III. DER DREIBUND UND DIE TRIPLE-ENTENTE.

III. DER DREIBUND UND DIE TRIPLE-ENTENTE.

Der Dreibund und die Triple-Entente waren die beiden Hauptgruppierungen der Mächte in der letzten Periode vor dem Weltkrieg. Diese beiden Gruppierungen bestimmten die ganze auswärtige Politik der neuesten Zeit. Aber wie sind diese beiden Gruppierungen entstanden? Was lag ihnen zugrunde?

Auf der einen Seite standen Deutschland, Österreich, Italien, auf der andern England, Russland, Frankreich. Woher diese und keine andere Gruppierung der Mächte, die nicht mit geographischen Grenzen zusammenfällt, sich aus keiner nationalen Verwandtschaft unter der Bevölkerung der betreffenden Staaten ergibt, durch keine tiefen wirtschaftlichen Interessen der breiten Volksmassen begründet ist?

Die Antwort auf diese Frage lautet: Die betreffende Gruppierung wurzelt in den Verhältnissen des modernen Imperialismus. Sie vollzog sich im Zeichen des Imperialismus. Sie ist aufs innigste verknüpft mit dem Imperialismus der gegenwärtigen Epoche.

Gehen wir etwas in die Vergangenheit zurück.

Im Krieg 1870/71 besiegte Bismarck Napoleon III. und begründete durch seine “Revolution von oben” die nationale Einheit Deutschlands. Russland war in diesem Krieg neutral geblieben, wodurch es Bismarck zu stützen und Napoleon III. zu verraten schien. Die offizielle Version lautete: Russland zahle Deutschland mit Gutem für Gutes: Preußens Neutralität im Krimkrieg belohne Russland jetzt mit seiner Neutralität im Kriege 1870/71. In Wirklichkeit war Russland, das seit langem zusammen mit Frankreich Deutschland unterdrückt und auf die Zersplitterung der Deutschen spekulierte, sehr beunruhigt durch dieses Erstarken Preußens. Besonders nach der Beendigung des Krieges 1870/71, als dies ungeheure Erstarken auf Kosten Frankreichs eine absolute Tatsache geworden war.

Nach Beendigung des preußisch-französischen Krieges verfolgte Bismarck einen zwiefachen Kurs. Er erklärte, Deutschland sei genügend “gesättigt” durch die Annexion Elsass-Lothringens und die Siege von 1864 und 1866. Die französische “Kolonialpolitik” versuchte er mit allen Mitteln zu fördern. Er hielt es für gut, wenn Frankreich seine Aufmerksamkeit auf das ferne Afrika lenkte, dort seine Kapitalien und Truppen konzentrierte und so weniger an die Revanche in Europa dachte, d. h. an die Vergeltung für das gewaltsam entrissene Elsass-Lothringen. In Bezug auf Russland trieb er eine Annäherungspolitik, wobei er bemüht war, Russland und Frankreich zu entzweien.

Daher übrigens auch Bismarcks Bestrebungen, in Frankreich die Republik zu erhalten.

Als nach dem Krieg 1870/71 zur Zeit der Präsidentschaft Mac Mahons und Jules Grévys die Tendenz zur Wiederherstellung der französischen Monarchie in Frankreich stark war, da tat Bismarck alles, um sie zu verhindern. Er berechnete, dass es dem zaristischen Russland schwieriger sein werde, mit einem republikanischen Frankreich in Frieden zu leben, als mit einem monarchischen. Er hoffte, im zaristischen Russland die alten Traditionen der heiligen Allianz wieder zum Leben erwecken zu können und die Herrscher Russlands auf den Weg des legitimistischen Kampfes gegen das “gottlose” Frankreich, die französische Republik, zu lenken. Bismarck intrigierte eifrig in diesem Sinne durch seine Agenten in Frankreich. Als der deutsche Gesandte in Frankreich, von Arnim, sich als nicht genügend gewitzt erwies, um diese “republikanische” Politik durchzuführen, wurde er von Bismarck weggejagt. Als darauf von Arnim, um sich an Bismarck zu rächen, eine Reihe von Geheimdokumenten veröffentlichte, die sich darauf bezogen und in denen sich der gottesfürchtige Monarchist Bismarck als Anhänger der gottlosen Republik darstellte, da erreichte Bismarck die Verurteilung von Arnims zu 5 Jahren Gefängnis (von Arnim entzog sich dem Gefängnis durch Emigration).1

Einer der Hauptpunkte im Bismarckschen Glaubensbekenntnis war: mit Russland in Frieden leben. Lange Zeit hindurch gelang ihm dies. Aber zwei Umstände störten diese Politik Bismarcks. Die Gegensätze zwischen Russland und Österreich einerseits, zwischen Frankreich und Deutschland andrerseits. Das gespannte Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland war auch nach dem Kriege 1870/71 geblieben. In den regierenden Kreisen des neuen Deutschen Reiches war der Gedanke eines sofortigen neuen Krieges zum Zwecke der endgültigen Unterwerfung des vom letzten Kriege noch nicht erholten Frankreich sehr populär. Das ganze Jahr 1875 verging in dieser Beziehung in einer sehr gespannten Atmosphäre. Die 5 Milliarden französischer Kontribution waren bald verbraucht.2 Schon damals gab es unter den leitenden Politikern Leute, die (vergl. die jetzigen Erklärungen des Imperialisten Rohrbach) der Ansicht waren, dass Deutschland, das Frankreich nur 5 Milliarden abgenommen, Frankreichs finanzielle Leistungsfähigkeit zu niedrig eingeschätzt habe. Mit anderen Worten, man wollte einen neuen Krieg zu neuem Raub. Das konnte der russischen Diplomatie nicht gefallen. Natürlich nicht etwa, weil sie im Prinzip jeden Raub ablehnte — sie selbst verfolgte stets eine Politik des Raubes —‚ sondern weil es nicht in ihrem Interesse lag, einen Räuber auf Kosten des anderen übermäßig erstarken zu lassen. Ein zu starkes Deutschland war ihren Zielen unbequem.

