senatoren in die spanische Cortez. 1888 wird die Versklavung beseitigt. 1895 bricht ein neuer Aufstand auf Kuba aus, es entsteht ein Krieg gegen Spanien. Spanien mobilisiert eine Armee von 200.000 Mann, die sich durch unmenschliche Grausamkeit auszeichnet. Trotzdem erreicht Spanien nichts. Nun mischt sich Amerika in die Ereignisse ein. Für die nordamerikanischen lmperialisten handelt es sich um die Vorbereitung der Vereinigten Staaten zur Teilnahme am Kampfe um die Küste des Stillen Ozeans. Außerdem haben die Amerikaner in verschiedene Unternehmungen auf der Insel Kuba große Geldsummen hineingesteckt. Vor allem aber haben die großen Reserven an Tabak, Kaffee, Zucker usw. auf Kuba, den Philippinen und Puerto Rico den Amerikanern längst keine Ruhe mehr gelassen. Am 23. April 1898 erhält Spanien vom Präsidenten der Vereinigten Staaten Amerikas, Mac Kinley, ein Ultimatum. Der Krieg zwischen Amerika und Spanien bricht aus. Amerika siegt und nimmt Spanien (Friede zu Paris 10. Dezember 1898) Kuba, die Philippinen und Puerto Rico weg. Die Monroe-Doktrin16 triumphiert und mit ihr der Geldbeutel der amerikanischen Imperialisten. Amerika hatte zwar überall verkündet, dass es für Freiheit und Selbständigkeit kämpfe, jetzt aber wünschte es nicht, den Philippinen die Freiheit zu geben. 1900/01 brechen auf den Philippinen dauernd Aufstände aus, die von den Amerikanern mit den blutigsten Mitteln unterdrückt werden. Kuba erhält 1901 seine Autonomie und eine republikanische Verfassung, den Philippinen wird erst im Jahre 1907 gestattet, eine Nationalversammlung einzuberufen, deren sämtliche Beschlüsse erst von Amerika bestätigt werden müssen.

Nun ist die Frage: Wo ist hier der angreifende, wo der sich verteidigende Teil? Wer führt einen gerechten, wer einen ungerechten Krieg? Die Antwort ist klar: Beide Teile, die spanischen sowohl wie die amerikanischen Imperialisten führten den ungerechten Krieg zweier Sklavenhalter um den Besitz der Sklaven. Es wäre lächerlich, wollte man suchen, wer von ihnen angegriffen hatte, wer sich nur verteidigte. Einen gerechten Verteidigungskrieg führte nur der dritte Teil — die unterdrückten Völker Kubas und der Philippinen, die um Freiheit und Unabhängigkeit kämpften — gegen die spanischen und amerikanischen Sklavenhalter.

Marokko.

In den zehn Jahren zwischen 1896 und 1905 sehen wir fünf große imperialistische Kriege: 1895 den Krieg zwischen China und Japan um Korea, 1898 den Krieg zwischen Amerika und Spanien um Kuba, 1899 den Krieg zwischen England und den Buren und die Diamanthager in Transvaal, 1900 den Krieg zwischen ganz Europa und China, und zwar weil die Großmächte China ihre Eisenbahnen aufzwingen und sich selbst an China bereichern wollten, 1904 endlich den Krieg zwischen Russland und Japan um das Ausbeutungsrecht der Mandschurei.

Alle diese blutigen Kriege haben den Siegern keine besonderen territorialen Erweiterungen gebracht: die Mandschurei blieb doch bei China, China behielt formell seine Selbständigkeit, Südafrika bildet einen politisch-autonomen Staat, Kuba wird eine “unabhängige” Republik. Aber trotzdem haben die Sieger ihre Beute davongetragen: Eisenbahnen, Anleihen, Zolltarife, Konzessionen usw. wurden Besitztum der Imperialisten desjenigen “Vaterlands”, das mit Blutströmen seinen Sieg erkauft hatte.

Ein zweiter typisch imperialistischer Konflikt war der um Marokko, der schon vor 1914 beinahe zu einem Weltkrieg geführt hätte.

Der industrielle Wettlauf zwischen dem deutschen und dem englischen Kapital zwingt das imperialistische England, ein Bündnis mit seinem alten Gegner Frankreich zu suchen. 1903 stattet Eduard VII. Frankreich einen Besuch ab! Was war der wirkliche Anlass zu diesem Besuch? Zu der Zeit war das deutsch-französische Syndikat fast abgeschlossen. Die deutschen Imperialisten suchten eine Annäherung an die französischen und waren bereit, ihnen einen Teil der Bagdadbahn “abzutreten”. Die Deutschen brauchten französisches Kapital. Das deutsch-französische Syndikat wurde gegründet. Zum Präsidenten wurde Arthur von Gwinner, der Direktor der Deutschen Bank, ernannt, zum Vizepräsidenten Vernes, der Kompagnon der Rothschilds in der “Compagnie du Nord” und der “Compagnie du Midi”, Mitglied des Rates der Banken “Union Parisienne” und “Banque Ottomane”, Mitglied des Rates der Eisenbahngesellschaft Saloniki-Konstantinopel usw. Hinter Herrn Vernes standen Rouvier & Co.

Eduard VII. erschien in Paris als Agent der englischen imperialistischen Bourgeoisie, um das französisch-deutsche Syndikat zu verhindern. Dies gelang ihm, bezahlt wurde mit Marokko. Die französischen Imperialisten verzichteten auf alle Ansprüche auf Ägypten und überließen es den Engländern, dafür erhielten die französischen Imperialisten von den englischen —- Marokko. Ägypten für Marokko, Marokko für Ägypten! Dem “Volk” wurde diese Machenschaft als “entente cordiale” dargestellt (“herzliches Bündnis”, wobei aber nicht so sehr das Herz als der Beutel eine Rolle spielten).

Dafür, dass die französischen Imperialisten auf die Zusammenarbeit mit den deutschen Imperialisten verzichteten, überließen ihnen die englischen Imperialisten das Monopol auf Eisenbahnen, Häfen, Telegraphen, öffentliche Arbeiten usw. in Marokko.

Die deutschen Imperialisten aber fuchtelten daraufhin mit dem Bajonett. Sie drohten, einen Weltkrieg zu entzünden, wenn sie nicht ihren Teil in Marokko bekämen. Die Konferenz in Algeciras sieht sich gezwungen, den deutschen Imperialisten bestimmte Konzessionen zu machen, es wird ihnen ein gewisser Prozentsatz der Beteiligung an marokkanischen Anleihen zugesichert und eine genügende Einflusssphäre für Kapitalimport usw. garantiert.

So wird zwar ein Frieden geschlossen, aber er ist nicht von langer Dauer. Europa ist nur um eine Haaresbreite vom Weltkrieg entfernt. Diesen Krieg wünschen sowohl die deutschen wie die französischen und englischen Imperialisten. Er wird vertagt, und zwar nur, weil Deutschland mit seiner Ausrüstung zur See noch nicht fertig ist, die Franzosen beschließen die dreijährige Dienstzeit usw. Der Krieg konnte jeden Tag ausbrechen. Auch dann hätte jede der beteiligten Seiten geschrieben, sie sei überfallen worden, sie führe einen gerechten Verteidigungskrieg usw. Aber in Wirklichkeit wäre es nur ein imperialistischer Krieg geworden, ein Krieg einiger Cliquen des Finanzkapitals um die noch nicht verteilte Beute.

