I. WAS IST IMPERIALISMUS?

I. WAS IST IMPERIALISMUS?

Bevor wir eine Antwort auf diese Frage geben, wollen wir mit einigen Worten auf die Frage eingehen, was Kolonialpolitik ist. Denn die Kolonialpolitik ist ja einer der wichtigsten Teile des modernen Imperialismus. Zwischen Imperialismus und neuester Kolonialpolitik, im weiteren Sinne des Wortes, wird oft sogar ein einfaches Gleichheitszeichen gesetzt.

Das Wort Kolonie stammt vom lateinischen colere kultivieren, bebauen. Verschiedene Schriftsteller haben als Kriterium verschiedene Merkmale des Begriffes “Kolonialpolitik” hervorgehoben. Roscher ist der Ansicht, dass das Alter des kolonisierenden Volkes entscheidend sei: es kolonisiert stets ein älteres Volk, der Kolonisation unterworfen ist ein mehr oder weniger junges Land. James Mill betrachtet als notwendiges Merkmal, dass die Kolonisten und das von ihnen gebildete Ganze in bestimmten rechtlichen und politischen Beziehungen zur Metropole oder zum Vaterlande stehen. Fallot behauptet, dass die höhere Stufe der Zivilisation beim kolonisierenden Volke und die Rückständigkeit der der Kolonisation unterworfenen Gebiete ein notwendiges Merkmal seien. Der gleichen Ansicht sind GuirauIt, Reinsch u. a.

Wakefield schreibt:

Unter Kolonie verstehe ich nicht ein Land wie Indien, sondern ein Land, das entweder noch gar nicht oder nur zum Teil bevölkert ist und in dem sich Auswanderer aus fernen Ländern ansiedeln. Dieses Gebiet ist dann eine Kolonie desjenigen Landes, aus dem die Auswanderer kommen. Es heißt darum das Heimatland. Diesen Prozess — und nur diesen Prozess — mit dessen Hilfe die Kolonie bevölkert wird, würde ich “Kolonisation” kennen. Die Unterordnung der Kolonie unter die Metropole ist keine wesentliche Bedingung für die Kolonisation. Die alten unabhängigen Kolonien Griechenlands waren wirkliche Kolonien. und nach meiner Ansicht sind die Vereinigten Staaten Amerikas auch heute noch Kolonien Englands. Die Kolonien zerfallen in zwei Klassen: in abhängige und unabhängige.”

Levis definiert die Kolonie als ein Gebiet, das entweder unmittelbar von der Metropole oder mit Hilfe einer untergeordneten Regierung verwaltet wird.1 Die englischen Schriftsteller unterstreichen das Merkmal der unmittelbaren politischen Abhängigkeit der Kolonie von der Metropole nicht so stark. Das entspricht in gewissem Sinne der englischen kolonialpolitischen Praxis. Die amerikanischen Politiker und Schriftsteller dagegen stellen gerade das Moment der politischen Abhängigkeit der Kolonie von der Metropole in den Vordergrund.

Dieser Ansicht ist zum Beispiel Reinsch. Er lässt in ökonomischer Beziehung eine weitgehendere Definition der Kolonie zu. In diesem Zusammenhang sagt er, dass z. B. Kanada in gewissem Sinne auch jetzt noch als französische Kolonie, oder Südamerika als deutsche Kolonie betrachtet werden könne. Aber seine politische Definition der Kolonie ist folgende: “Die Kolonie ist ein in bestimmter Entfernung liegendes Besitztum irgendeines nationalen Staates, das von einer der Metropole untergeordneten Regierung verwaltet wird. Die Kolonie kann von Bürgern der Metropole oder ihren Nachkommen bevölkert werden, oder ihre Bevölkerung kann vorwiegend zu einer anderen Rasse gehören. Aber auf jeden Fall muss: die Regierung der Kolonie diese oder jene Art der Unterordnung unter die Metropole anerkennen.”

Ein anderer Amerikaner, Snow, verwirft das Merkmal der höheren Zivilisationsstufe. Aus seinem Munde spricht der nüchterne Geschäftsmann der Bourgeoisie.

Die modernen französischen und deutschen Kolonialschriftsteiler bestehen meistenteils auf dem Merkmal der unbedingten politischen Unterordnung der Kolonie unter die Metropole.

James Mill, Leon Say, Leroy-Beauileu, ferner die deutschen Schriftsteller Heeren, Dedel, Roscher teilen die Kolonien in wirtschaftlicher Beziehung in drei Gruppen ein: 1. Handelskolonien, 2. Kolonien, die zur Ansiedlung von Auswanderern und 3. Kolonien, die zur Anpflanzung und Kultivierung verschiedener Produkte dienen.

Späterhin einigte man sich in der Literatur auf die Unterscheidung von nur zwei Gruppen: t. Ansiedlungskolonien für

Auswanderer, 2. Kolonien, die der Ausbeutung dienen.

In neuester Zeit (1908) führt Leroy-Beaulieu wieder die Einteilung in drei Gruppen ein: 1. colonies ou comptoirs de commerce, 2. colonies ordinaires ou de peuplement, 3. colonies de plantation ou d‘exploitation.2

Die Mehrzahl der angeführten Definitionen der “Kolonie” sind diktiert durch die Verhältnisse in der Epoche der alten Kolonialpolitik. Darum sind sie alle wenig befriedigend.

Die heutigen Beziehungen werden selbst von der Definition, die Marx im 1. Band des “Kapital” gibt, nicht erfasst. Marx schreibt: “Andererseits sind Wohlfeilheit des Maschinenprodukts und das umgewälzte Transport- und Kommunikationswesen Waffen zur Eroberung fremder Märkte. Durch den Ruin ihres handwerksmäßigen Produkts verwandelt der Maschinenbetrieb sie zwangsweise in Produktionsfelder seines Rohmaterials. So wurde Ostindien zur Produktion von Baumwolle, Wolle, Hanf, Jute, Indigo usw. für Großbritannien gezwungen. Die beständige “Überzähligmachung” der Arbeiter in den Länder der großen Industrie befördert treibhausmäßige Auswanderung und Kolonisation fremder Länder, die sich in Pflanzstätten für das Rohmaterial des Mutterlandes verwandeln, wie Australien z. B. in eine Pflanzstätte von Wolle. Es wird eine neue, den Hauptsitzen des Maschinenbetriebs entsprechende internationale Teilung der Arbeit geschaffen, die einen Teil des Erdballs in vorzugsweise agrikoles und den anderen Teil in vorzugsweise industrielles Produktionsfeld umwandelt. Die Revolution hängt zusammen mit Umwälzungen in der Agrikultur…”3

Heute hat sich bekanntlich das Bild in vielen Beziehungen geändert. Es genügt darauf hinzuweisen, dass die Länder mit stark entwickelter Industrie sich gerade jetzt nicht durch starke Emigration auszeichnen. Im Gegenteil, die größte Zahl der Auswanderer kommt jetzt aus den agrarischen Ländern.

Viel Wasser ist seither ins Meer gelaufen. Schon die Epoche der alten Kolonialpolitik zeichnete sieh nicht durch Humanität und friedliche kulturelle Kolonisationsarbeit aus, von der die Herren Bourgeois so gern in hohen Tönen sprechen. Wir werden weiter unten sehen, durch welche Grausamkeit diese Epoche charakterisiert wird.

W. Liebknecht hat einmal bemerkt, dass man die menschliche Kultur von der Kolonisation überhaupt nicht trennen könne. Er meinte damit so große Ereignisse in der Geschichte der Menschheit wie die Entdeckung und Kolonisierung Amerikas u. a. Jetzt versuchen die deutschen Sozial-Imperialisten4 diese Worte als Rechtfertigung der modernen imperialistischen Kolonialpolitik auszunutzen. Aber derselbe W. Liebknecht hat oft darauf hingewiesen, dass die heutige Kolonialpolitik untrennbar sei voll der Politik des Blutvergießens, der Vergewaltigung, des Raubes…

Keine schlechte Definition der modernen Kolonialpolitik gibt der bekannte deutsche bürgerliche Gelehrte Dr. G. Zoepfl: “Kolonien” — sagt er — “sind auswärtige Verwaltungsgebiete eines Staates für weltwirtschaftliche und weltpolitische Zwecke”, und er fährt fort: “Wenn die Kolonien als auswärtige Verwaltungskörperschaften für weltwirtschaftliche und weltpolitische Zwecke eines Staates bezeichnet werden, so soll damit gesagt sein, dass die weltwirtschaftlichen Zwecke das wesentliche Moment ausmachen, während die weltpolitischen noch dazu treten können, aber nicht müssen.”5

Mit der Offenheit eines Geschäftsmannes verwirft der Verfasser die Merkmale der “höher stehenden Nation”, der kulturellen Mission usw. Die Bourgeoisie betrachtet die Kolonien als Handelsobjekte. Kolonien werden verkauft, eingetauscht, verschenkt. Ihr ökonomischer Wert, ihre Bedeutung für den Weltmarkt, ihre ‚‚wirtschaftliche‘‘ Rolle — das ist es, wodurch die Bourgeoisie sich leiten lässt.