Daher das gespannte Verhältnis zwischen Deutschland und Russland. Daher Russlands Neigung für Frankreich. Aber die entscheidenden Ereignisse spielen sich 1876—1878 ab im Zusammenhang mit den Balkanereignissen.

Die ganze Aufmerksamkeit der russischen Diplomatie ist zu der Zeit auf die Balkanhalbinsel gerichtet. Im Jahre 1876 beginnt der Krieg Serbiens und Montenegros gegen die Türkei. Im Jahre 1877 macht die russische Diplomatie ihren entscheidenden Schritt. Es beginnt der russisch-türkische Krieg. Russland gelingt es, der Türkei eine Reihe von Niederlagen beizubringen. Die traditionelle imperialistische Eroberungspolitik des zaristischen Russland, die auf die Unterwerfung der Türkei gerichtet ist, ist der Verwirklichung nahe. Am 3. März 1878 schließt Russland in San Stefano Frieden mit der besiegten Türkei. Montenegro sollte eine Reihe von Provinzen, darunter Antivari, d. h. einen Ausgang zum Adriatischen Meer erhalten, Serbien Nisch, das Drin-Tal usw.. Rumänien sollte die Dobrudscha bekommen und Russland dafür Bessarabien abtreten. Russland sollte Batum, Ardagan, Kars und Bajazet und außerdem eine Kontribution von 1,3 Milliarden Rubel erhalten. Aber noch wichtiger war die Frage der bulgarischen Grenze. Bulgarien sollte einen Umfang erreichen wie die Hälfte der ganzen europäischen Türkei, d. h. es sollte ein Gebiet von 165.000 Hektar von der Donau bis zum Ägäischen Meer mit 5 Millionen Einwohnern erhalten. Ihm sollte — bis auf einen kleinen Strich — Mazedonien gehören, Saloniki usw. Dem Sultan blieben vom europäischen Besitz nur Bosnien und die Herzegowina, Albanien, Thessalien und Epiros übrig.

Aber da erschienen auf dem Plan einerseits Deutschland, andrerseits England, der alte Konkurrent Russlands in Bezug auf das türkische Erbe. England wusste, dass es unter den gegebenen Umständen in seinem Kampf gegen Russland auf ganz Europa, darunter auch auf Osterreich und Deutschland, bauen konnte. Und es konnte daher entschlossen vorgehen. Es mobilisierte die Flotte, das Unterhaus bewilligte die Kriegskredite, es begannen allseitige Kriegsvorbereitungen. England verlangte die Revision des San Stefano-Vertrages, im Weigerungsfall wollte es Russland den Krieg erklären. In Russland entbrannten die Leidenschaften. Anfangs schien es, als ob Russland den Krieg gegen England annehmen wolle. Aber Bismarck warnte “freundschaftlichst” vor diesem gefahrvollen Schritt. Russland war gezwungen, nachzugehen, und der berühmte Berliner Kongress wurde einberufen, der den Vertrag von San Stefano revidierte. Mazedonien und Saloniki blieben bei der Türkei. Russland erhielt nur Batum, Ardagan und Kars. Bulgarien erlangte nur ein Gebiet von 64.000 ha, die Türkei erhielt in Europa 176.000 ha nominell

Bosnien und die Herzegowina blieben bei der Türkei, in Wirklichkeit aber gerieten sie unter österreichisches Protektorat. Die Meerengen wurden für Kriegsschiffe geschlossen. England erhielt Zypern und versprach dafür Frankreich Tunis. Für Deutschland erhandelte Bismarck — als Dank für seine Bemühungen als “ehrlicher Makler” — verschiedene Handelsprivilegien in den Dardanellen und am Bosporus.

Aber was das wichtigste war — der Balkanpolitik Russlands wurde ein großes Hindernis in den Weg gelegt, wodurch die Balkanpolitik Österreichs, hinter dessen Rücken Deutschland stand, gefördert wurde.

Zähneknirschend musste sich die Zarendiplomatie mit dem Resultat des Berliner Kongresses abfinden, Der “Verrat” Bismarcks rief in den leitenden Kreisen des offiziellen Russland eine ungeheure Erbitterung hervor. Den russischen Einfluss auf dem Balkan schwächte Bismarck zugunsten des österreichischen Einflusses (Bosnien und die Herzegowina). Das genügte, um zwischen Russland und Deutschland für lange Zeit gespannte Beziehungen eintreten zu lassen.

Deutschland wollte die türkische Politik Russlands nicht unterstützen. Es schuf sich eine eigene türkische Politik. Es wählte die Türkei zum Objekt seiner eigenen allseitigen Ausbeutung.