Tripolis.

Oder nehmen wir den Krieg um Tripolis im Jahre 1911, der zusammen mit den türkischen Balkankriegen 1912/13 als Ouvertüre zum Weltkrieg 1914/16 betrachtet werden kann. Dieser Krieg ist ein klassisches Beispiel dafür, wie trügerisch und unbrauchbar das Kriterium des Verteidigungskrieges sein kann.

Im September 1911 sendet Italien ganz unerwartet der Türkei ein Ultimatum: Italien habe — wenn man es nicht wissen sollte bisher ganz ungewöhnlich viel Geduld und Mäßigkeit an den Tag gelegt, aber die Türkei wünschte absolut nicht, den “rechtmäßigen italienischen Interessen” in Tripolitanien entgegenzukommen. Darum “sieht sich Italien gezwungen”, Tripolis zu besetzen. Die Türkei hatte noch keine Zeit gefunden, dies Ultimatum zu beantworten, als am 30. September 1911 die Bombardierung der Festungsbauten von Tripolis durch die Italiener begann. Auch diesen Krieg erklärten die italienischen Imperialisten natürlich als einen “gerechten” Krieg. Der ganze der bürgerlichen Herrschaft zur Verfügung stehende Apparat wurde in Bewegung gesetzt, um im italienischen Volk eine patriotische Stimmung hervorzurufen. Und nicht ohne Erfolg. Wahrhafter Enthusiasmus und Unternehmungsgeist erfasste das ganze italienische Volk, das sich einmütig um seinen König und seine Regierung scharte. Selbst der größte Teil der Sozialisten (Der Sozial-Reformisten sollte man wohl besser sagen; für dieses Umlernen zum Sozialchauvinismus sind Bissolati & Co. aus der italienischen Sozialistischen Partei ausgeschlossen worden) stand nicht abseits von diesem Enthusiasmus und war bereit zur Selbstaufopferung. So beschreibt der bekannte Historiker der deutschen auswärtigen Politik, Graf Reventlow, die Lage der Dinge in Italien zu Beginn des Krieges um Tripolis.

Und was war der eigentliche Sinn des tripolitanischen Krieges, was war die reale Unterlage dieser ganzen Geschichte?

Der Krieg war ein rein imperialistischer, und der ganze Konflikt war eng verknüpft mit dem Wettkampf zweier miteinander konkurrierender imperialistischer Trusts.

Von dem Augenblick an, als sich die Annäherung zwischen England und Frankreich bemerkbar machte, die sich gegen Deutschland richtete, fing England an, Italien mit Versprechungen zu füttern. Schon gleich nach Faschoda versprach England Italien Tripolis. Jetzt ist auch Frankreich bereit, für den Schmerz, den es Italien durch die Besitzergreifung von Tunis zufügte, Tripolitanien an Italien “abzutreten” im Namen “der Solidarität der Völker romanischer Kultur”. 1899 und 1902 stellten England und Frankreich formell an Italien einen Wechsel über Tripolis aus. Für den Erfolg ihres imperialistischen Trusts mussten sie um jeden Preis Italien vom Dreibund ablenken. Zu diesem Zweck musste man die italienischen Imperialisten irgendwie bestechen. Gezahlt wurde — wie immer -— mit fremdem Gut. Tripolis gehörte weder Frankreich noch England. Frankreich hatte nur ein Auge darauf geworfen, weil es in nächster Nachbarschaft seiner Besitzungen lag.

Nach der “entente cordiale” zwischen den Imperialisten Englands und Frankreichs (1904) glaubten die italienischen Imperialisten, Tripolis schon in der Tasche zu haben. Die “entente cordiale” war, wie wir sahen, geschlossen worden unter der Devise: Ägypten für Marokko. Erweitert lautete die Devise: für Ägypten Marokko, für Marokko Tripolis.

Nach der Konferenz in Algeciras (1906), auf der Italien als Dank für das versprochene Tripolis schon ganz offen England und Frankreich gegen seinen “Verbündeten” Deutschland, unterstützt, sind die Imperialisten Italiens der Ansicht, dass sie Tripolis “ehrlich” verdient haben, und betrachten sich als Herren dieser Kolonie.

Als im Jahre 1911 Italien der Türkei Tripolis‘ wegen den Krieg erklärte, wurde für Deutschland die Lage eine recht schwierige. Denn Italien und die Türkei waren offiziell Deutschlands Verbündete. Gegen Italien auftreten bedeutete für Deutschland erstens, Italien noch mehr zum Dreiverband hin zu stoßen, zweitens aber musste es sofort einen Weltkrieg hervorrufen, für den Deutschland noch nicht genügend gerüstet war. Gegen die Türkei auftreten bedeutete, die “verbündete” Türkei England in die Arme treiben, denn die Türken hätten sich überzeugt, dass Deutschland nicht imstande war, sie zu verteidigen, und dass ihr Schicksal vollständig in Englands Händen ruhte. Eine recht schwierige Situation. Das imperialistische Deutschland wand sich wie ein Aal und spielte schließlich eine Komödie der Neutralität. Um diesen Preis erkaufte Deutschland das Fortbestehen des Dreibundes mit Anteilnahme Italiens — nachdem Italien den Türken Tripolis genommen hatte.

Der Krieg um Tripolis war, wie der Leser sieht, ein Glied in der Kette der imperialistischen Konflikte. Die Türkei schloss am 18. Oktober 1912 in Lausanne den Frieden mit Italien, zu einer Zeit, als auf dem Balkan bereits ein neuer Krieg begonnen hatte. Auch hier waren die imperialistischen Großmächte die Regisseure. Der Knoten wurde immer verwickelter, bis im Jahre 1914 das Unvermeidliche eintrat.

Der tripolitanische Krieg war ein typisch imperialistischer Konflikt, erzeugt von der imperialistischen Habgier, die dem ganzen Zeitalter den Stempel aufdrückte.

Nun fragt es sich: Was konnten die Sozialisten und Demokraten hier mit dem alten Kriterium des Verteidigungs- und Angriffskrieges anfangen? Italien hatte angegriffen. Mussten wir darum mit der andern Partei sympathisieren, anerkennen, dass die Türkei einen “gerechten” Krieg führte? Dann wären wir nichts als ein Spielzeug in den Händen des deutschen Imperialismus gewesen! Sich für Italien erklären? Dann wäre man zu einem Werkzeug des anderen imperialistischen Trusts geworden! Mit einen Fuß stand das imperialistische Italien auf dem Boden des Dreihunds, mit dem andern auf dem Boden des Dreiverbands. Die rechte Hand reichten die Imperialisten Italiens den Imperialisten Englands und Frankreichs, mit der linken drückten sie immer noch die Hand der deutschen Imperialisten. Also wer verteidigte sich, wer griff an?

Es war nur eine Episode aus einer ganzen Kette imperialistischer Politik zweier Staatentrusts, die beide Schwächere und Unbewaffnete überfielen, die beide die Welt aufteilten und ganze Weltteile plünderten. Als “gerecht” konnte man nur die nationalen Aufstände der einheimischen Bevölkerung bezeichnen, die sich gegen beide imperialistischen Koalitionen wandten. Von diesen beiden Koalitionen aber führte keine einen gerechten Krieg. Die Theorie des Verteidigungskrieges ist — auf diese Kriege allgewandt — sinnlos, ein leeres Wort. In Wirklichkeit dient sie dem Betrug der Völker durch ihre imperialistischen Regierungen, die die Ideologie der nationalen Freiheitskriege auf ein ganz anderes Zeitalter übertragen

So steht es mit allen Konflikten und Kriegen der imperialistischen Periode. In Zusammenstößen der imperialistischen Cliquen all dieser Länder untereinander kann es vom historischen Standpunkt keinen angreifenden und keinen sich verteidigenden Teil geben. Sie alle überfallen solche Völker, die sie sich als Beute ausersehen. Sie alle suchen im Imperialismus ihre Rettung gegen die sozialistische Gefahr.