Die ökonomische Abhängigkeit der Kolonie — das ist das Wesentliche für die Bourgeoisie, für die Imperialisten unsrer Zeit. Natürlich ist auch die direkte politische Abhängigkeit, die direkte Zugehörigkeit zum betreffenden Staat wünschenswert für sie. Aber ist keine unbedingte Notwendigkeit. Zoepfl hat Recht, wenn er einfach von außerhalb der Landesgrenzen liegenden Territorien spricht. Diese Formulierung umfasst sowohl Kolonien, die in direkter und absoluter politischer Abhängigkeit von der Metropole stehen (z. B. Kiautschou in Beziehung zum Deutschen Reich bis 1914), als auch solche, die über eine verhältnismäßig große politische Selbständigkeit verfügen (z. B. Kanada im Verhältnis zu England).

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Die Definition, die der nüchterne Bourgeois Zoepfl dem Begriff “Kolonialpolitik” gibt, führt uns nahe an den Begriff Imperialismusheran. Dieses Wort hat seinen Ursprung im lateinischen “imperium” (Reich). In seiner allgemeinen Bedeutung bringt es das Bestreben zum Ausdruck, ein einziges, mächtiges, die ganze Weht umfassendes Reich zu bilden, ein Bestreben, das dieser oder jener Staat durch Eroberungen, oder durch Kolonisation, oder durch eine “friedliche” politische Vereinigung der schon bestehenden staatlichen Einheiten, oder durch gleichzeitige Anwendung all dieser Methoden verwirklichen kann. In diesem Sinne spricht man vom “Imperium Romanum”, von dem Reich, das Julius Caesar im Jahre 45 vor unserer Zeitrechnung schuf, als er seine persönliche Macht auf alle römischen Länder ausdehnte und diese Macht dadurch festigte, dass er sich den Titel Imperatorgab. Im gleichen Sinn kann man nicht nur vom römischen Reich sprechen, sondern auch vom griechischen Reich Alexanders von Makedonien, später vom Reich Karls des Großen usw.

Aber wenn wir vom modernen Imperialismus sprechen, so haben wir den Imperialismus im Auge, der auf dem Boden des hoch entwickelten Kapitalismus gewachsen ist, den Imperialismus der kapitalistischen Bourgeoisie, den Imperialismus, dessen Träger das Finanzkapital ist.

Das charakteristische Merkmal des modernen Imperialismus ist der Zusammenhang zwischen Finanzkapital und Industriekapital. Will man die historische Rolle des Kapitals richtig einschätzen, so muss man verschiedene Arten von Kapital unterscheiden. Im dritten Band des “Kapital” hat Marx zum ersten Mal die Einteilung in industrielles Kapital, Handelskapital und Geldkapital vorgenommen. Kautsky, Hilferding, Bauer, Cunow6 und andere Marxisten haben bei der Weiterbearbeitung dessen, was Marx entdeckt hat, eine neue Kategorie festgelegt: das Finanzkapital.

Der Hauptfaktor der modernen industriellen Epoche ist die ungeheure Konzentration der Produktion, die Zentralisation des Kapitals durch monopolistische Vereinigungen und Unternehmungen (Trusts, Syndikate usw.). Gleichzeitig vollzieht sich die noch größere Zentralisation und Konzentration der Banken, die jetzt mit der Industrie aufs innigste verknüpft sind, die im wirtschaftlichen Leben der kapitalistischen Länder eine immer größere Bedeutung gewinnen und es immer mehr beherrschen. Auch hierin kommt die Allmacht des Finanzkapitals zum Ausdruck, das die Staatsmacht sowohl der monarchischen wie der republikanischen Länder der eignen Gewalt unterstellt und seine Diktatur auf alle Schichten der besitzenden Klassen ausdehnt.

Hilferding schreibt: “Die Abhängigkeit der Industrie von den Banken ist also die Folge der Eigentumsverhältnisse. Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Andrerseits muss die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer größerem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital. In Wirklichkeit ist der größte Teil des so bei den Banken angelegten Kapitals in industrielles, produktives Kapital (Produktionsmittel und Arbeitskraft) verwandelt und im Produktionsprozess fixiert. Ein immer größerer Teil des in der Industrie verwendeten Kapitals ist Finanzkapital, Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen.

Das Finanzkapital entwickelt sich mit der Entwicklung der Aktiengesellschaft und erreicht seinen Höhepunkt mit der Monopolisierung der Industrie. Der industrielle Ertrag gewinnt einen sicheren und stetigeren Charakter. Damit gewinnt die Anlagemöglichkeit von Bankkapital in der Industrie immer weitere Ausdehnung. Aber die Verfügung über das Bankkapital hat die Bank, und die Herrschaft über die Bank haben die Besitzer der Majorität der Bankaktien. Es ist klar, dass mit zunehmender Konzentration des Eigentums; die Besitzer des fiktiven Kapitals, das die Macht über die Banken, und desjenigen, das die Macht über die Industrie gibt, immer mehr identisch werden. Dies um so mehr, als wir gesehen haben, wie die Großbank immer mehr auch die Verfügungsgewalt über das fiktive Kapital gewinnt.

Haben wir gesehen, wie die Industrie immer mehr in Abhängigkeit gerät vom Bankkapital, so bedeutet das durchaus nicht, dass auch die Industriemagnaten abhängig werden vom Bankmagnaten. wie vielmehr das Kapital selbst auf seiner höchsten Stufe zum Finanzkapital wird, so vereinigt der Kapitalmagnat, der Finanzkapitalist, immer mehr die Verfügung über das gesamte nationale Kapital in der Form der Beherrschung des Bankkapitals. Auch hier spielt die Personalunion eine wichtige Rolle.

Mit der Kartellierung und Trustierung erreicht das Finanzkapital seine höchste Machtstufe, während das Handelskapital seine tiefste Erniedrigung erhebt. Ein Kreislauf des Kapitalismus hat sich vollendet. Bei Beginn der kapitalistischen Entwicklung spielt das Geldkapital eine bedeutende Rolle sowohl für die Akkumulation des Kapitals als auch bei der Verwandlung der handwerksmäßigen Produktion in kapitalistische. Dann aber beginnt der Widerstand der “produktiven”, d. h. der Profit ziehenden Kapitalisten, also der kommerziellen und industriellen gegen die Zinskapitalisten7

Die Mobilisierung des Kapitals und die stets stärkere Ausdehnung des Kredits ändert allmählich die Stellung der Geldkapitalisten vollständig. Die Macht der Banken wächst, sie werden die Gründer und schließlich die Beherrscher der Industrie, deren Profite sie als Finanzkapital an sich reißen, ganz wie einst der alte Wucherer in seinem ‚Zins‘ den Arbeitsertrag des Bauern und die Rente des Grundherrn … Das Bankkapital war die Negation des Wucherkapitals und wird selbst vom Finanzkapital negiert. Dieses ist die Synthese des Wucher- und Bankkapitals und eignet sich auf einer unendlich höheren Stufe der ökonomischen Entwicklung die Früchte der gesellschaftlichen Produktion an.

Ganz anders aber die Entwicklung des Handelskapitals. Die Entwicklung der Industrie drängt es von der herrschenden Stellung über die Produktion, die es in der Manufakturperiode innehatte, allmählich zurück. Aber dieser Rückgang bleibt definitiv, und die Entwicklung des Finanzkapitals reduziert den Handel absolut und relativ und verwandelt den einst so stolzen Kaufmann in einen Agenten der vom Finanzkapital monopolisierten Industrie.”8

In allen kapitalistischen Ländern beobachten wir ein ungeheures, unaufhaltsames Wachstum der Produktivkräfte. Überall sehen wir eine starke Tendenz zur Internationalisierung des wirtschaftlichen Lebens. Tausend Fäden gehen von einem Land zum andern hinüber. Jeder neue Eisenbahnkilometer, jedes Unterseekabel, jeder neue Telegraphendraht müssten, so scheint es, diese Internationalisierung fördern. Aber wir leben im Kapitalismus, und zwar in seiner imperialistischen Phase. Und aus dem Innern des Imperialismus entstehen mächtige, entgegenwirkende Tendenzen. Die Bourgeoisie eines jeden Landes ist bestrebt, ihr “Vaterland” in einen selbständigen wirtschaftlichen Organismus umzuwandeln, der fähig wäre, all seine Bedürfnisse im Rahmen der “nationalen” Arbeit und “nationalen” Produktion zu befriedigen.

Das Schutzzollsystem der letzten Epoche spielt in dieser Beziehung eine sehr wichtige Rolle. Die frühere internationale Arbeitsteilung (die Teilung in Industrie- und Agrarländer) wird äußerst schwierig. Jeder Staat ist jetzt bestrebt, gleichzeitig Agrar- und Industriestaat (agrarisch-industriell) zu sein und selbst seine wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Um ihre eigene nationale Industrie zu fördern, mussten alle Länder — mit Ausnahme von England, das auf industriellem Gebiet an erster Stelle stand — zu Zöllen Zuflucht nehmen, die zunächst nur Erziehungszölle waren, aber später in ständige Zölle umgewandelt wurden. So entstand der Schutzzoll.

Im Jahre 1846 beseitigte England die Getreidezölle. Bald triumphierte in England endgültig das System des Freihandels. Aber wie wir gesehen haben, wird jetzt auch in England der freie Handel durch das Schutzzollsystem abgelöst. Selbst die englischen Kolonien haben zur Hebung ihrer Industrie Zölle eingeführt, die sie gegen ihre eigene Metropole absperren.