Im August 1879 wendet sich Alexander II. mit einem Brief an Wilhelm und erklärt darin offen, dass, wenn Deutschland die Politik Russlands im Osten nicht unterstützen will, dies unvermeidlich zu einem Kriege Russlands gegen Deutschland führen müsse. Für Deutschland aber gibt es kein Zurück mehr. Die Interessen des deutschen Kapitals schreiben einen bestimmten Weg vor, den Weg der Annäherung an Österreich, den Weg der Unterordnung Österreichs zum Zwecke des Widerstandes gegen Russland und der Durchführung der eigenen türkischen und Balkanpolitik.

Am 7. Oktober 1879 wird der Zweibund — der Bund Zwischen Deutschland und Österreich — gegründet.

Er ist bereits eine Frucht des Imperialismus, denn er ist zur Welt gekommen dank dem imperialistischen Wetteifern zwischen England und Russland einerseits und Deutschland und Russland andrerseits.

In gleicher Weise haben imperialistische Motive Italien bewogen, sich diesem Zweibund anzuschließen und ihn zum Dreibund zu machen.

Auf dem Berliner Kongress versuchte Italien von Österreich Trient zu bekommen — als Entgelt für die Übergabe Bosniens und der Herzegowina unter österreichisches Protektorat. Das gelang ihm nicht. Es entstand eine Erkaltung der Beziehungen zwischen Italien einerseits und Deutschland und Österreich andrerseits. England fütterte Italien mit Versprechungen, ihm Tunis zu “geben”, was die italienischen Imperialisten schon lange erträumten. Aber England hatte Tunis auch an Frankreich versprochen. Im Jahre 1878 legte England seine Hand auf Zypern, das ihm infolge seiner geographischen Lage (die Nähe des Suez-Kanals) besonders wichtig war. Disraeli hatte schon 1875 über die Hälfte der Suezkanal-Aktien gekauft. Als “Entgelt” dafür sicherte England Frankreich Tunis zu (das natürlich nie England gehört hatte). Im Jahre 1881 raubte Frankreich — im Einvernehmen mit England — Tunis. Bismarck protestierte nicht, “Außerhalb Europas macht was ihr wollt, nur in Europa lasst uns in Ruhe”, sagte damals Bismarck dem französischen Gesandten. Wir wissen schon, dass er zu jener Zeit die Kolonialpolitik Frankreichs gewissermaßen förderte, um die französischen Kräfte von Europa abzulenken.

Italien empfand den Raub von Tunis durch Frankreich als einen Hieb in den Rücken. Die Empörung der regierenden Kreise Italiens kannte keine Grenzen. Und dieser Raub von Tunis durch Frankreich stieß Italien zu Österreich und Deutschland. Im Bündnis mit diesen Mächten hoffte es, seine imperialistischen Begierden rascher befriedigen zu können. Jetzt richtete es sein Augenmerk hauptsächlich auf Abessinien. So entstand im Jahre 1882 der Dreibund. Der Bund wurde formell am 20. Mai 1882 gegründet.

Die Fragen der Teilung der Türkei, der Eroberungen auf dem Balkan, des Raubes afrikanischer Gebiete (Tunis) hatten so zur Bildung der ersten von den wichtigsten Mächtegruppierungen der neuesten Zeit geführt. Wer würde Zypern ergattern, um einen Stützpunkt zum Schutz des Suezkanals zu haben, wer Tunis rauben, wer ein Stück der Türkei erbeuten oder seinem “nationalen” Kapital in der Türkei und auf dem Balkan Bewegungsfreiheit sichern? — dies waren die Fragen, in deren Zeichen der Dreibund entstand.

Die imperialistischen Triebkräfte dieser Mächtegruppe waren damals noch nicht so klar, so hüllenlos offen wie sie es jetzt sind. Der neueste Imperialismus war erst im Entstehen begriffen. Aber doch spielten gerade solche Motive die Hauptrolle. Darum haben wir das Recht zu sagen, dass der Dreibund schon im Moment seines Entstehens den Stempel des Imperialismus trug.

Aber auch die Umwandlung des Dreibunds in einen Zweibund (der Austritt Italiens) erklärt sich aus imperialistischen Motiven.

In der ersten Epoche des Dreibundes unterstützt ihn England. In gewissem Maße fördert England sogar seine Gründung. Ohne Englands Unterstützung hätte Italien es nicht gewagt, offen dem Dreibund beizutreten, aus Angst vor der französischen Flotte, gegen die ihm zu der Zeit weder Deutschland noch Österreich eine ernste Unterstützung gewähren konnten. Die englische Flotte deckte Italien gegen französische Angriffe. Zwischen dem Dreibund und England bestand eine gewisse Arbeitsteilung nach der Formel: “England liefert die Flotte, der Dreibund die Landtruppen”. Das entsprach vollkommen sowohl der englischen Politik als auch der Politik Bismarcks.