Darum wäre es sinnlos, auf die imperialistischen Kriege der Großmächte das Kriterium des “gerechten” Verteidigungskrieges anzuwenden.

Die kolonialen Eroberungen seit den siebziger Jahren. Verwirklichte und nicht verwirklichte Kriege.

Betrachten wir die wichtigsten Ereignisse auf dem Gebiet der kolonialen Eroberungen seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts.

Seit 1870 hat sich England in Asien um folgende Gebiete bereichert: Belutschistan, Birma, Zypern, Britisch-Nordborneo, Wei-hai-wei. Die Straits Settlements wurden erweitert. 1899 wurde das Protektorat über Kuwait übernommen, die Sinaihalbinsel wurde erobert usw.

In Australien gewann England den südöstlichen Teil von Neuguinea, einen Teil der Salomon- und der Tonya-Inseln.

In Afrika: Ägypten, den ägyptischen Sudan mit Nyanda, Britisch-Ostafrika, Britisch-Somali, Sansibar; in Südafrika die beiden Burenrepubliken, Rhodesien, Britisch-Zentralafrika; in Westafrika Nigeria usw.

Frankreich eroberte: Tonking, Annam, Laos, Tunis, Madagaskar, Teile der Sahara, des Sudan, der Elfenbeinküste, Gebiete in Dagomea, an der Somaliküste usw.

Deutschland erbeutete seit 1884 (dem offiziellen Beginn der deutschen Kolonialpolitik): Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Neuguinea, eine ganze Reihe von Inseln (Kaiser-Wilhelms-Land, Bismarckarchipel, Karolineninseln usw.).

Russland ergriff 1870 Besitz von Urga (in China), 1871 von Kuldschu, 1870 von Fergana, dann von der Mandschurei: schließlich treibt es seine neueste Politik in Persien

Wir haben nur die vier Großmächte erwähnt. Aber auch Japan beginnt seit 1874 mit dem Feldzug gegen Formosa seine imperialistische Politik.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bringen wenige Jahre drei scharfe Konflikte wegen Marokkos, zwei wegen der Balkanangelegenheiten. Und jedes Mal hängt der europäische Friede an einem Faden.

Wir bringen nun eine (unvollständige) Aufstellung der Kriege, die seit 1870 geführt worden sind:

1870/71 Deutsch-französischer Krieg.

1873/79 Kriege Hollands gegen den Sultan auf Sumatra.

1876 Serbien und Montenegro gegen die Türkei.

1877/78 Russisch-türkischer Krieg.

1879 England gegen Suhu.

1879 Drei englische Armeen dringen in Afghanistan ein (es werden an England Konzessionen gemacht).

1883/85 Frankreich gegen China (wegen Tonkings).

1885 Serbisch-bulgarischer Krieg. (Die Serben werden bei Slirnitza geschlagen, Bukarester Friede am 3. März

1886.)

1885 Russland gegen Afghanistan. (“Sieg” des Generals Komarow.)

1893 Krieg der Franzosen und Eroberung von Dagomea (Guinea).

1894 Japan gegen China wegen Koreas. (Japan siegt.)

1895 Spanien gegen die Insel Kuba.

1896 Italien gegen Menelik. (Der abessinische Krieg. Niederlage Italiens.)

1897 Griechisch-türkischer Krieg. (Niederlage der Griechen. 1898 erhält die Insel Kreta Autonomie.)

1898 Amerikanisch-spanischer Krieg. (Wegen Kubas. Niederlage Spaniens.)

1899/1900 Englands Krieg gegen die Buren.

1900 Krieg der europäischen Mächte gegen China (Boxerkrieg).

1904 England gegen Tibet. (Sieg Englands.)

1904/05 Deutschland gegen die Hereros.

1904/05 Russisch-japanischer Krieg.

1911/12 Italien gegen die Türkei. (Wegen Tripolis.)

1912 Krieg der slawischen Balkanvölker gegen die Türkei.

1913 Serbien und Griechenland gegen Bulgarien.

1914 Ausbruch des Weltkriegs.

Analysiert man diese Kriege, so sieht man, dass die meisten rein imperialistischer Natur waren. Vor uns liegt ein Abschnitt ganz neuer Kriege, die sehr verschieden sind von den nationalen Kriegen der früheren Epoche. Ihre Ursachen sind andere. Ihr sozialer Inhalt ist ein anderer. Sie sind der Ausdruck eines anderen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus.

Den gleichen Charakter trägt die Mehrzahl jener Konflikte der letzten Epoche, die ohne Kriege beigelegt worden sind. Der berühmte Pazifist Professor Fried versuchte eine Liste der verhinderten Kriege aufzustellen. Im Zeitraum zwischen 1904 und 1916 zählte er 17 solcher nicht zum Ausbruch gekommener Kriege. Dazu gehören folgende Konflikte:

1. Hull-Zwischenfall 1904. (Konflikt zwischen England und Russland.)

2. Marokko-Konflikt 1905. (Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich.)

3. Trennung Norwegens von Schweden 1905.

4. Konflikt zwischen Japan und den Vereinigten Staaten, 1907.

5. Der Marokko-Konflikt, 1908. Frankreich gegen Deutschland.

6. Der Casablanca-Zwischenfall, 1908. Deutschland gegen Frankreich.

7. Annexion von Bosnien und der Herzegowina.

8. Österreich gegen die Türkei, 1908.

9. Bulgarien gegen die Türkei, 1908.

10. Die Türkei gegen Griechenland, 1908. (Der Insel Kreta wegen.)

11. Japan-China, 1909. (Wegen der mandschurischen Bahn.)

12. Bolivien-Peru-Argentinien, 1909.

13. Vereinigte Staaten - Chile, 1909.

14. Russland-Japan, 1909. (Konflikt wegen der Mandschurei.)

15. Griechenland-Türkei, 1910 (Kreta).

16. Chile-Peru, 1910.

17. Ecuador-Peru, 1910.

Wir sehen also, vor uns liegt ein ganzes Zeitalter von imperialistischen Konflikten und imperialistischen Kriegen.

Ein paar Worte über die Grausamkeit der modernen Kolonialpolitik.

Die deutschen Imperialisten haben mit ihrer Kolonialpolitik später als die anderen begonnen. Ihre ersten Schritte auf diesem Gebiet machten sie fast schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und trotzdem: wie viel Blut und Schmutz, wie viel Gewalttätigkeit und Grausamkeit haben sie auf sich geladen!

Ihre ganze Kolonialpolitik von Anfang bis zu Ende ist ein Verbrechen. Wie unglaublich klingen die “Verträge”, die sie mit den Eingeborenen abschließen, während sie ihnen ihr Land rauben! “Wir, die unterzeichneten unabhängigen (!) Könige und Heerführer Kameruns, treten den Herren Eduard Schmidt und Johann Voß, den Vertretern der Firma G. Wermann unsere Besitztümer ab”, lautet ein solcher Vertrag. An Stelle der Unterschrift haben 23 Neger (“unabhängige Könige”), da sie nicht schreiben konnten, Kreuze hingemalt … Der andere Teil Kameruns wurde derselben Firma Wermann für 150 Tonnen Rum verkauft!