In den sechziger Jahren triumphiert auf dem europäischen Kontinent vorübergehend das System der liberalen Handelsverträge. Aber schon in den siebziger Jahren zeigt sich — unter dem Einfluss der allgemeinen Krise — eine klar hervortretende Neigung zu Schutzzöllen. In jedem Lande geschieht das auf eigene Weise. Außer den wirtschaftlichen Ursachen haben hierfür auch die Eigenheiten des politischen Lebens eines jeden Landes Bedeutung.9

Im Jahre 1879 geht Deutschland zum System hoher Zölle über und führt gleichzeitig Schutzzölle für Fabrikate und Getreide ein. Die liberale Handelspolitik hat Schiffbruch erlitten. In den Jahren 1885 und 1887 werden in Deutschland die Zölle von neuem erhöht. Im Jahre 1902 werden neue Tarife ausgearbeitet, die von den Grundbesitzern diktiert sind. Die Entwicklung vollzieht sich im Zeichen des engsten Bündnisses zwischen den Grundbesitzern und den Königen der Schwerindustrie.

Im Jahre 1881 führt Frankreich hohe Tarife ein. Im Jahre 1885 ergänzt es diese durch Agrarzölle. Im Jahre 1910 werden neue Tarife eingeführt, die auf dem Schutzzollsystem beruhen. In den achtziger Jahren beschreiten Russland und Amerika, Italien und Österreich-Ungarn den gleichen Weg, und 1910 schließt sich ihnen sogar Holland an.

Die Zölle steigen, das Wachstum des inländischen Marktes wird verzögert, die Preise der notwendigsten Bedarfsartikel werden immer höher, die Teuerung entwickelt sich zu einer wahren Geißel der Arbeiterklasse, die Löhne (auch nur die nominellen) steigen sehr langsam.

Die ganze Welt wird mit Zollbarrieren bedeckt. Die Handelsverträge werden zum Werkzeugen der Versklavung eines Landes durch die Bourgeoisie eines anderen. Um die Handelsverträge entstehen direkte Balgereien der kapitalistischen Cliquen der verschiedenen Länder — Balgereien, die der Rücken der Volksmassen auszuhalten hat.

So entstehen die Zollkriege.

Einen zehnjährigen Zollkrieg führte Frankreich gegen Italien (seit 1887), Russland gegen Deutschland (1892—1894), Frankreich gegen Spanien und die Schweiz (1893—1895), Deutschland gegen Kanada (1903—1910) Österreich-Ungarn gegen Serbien (1906 bis 1911), Bulgarien gegen die Türkei, Österreich-Ungarn gegen Rumänien (1886—1890), Österreich-Ungarn gegen Montenegro (1908—1911), Deutschland gegen Spanien (1894—1899) usw.

Die kapitalistischen Cliquen eines jeden Landes sind bemüht, die Verzollung der Einfuhr mit der Forcierung der Ausfuhr in Übereinstimmung zu bringen. Die Syndikate und Trusts, die der Idee nach die Produktion “regeln” sollen, sind in Wirklichkeit mit einer ganz anderen Aufgabe beschäftigt — mit dem Herauspressen der Extraprofite. Ihre größte Sorge ist die Stärkung des Exports. Hieraus entsteht eine besondere Art des Exports, der so genannte “Schleuderexport” oder das “Dumping”, — die Ausfuhr der Produkte zu so genannten Schleuderpreisen, d. h. ein Export zu äußerst niedrigen Preisen. Das “Dumping” ist für die Trusts und Kartelle nur darum möglich, weil sie auf dem inländischen Markt, wo sie als Monopolisten auftreten, also innerhalb ihres “Vaterlandes”, die Preise hochschrauben können, um so wieder auf ihre Kosten zu kommen, — womit natürlich die Verbraucher ihres eigenen Landes belastet werden. Durch die ungeheure Entwicklung ihrer Produktion, durch deren quantitative Steigerung, gelingt es den Monopolisten, ihre Produktionskosten herabzusetzen; mit um so größerer Energie plündern sie dann den Massenverbraucher ihres eigenen Landes aus, d. h. den “eigenen” Arbeiter, den “eigenen” Bauer, den “eigenen” Kleinbürger.

Alle Länder streben nach einer forcierten Ausfuhr. Es entsteht ein vollkommener wirtschaftlicher Wirrwarr. Anarchie und Konkurrenz steigen.

Und selbst die internationalen Syndikate, diese neueste Erfindung der Wirtschaftspolitik, können die kapitalistische Welt nicht davor schützen, denn die Triebkraft auch dieser Syndikate ist nur der Profit.

Die Trusts und Syndikate — unter verschiedenen Benennungen und Formen und mit veränderten Funktionen —- spielen eine immer größere und größere Rolle im Leben der industriellen Länder. An erster Stelle, was Kartellierung anbetrifft — stehen die Vereinigten Staaten. Aber gleich hinter ihnen folgen England, Deutschland, Frankreich, Belgien und sogar Russland.

Die Herrschaft des Finanzkapitals wird im selben Maße charakterisiert durch das Wachstum der Konzentration und Zentralisation, durch die Entwicklung der Trusts und Kartelle, durch den wachsenden Einfluss der Banken usw., wie durch den an die Stelle des Freihandels tretenden Schutzzoll.

Der Schutzzoll steigert die Nachteile des kleineren ‘Wirtschaftsgebiets außerordentlich, indem er die Ausfuhr hemmt, somit die mögliche Betriebsgröße verkleinert, der Spezialisierung entgegenwirkt und dadurch die Produktionskosten ebenso steigert wie durch die Verhinderung rationeller internationaler Arbeitsteilung … Ist aber der Schutzzoll ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte und damit für die Industrie, so bedeutet er für die Kapitalistenklasse unmittelbar eine Erhöhung des Profils. Vor allem erschwert der Freihandel die Kartellierung, nimmt den kartellfähigen Industrien das Monopol auf dem inländischen Markt. Damit fallen aber die Extraprofite weg, die aus der Ausnutzung des Kartellschutzzolles fließen.10

Der Schutzzoll” — schrieb Kautsky schon im Jahre 1901 in seiner “Handelspolitik” — “ist nur ein Glied in dieser Kette des neuen industriellen Systems, das die jüngste und wahrscheinlich letzte Erscheinungsform der kapitalistischen Produktionsweise darstellt. Aber wer dieses eine Glied anerkennt, wird notwendigerweise gezwungen, wenn et konsequent sein will, auch die anderen anzuerkennen, die mit logischer Notwendigkeit damit zusammenhängen … (Es) erwächst an Stelle des Geistes des Freihandels ein Geist der Gewaltsamkeit in der industriellen Bourgeoisie. Ehedem friedliebend, träumte sie vom ewigen Frieden, verurteilte sie den Krieg als ein barbarisches Überbleibsel aus dem Mittelalter, das nur noch feudalen und dynastischen Zwecken dienen könne; heute wird sie selbst immer mehr vom Geiste der Gewaltsamkeit erfüllt, wie sehr auch einzelne ihrer Ideologen darüber klagen … Nun geht man weiter und verlangt die gewaltsame Eroberung eines Marktes, auf dem man eine Vorzugsstellung genießt, also Kolonial- und Expansionspolitik. Diese wieder führt Konflikte oder die Gefahr von Konflikten mit den konkurrierenden Industriemächten herbei; aus dem Kampf mit gewaltsamen ökonomischen Mitteln droht ein Kampf mit Pulver und Blei, Dynamit und Lyddit zu werden…

Die Förderung des Schutzzolls heißt heute die direkte Förderung jenes Systems, das darauf hinausläuft, alle Machtmittel der Nation einer Handvoll Kapitalisten zur Verfügung zu stellen, damit diese im Stande sind, jeden Gegner, innerhalb wie außerhalb des Landes gewaltsam niederzuschlagen oder auszuhungern.”11

Die Schutzzölle schädigen die Entwicklung der Produktivkräfte. Und trotzdem werden sie von den Herrschern des Finanzkapitals immer und überall verteidigt. England war lange Zeit hindurch das klassische Land des Freihandels. Aber auch der englische Imperialismus sagt sich immer mehr und mehr los von dieser Tradition und wendet sich dem Schutzzollsystem zu. Es genügt an die Agitation Chamberlains zugunsten einer engeren Vereinigung der Metropole mit allen englischen Kolonien zum einem einzigen “größeren” britischen Reich zu erinnern. Es genügt an seinen Kampf für die Einführung von Differentialtarifen in den englischen Kolonien zu erinnern, — von Tarifen, die die aus der englischen Metropole kommenden Waren gegenüber den aus den übrigen Ländern bevorzugen und die eigentlich nur den Beginn des Schutzzollsystems bedeuten, das an die Stelle des Freihandels tritt.12