Diese Lage wurde bestimmt durch drei Momente: 1. Durch den imperialistischen Wettkampf auf der ganzen Linie zwischen England und Russland. England musste mehr oder minder das Bündnis stützen, das sich gegen seinen damaligen Hauptkonkurrenten — Russland — richtete. 2. Die koloniale Rivalität zwischen England und Frankreich. Bis Ende der neunziger Jahre wollte Frankreich die Vorherrschaft Englands nicht endgültig anerkennen, und in Afrika trug der Wettkampf einen äußerst erbitterten Charakter, hauptsächlich ging es um Ägypten. England, zu Wasser unvergleichlich viel stärker, war zu Lande jedoch schwächer, darum musste es sich gegen Frankreich einen Verbündeten suchen, der über eine große Streitkraft zu Lande verfügte. 3. Die Rivalität auf dem Mittelmeer zwischen der alten Kolonialmacht Frankreich und dem eben erst zum Imperialismus und Kolonialraub erwachten Italien. Dieses Rivalisieren zwang Italien, seine Blicke nach England zu wenden, England aber — Italien gegen Frankreich zu hetzen.

England fürchtet die Entwicklung unsrer Flotte nicht,” — schrieb in seinen Erinnerungen der bekannte italienische Staatsmann jener Zeit, Francesco Crispi — “im Gegenteil, England freut sich über die Entwicklung der italienischen Flotte, denn es entsteht eine Seemacht, die gegen Frankreich vorgehen kann… Als Freunde und Verbündete Englands haben wir zu Wasser nichts zu fürchten.”

Und wirklich. Als nach dem Zollkriege zwischen Frankreich und Italien und im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von französisch-italienischen Reibungen in Marokko, in Tunis, in Massawa usw., Frankreich im Winter 1888 im Mittelmeer seine Flotte gegen Italien konzentrierte, — da erschien sofort in den Gewässern des Mittelmeers die englische Flotte und nahm eine drohende Haltung gegen Frankreich ein. England stellte seine Flotte in den Dienst des “Friedensverbandes”, wie man sich damals in England ausdrückte, in Wirklichkeit aber in den Dienst des Dreibunds.

Ohne irgendeinen schriftlichen Vertrag unterstützte England damals den Dreibund. So wollten es die Umstände. Dazu führte das Spiel der imperialistischen Interessen.

Das ging so ungefähr bis zum Ende der neunziger Jahre und in die ersten Jahre des XX. Jahrhunderts hinein. Im selben Moment, in dem die Annäherung zwischen England und Frankreich beginnt, beginnt auch die Annäherung zwischen Frankreich und Italien. Die Kraft der “Entente cordiale” zwischen England und Frankreich lag gerade darin, dass sie nicht nur das Hineinziehen auch Russlands in diese Bahn, nicht nur die Gründung der Triple-Entente bedeutete, sondern auch gleichzeitig die Zerstörung des Dreibunds, seine Umwandlung in einen Zweibund. Deutschland hat über ein Jahrzehnt hindurch große Anstrengungen gemacht, um den Dreibund zu retten, um Italien darin zu halten. Aber es kamen die entscheidenden Ereignisse 1914, und Italien stand plötzlich auf der Seite der Gegner Deutschlands. Das ergab sich aus dem Verlauf des Kampfes zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten, das war das unvermeidliche Resultat des Zusammenstoßes der imperialistischen Interessen.

Nach der “Schmach von Faschoda”, d.h. nach der tatsächlichen Kapitulation der Imperialisten Frankreichs vor den Imperialisten Englands (Näheres darüber weiter unten), beschließen die französischen Realpolitiker der Marke Delcassé die “Erniedrigung Frankreichs” bei Faschoda zum Ausgangspunkt neuer Eroberungen zu machen. Haben wir uns schon England ergeben, so müssen jetzt alle kolonialen Reibungen mit ihm erledigt werden, um sich mit seiner Hilfe an anderen Orten schadlos zu halten. So sagen sich die Führer der französischen imperialistischen Politik.

Marokko ist die erste Beute, auf die jetzt die Aufmerksamkeit der Imperialisten Frankreichs gerichtet ist. Um einen größeren Erfolg zu erreichen, müssen sie sich den Rücken decken: nicht nur Spanien muss in volle Abhängigkeit gebracht, sondern auch Italien muss an Frankreich gebunden werden. Überhaupt ist es notwendig, Italien auf die Seite der englisch-französischen Entente hinüberzuziehen.

Es beginnt darauf eine Annäherung zwischen den “beiden großen romanischen Völkern” — zwischen Frankreich und Italien. wie immer bei solchen freudigen Gelegenheiten muss ein afrikanisches Gebiet herhalten. Diesmal ist Tripolis das Opfer. Ihr gebt uns Marokko, wir euch Tripolis. Das ist der Sinn der französisch-italienischen Annäherung zu Beginn der neunziger Jahre. Delcassé gelingt es unter Mitarbeit des französischen Botschafters Barrère mit Italien einen Vertrag abzuschließen, der formell nur die durch die französisch-italienischen Grenzbesitzungen an der Küste des Roten Meeres entstandenen Konflikte betrifft. In Wirklichkeit aber hat dieser Vertrag sehr viel weitere Ziele im Auge und ist auf die Zerstörung des Dreibunds gerichtet.3

Das imperialistische Deutschland wusste genau, dass die Annäherung Frankreichs und Italiens mit dem Preise von Tripolis bezahlt war und es verstand sehr gut, dass dies einen Riss im Dreibund bedeutete. Aber es blieb ihm nichts übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Auf die Anfragen der Reichstagsabgeordneten antwortete der damalige Reichskanzler von Bülow, indem er sagte: “In einer glücklichen Ehe muss der Gatte auch nicht gleich einen roten Kopf kriegen, wenn seine Frau einmal mit einem anderen eine unschuldige Extratour tanzt. Die Hauptsache ist, dass sie ihm nicht durchgeht und sie wird ihm nicht durchgehen, wenn sie es bei ihm am besten hat.”4 Der Sinn dieser Worte war: Italien bleibt unser gesetzlich angetrautes Weib, wir werden unsererseits Frankreichs Hofmacherei durch Zugeständnisse zu übertrumpfen suchen.