Ebenso taten es noch vor kurzem englische und französische Kapitalisten in Indien. Wer zuerst da ist, wer zuerst seine nationale Flagge heraushängt, der ist Herr

Und dann die Grausamkeiten und die Räubereien der Diener des deutschen Imperialismus an der Bevölkerung der Kolonien! Peitschenhiebe gelten als die leichteste Strafe in Kamerun. Während des Aufstandes in Kamerun wurden auf Befehl der deutschen Beamten Leist und Wehlau Hunderte von Negern zusammengebunden und den heißen Sonnenstrahlen so lange ausgesetzt, bis sie verdursteten. Der Abschaum des deutschen Militarismus wird in die Kolonien geschickt, daher die unerhörten Grausamkeiten. Frauen werden in Gegenwart ihrer Männer mit Ruten gepeitscht, ganze Ortschaften werden in Brand gesteckt, dem Hungertod preisgegeben. Bei jeder Gelegenheit wird geschossen. Zu Beginn des Hereroaufstands zählte dieser Stamm ungefähr 100.000 Menschen. Nach der offiziellen Statistik waren am 1. Januar 1913 nur noch 21.699 vorhanden: 7.071 Männer, 9.208 Frauen und 5.420 Kinder.

Im Jahre 1905 brach in Ostafrika ein neuer Aufstand aus. Die Einführung der Zwangsarbeit, unmenschliche Steuern und dauernde Exekutionen hatten den Aufstand des Stammes Matmuba hervorgerufen. Die deutschen Soldaten ließen ihrem Beutedurst freien Lauf. Im Jahre 1913 erklärte das deutsche Kolonialamt in einem offiziellen Bericht, dass 20.000 Einheimische damals ums Leben gekommen sind. Der deutsche Professor Schilling aber behauptet, dass nicht weniger als 150.000 Einheimische während des Aufstands umgebracht worden sind. Dörfer wurden verbrannt, die Ernte vernichtet. Viele entkräftete Eingeborene wurden die Beute der Löwen. Die Löwen waren übersättigt mit Menschenfleisch zu jener Zeit

Wir erzählen von der Grausamkeit der deutschen Imperialisten. Aber Grausamkeit ist nicht nur der deutschen Imperialisten Merkmal. Erinnern wir uns dessen, was von der Politik des englischen Imperialismus in Indien, von der Politik der belgischen Regierung in Belgisch-Kongo, von der französischen Politik in den französischen Kolonien an die Öffentlichkeit gelangt ist! Erwähnen wir nur, dass nach einer Berechnung Sir William Diglys in der Zeit von 1850 bis 1870 in Indien 5 Millionen Menschen, in der Zeit von 1875 bis 1900 26 Millionen Menschen an Hunger gestorben sind.17 Fügen wir noch hinzu, dass im Jahre 1896 2 Millionen Inder an der Pest gestorben sind. Erinnern wir uns ferner, dass der frühere englische Vizekönig von Indien, Lord Curzon, das mittlere Jahreseinkommen eines Bewohners von Britisch-Indien auf 13 Rubel schätzte. Und all diese Schrecken werden hauptsächlich dadurch hervorgerufen, dass England den größten Teil der Ernte aus Indien ausführt (daher der Hunger), dass Steuern und Zölle hauptsächlich der Landbevölkerung auferlegt werden (gegen 80 Prozent aller Steuern)!

Über die englischen Sitten in Indien ist vor kurzem ein interessantes Büchlein des frühern amerikanischen Staatssekretärs William Bryan erschienen, der persönliche Erfahrungen gesammelt hat. Dieses Büchlein, das in indischer Sprache erschien, wurde von der englischen Regierung sofort konfisziert. Die amerikanische Zeitschrift “Coast Seamens” bringt einiges Tatsachenmaterial, das diesem Büchlein entnommen ist. Die Steuerlast in Indien ist verhältnismäßig doppelt so groß wie in England. Die Sterblichkeit, die 1882/84 2,4 Prozent betrug, betrug 1892/94 3 Prozent, jetzt beträgt sie 3,4 Prozent. Der Hunger nimmt erschreckende Dimensionen an “England rühmt sich, es habe Indien den Frieden gebracht, in Wirklichkeit hat es Millionen Menschen in Indien den Tod gebracht … Es zapft Indien den Lebenssaft ab mit Hilfe von Räubereien, die vom Gesetz gerechtfertigt werden.” So schreibt nicht irgendein “Agitator”, nicht einmal irgendein “Deutscher”, so schreibt ein Mann, der in der befreundeten amerikanischen Regierung einen hohen Posten bekleidet hat.

Im Laufe von 16 Jahren sind in Indien 8 Millionen Menschen an der Pest gestorben; die Bodensteuer beträgt 65 Prozent; der mittlere Verdienst eines Inders beträgt 40 Pf. England aber erhält von Indien ein jährliches Einkommen von 665 Millionen Mark. So schreibt das Komitee der revolutionären Partei Indiens in einem Aufruf, der im Jahre 1916 in San Franzisko veröffentlicht wurde.

Erinnern wir uns der “internationalen Raubzüge”, von denen 1912 der berühmte amerikanische Politiker Morgan Schuster (der 1911 persischer Minister war) in seinem Buch erzählt, das das ganze lesende Europa in Aufregung versetzt hat und das den vielsagenden Titel “Die Erwürgung Persiens” trägt.18

Wo käme hier ein “Verteidigungskrieg” in Betracht, wo die “Vaterlandsverteidigung” oder das Hinübertragen einer “Kultur”? Ist es nicht klar, dass in Bezug auf die Kolonialpolitik der imperialistischen Mächte diese Worte und Begriffe ganz inhaltslos geworden sind?

Die wahren Motive der imperialistischen Kriege.

Im Jahre 1909 erschien in der bekannten englischen Monatsschrift “The United Service Institution” die preisgekrönte ausgezeichnete Abhandlung eines höhern englischen Marineoffiziers. In dieser Abhandlung finden wir folgende bemerkenswerte Zeilen:

Wir (England) unternehmen keinen Krieg aus irgendwelchen sentimentalen Motiven heraus. Ich bezweifle, ob das auch nur einmal vorgekommen ist. Der Krieg ist das Produkt geschäftlicher Konflikte; das Kriegsziel — dem Gegner diejenigen wirtschaftlichen Bedingungen aufzuzwingen, die man für sich als notwendig erachtet. Wir nutzen alle möglichen Vorwände für Kriege aus, aber ihre tatsächlichen Ursachen sind immer Handelsfragen. Ob Verteidigung oder die Notwendigkeit einer strategischen Position als Kriegsursache angegeben werden, ob Verträge verletzt werden müssen oder ähnliche Gründe mitspielen — letzten Endes hat alles seinen Ursprung in Handelsinteressen. Aus dem einfachen aber entschiedenen Grund, dass der Handel unser Herzblut ist.”

Hier wird offen und klar gesagt, was ist: “Wir Imperialisten (das bezieht sich natürlich auch auf die deutschen Imperialisten) greifen nach irgendwelchen Vorwänden, wir sprechen von Verteidigung, verletzen Verträge usw. Aber das Wesentliche ist eins: der Beutel, die Interessen der Kapitalisten.”