Die Idee der Einführung des Schutzzolls an Stelle des freien Handels findet immer mehr Anhänger auch im Lager des englischen Liberalismus. In dem von uns genannten Buch kann man eine Menge Beweise dafür finden, dass das Schutzzollsystem sich einer immer größeren Popularität unter den Liberalen erfreut. “In unserem Land ist es nicht nur möglich, sondern es ist zu einer brennenden Notwendigkeit geworden, dass wir uns im Kampf gegen fremde Staaten mit einem starken Selbstschutz (durch Zölle) umgeben” — so lautete ein Aufruf der englischen Liberalen zugunsten des Schutzzollsystems im Jahre 1903. Unter diesem Aufruf standen die Unterschriften der bekannten englischen Liberalen: Herzog von Sutherland, L. S Amery, S. Bourne, T. A. Brassey, J. C. Dobbie, A. F. Firth, Benjamin Kidd, H. J. Mackinder, J. Saxon Mills, James Paxman, Charles Fennant, H. E. Vollmer u .a.13 Seit 1903 hat die Idee der Schutzzölle in England ungeheure Fortschritte gemacht. Die Broschüren Chamberlains “Drei Jahre Handel, und was wir aus ihnen zu lernen haben”, “Vier praktische Probleme”, “Der Cobden-Freihandel und die Cobden-Liga” usw. und seine Reden hatten großen Erfolg. Eine Reihe von Konferenzen, die er im Namen der englischen Regierung mit den Vertretern aller wichtigsten englischen Kolonien abhielt, wurden zu Merksteinen im Kampf der englischen Kapitalisten für die Einführung der Schutzzölle an Stelle des Freihandels. Im Jahre 1885 fragte Engels:

Was wird die Folge sein, wenn kontinentale und besonders amerikanische Waren in stets wachsendem Maße hervorströmen, wenn der jetzt noch den englischen Fabriken zufallende Löwenanteil an der Versorgung der Welt von Jahr zu Jahr zusammenschrumpft? Antworte, Freihandel, du Universalmittel!”14

Jetzt ist die Antwort gegeben. Sie heißt: moderner Imperialismus.

Die moderne kapitalistische Expansionspolitik (erscheint) als Erbin des alten Liberalismus”, sagt Otto Bauer sehr richtig. “Wo immer das englische Kapital Absatzwege, wo immer es Anlagesphären sucht, stößt es auf den Wettbewerb der anderen kapitalistischen Staaten. So muss denn England wie jeder andere Staat heute andere Wege gehen, um das alte Ziel zu erreichen… Der alte englische Freihandel war kosmopolitisch: er reißt die Zollgrenzen nieder, will die ganze Welt zu einem Wirtschaftsgebiet zusammenschließen … Anders der moderne Imperialismus. Er will nicht aus Ländern ein einheitliches Wirtschaftsgebiet bilden, sondern hegt das eigne Wirtschaftsgebiet mit einer Zollgrenze ein; er erschließt minder entwickelte Länder und sichert dort den Kapitalisten seines Landes Anlagesphären und Absatzgebiete, von denen er die Kapitalisten anderer Länder ausschließt. Er träumt nicht Frieden, sondern bereitet den Krieg vor.”15

Die großen, von Weißen bewohnten britischen Kolonien Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika sind selbständige Staaten. Sie sperren sich durch Schutzzölle gegen das Mutterland ab, um ihre eigne junge Industrie zu fördern. Politisch und wirtschaftlich trennen sie sich immer weiter vorn Mutterland. Ist der Tag noch fern, da sie sich völlig von ihm losreißen und das große britische Weltreich zerfällt? Das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit ist zu schwach, sie an das Vereinigte Königreich zu binden; durch Bande des Interesses müssen Mutterland und Kolonien eng verknüpft werden, wenn das britische Reich nicht zerfallen soll. Dazu bietet sich günstige Gelegenheit, wenn England nur den veralteten Freihandel preisgibt. Das Mutterland soll sich mit einer Zollgrenze umgürten und die Erzeugnisse der Landwirtschaft und Viehzucht der Kolonien mit geringerem Zoll belegen als die konkurrierenden Waren der anderen Staaten, dafür sollen die Kolonien dem Mutterlande Vorzugszölle gewähren.”16

So betrachtet das Kapital jetzt den Freihandel als überflüssig und schädlich, selbst im klassischen Land des Freihandels. Die Schutzzölle schädigen die Produktivkräfte? Was tut’s! “Die Hemmung der Produktivität infolge Verkleinerung des Wirtschaftsgebiets sucht es (das Kapital) wettzumachen nicht durch Übergang zum Freihandel, sondern durch Erweiterung des eignen Wirtschaftsgebiets und Forcierung des Kapitalexports.”17

Die Kapitalausfuhr spielt im ganzen modernen sozialökonomischen Leben eine ungeheure Rolle. Der jüngste Imperialismus wird charakterisiert nicht durch Warenausfuhr, sondern durch die Ausfuhr von Kapital.

Hilferding gibt dem Begriff “Kapitalexport” folgende Definition: “Wir verstehen unter Kapitalexport die Ausfuhr von Wert, der bestimmt ist, im Ausland Mehrwert zu hecken, es ist dabei wesentlich, dass der Mehrwert zur Verfügung des inländischen Kapitals bleibt. Wenn z. B. ein deutscher Kapitalist mit seinem Kapital nach Kanada auswandert, dort produziert und nicht mehr in die Heimat zurückkehrt, so bedeutet das Verlust für das deutsche Kapital. Es ist nicht Kapitalexport, sondern Kapitalübertragung, Entnationalisierung des Kapitals.”18

Die Kapitalausfuhr nimmt immer größeren Umfang an. (Einzelheiten und Zahlen bringen wir in den folgenden Kapiteln.) Die an Kapital reichen Länder führen es nicht nur in die Kolonien, im engeren Sinne dieses Wortes, aus, sondern auch in politisch unabhängige selbständige Länder. So führt Russland seine Kapitalien nicht nur in die Kolonien aus, sondern auch z. B. in die Vereinigten Staaten Amerikas. “Man hat ausgerechnet,” sagt Sartorius in seinem Werk “Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande” — “dass England gegenwärtig aus den Vereinigten Staaten an Kapitalgewinn und Zins etwa eine Milliarde Mark (im Jahr) bezieht.”19 Frankreich führt sein Kapital nicht nur in die Kolonien aus, sondern auch nach Russland, Spanien usw.

Der Kampf um die Anlagesphären des Kapitals, d. h. um Gebiete für den Kapitalexport, spielt im modernen wirtschaftlichen und politischen Leben eine ungeheure Rolle. Welches Land wird Eisenbahnen bauen, Konzessionen erhalten in den Kolonien und selbständigen Ländern, die Bedarf an importiertem Kapital haben? — das ist die wichtigste Frage, die die auswärtige Politik der kapitalistischen Regierungen bestimmt, die Kriege hervorruft usw.

Das an Kapital reichste Land, England, beherrscht heute die ganze Welt, obgleich es die industrielle Hegemonie bereits verloren hat. “England ist das Land der Rentner” — sagt Sartorius. Schulze-Gaevernitz kommt in seiner Arbeit “Der britische Imperialismus” zu der Schlussfolgerung, dass es zu Beginn des XX. Jahrhunderts in England genau eine Million Rentner gab.20 Rechnet man noch ihre Familien hinzu, so bilden sie 10-11 Prozent der Bevölkerung. Und dieser ungeheure Reichtum Englands an Kapital drückt dem ganzen Leben des Landes seinen Stempel auf, bestimmt sein Schicksal und die Politik aller Parteien und Klassen des Landes. Ein Kern von Wahrheit ist darin, wenn Sartorius sagt: “Das Vereinigte Königreich (kannte) keinerlei Sozialdemokratie von irgendwelcher Bedeutung. Der ungeheure Reichtum, der in den letzten hundert Jahren in England angesammelt worden ist, ist, obgleich die Industrie zurückgegangen ist, ein Beschützer der Klasse der gelernten Arbeiter geworden.” Und er zitiert zustimmend Schulze-Gaevernitz: “Die gelernte und hoch entlohnte Arbeiterschaft der englischen Großindustrie hat heute begriffen, dass die schwer errungene Höhe ihrer Lebenshaltung mit der politischen Macht Englands steht und fällt.”21

Hier — kann man sagen — liegt die ganze Philosophie des heutigen Sozialchauvinismus: die Arbeiter eines jeden “Vaterlandes” sind persönlich interessiert an der Macht ihres vaterländischen Imperialismus…

Sartorius irrt, wenn er denkt, die Sozialdemokratie sei die Partei der gelernten, hoch bezahlten Arbeiter. Wir sind nicht die Partei der Arbeiteraristokratie, wir sind die Partei der Arbeiterklasse, Herr Sartorius! Aber Sartorius hat die Tatsache richtig beobachtet, dass die an Kapital reiche imperialistische Bourgeoisie außer allen übrigen Möglichkeiten, auch über die Mittel verfügt, bedeutende Schichten der Arbeiteraristokratie zu bestechen und zu demoralisieren und so die Arbeit der Sozialdemokratie zu untergraben.