Zu gleicher Zeit erklärte der französische Außenminister Delcassé, in Beantwortung einer Anfrage des Abgeordneten Chastenet in der französischen Kammer, frank und frei, dass die Verpflichtungen Italiens dem Dreibund gegenüber “weder direkt noch indirekt gegen Frankreich gerichtet seien”, und dass “Italien auf keinen Fall zum Förderer oder Werkzeug eines Angriffes gegen Frankreich werden könne”.5

Je mehr sich die Verwirklichung der englisch-französischen “herzlichen Entente” nähert um so fester werden die Bande zwischen Frankreich und Italien. Im Herbst 1903 besuchen Viktor Emanuel und seine Frau Frankreich, und in feierlicher Rede spricht der italienische König voll der “glücklich erreichten Annäherung” zwischen den französischen und italienischen Imperialisten.

lm Jahre 1906 auf der Konferenz zu Algeciras stimmt der italienische Bevollmächtigte für Frankreich. Das wird natürlich nicht um des französisch-italienischen Abkommens von 1901 willen getan, sondern weil das Fußfassen Deutschlands in Marokko den italienischen Imperialisten für das Mittelmeer viel gefährlicher scheint als ein Fußfassen Frankreichs.

Die Besserung der Beziehungen Italiens zu Frankreich wurde sehr stark gefördert durch den Bruch Frankreichs mit dem Vatikan.6

Die italienische Politik wendete, seitdem Viktor Emanuel den Thron bestiegen hatte, ihre besondere Aufmerksamkeit dem Nahen Osten zu. Eben dieses Interesse für den Nahen Osten wurde zu einem immer stärkeren Grund der Entzweiung zwischen Italien und Österreich. Die wirtschaftlichen Interessen des südwestlichen Italien richteten natürlicherweise das Augenmerk der italienischen Diplomatie auf die gegenüberliegende Adriaküste. Hier stieß sie auf alte Intrigen Österreichs. Als zu Beginn des Jahres 1908 Baron Ährenthal mit seinem Projekt der Sandschak-Eisenbahn auftrat, da war die Erregung in Italien kaum geringer als in Russland. “Die russische Politik, die keine Möglichkeit hatte, die Infiltration des wirtschaftlichen Einflusses Österreich-Ungarns in die angrenzenden slawischen Staaten und Gebiete zu verhindern, sah mit Vergnügen die sich darbietende Möglichkeit, dem österreichisch-deutschen Bazillus das italienische Gegengift entgegenzustellen.”7

Indessen betrieb das imperialistische England systematisch seine Politik der Isolierung des imperialistischen Deutschland, das zu seinem Hauptrivalen geworden war. Im Jahre 1904 unterzeichnete England ein geheimes und ein offnes Abkommen mit Frankreich. Dann folgte das Bündnis Englands mit Japan, der russisch-japanische Krieg, die Schwächung Russlands und 1907 die Krönung der englischen Politik: das englisch-russische Abkommen. Dieses Abkommen ist in St. Petersburg am 18. (31.) Januar 1907 unterzeichnet worden, es hat den Zweck, die “Beziehungen” zwischen England und Russland in Persien, in Afghanistan und Tibet zu regeln”.

Nachdem England dieses Abkommen erreicht hat, betreibt. es seine gegen Deutschland gerichtete Politik mit Volldampf weiter. Und seinen ganzen mächtigen Einfluss benutzt es jetzt, um Italien endgültig vom Dreibund loszureißen, dasselbe Italien, das es früher an den Dreibund zu fesseln bemüht war.

Für das Volk”, “zur Beruhigung der öffentlichen Meinung” behaupteten die Führer der deutschen Politik weiter, alles sei in bester Ordnung. Italien sei nach wie vor der treueste Verbündete, der Dreibund hielte fester zusammen wie je zuvor usw. In Wirklichkeit aber wussten alle ernsten Politiker in Europa, dass Italien im sich vorbereitenden europäischen Kriege auf der Seite der Triple-Entente kämpfen werde. Die gewagteste Hoffnung Deutschlands war, dass der “treueste Verbündete”, Italien, in diesem Krieg neutral bleiben werde.

Die Stellung Italiens im “europäischen Konzert” mehrere Jahre vor dem Kriege ist ausgezeichnet geschildert worden von “einem der hervorragendsten französischen Diplomaten, der gleichzeitig der beste Kenner des gegenwärtigen Italien ist”, und zwar in einem Gespräch mit dem Fürsten Trubetzkoj im Mai 1908.