Das ist reine Wahrheit. Imperialistische Kriege sind so. Äußere Ursachen und Vorwände können glaubwürdig erscheinen. Einer “verteidigt” sich, der andere kämpft mit Edelmut für die Unabhängigkeit eines Landes, ein Dritter verteidigt ausschließlich aus Idealismus die Interessen der “Kultur” gegen “russische Barbaren”.

In Wirklichkeit kämpft aber alles für die Interessen eines Häufleins von Magnaten des Finanzkapitals…

Was hätte hiermit das Kriterium des Verteidigungskrieges zu tun?

Es ist überaus leicht, Verteidigung und Angriff in Worten zu unterscheiden, aber überaus schwer in der Praxis einwandfrei zu entscheiden, wer der Angreifer, wer der Verteidiger ist. Bei beinahe allen Kriegen der letzten Jahrzehnte wie früherer Zeiten hielten sich beide Teile für den Angegriffenen.”19

Im Großen und Ganzen dient das Instrument des Schiedsgerichts nur dazu, den Ausbruch ungewollter Kriege … zu vermeiden.”20

Wer die Geschichte der kolonialen Expansion der europäischen Großmächte in den letzten Jahrzehnten … betrachtet, wird ohne Mühe finden, dass alle Kriege der letzten Zeit, an denen europäische Großmächte beteiligt waren, wenn nicht von dem Kapitalsinteresse angezettelt, so durch das Kapitalsinteresse eingeleitet worden sind.”

Das sind die wertvollen Bekenntnisse des bekannten deutschen Imperialisten Ruedorffer. Sie stehen — was Offenherzigkeit anbetrifft — den oben erwähnten Erklärungen des prämiierten englischen Autors nicht nach.

Selbst die bürgerlich-demokratischen Pazifisten haben den wahren Wert der Behauptungen aller imperialistischen Regierungen: “wir” sind die Angegriffenen, “jene” die Angreifer — richtig erkannt. In dem internationalen Organ dieser Pazifisten “La Voix de L'Humanité” (“Die Stimme der Menschheit”) finden wir in der Nummer vom 5. Januar 1916 folgende nicht ohne Humor zusammengestellte Tabelle:

Jeder kriegführende Staat behauptet:

1. dass er einen Verteidigungskrieg führe und für die gerechte Sache kämpfe;

2. dass er einen Kampf für Freiheit und Zivilisation aller Völker führe;

3. dass er einen dauernden Frieden anstrebe;

4. dass er alle Kräfte anspannen und kämpfen werde, bis der Gegner endgültig niedergeworfen ist;

a. dass er ohne Zweifel Sieger bleiben werde;

6. dass er siegreich vorgehe und nur geringe Verluste zu verzeichnen habe;

7. dass die Bomben seiner Flieger nur militärische Institutionen der Gegner treffen und immer mit großem Erfolg;

8. dass seine Flieger und seine Artillerie bedeutend besser seien als die Flieger und die Artillerie der Gegner;

9. dass er gerade jetzt große Unternehmungen plane, die unbedingten Erfolg versprächen;

10. dass der liebe Gott ihm zur Seite stehe.

Und jeder kriegführende Staat behauptet weiter:

1. dass der Gegner den Krieg gewollt habe und seit langem dazu rüste;

2. dass der Gegner den Krieg angefangen und “uns” überfallen habe;

3. dass der Gegner einen Eroberungskrieg führe und die Welt beherrschen wolle;

4. dass der Gegner das Völkerrecht mit Füßen trete;

5. dass der Gegner die Neutralität kleiner Staaten verletzt habe und die Neutralität anderer kleiner Staaten bedrohe;

6. dass der Gegner den Krieg mit barbarischen Mitteln führe;

7. dass der Gegner Dumdum-Geschosse anwende;

8. dass der Gegner das Rote Kreuz missbrauche;

9. dass der Gegner Gefangene misshandle;

10. dass der Gegner Frauen vergewaltige, morde und plündere;

11. dass die Kriegsgerichte des Gegners eine Verhöhnung des Gesetzes seien;

12. dass der Gegner Gefangene töte;

13. dass der Gegner freie Städte bombardiere, Frauen und Kinder töte, “uns” aber damit nie einen militärischen Schaden zufüge;

14. dass der Überfall des Gegners immer im Keim erstickt oder mit großen Verlusten für den Feind zurückgeschlagen werde;

15. dass der Gegner Gasbomben gebrauche;

16. dass der Gegner ein Seeräuber sei;

17. dass der Gegner ohne Notwendigkeit den neutralen Handel unterbinde;

18. dass die Informationen des Gegners durchweg Lügen und Verleumdungen seien;

19. dass der Gegner die Neutralen mittels Lügen, Drohungen und Bestechungen zu bearbeiten suche;

20. dass der Gegner die neutralen Staaten — zu deren größtem Unglück — in den Krieg hetze;

21. dass der Gegner an Geldmangel, Teuerung, Industriekrisen leide;

22. dass die Kriegsanleihen des Gegners nur durch Betrug zustande kämen;

23. dass beim Gegner Epidemien wüten;

24. dass im Land des Gegners Streik und innere Zerwürfnisse herrschen;

25. dass beim Gegner Minister und Generale zurücktreten;

26. dass der Gegner kampfesmüde sei.21

Diese Tabelle könnte noch erweitert werden … Wenn die breiten Massen des Volkes die Zeitungen aller Länder lesen könnten, dann würden sie sehen, dass die herrschenden Klassen überall dasselbe sprechen, sie würden sich überzeugen, dass die Bourgeoisie überall die gleichen Methoden anwendet, dieselbe “Technik”, um “ihr” Volk zu betrügen. Aber die Massen des Volkes lesen — wenn sie lesen — nur die Presse “ihrer” Bourgeoisie und “ihrer” Sozialchauvinisten, die die Weisheiten ihrer vaterländischen Bourgeoisie nachschwätzen. Und merkwürdigerweise funktionieren dieselben Beweismittel, dieselbe “Technik” in allen kriegführenden Ländern. Es bleibt den bürgerlichen und sozialchauvinistischen Schreibern nur eins zu tun: an Stelle des Namens eines Vaterlandes den Namen eines andern zu setzen, z. B. Deutschland an Stelle von Russland, und ihr Ziel ist erreicht.

Einige Schlussworte.

Als ein wichtiges Moment für die objektive Beurteilung, welcher Teil der vom diplomatischen Standpunkt angreifende, und welcher der sich verteidigende ist, kann die Stufe der militärischen Rüstung des betreffenden Landes dienen. Sage mir, wer militärisch für den Krieg besser vorbereitet war, und ich werde dir sagen, wer in dem Moment den Krieg gewollt, wer ihn hervorgerufen hat! Natürlich kann es vorkommen, dass diese oder jene Regierung ihre Kriegsbereitschaft überschätzt, oder dass sie trotz ungenügender Ausrüstung gezwungen ist, den Krieg zu beginnen, z. B. aus Gründen der innern Politik usw. Aber unter sonst gleichen Bedingungen ist die eben aufgestellte These unbedingt zutreffend.