Aber dies nur nebenbei Jetzt ist es nur wichtig, auf die ungeheure Rolle hinzuweisen, die der Kapitalexport im modernen Imperialismus spielt. Die Konkurrenz um die neu eröffneten Anlagesphären bringt neue Gegensätze und Konflikte zwischen den kapitalistischen Staaten selbst mit sich. Andererseits wächst ständig die Reibungsfläche zwischen den als Objekte für den Kapitalexport dienenden Ländern und den herrschenden Klassen der dieses Kapital importierenden Länder. Die herrschenden Klassen versuchen, sich die Staatsgebiete, in die sie ihr Kapital einführen, möglichst ganz zu unterwerfen. Diese Staatsgebiete dagegen sind bestrebt, sich eine möglichst große Unabhängigkeit von den Ländern, die ihr Kapital zu ihnen bringen, zu sichern. “Diese Unabhängigkeitsbewegung bedroht das europäische Kapital gerade in seinen wertvollsten und aussichtsreichsten Ausbeutungsgebieten, und immer mehr kann es seine Herrschaft nur durch stete Vermehrung seiner Machtmittel erhalten.”

Daher das wahnsinnig rasche Wachstum des Militarismus, der dauernde Ruf aller Kapitalisten, die in fremden Ländern interessiert sind, nach der starken Staatsmacht, deren gepanzerte Faust fähig wäre, ihre Interessen immer und überall, selbst in den entferntesten Winkeln der Welt zu verteidigen. Am wohlsten natürlich fühlt sich das Exportkapital, wenn die Staatsmacht seines “Vaterlandes” sich ein neues Gebiet vollkommen unterwirft (es “annektiert”, für 100 Jahre “pachtet” usw.). Dann sind seine Interessen am besten gesichert, es ist geschützt vor dem Eindringen eines rivalisierenden Exportkapitals, es genießt eine privilegierte Lage, der Staat gibt ihm durch seine Armee eine Garantie für seine angelegten Gelder und Profite usw.

So trägt der Kapitalexport zur Stärkung der imperialistischen Politik bei, so nährt und entwickelt er den modernen Imperialismus.22

Durch eine starke Tendenz zum Export des Industriekapitals werden augenblicklich die industriell fortgeschrittensten Länder — Deutschland und die Vereinigten Staaten Amerikas — charakterisiert. Hier hat die industrielle Entwicklung — sowohl in technischer als in organisatorischer Beziehung — die neuesten Formen angenommen. An zweiter Stelle stehen in dieser Beziehung England und Belgien. Die übrigen Länder der alten kapitalistischen Entwicklung nehmen am Kapitalexport mehr in der Form von Leihkapital teil, als durch Einrichtung von Fabriken usw. Auf dem Gebiet der Ausfuhr von Leihkapital nimmt Frankreich eine der ersten Stellen ein. Allein die russische Anleihe in Frankreich betrug im Jahre 1906 — nach einer Berechnung von Sartorius — 9 Milliarden. Im Jahre 1914 betrug sie 14 bis 18 Milliarden. Ein und dieselben Länder können gleichzeitig Kapitalien exportieren und importieren. Die Vereinigten Staaten z. B. exportieren in hohem Maße Industriekapital nach Südamerika und importieren gleichzeitig aus England, Holland usw. für die eigne Industrie notwendiges Leihkapital in der Form von Bonds und Obligationen.23 Und selbst ein Land wie Russland. das ständig Bedarf hat an Kapital, das aus anderen Ländern zufließt, führt selbst — wenn auch verhältnismäßig nicht viel — Kapital nach dem Balkan usw. aus.

Die Konkurrenz unter den verschiedenen finanzkapitalistischen Cliquen um die Anlagesphären hat Europa oft vor die Möglichkeit eines Weltkrieges gestellt. Es genügt, an Marokko zu erinnern. Wie viel hohe “patriotische” Worte sind in Deutschland gesprochen worden über den Umstand, dass Frankreich und England den Interessen des deutschen Vaterlandes nicht Rechnung tragen wollen usw. In Wirklichkeit aber ging es — außer um den direkten Raub dieses oder jenes Stückes afrikanischen Gebiets — nur darum, dass auch das deutsche Kapital an den Konzessionen auf Eisenbahnen, Häfen, Telegraphen, öffentliche Arbeiten usw. seinen Teil haben wollte. Sowohl in den türkischen als in den marokkanischen Konflikten zwischen Deutschland und Frankreich handelte es sich hauptsächlich um den Konkurrenzkampf zwischen der “Banque Française” und der “Deutschen Bank” zwischen Rouvier und Helfferich, zwischen Schneider-Creusot und Krupp, mit einem Wort, zwischen den Haifischen des Finanzkapitals oder, wie die Bourgeoisie sie liebevoll nennt, den “Geldmarschällen” des französischen und deutschen Kapitals. Auf der Friedenskonferenz zu Algeciras feilschten diese beiden Teile wie kleine Krämer, bis sie die Konzessionen und anderen Güter untereinander verteilt hatten. Die deutschen “Patrioten” beruhigten sich nicht eher, bis dem deutschen Kapital ein bestimmter Anteil an den Anleihen usw. gesichert war.24 Sonst drohte die deutsche Regierung — die treue Sklavin der deutschen Imperialisten — Frankreich mit einem Kriege.

So wird das Finanzkapital zum Träger der Idee der Stärkung der Staatsmacht mit allen Mitteln. So wird das Finanzkapital zur Haupttriebkraft des Militarismus. Der Antagonismus zwischen den größten imperialistischen Mächten — in erster Linie zwischen England und Deutschland — nimmt schon seit langer Zeit die schärfsten Formen an. Dass dieser Antagonismus eine gewaltsame Lösung finden muss, d. h. dass er mit einem Krieg ausgehen wird, das haben die Marxisten schon viele Jahre vor dem Kriegsausbruch 1914 vorausgesagt.

Diese gewaltsame Lösung wäre längst eingetreten — schreibt Hilferding im “Finanzkapital” — wenn nicht entgegengesetzte Ursachen entgegengewirkt hätten. Denn der Kapitalexport schafft selbst Tendenzen, die einer solchen gewaltsamen Lösung widerstreben. Die Ungleichheit der industriellen Entwicklung bewirkt eine gewisse Differenzierung in den Formen des Kapitalexports … Das führt dazu, dass z. B. französisches, holländisches, in hohem Maße aber auch englisches Kapital zum Leihkapital wird für Industrien unter deutscher und amerikanischer Leitung. So entstehen Tendenzen zu einer Solidarität internationaler Kapitalsinteressen. Französisches Kapital wird als Leihkapital interessiert an den Fortschritten deutscher Industrien in Südamerika etc.”25 Für den Fortschritt der Industrien, für die Sicherheit der in anderen Ländern angelegten Gelder sei dem Finanzkapital der Frieden wünschenswerter als der Krieg.

Eine derartige Tendenz — Hilferding nennt sie die Tendenz zu einer Solidarität internationaler Kapitalsinteressen — ist theoretisch möglich und bis zu einem gewissen Grade ist sie vorhanden. Manche Schriftsteller jedoch überschätzen sie und gelangen so zu einer Verneinung des imperialistischen Charakters des letzten Krieges. Das Finanzkapital habe mit diesem Kriege nichts zu tun behauptete z. B. der bekannte russische Historiker M. N. Pokrowski. Denn das Finanzkapital sei am Frieden interessiert: während eines Krieges würden die auswärtigen Kapitalien einfach konfisziert usw.26

Diese Ansicht ist vollkommen falsch. Eine schwache Tendenz zur “Solidarität” ist vorhanden. Aber anderseits ist auch, wie wir gesehen haben, eine stark entwickelte entgegengesetzte Tendenz vorhanden. Welche von diesen Tendenzen überwiegt — wie Hilferding richtig sagt — ist in den konkreten Fällen verschieden und hängt vor allem ab von den Gewinnaussichten, die durch die Ausfechtung des Kampfes eröffnet werden.27

Die von den kriegführenden Regierungen während des letzten Krieges beschlagnahmten Kapitalien halten sich erstens zum Teil gegenseitig das Gleichgewicht. Zweitens halten diesen Kapitalien auch die Profite das Gleichgewicht, die die Könige der Schwerindustrie schon während des Krieges und dank dem Kriege in die Tasche steckten. Und drittens gelten diese Kapitalien nicht viel im Vergleich zu den Vorteilen, die den Imperialisten, sagen wir Englands oder Deutschlands oder Frankreichs, der Sieg ihres “Vaterlandes” über den mächtigen Konkurrenten verheißt.

Außerdem muss noch Folgendes im Auge behalten werden: Zweifellos wird der Sieger als eine der Friedensbedingungen die Aufhebung der Beschlagnahme und die Anerkennung der Schuldforderung verlangen, die den Kapitalisten der Siegerkoalition die Sicherheit ihrer in die besiegten Länder ausgeführten Kapitalien garantiert. Bei Ausbruch des Krieges aber hoffen beide Parteien, als Sieger aus dem Kampf hervorzugehen. Natürlich besteht ein gewisses Risiko, mit dem die imperialistischen Cliquen sich abfinden müssen.

Wir können als allgemeines Gesetz behaupten, dass das Finanzkapital die Regierungen der verschiedenen Länder zu immer neuen Rüstungen zu Wasser und zu Lande treibt, dass der Imperialismus eine ganze Ära von Kriegen mit sich bringt, dass er den morgigen Tag ungewiss erscheinen lässt, jedes Gleichgewicht stört und die Verhältnisse in Europa, Asien und Amerika mit ungeheurer Kraft revolutioniert.