Dieser hervorragende Diplomat sagte:

Italien ist Mitglied des Dreibundes. Von Zeit zu Zeit unterstreichen die Italiener demonstrativ ihre Treue für diesen Bund. Doch was ist seine reale Bedeutung? Haben sich die Bedingungen nicht von Grund aus geändert, unter denen der Bund entstanden ist? Damals hat Italien in Frankreich einen Feind gesehen. Seine ganzen Verteidigungsbemühungen waren auf die französisch-italienische Grenze gerichtet. Aber während es im Nordwesten nach dieser Richtung hin arbeitete, wurde im Osten nichts unternommen; das kam Italien erst zum Bewusstsein, als ihm ein wirklich gefährlicher Rivale dort entstand, wo es gar nicht zur Verteidigung vorbereitet war … Der Antagonismus zwischen Italien und Österreich um die Vorherrschaft am Adriatischen Meer, — das ist eine Tatsache, die durch keine äußeren Freundschaftsbekundungen verdeckt werden kann…”

Warum bleibt Italien im Dreibund?”

Vor allem, weil es nicht stark genug ist, um eine offene Trennung von Deutschland riskieren zu können. Ein solcher Bruch würde die österreichisch-italienischen Beziehungen äußerst verschärfen … Aber im positiven Sinne können weder Italien noch die Verbündeten auf eine irgendwie ernste Hilfe im Kriegsfalle rechnen. Einerseits wird natürlich Deutschland die Interessen Österreichs im Adriatikum stets unterstützen, andererseits wird Italien nie etwas unternehmen, um seinen deutschen Verbündeten gegen den einzigen Feind, gegen den sie es gern bei Gelegenheit hetzen möchten, — gegen Frankreich — zur Seite zu stehen. Eine Gewähr hierfür bieten nicht nur die direkten Interessen Italiens, sondern auch die bloße Existenz des englisch-französischen Abkommens. Gegen den Willen Englands hat Italien nicht einmal die tatsächliche Möglichkeit, selbst wenn es wollte, einen Finger zu rühren. Sein Schicksal liegt in den Händen Englands. England kann Italien vernichten, und die hiesigen Staatsmänner geben sich hiervon ganz genau Rechenschaft.”

Wollen Sie meine persönliche Meinung hören?” — setzt der hervorragende französische Diplomat fort. — “Ich glaube, dass eine solche tatsächliche Sachlage vielleicht in mancher Beziehung für Russland und Frankreich vorteilhafter ist, als ein absoluter Bruch Italiens mit Deutschland und Österreich. In den bestehenden Verhältnissen kann Italien für Sie keine Gefahr darstellen. Seine Interessen veranlassen es, sich in konkreten Fragen sowohl Ihnen als auch England zu nähern. Deutschland und Österreich sehen bei ‚Extratouren‘ durch die Finger und bemühen sich, Italien im Dreibund zu halten. Aber wollte Italien offen ins Lager der Entente übergehen, so würde es, ohne für diese letztere dadurch nützlicher geworden zu sein, an seinen neuen Verbündeten Forderungen stellen können, auf die es jetzt kein Recht hat. Ich spreche schon gar nicht davon, dass die allgemeine politische Lage sich verschärfen würde.”8

Manchmal sagen hervorragende Diplomaten ihre Meinung ziemlich offen.

So war die Lage Italiens im Jahre 1908. Im Jahre 1911 erhielt es Tripolis. Das war ein Entgelt für frühere Dienstleistungen. Aber bald stand der europäische Krieg bevor, auf den sich beide imperialistischen Trusts innerhalb einer Reihe von Jahren vorbereiteten. Nachdem Italien Tripolis verschluckt hatte, bekam es das unbestreitbare “Recht”, für zukünftige Dienstleistungen neue Kompensationen zu verlangen. Die italienischen Imperialisten erhielten auch von England und anderen Mächten diesbezügliche Versprechungen betreffs. Albaniens, Dalmatiens, Istriens, des Hafens im Adriatischen Meer, ferner betreffs des “gesetzmäßigen Anteils” in Kleinasien und Afrika. Die tatsächlichen Motive für das Verhalten Italiens im Weltkriege wurden bestimmt durch den Wunsch, diese Versprechung verwirklicht zu sehen. Alles andere (“Italia irredenta” usw.) — ist nichts als Ornamentik. Wollte der hervorragende Diplomat, der 1908 mit dem Fürsten Trubetzkoj plauderte, auch jetzt die gleiche Offenheit an den Tag legen, so könnte er uns erzählen, wie das “gemacht” wird.

Der Beitritt Italiens zum Dreibund, die Jahre seines Verbleibens darin und schließlich sein Austritt aus diesem Bund zeigen uns mit ungewöhnlicher Klarheit, mit absoluter Anschaulichkeit, dass der Dreibund vom Imperialismus geschaffen worden ist, dass alle wichtigsten Mächtegruppierungen in der gegenwärtigen Epoche nur das Produkt des Imperialismus sind. Eine anschaulichere Illustration kann man sich schwer vorstellen.

Die Triple-Entente.

Und ebenso ist die zweite Mächtegruppierung — die Triple-Entente — ein Produkt des Imperialismus. Auch sie entstand und handelte im Zeichen des Imperialismus.

Der Triple-Entente ging ein französisch-russisches Bündnis voran, ebenso wie dem Dreibund ein österreichisch-deutsches Bündnis vorangegangen war.

Das französisch-russische Bündnis hatte zwei Faktoren zu seinen wichtigsten Voraussetzungen: erstens die Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland, und zweitens die imperialistische Rivalität zwischen Frankreich und England. Diese beiden Faktoren stießen Frankreich in die Arme Russlands.