Schon in früheren Zeiten ist viel gestritten worden über die Frage, welcher Teil der angreifende, welcher der sich verteidigende sei. Entscheidend ist meist der Ausgang des Krieges, Sieg oder Niederlage im Kriege selbst. Meist bezeichnet die Geschichte denjenigen als den Angreifer, der gesiegt hat. Als klassisches Beispiel der alten Zeit kann der Krieg der Hunnen gegen die Westgoten in den 70er Jahren des vierten Jahrhunderts dienen. Die Mehrzahl der Geschichtsschreiber stimmt darin überein, dass im Jahre 373 die Westgoten angegriffen haben. Die Hunnen sind aber darum in der Geschichte als “Hunnen” bekannt, weil sie sich im Verlauf des Krieges als die stärkern erwiesen haben.

Über die diplomatische Geschichte des Krieges 1914/16 werden ganze Bücher verfasst. Die Sozialchauvinisten erachten Daten und den Inhalt der Depeschen dieser oder jener Diplomaten am Vorabend des Krieges als erschöpfende Argumente. Uns interessiert diese Frage weniger. Der Inhalt der Weiß-, Gelb-, Grau- und anderen Bücher, die Bruchteile der diplomatischen Verhandlungen enthalten, hat natürlich eine große Bedeutung für die Bewertung des Systems der modernen Diplomatie. Aber eine ernste Bedeutung für die Beurteilung des Charakters des Krieges 1914/16 und für die Festlegung der sozialistischen Taktik in diesem Krieg ist darin nicht enthalten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die öffentliche Meinung denjenigen als den angreifenden Teil betrachten wird, der den Endsieg davontragen wird.

Eine solche Beurteilung wäre keine absolut willkürliche. Jeder kriegführende Teil möchte siegen; der Sieg aber hängt hauptsächlich von dem Grad der militärischen Ausrüstung ab. Wer militärisch besser vorbereitet war, der hatte mehr objektive Aussichten zu siegen, der hatte — unter sonst gleichen Bedingungen — mehr Anlass den Krieg zu unternehmen, der kann also — wiederum unter sonst gleichen Bedingungen — als unmittelbar angreifender Teil betrachtet werden.

Auf Grund seiner militärischen Ausrüstung konnte Preußen im Jahre 1870 einen Angriffskrieg gegen Frankreich unternehmen. Bismarcks Machenschaften führten dazu, dass Napoleon III. als erster den Krieg erklärte, als es sich aber nachher herausstellte, dass Frankreich militärisch gar nicht vorbereitet, Preußen dagegen bis auf den letzten Knopf am Soldatenmantel — ausgezeichnet ausgerüstet war, da war dies der beste objektive Beweis dafür, dass Preußen in jenem Moment den Krieg gewollt hat.

Dieselbe Bedeutung hat der Grad der militärischen Ausrüstung auch heute noch. Zu Beginn des Krieges 1914 ist wieder Deutschland am besten für den Krieg vorbereitet gewesen; und das gibt wiederum gerechten Anlass zu denken, dass in diesem Moment Deutschland den Krieg gewollt hat.

Das aber hat absolut keine Bedeutung für die Stellungnahme der Arbeiterklasse zu den Kriegen unseres Zeitalters überhaupt und zum Krieg 1914 im Besonderen.

Wir haben gesehen, dass selbst im Zeitalter der nationalen Kriege für die Demokratie nicht entscheidend war, wer zuerst angegriffen hat. Im heutigen Zeitalter aber sind Verteidigungskriege im alten Sinne des Wortes überhaupt zur Unmöglichkeit geworden.

Vor 25 Jahren sprach Wilhelm Liebknecht, der die Epoche der nationalen Kriege im Auge hatte, von einem “gerechten” Krieg, wobei er die Beteiligung der Sozialdemokraten an einen solchen Krieg zuließ. Ein viertel Jahrhundert später gräbt Plechanow diese Liebknechtschen Worte aus, um sagen zu können: Ja eben, auch wir sind für den “gerechten” Krieg.

Indem Plechanow sich auf die Worte Liebknechts vom “gerechten” Krieg beruft, erleichtert er die Richtigstellung seiner falschen Behauptung. Denn wirklich, worin besteht Plechanows Spiel mit dem Kriterium des Verteidigungskriegs? Darin, dass er zwei Zeitalter durcheinander bringt — das Zeitalter der nationalen Kriege und das Zeitalter der imperialistischen Kriege.

Können denn jetzt in der imperialistischen Epoche überhaupt noch “gerechte” Kriege stattfinden?

Ja, aber nur in zwei Fällen. Der erste Fall wäre der Krieg des in irgendeinem Land siegreichen Proletariats, das den Sozialismus verteidigt gegen andre Staaten, die das kapitalistische Regime vertreten. Der zweite — ein Krieg Chinas, Indiens oder ähnlicher Länder, die vom Imperialismus andrer Länder unterdrückt werden und für ihre Unabhängigkeit kämpfen gegen diese imperialistischen Mächte.

Die Ablösung des einen Zeitalters durch das andere tritt besonders krass in Italien hervor. Im Jahre 1859 sahen wir dort einen typisch nationalen Krieg. Im Jahre 1859 ging es um die Befreiung Italiens vom österreichischen Joch, um die italienische Einigung, an der das ganze Volk, die ganze Demokratie, Interesse hatte. Österreich war der Unterdrücker, Italien der Unterdrückte.

Im Jahre 1859, kurz vor dem Kriege, sehen wir einen Mann wie N. A. Dobroljubow Österreich brandmarken, indem er es folgende Worte sprechen lässt:

Wir, Eure Herrn, sind namenlos empört

Dass Ihr Rebellenvölker uns durch Aufstand stört!

Wie? Vierzig Jahre lang, ohne einen Schritt zu weichen,

Bewahrten wir die Welt vor Euren Streichen!

Freigebig schenkten wir Euch, was wir hatten:

Spione, neue Henker, Garnisonen, Kasematten,

Selbst unsre Sprache, Sitte, das Gesetz und das Gericht —

Und was ist Euer Dank für Österreichs treue Pflicht?

Schämt Euch! Was wollt Ihr denn, dass wir Euch sonst noch geben?

Wir könnten wie bisher in schönster Eintracht leben!

Oder habt Ihr vielleicht zu wenig von unsern Soldaten?

Ist gar am Ende unsre Polizei zu schlecht beraten?

Ei, fleißig denunziert! Das heilen wir sofort

Und legen gern ein Regiment an jeden Ort…”

Und jetzt? Jetzt sieht es ganz anders aus. Jetzt kämpft Italien gegen die Türkei um Tripolis, gegen Österreich um Albanien, Dalmatien, Istrien. Kann man jetzt noch von einem gerechten Verteidigungskrieg Italiens reden?

Ein gerechter Krieg zwischen imperialistischen Regierungen ist unmöglich, ebenso unmöglich wie ein “gerechter” Kampf zwischen mehreren Räubern um die Verteilung ihrer Beute. Jeder Krieg bis auf die beiden genannten Fälle ist in unsrer Zeit unbedingt ein “ehrloser” Krieg.

Und das kann nicht anders sein, solange wir eine Terminologie, die für ein Zeitalter passt, auf ein gänzlich andres anwenden.

Es kann jetzt keine “gerechten” Kriege zwischen europäischen Großmächten geben, die imperialistische Politik treiben. Der Dreibund und die Triple-Entente waren die zwei wichtigsten Mächtegruppierungen und für die ganze europäische Politik ausschlaggebend. Und diese beiden Gruppierungen entstanden lebten und handelten im Zeichen des Imperialismus, wo, wie Kautsky richtig bemerkt, heute der eine den Angreifer spielt, morgen der andre und dann wieder umgekehrt.