Kautsky hat die Tatsachen richtig geschildert, als er sagte, dass das industrielle Kapital, die Klasse der industriellen Unternehmer, anfangs ganz andere Tendenzen an den Tag legen als das Handels- und Finanzkapital. Das industrielle Kapital neigt zum Frieden, zur Beschränkung der absoluten staatlichen Gewalt durch parlamentarische und demokratische Institutionen, es neigt zur Sparsamkeit im Staatsbudget und wendet sich gegen die Verzollung der notwendigen Bedarfsartikel und des Rohmaterials. Auch die industriellen Zölle betrachtet es oft nur als Resultat industrieller Rückständigkeit, das mit dem Wachstum des wirtschaftlichen Fortschritts verschwinden muss.

Das Finanzkapital dagegen und die Klasse der Großgrundbesitzer tritt für die absolute Staatsgewalt ein, für die Durchführung ihrer Forderungen auf dem Gebiet der inneren und äußeren Politik selbst mit gewaltsamen Mitteln. Das Finanzkapital hat gerade ein Interesse daran, dass die Staatsausgaben und Staatsschulden sich vergrößern. Es steht auf gutem Fuße mit den Großgrundbesitzern und hat nichts dagegen, dass man diese mit Agrarzöllen verwöhnt.

Die wirtschaftliche Entwicklung hat das Geldkapital rascher zur Macht gebracht als das Industriekapital. Im vorigen Jahrhundert hatte das industrielle Kapital die Macht in Händen, die Geldkapitalisten waren in den Hintergrund gedrängt worden. Doch war das nur ein Übergangsstadium. Schließlich gewann ein anderes Kapital die Oberhand. Die Form der Aktiengesellschaften — die schon viel früher für das Handels- und Geldkapital eine große Rolle gespielt hatte — bürgerte sich im Industriekapital fest ein.

Dadurch verbinden sich die größten und stärksten Teile des Industriekapitals mit dem Geldkapital. Die Trusts und die Zentralisation der Großbanken bringen diesen Prozess zum Abschluss.

Die staatlichen Tendenzen des Finanzkapitals sind jetzt zu den allgemeinen Tendenzen der wirtschaftlich herrschenden Klassen in den vorgeschrittenen kapitalistischen Ländern geworden.28

Und da diese staatlichen Tendenzen des Finanzkapitals stets zu Kriegen treiben, so charakterisiert die imperialistische Kriegspolitik die ganze Tätigkeit der heutigen “vorgeschrittenen” Regierungen, die nur die Handlanger des Kapitals sind.

Der Appetit der Finanzcliquen ist unersättlich. Je mehr sie besitzen, um so mehr wollen sie noch haben, und um so gewagter wird ihr Spiel. In seiner Jagd nach Absatz- und Rohstoffmärkten, nach Anlagesphären, “Einflusssphären”, Kolonien, Konzessionen, nach allen möglichen mit dieser Wirtschaftspolitik verbundenen staatlichen und sozialen Privilegien für die herrschenden Klassen, hat das Kapital zur Teilung fast der ganzen Welt unter einige “Großmächte” und zum blutigen Kampf zwischen diesen um das beste Stück der Beute geführt. Hieraus entstand der Kampf um die Weltherrschaft, die Tendenz der großen kapitalistischen Staaten zur Bildung von Weltreichen, hieraus — der imperialistische Kampf, in den nach Europa auch Japan und die Vereinigten Staaten von Amerika immer mehr hineingezogen werden.

Der klassische Vertreter des klassischen englischen Imperialismus, Chamberlain, schloss eine seiner berühmten Reden zur Verherrlichung des Imperialismus (gehalten am 17. Januar 1903 in Johannesburg) mit den Worten: “Die Zeit der kleinen Königreiche und des kleinen Wetteiferns ist vorbei. Die Zukunft gehört den Großstaaten.” — Chamberlain hat nicht zu Ende gesprochen: den Weltreichen.

Die Sozialisten treten auch nicht für kleine Staaten ein. Unter sonst gleichen Bedingungen fordern sie große zentralisierte Staaten, aber Staaten, die sozialistische Republiken sind, die für alle Nationen das Recht der politischen Selbstbestimmung anerkennen, die auf dem Prinzip der vollen nationalen Gleichberechtigung beruhen. Die Imperialisten aller Länder hingegen brauchen “Großmächte” als Werkzeuge in Händen der Bourgeoisie der herrschenden Nation zur Ausbeutung vieler Millionen Menschen, die nicht zur herrschenden Nation gehören, die die Kolonien bevölkern oder das Unglück haben, in Ländern zu leben, die in Abhängigkeit von den machtgierigen Cliquen des europäischen Kapitals geraten sind.

Die heutigen internationalen Diktatoren des Finanzkapitals bilden in Europa ein kleines Häuflein von vielleicht ein paar hundert Menschen. Die Häupter der größten Banken, die Börsenkönige, die Leiter der wichtigsten Trusts und Kartelle, die Stahl- und Eisenkönige, die Vorsitzenden der wichtigsten Eisenbahngesellschaften und die übrigen Milliardäre, die tatsächlich heute in Europa über Krieg und Frieden entscheiden, können fast alle mit Namen genannt werden. So gering an Zahl ist diese Clique.

Francis Delaisi hat im Jahre 1910 in seinem interessanten Buch “La democratie et les financiers” einen solchen Versuch in Bezug auf Frankreich gemacht. Auf 15 Seiten seines Buches gab er eine ziemlich vollständige Aufstellung der Namen aller größten Vertreter des französischen Finanzkapitals. Und er hat eine Reihe von Tabellen aufgestellt und sie so angeordnet, dass man sofort sieht, in wie viel Banken, metallurgischen Unternehmungen,
Eisenbahngesellschaften usw. diese Leute wirtschaften; Durch Zusammenfassung seiner Angaben haben wir folgendes Bild erhalten: Im ganzen sind 53 Namen genannt, darunter Rothschild, Schneider, Rostand, die Barone Rostand Duval, Marquis de Froudeville, Fürst von Comoudeau, Adam, Einard, Rene Brice, Chubonneau u. a. Diese Herren wirtschaften in 108 französischen, kolonialen und auswärtigen (türkischen, niederländischen u. a.) Banken. Darunter die Großbanken: Crédit Lyonnais, Societé Générale, Banque Ottomane, Union Parisienne, Banque de France, Comptoir d‘Escompte, Banque Russo-Chinoise, Banque d‘lndo-Chine, Credit Industriel, Banque Transatlantique, Banque Tunisie u. a. Weiter beherrschen diese Herren 105 metallurgische Unternehmungen und Bergwerke Frankreichs und seiner Kolonien, französische Unternehmungen in Russland usw. Darunter Creusot, die goldindustriellen Gesellschaften in Südafrika, Carmaux, die Unternehmungen im Donezbecken Russlands usw. Ferner übt dasselbe Häuflein von Kapitalmagnaten seine Diktatur in 101 Eisenbahn- und Transportgesellschaften aus. Und schließlich verfügen sie noch über 117 verschiedene andere Unternehmungen und Monopolgesellschaften, darunter die Aktiengesellschaft des Suezkanals, viele wichtige Unternehmungen in den Kolonien, Versicherungsgesellschaften, Gasfabriken usw.
29


Zahl der Direktorposten

Es nehmen in den Instituten Posten ein

Gesamtsumme der Kapitalien dieser Institute

J. P. Morgan & Co

63

38

10 036.000.000

First National Bank of New York

89

48

11 393.000.000

Guaranty Trust Co. of New York

160

76

17 342.000.000

Bankers Trust Co. of New York

113

55

11 184.000.000

National City Bank of New York

86

47

13 205.000.000

Kuhn, Loch & Co

15

12

3 011.000.000

National Bank of Commerce

149

82

13 165.000.000

Hanover National Bank

37

28

7 195.000.000

Chase National Bank of New York

67

48

11 527.000.000

Astor Trust Co

74

47

12 408.000.000

Blair & Co. of New York

12

11

1 784.000.000

Speyer & Co

10

10

2 443.000.000

Continental and Commercial National Bank of Chicago

49

27

6 969.000.000

First National Bank or Chicago

55

28

9 021.000.000

Illinois Trust und Savings Bank of Chicago

28

22

4 599.000.000

Kidder, Peabody & Co. of Boston

8

6

2 395.000.000

Lee, Higginson & Co. of Boston

11

-

3 199.000.000

Es ergibt sich, dass 50 bis 60 Finanzkapitalisten in Frankreich 108 Banken, 105 Großunternehmungen der Schwerindustrie, 101 Eisenbahngesellschaften und 117 andere wichtige industrielle und finanzielle Unternehmungen — zusammen 431 Unternehmungen — beherrschen, von denen jede über Hunderte von Millionen zu verfügen hat.

Das ist das Finanzkapital in persona!

Das gleiche Bild kann man auch in England, in Deutschland und — mutatis mutandis — selbst in Russland beobachten. 500 Großbankiers halten die ganze Welt in Händen.

Hier die Zahlenangaben über die Macht des Finanzkapitals in Nordamerika.