Auf der anderen Seite wirkten ebenfalls zwei andere Faktoren: 1. die imperialistische Rivalität zwischen Russland und England, und 2. die Rivalität auf dem Balkan zwischen Russland und Österreich, hinter dem Deutschland stand. Diese beiden Faktoren stießen Russland in die Arme Frankreichs. Außerdem stellte Russland für das französische Kapital eine ausgezeichnete “Anlagesphäre” dar, die russische Regierung und die russische Industrie aber betrachteten das französische Kapital als ein Goldfass ohne Boden, aus dem man mit vollen Löffeln schöpfen konnte. Auf dieser Grundlage entstand das französisch-russische Bündnis.

Für Frankreich war das Bündnis mit Russland eine erwünschte Rettung vor der ständig drohenden Gefahr, im Falle eines Krieges gegen Deutschland isoliert zu bleiben” — schreibt Fürst G. N. Trubetzkoj zur Erklärung der Motive Frankreichs. Und dann — “Milliarden französischen Geldes fanden eine vorteilhafte und sichere Anlage in russischen Staatspapieren.”9 Die russischen Staatspapiere — müssen wir von uns aus hinzusetzen — fanden somit einen sicheren und reichen Käufer, die russische Regierung aber eine sichere und freigebige Quelle für Staatsanleihen. “Was Russland anbetrifft, so hat es durch dieses Bündnis eine große Bewegungsfreiheit erlangt, da es ihm half, sich sowohl vom politischen Einfluss des preußischen Kabinetts als auch von der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Berliner Börse zu befreien” — schreibt Fürst Trubetzkoj.10

Kaum hatte sich Frankreich von der Niederlage 1870/71 erholt, da begannen die regierenden Schichten Frankreichs, die französischen Imperialisten, das französische Kapital, einen Verbündeten zu suchen, mit dessen Hilfe man an Deutschland “Revanche” üben und überhaupt das europäische Kräfteverhältnis ändern könnte. Der französische Imperialismus richtete natürlicherweise seine Blicke nach Russland. Aber erst nach der Bildung des Dreibunds ging die französisch-russische Annäherung in schnellerem Tempo vor sich. Im Jahre 1882 bestellte Russland zum ersten Male in Frankreich 500.000 Gewehre, und im Jahre 1888 schloss Russland in Paris die erste Anleihe von 500 Millionen Franken ab. 1889 machte Russland in Frankreich zwei Anleihen von 2 Milliarden Franken, 1890/91 fünf Anleihen von 1½ Milliarden usw. Die Hindernisse für die Annäherung waren überwunden. Im Jahre 1891 finden die berühmten Kronstädter Feierlichkeiten statt — der Besuch Kronstadts durch die französische Flotte, dann — die Verbrüderung in Toulon. 1893 ist das französisch-russische Bündnis endgültig und unwiderruflich gegründet.

Hinter der Tendenz des bürgerlichen Frankreich zur Annäherung an Russland zwecks einer Revanche an Deutschland standen rein wirtschaftliche Motive des französischen Kapitals, das sehr prosaische Gründe — Aussicht auf Profite — auf das französisch-russische Bündnis hinstreben ließen. Ebenso war es auf Seiten des zaristischen Russland. Unter dem Schein des “Patriotismus” wurden für beide Parteien vorteilhafte Geschäfte abgeschlossen. Von den russischen Anleihen erhielten die französischen Kapitalisten sehr viel höhere Prozente als von anderen, und die Geldanlage war in Russland sicherer als in kleinen Staaten, Andererseits konnte Russland infolge seiner ungeheuer gestiegenen Ausgaben für militärische Zwecke und strategische Eisenbahnen seinen Bedarf an Kapital nicht mehr in Deutschland und Holland decken. Die russischen Finanzminister waren immer mehr bemüht, sich einen “Zugang” zu den größten Pariser Banken zu verschaffen. Außerdem hatte Bismarck im Jahre 1887 der Berliner Börse verboten, russische Werte zu lombardieren.

Alles das zusammengenommen diente als starker Antrieb zur Annäherung zwischen dem offiziellen Russland und dem offiziellen Frankreich. Das bedeutet nicht, dass Russland endgültig mit Deutschland gebrochen hatte. Das russische diplomatische Corps, das mit Recht ein Jesuitenorden genannt worden ist, war nicht abgeneigt, aus zwei Quellen zu trinken … In Deutschland rief das französisch-russische Bündnis eine große Besorgnis hervor. Zum ersten Male sprach man in Deutschland von der Möglichkeit eines Krieges an zwei Fronten: gegen Frankreich und gegen Russland. Die russische Diplomatie wünschte nahe Beziehungen zu Deutschland, mit dem sie außer allem anderen der reaktionäre Kurs der inneren Politik verband. Andrerseits wollte auch Bismarck keinen Bruch mit Russland, und er beabsichtigte, obgleich er Österreich Russland vorzog, zwischen beiden zu lavieren. Im Jahre 1887 schließt Bismarck mit Russland den so genannten Rückversicherungsvertrag ab — einen Vertrag zwischen Russland und Deutschland, der eine gegenseitige wohlwollende Neutralität garantiert im Falle, dass Deutschland und Russland von irgendeiner Macht angegriffen werden sollte.