Könnten jene Sozialisten, die bis jetzt das Kriterium des Verteidigungskrieges für richtig hielten, aus der Geschichte lernen, so müssten sie jetzt selber sagen: “Wir hielten uns bisher an dieses Kriterium und —— erleben jetzt den Zusammenbruch der Zweiten Internationale, eine unerhörte, noch nie dagewesene Schmach. Alles, nur keine Wiederholung des 4. August 1914! Nur nicht wieder diese Schande erleben müssen, dass wir, indem wir das Kriterium des Verteidigungskrieges anwenden, zu Verrätern am Proletariat, zu Agenten der Bourgeoisie werden!”

Und welches das Schicksal der Arbeiterinternationale auch sein wird — eins lässt sich heute schon mit Sicherheit sagen: die Theorie des Verteidigungskrieges muss für alle ehrlichen Sozialisten begraben sein. Die Erfahrung von 1914 hat sie begraben.

Kann es noch überzeugendere, noch grausamere Lehren geben, als sie der Krieg von 1914/16 gab? Eine Theorie, die während solcher Ereignisse zum Zusammenbruch der Internationale geführt hat, kann nicht noch weiterhin verteidigt werden.

Wohin haben uns die "Vaterlandsverteidigung” und die Theorie des Verteidigungskrieges geführt? Zur Politik des 4. August, zu den Südekums aller Länder, zum vollkommenen Zusammenbruch!

Während des Krieges, solange die Leidenschaften noch wüten, kann man noch, wenn man eigensinnig ist, darauf bestehen, sich an das Kriterium des Verteidigungskrieges zu halten: “Wir verteidigen uns, wir sind im Recht!” Aber sowie der Krieg beendet und man gezwungen sein wird, das Fazit zu ziehen, dann wird jeder ehrlich Denkende dieses Kriterium aufgeben müssen.

Konnte in den “gerechten” nationalen Kriegen der früheren Epoche die Rede sein von dem Kampf der Bourgeoisie gegen das Proletariat, das die sozialistische Umwälzung auf die Tagesordnung gesetzt hat? Nein, davon konnte keine Rede sein.

Denn die Verhältnisse waren für den Sozialismus noch nicht reif, das Proletariat hatte sich noch nicht überall als Klasse zusammengefunden. In den imperialistischen Kriegen aber ist der Kampf gegen die Arbeiterbewegung eine der Hauptaufgaben der imperialistischen Bourgeoisie.

Einen imperialistischen Krieg als “gerecht” bezeichnen, das vermag nur ein Agent der Bourgeoisie. ‚Jetzt aber tun das leider auch solche Leute, die sich Sozialisten nennen.

Einen gerechten Krieg führen wir!” schreien Südekum und — Hindenburg. — “Nein, den gerechten Krieg führen wir”, antworten Plechanow und Thomas…

Das Kriterium des Verteidigungskriegs hat sich längst überlebt. Wäre dies nicht schon längst vor dem Kriege 1914 geschehen, so müsste dieser Krieg es begraben haben. Was hat dieser Krieg gezeigt? Wer hat an das Kriterium des Verteidigungskrieges appelliert? Alle und niemand. Alle — denn zur Rechtfertigung ihrer Raubpolitik griffen die Imperialisten aller Länder danach, die Diplomaten und Regierungen aller Völker, die Betrüger der europäischen Presse, gleichviel welcher Sprache.

Niemand — denn niemand hat das Kriterium wirklich ernst genommen.

Und dann die Internationale! Konnte das Kriterium des Verteidigungskrieges sie vor dem Zusammenbruch retten? Alle bis zu den offiziellen sozialchauvinistischen Parteien versichern, dass sie sich streng an das Kriterium des Verteidigungskrieges halten. Deutsche, Franzosen, Italiener, sie alle behaupten, dass sie das Prinzip des Verteidigungskrieges einhalten. Wer von ihnen hat Recht? Alle und keiner. Denn das Prinzip an und für sich kann nicht mehr gelten. Für das Proletariat aber hat es nun zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale geführt.

Es gab eine Zeit, da auch Plechanow wusste, dass das abstrakte Kriterium des Verteidigungskrieges nicht viel nützt. lm August 1905 schrieb er:

Ebenso dogmatisch ist die Ansicht, dass wir Sozialisten nur mit “Verteidigungskriegen” sympathisieren dürfen. Eine solche Ansicht ist nur vom Standpunkt des Konservativen suum cuique richtig. Das internationale Proletariat, das konsequent seinen Standpunkt vertritt, muss Sympathie haben für jeden Krieg, der — gleich, ob er ein Verteidigungs- oder Angriffskrieg ist — ein wichtiges Hindernis auf dem Wege zur sozialen Revolution beseitigen kann.‘22

Die Terminologie Plechanows ist nicht sehr klar. Er macht keinen Unterschied zwischen dem Verteidigungskrieg in historischer Beziehung und dem Verteidigungskrieg in diplomatischer Beziehung. Jedenfalls aber sieht er ein, dass die Theorie des Verteidigungskrieges ungenügend und falsch ist. Verteidigungskrieg oder Angriffskrieg, das ist einerlei, sagt Plechanow. Nur ein Dogmatiker kann denken, dass “Verteidigung” oder “Angriff‘ für uns maßgebend sind. Für uns Sozialisten kommt es auf etwas andres an. Die Interessen der sozialen Revolution sind für uns das Entscheidende.

Der Klassenkampf nimmt einen scharfen revolutionären Charakter an, er stößt die alten, von früheren Generationen überlieferten Begriffe um; und wo außerdem die unterdrückte Klasse sich überzeugen kann, dass ihre Interessen mit den Interessen der unterdrückten Klassen anderer Länder identisch, den Interessen der herrschenden Klassen des eigenen Landes aber entgegengesetzt sind, dort verliert der Begriff des Vaterlandes seinen früheren Reiz in hohem Maße.” (Plechanow)

Jahrzehnte hindurch haben die Marxisten daran gearbeitet um die bürgerliche Vaterlandsidee ihrer Anziehungskraft zu berauben, sie zeigten den Arbeitern immer wieder, wie ähnlich sich die Lage der unterdrückten Klassen in den verschiedenen Vaterländern gestaltet. Jetzt aber, wo der erste imperialistische Weltkrieg begonnen hat, wo die Imperialisten die Vaterlandsidee ausnutzen, um die Arbeiter aller Länder zu betrügen, jetzt verherrlicht auch der frühere Marxist Plechanow die Idee des Vaterlandes! Welch ungeheurer Umschwung! Von Marx und Engels bis Heine und Südekum — das ist der Weg, den die früheren Marxisten, die jetzt dem Sozialchauvinismus huldigen, zurückgelegt haben.

Friedrich der Große hat einst geäußert, wenn Monarchen Kriege wünschten, so fingen sie sie an und trügen dann irgendeinem eifrigen Juristen auf, nachzuweisen, dass das Recht auf ihrer Seite sei.

Wenn man sieht, wie jetzt die Plechanow und Südekum aller Länder handeln, so könnte man den Ausspruch Friedrichs des Großen folgendermaßen abändern: Wenn die Imperialisten einen Krieg wünschen, so fangen sie ihn an und tragen dann einem eifrigen Sozialchauvinisten auf, nachzuweisen, dass das Recht auf ihrer Seite ist.

Ende des ersten Teils.