Auf Grund der Angaben des Bureau of Corporations bestanden Ende 1912 in den Vereinigten Staaten folgende 18 Großbanken und Bankinstitute:30

Natürlich sind in dieser Tabelle viele Zahlen zweimal genannt, denn für jede Firma ist ihr gesamtes Kapital angeführt. Ziehen wir die Summen ab, die zweimal gezählt sind, so erhalten wir (s. Philippovich) folgendes Resultat. Die Inhaber genannter Firmen und ihre Direktoren, insgesamt 180 Mann, nehmen folgende Posten ein:

385 Direktorenposten in 41 Banken und Trusts mit einem Gesamtkapital von 3.832 Millionen Dollar und 2.834 Millionen Dollar an Depositengeldern;

50 Direktorenposten in 11 Versicherungsgesellschaften, die über Aktiva im Umfang von 2 bis 6 Millionen Dollar verfügen;

155 Direktorenposten in 31 Eisenbahngesellschaften mit einem Gesamtkapital von 12.193 Millionen Dollar und einer Eisenbahnstrecke von 271.120 Kilometern;

6 Direktorenposten in 2 Extrazüge-Gesellschaften und 4 in einer Schifffahrtsgesellschaft mit einem Gesamtkapital von 245 Millionen Dollar und einem Jahreseinkommen von 87 Millionen Dollar.

98 Direktorenposten in 28 Industrie- und Handelsgesellschaften mit einem Gesamtkapital von 3.583 Millionen Dollar und einem Jahres-Bruttoeinkommen von über 1.145 Millionen Dollar;

48 Direktorenposten in 19 Gesellschaften, die der Versorgung der Städte dienen (Wasserleitung, Elektrizität usw.) mit einem Gesamtkapital von 2.826 Millionen Dollar und einem Bruttoeinkommen von 428 Millionen Dollar.

Insgesamt nehmen 180 Bankbesitzer und ihre Direktoren 746 Direktorenposten in 134 verschiedenen Unternehmungen mit einem Gesamtkapital von 25.325 Millionen Dollar (mehr als 50 Milliarden Rubel) ein. Das macht die Hälfte des gesamten amerikanischen Nationalreichtums aus.31

Das sind sie, die Diktatoren des Finanzkapitals in Amerika! Ein- bis zweihundert Milliardäre und ihre nächsten Mitarbeiter verfügen über 50 Milliarden und halten die wichtigsten Zweige des wirtschaftlichen Lebens in ihren Händen!

Dieses Häuflein von Magnaten des Finanzkapitals gebietet nicht nur über das Schicksal des industriereichsten Landes, Amerikas, sondern durch dieses auch über ein gut Teil der Schicksale der ganzen Welt. Es genügt, an die ungeheure Rolle zu erinnern, die die amerikanischen Anleihen noch vor Amerikas Eintritt in den Weltkrieg für die Imperialisten der Triple-Entente gespielt haben. Es genügt, die Rolle der amerikanischen Milliardäre seit Amerikas Eintritt in den Krieg zu beobachten

Sie sind es, die sich alle Regierungen unterworfen haben, die heute zu bestimmen haben, ob der Weltkrieg zu beginnen hat, der Millionen von Menschenleben kostet.

So sieht es in jedem beliebigen imperialistischen Lande aus. Wenn man z. B. wissen will, warum das “edle” Italien im Krieg an die Seite der Triple-Entente getreten ist, so braucht man nur in das Verzeichnis der Aktionäre und Direktoren der Banca Commerciale einzusehen, um sich zu überzeugen, wie viele Namen französischer Kapitalisten darunter figurieren, und man braucht sich nur die Summen näher anzusehen, die von der Abhängigkeit der italienischen Bourgeoisie von englischen Kapital sprechen. Hierin liegt der wahre Grund des Anschlusses Italiens an Frankreich und England, nicht aber in dem Wunsch, die “versklavten” Brüder zu befreien.

Wir können jetzt das Gesagte zusammenfassen und zu einer kurzen Definition dessen übergehen, was eigentlich der moderne Imperialismus ist.

Dabei dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass es verschiedene Typen von Imperialismus gibt. Der englische Imperialismus sieht nicht in allem dem deutschen Imperialismus ähnlich, der russische Imperialismus ist ein ganz anderer als der deutsche usw. Es gibt einen europäischen Imperialismus, einen asiatischen und einen amerikanischen, es besteht ein weißer Imperialismus und ein gelber. Der japanische Imperialismus gleicht dem französischen nicht, der russische Imperialismus steht ganz vereinzelt da, weil er ein rückständiger (man kann nicht einmal mehr sagen: ein asiatischer) Imperialismus ist, der sich auf dem Boden einer außerordentlichen wirtschaftlichen Rückständigkeit entwickelt.

Doch wir müssen das unterstreichen, was für den modernen Imperialismus das Charakteristischste ist, wir müssen den Imperialismus näher definieren, der heute im ganzen wirtschaftlichen und politischen Leben tonangebend ist, von dem Regen und gut Wetter abhängt, der die Schicksale der Welt bestimmt.

Die allgemeinste Formel, die bisher von den Marxisten allgemein anerkannt war, lautet: Der Imperialismus ist die (wirtschaftliche, auswärtige und sonstige) Politik des Finanzkapitals. Aber diese Formel ist ungenügend, eben weil sie zu allgemein ist.

Kautsky hat folgende Definition vorgeschlagen: “Der Imperialismus ist ein Produkt des hoch entwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.”32

Diese Definition ist aber vollkommen ungenügend. Kautsky sieht nur einen Teil der Erscheinungen, wenn er alles nur auf “agrarische Gebiete” zurückführt. Die heutige Expansion beschränkt sich nicht nur auf agrarische Gebiete, Kapital wird keineswegs nur in agrarische Gebiete ausgeführt. Vor allem aber gibt Kautsky eine zu akademische, zu blutleere Definition. Sie enthält nicht den kleinsten Hinweis auf die Tatsache, dass es schon zur Teilung der Welt unter die kapitalistischen Räuber gekommen ist; man findet in ihr kein Echo jener Stürme, kriegerischen Erschütterungen, Revolutionen, die die Epoche des Imperialismus mit sich bringt; sie spricht mit keinem Worte von dem Umstand, dass der Imperialismus seine Politik in Verhältnisse treibt, in denen die wirtschaftlichen Voraussetzungen bereits reif geworden sind für die Verwirklichung des Sozialismus im größten Teil der vorgeschrittenen kapitalistischen Länder. Seine Definition ist inhaltslos und blass, wenn sie auch einige Elemente der Wahrheit enthält.33

Hilferding kommt nahe an die Definition des Imperialismus heran, wenn er sagt:

Die Politik des Finanzkapitals verfolgt somit drei Ziele: erstens Herstellung eines möglichst großen Wirtschaftsgebiets, das zweitens durch Schutzzollmauern gegen die ausländische Konkurrenz abgeschlossen und damit drittens zum Exploitationsgebiet der nationalen monopolistischen Vereinigungen wird.”34

Hilferding hat Recht, wenn er von einem “möglichst großen Wirtschaftsgebiet” spricht. Dieser Ausdruck ist darum gut weil er sowohl direkte politische Eroberungen (Annexionen, Kolonienraub) als auch nur wirtschaftliche Unterordnung umfasst. Hilferding hat auch Recht, wenn er das Merkmal der Schutzzollmauern und der monopolistischen Vereinigungen (Trusts und Kartelle) in den Vordergrund stellt. Das sind unbedingt die charakteristischen Merkmale des Imperialismus.

Aber die Hilferdingsche Definition beschränkt sich auf ausschließlich wirtschaftliche Begriffe. Es fehlen in ihr sehr wichtige — politische und andere — Momente.

Auf Grund des Gesagten glauben wir, dass eine marxistische Definition des modernen Imperialismus folgendermaßen ausgedruckt werden könnte (anstatt einer kurzen Formel ziehen wir vor, eine eingehendere Beschreibung des Begriffes zu geben):

Der moderne Imperialismus ist die sozial-ökonomische Politik des Finanzkapitals, das die Tendenz hat, möglichst umfangreiche wirtschaftliche Territorien und Weltreiche zu schaffen. Er wird charakterisiert durch die Tendenz, den Freihandel endgültig zu ersetzen durch das Schutzzollsystem und das Wirtschaftsleben den großen monopolistischen Vereinigungen, wie Trusts, Kartelle, Bankkonsortien usw., vollkommen unterzuordnen. Er bedeutet das höchste Stadium der Entwicklung des Kapitalismus, wo nicht mehr nur die Warenausfuhr, sondern auch die Kapitalausfuhr von wesentlicher Bedeutung ist. Er charakterisiert eine Epoche, in der die Welt unter wenige große kapitalistische Mächte verteilt ist und der Kampf bereits um ihre Neuverteilung und die Teilung ihrer Reste geht; in der die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Sozialismus in den meisten vorgeschrittenen Ländern reif geworden sind und die nationalstaatlichen Grenzen die weitere Entwicklung der Produktivkräfte hemmen; in der die Bourgeoisie durch ihre Kolonialpolitik und durch blutige Kriege einen Aufschub für den nahenden Zusammenbruch des Kapitalismus sucht.35

1 Man vergleiche die in gewissem Sinne klassische Arbeit des deutschen Kolonialpolitikers Dr. Zoepfl, “Kolonien und Kolonialpolitik” im Handwörterbuch der Staatswissenschaften

2 Paul Leroy-Beaulieu: “De la colonisation chez les peuples modernes, Paris 1908, Band I.

3 “Das Kapital”, Verlag Meißner, III. Aufl. I. Band, S. 463. [Marx Engels Werke, Band 23, S. 474f.]

4 S. z. B. das Buch Noskes über Kolonialpolitik.

5 G. Zoepfl, ‚‚Kolonien und Kolonialpolitik‘‘ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 3. Aufl., 5. Band, S. 930.

6 Wir sprechen natürlich von Kautsky, Bauer und Cunow “alter Marke”, vor ihrer neuesten Evolution nach rechts.

7 In der Tat war der “Wucher” ein Hauptmittel für die Akkumulation des Kapitals, d. h. seine Anteilnahme an den Revenuen des Grundbesitzes. Aber das industrielle und kommerzielle Kapital gehen mehr oder minder Hand in Hand mit den Grundbesitzern gegen diese altmodische Form des Kapitals. Marx: “Theorien über den Mehrwert”, 1. Bd., S. 19

8 Finanzkapital, S. 283-285

9 Über Deutschland lese man die interessanten Ausführungen Kautskys in seinem Buche “Handelspolitik und Sozialdemokratie”.

Die neuesten Angaben findet der Leser in den letzten beiden Büchern K. Renners.

10 Hilferding, “Finanzkapital”, S. 390/391. In einem der nächsten Kapitel werden wir noch näher auf die Ursachen eingehen, die die Imperialisten veranlassten, den Freihandel zu bekämpfen.

11 Karl Kautsky, ‚‚Handelspolitik und Sozialdemokratie‘‘, Berlin, 1901, S. 41 f.

12 Näheres hierüber s. in der zusammenfassenden Arbeit Bernhard Braudes: “Die Grundlagen und die Grenzen des Chamberlainismus”, herausgegeben von Dr. Heinrich Heckner, Zürich 1905.

13 Zitiert bei Bernhard Braude, “Die Grundlagen usw.”, S. 141.

14 Aus einem Artikel von Engels in der Londoner Zeitschrift Commonwealth. vom 1. März 1885, deutsch in der “Neuen Zeit” desselben Jahres, Heft 6, und im Vorwort (1892) zur “Lage der arbeitenden Klassen in England”, S. XXI. [“England 1845 und 1885”, Marx Engels Werke, Band 21, S. 191-197, hier S. 196]

15 Otto Bauer, “Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie”, Wien 1907, S. 472 ff.

16 a.a.O., S. 492

17 Hilferding, “Finanzkapital”, S. 394.

18 a.a.O., S. 395.

19 “Das volkswirtschaftliche System der Kapitalsanlage im Auslande” von A. Sartorius Freiherr von Walterhausen, Berlin, 1907. Verlag Georg Reimer. Der Verfasser dieses Werkes ist konservativ, Imperialist und hasst den Sozialismus. Aber seine Arbeit hat einen großen wissenschaftlichen Wert. Ihm verdankt auch das Hilferdingsche “Finanzkapital” sehr viel.

20 Schulze-Gaevernitz, “Der britische Imperialismus”, S. 323.

21 Sartorius, a.a.O., S. 387, 388, 389.

22 Siehe Hilferding, “Finanzkapital”, S. 433.

23 a.a.O., S. 439.

24 Siehe die kurze aber sehr lebendige Darstellung dieser Ereignisse in der Arbeit des Franzosen Delaisi “La guerre qui vient” (“Der kommende Krieg”).

25 a.a.O., S. 450f.

26 Ungefähr die gleiche Meinung äußerte einmal nebenbei Bebel, der auf dem Jenaer Parteitag (1911) folgende Bemerkung machte: “Ich spreche offen aus: vielleicht liegt die größte Gewähr für den Weltfrieden in dieser internationalen Verschickung des Kapitals.” (Protokoll des Jenaer Parteitags, S. 345 [Referat über die Marokkofrage”, Ausgewählte Reden und Schriften, Band 8/2, S. 515-536, hier S. 531]).

27 Hilferding, S. 422.

28 Siehe K. Kautsky, “Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund”, Nürnberg, 1915, S. 23.

29 Francis Delaisi: “La Democratie et les Financiers”, Paris, 1910, S. 44—59.

30 Eugen von Philippovich, “Monopole und Monopolpolitik”, “Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung”, 1915, I., S. 158 ff. Die Arbeit Philippovichs hat folgende Werke zur Grundlage genommen: J. B .Clark, The Problem of Monopoly”, New York, 1904; Rob. Liefmann, ‚.Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaften”, 1. Aufl. 1912, Jena; J. Singer, “Das Land der Monopole, Amerika oder Deutschland” 1913; Oswald Whitmann Knauth, “The Policy of the United States towards Industrial Monopoly”, New York, 1914.

31 a.a.O., S. 159

32 “Neue Zeit”, XXXII., 2., S. 909; vergleiche auch “Nationalstaat”, S. 15 und frühere Arbeiten Kautskys.

33 Auch Cunow kritisiert diese Definition Kautskys. Doch nicht vom Standpunkt des Marxismus, sondern vom Standpunkt des Sozialchauvinismus. Der Imperialismus ist eine ‚‚historische‘‘ Notwendigkeit. Alles was wirklich ist, ist vernünftig. Da der Imperialismus wirklich ist, so ist er notwendig vernünftig, fortschrittlich. Schlussfolgerung: Die Arbeiter müssen den Imperialismus ihres Vaterlandes unterstützen.

34 Hilferding, “Finanzkapital”, S. 412.

35 Die in diesem Kapitel geschilderten Tendenzen des Imperialismus haben sich seither in fast gerader Linie weiter fortgesetzt. Mit folgendem Unterschied:

1. Die Zahl der imperialistischen Staaten hat sich stark vermindert. Der Krieg hat Deutschland und Österreich-Ungarn durch ihre Niederlage, Russland durch die Machtergreifung des Proletariats aus der Reihe der imperialistischen Mächte gestrichen. Es verbleiben nur vier imperialistische Räuberstaaten: Vereinigte Staaten, Japan, England und Frankreich. (Italiens Versuche, zu einer wirklichen imperialistischen Großmacht zu werden, blieben bisher erfolglos.)

2. Mit der Verschiebung des ökonomischen Schwergewichts aus Europa nach Amerika hat sich auch das machtpolitische Gewicht verändert. Während vor dem Kriege Großbritannien und Russland die tonangebenden Weltmächte waren, sind es gegenwärtig zweifellos die Vereinigten Staaten von Amerika.

3. Der Kapitalexport ruhte während des Krieges bzw. nahm eine rückläufige Richtung: die in das Ausland verliehenen Kapitalien der europäischen kriegführenden Länder wurden so weit irgend möglich zurückgezogen und zur Finanzierung des Krieges, zum Ankauf von Waren in den fremden Ländern verwendet.

4. Nach dem Kriege wurde die Hochschutzzollpolitik in unvermindertem Maßstab weitergeführt. Alle die Kleinstaaten des balkanisierten Europas versuchen, durch Schutzzölle eine eigene Industrie zu entwickeln. Ebenso die einzelnen englischen Siedlungskolonien, ja auch Indien. Die Vereinigten Staaten schufen im Jahre 1922 den Fordney-Tarif, dessen Zollsätze weit über den früheren hinausragen. Nur in England wurde der Vorstoß der Schutzzöllner In den Wahlen 1923 abgeschlagen, so dass England heute das einzige Freihandelsland ist. Wie lange, ist fraglich.

5. In der Struktur des Kapitals selbst ist infolge des Krieges und besonders der Inflation in der Nachkriegszeit eine innere Wandlung eingetreten: die Bedeutung des Industriekapitals — speziell des Montankapitals — ist auf Kosten des Bankkapitals sehr stark gewachsen. Während in der Zeit unmittelbar vor dem Kriege das Bankkapital richtunggebend war, die Industrie-Unternehmungen durch Kreditgewährung und aktiven Besitz beherrschte, ist nach dem Kriege zum Teil das Gegenteil eingetreten; das Industriekapital hat die Oberhand über das Bankkapital gewonnen. Stinnes hat Banken aufgekauft, nicht umgekehrt. Die ökonomische Ursache dieser Wandlung sind die Riesenverdienste der Industrie-Unternehmungen bei den Kriegslieferungen, die es ihnen ermöglichte, sich finanziell von den Banken unabhängig zu machen. In der Inflationsperiode gleichen sich bei den Banken Gewinn und Verlust aus der Inflation ungefähr aus, während die Schwerindustrie sich vor jedem Verlust durch Anpassung der Preise an die Entwertung des Geldes schützt, hingegen durch Rückzahlung ihrer Bankkredite in entwerteter Währung sich auf Kosten des Bankkapitals bereichert.

6. Die internationale Verflechtung des Kapitals hat in der Nachkriegszeit große Fortschritte gemacht, wobei die Vereinigten Staaten vor allem in Amerika und im Fernen Osten Kapitalien anlegen, England in seinen Kolonien, Frankreich und Italien im östlichen Europa; der Kapitalexport ist mit der Richtung der imperialistischen Politik aufs engste verbunden.

Eugen Varga

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