1 Kautsky “Sozialismus und Kolonialpolitik”, 1907. Zu Beginn des Zeitalters des deutschen Imperialismus wandte sich Kautsky an Engels mit der Frage, wie die englischen Arbeiter zur englischen Kolonialpolitik ständen. Darauf antwortete Engels in einem Brief vorn 12. September 1882. Da dieser Brief von großem Interesse ist, wollen wir ihn hier ganz zitieren: “Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken. Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative und liberale Radikale und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands. Meiner Ansicht nach werden die eigentlichen Kolonien, d. h. die von der europäischen Bevölkerung besetzten Länder, Kanada, Kap, Australien, alle selbständig werden; dagegen die bloß beherrschten, von Eingeborenen besetzten Länder: Indien, Algier, die holländischen, portugiesischen und spanischen Besitzungen vom Proletariat vorläufig übernommen werden und so rasch wie möglich der Selbständigkeit entgegengeführt werden. Wie sich dieser Prozess abwickeln wird, ist schwer zu sagen. Indien macht vielleicht Revolution, sogar sehr wahrscheinlich, und da das sich befreiende Proletariat keine Kolonialkriege führen kann, würde man es gewähren lassen müssen, wobei es natürlich nicht ohne allerhand Zerstörung abgehen würde. Aber dergleichen ist eben von allen Revolutionen unzertrennlich. Dasselbe könnte sich auch anderswo abspielen, z. B. in Algier und Ägypten und wäre für uns sicher das Beste. Wir werden genug zu Hause zu tun haben. Ist Europa erst reorganisiert und Nord-Amerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, dass die halbzivilisierten Länder ganz von selbst ins Schlepptau kommen, das besorgen allein schon die ökonomischen Bedürfnisse. Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder dann durchzumachen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation kommen, darüber glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen. Nur das eine ist sicher: Das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volke irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben. Womit natürlich Verteidigungskriege verschiedener Art keineswegs ausgeschlossen sind.” (Anmerkung des Verfassers: Gemeint sind hiermit Verteidigungskriege des siegreichen Proletariats gegen Länder, die den Kapitalismus verteidigen und dadurch den Sozialismus anderer Länder bedrohen.)

Die Geschichte in Ägypten ist von der russischen Diplomatie eingefädelt. Gladstone soll Ägypten nehmen (was er noch lange nicht hat und wenn er es hätte, noch lange nicht behält), damit Russland Armenien nimmt; was ja nach Gladstone wieder Befreiung eines christlichen Landes Vom mohammedanischen Joch wäre. Alles andre bei der Sache ist Schein, Flause, Vorwand. Ob das Plänchen gelingt, wird sich bald zeigen.” [Marx Engels Werke, Band 35, S. 356-58, hier S. 357f., Hervorhebung von Sinowjew]

Der Schluss bezieht sich auf die Besetzung Ägyptens durch die Engländer nach der Erhebung der Ägypter. Kürzlich wurde ein Brief von Engels darüber vom 9. August 1882 veröffentlicht, in dem er davor warnt, die ägyptische nationale Bewegung bloß von der gefühlsmäßigen Seite zu beurteilen. Daraus wurde geschlossen, dass Engels der Annektierung Ägyptens durch die Engländer besondere Sympathien entgegengebracht habe. Wir sehen hier, wie wenig dies der Fall war.

2 Tschernyschewski, Bd. V, Politik.

3 Siehe z. B. die Darstellung dieser Angelegenheit in der “Enzyklopädie der neusten Geschichte”, begründet von Wilhelm Herbst, oder “Die Geschichte der neuesten Zeit”, von Konstantin Bulle, Bd. V. oder “Die Gründung des deutschen Reiches”, von Wilhelm Maurenbrecher. Dieselbe Ansicht vertritt auch Charles Seignobos, “Politische Geschichte des neuen Europa”. In diesem Werk wird den deutschen Sozialisten der Vorwurf gemacht, dass sie es gewagt haben, Bismarck der Fälschung der Emser Depesche zu beschuldigen.

4 Gedanken und Erinnerungen von Fürst Otto von Bismarck, Bd. II, Kapitel über die Emser Depesche.

5 Siehe diese Artikel von Liebknecht im “Volksstaat”, abgedruckt in seiner Broschüre “Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden”, Nürnberg 1891.

6 Siehe “Historie Socialiste”, Bd. VI, XI; La guerre Franco-Allemande par Jean Jaurès, S. 163, 166, 169, 175f., 178 f., 102, 241, im Kapitel “Qui est responsable de la guerre?” Vergl. auch den interessanten Artikel über das Buch von Jaurès von van Ravenstejn, “Neue Zeit”, 1908, Bd. I, Seite 388 f.

7 Gustav Hervé “Leur patrie”, S. 135.

8 Paul Rohrbach, ‚‚Unsere koloniale Zukunftsarbeit”, Stuttgart, 1915.

9 Dies hindert die Buren nicht, einen Teil der Einheimischen auszubeuten.

10 Wilhelm Schüler “Abriss der neueren Geschichte Chinas”, Verlag von Curtius, Berlin, 1912, S. 228.

11 a.a.O., S. 134

12 a.a.O., S. 172

13 Ihre Abneigung gegen das “Barbarentum” illustrierten die europäischen Großmächte im Jahre 1901, als sie nach dem Boxeraufstand mit China einen “Frieden” abschlossen. Nach diesem Friedensvertrag wurde eine Reihe von Boxeranführern geköpft. Außerdem wurde die chinesische Regierung von den “Großmächten” gezwungen, die Leiche des schon toten Führers Li-Bing-Houg Schmähungen preiszugeben. Es ist klar, dass, wo solches gefordert wurde, der Punkt 7 des obigen Vertrages unbedingt notwendig war…

14 a.a.O., S. 227

15 Nur den armen österreichischen Bourgeois gelang es damals nicht, in China etwas zu ergattern. — Österreich war durch anderes in Anspruch genommen. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Durchführung der Politik des Grafen Andrassy gerichtet. Österreich dachte nur an Eroberungen auf dem Balkan. Aber die deutsch-österreichischen Bourgeois sind heute noch bitterböse darüber, dass das arme Österreich damals die Gelegenheit nicht ausgenutzt hat, um China zu berauben. Siehe z.B. Professor Otto Hoetzsch “Österreich-Ungarn und der Krieg”, 1915, S. 29.

16 Monroe-Doktrin ist die Lehre eines Präsidenten der Nordamerikanischen Staaten: Nordamerika dürfe keiner Macht gestatten, irgendwelche Besitzungen in der Nähe der amerikanischen Küsten zu haben.

17 Genaues s. z. B. Dr. Hermann v. Staden: “Indien im Weltkrieg”, Stuttgart, 1915.

18 W. Morgan Schuster, Ex-Treasurer-General of Persia “The strangling of Persia”. A record of european diplomacy and oriental intrigue, London and Leipzig, 1912.

19 Ruedorffer, “Grundzüge der Weltpolitik”, S. 218.

20 a.a.O., S. 167

21 La Voix de l‘Humanité, Nr. 58, 1916. An der Redaktion dieser Zeitung sind hervorragende Politiker Frankreichs, Englands und anderer Länder beteiligt.

22 Siehe Soz.-Dem. Tagebuch Nr. 2 “Patriotismus und Sozialismus” Antwort auf eine Enquete der Redaktion der Zeitschrift “La vie socialiste”.

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