Aber zu der Zeit beschäftigt sich Deutschland bereits mit Kolonialpolitik. Die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich ging auch auf dieses Gebiet über. Und hier mischte sich England ein.

Deutschland war damals noch kein ernster Rivale für das imperialistische England. Im Gegenteil, Deutschland war noch so schwach, dass es den englischen Imperialisten vorteilhaft erschien, es durch kleine Zugeständnisse zu bestechen und auf ihre Seite hinüberzuziehen. Im Juli 1890 wurde der englisch-deutsche Vertrag abgeschlossen. England tritt an Deutschland Helgoland ab, der Sultan von Sansibar tritt an Deutschland den Küstenstrich gegenüber der Insel Sansibar ab. Dafür zahlt Deutschland dem Sultan eine Geldsumme und anerkennt das Protektorat Englands über den Sultan. England willigt ein, die Insel Mafia und die Grenze im Norden bis zum Kongo im Süden bis Njassa Deutschland zuzusprechen. So erhält England für Helgoland Sansibar und Uganda.

Der englisch-deutsche Vertrag hatte die Rolle gespielt, dass er Deutschlands Politik von Russland weg zu England trieb. Caprivi, der Bismarck ablöste, setzte diese neue Politik der Annäherung an England offen fort. Er erneuerte nicht einmal den Rückversicherungsvertrag mit Russland, der 1890 ablief. Dieser Umstand rief wiederum eine noch größere Annäherung zwischen Russland und Frankreich hervor. Die englandfreundliche Politik Caprivis trieb Russland noch rascher Frankreich zu, und das nutzte Jules Ferry aus: das französisch-russische Bündnis kam endgültig zustande. Und seine Grundlage bildeten unter anderem die allgemeinen Gegensätze zwischen Frankreich und Russland einerseits und England andrerseits, und zwar sowohl in Europa als auch in Ägypten, China und im Stillen Ozean. Damals hatte sich Papst Leo XIII. mit der französischen Republik wieder ausgesöhnt und es schien, als segnete er dieses Bündnis Frankreichs mit Russland. So entstand das französisch-russische Bündnis.

Aber wie ist das französisch-russische Bündnis später zur Triple-Entente geworden? Um das zu beantworten, müssen wir in der Geschichte etwas zurückgehen. In der Triple-Entente spielte und spielt England die erste Rolle wie Deutschland im Dreibund. Aber eine Allianz zwischen Russland, Frankreich und England, in der England die Rolle eines Diktators ausübte, konnte erst verwirklicht werden, nachdem England auf dem imperialistischen Kampffeld seine beiden größten Rivalen — Frankreich und Russland — besiegt hatte.

So war es auch in Wirklichkeit. England unterwarf sich zunächst Frankreich. Dann fügte es Russland (mit den Waffen Japans) eine Niederlage bei, und erst dann schloss es mit beiden Rivalen einen Bündnisvertrag ab auf der Grundlage englischer Vorherrschaft. Das geschah — in allgemeinen Zügen — folgendermaßen: Der jahrelange blutige Kampf, den England gegen Frankreich noch in der Epoche der alten Kolonialpolitik führte, ist bekannt. Frankreich gehörte damals die Hegemonie, um die England rivalisierte. Der bekannte englische Schriftsteller I. R. Steley (Verfasser des Buches über die englische Expansion) stellte folgende Berechnung auf:

Seit der Revolution (1688) bis zu dem Kampf bei Waterloo haben wir (Engländer), man kann sagen — sieben große Kriege geführt. Der kürzeste dieser Kriege dauerte sieben, der längste gegen zwölf Jahre. Von 126 Jahren sind 64 in Kriegen vergangen … Von diesen sieben Kriegen waren fünf von Anfang an Kriege gegen Frankreich; die zwei übrigen wurden nach kurzer Zeit zu Kriegen gegen Frankreich (und endeten als solche).”11

Schon zu Ende des Mittelalters umfassen die Zusammenstöße zwischen England und Frankreich mehr als ein ganzes Jahrhundert (1339—1453) — schreibt Peez. In der neuen Epoche im Verlaufe des XVIII. und zu Beginn des XIX. Jahrhunderts sehen wir fünf große englisch-französische Zusammenstöße. Von 114 Jahren (von 1701—1815) erfüllen diese Kriege zwischen Frankreich und England 55 Jahre:

Der Krieg um die spanische Thronfolge

13 Jahre

(1701-1714)

Der Krieg um die österreichische Thronfolge

6

(1742-1748)

Der siebenjährige Krieg

7

(1756-1763)

Der Krieg um die Unabhängigkeit Nordamerikas

5

(1778-1783)

Die Napoleonischen Kriege

24

(1792-1815)

Zusammen

55 Jahre.12


Diese Kriege zwischen England und Frankreich endeten bekanntlich mit Siegen Englands. England gewann die Vorherrschaft. Seine Kriege gegen Frankreich, bis zu dem Krieg der großen französischen Revolution hatten gerade diese Eroberung der Vorherrschaft zur Aufgabe.

Aber trotzdem blieb Frankreich Englands ernster Rivale. Einige Jahrzehnte später begann es, sich von den Schlägen zu erholen. In der Zeit Napoleon III. erreichte es von neuem den Rang einer “Großmacht”.

Schon 1862 “erwarb” Napoleon III. für Frankreich Saigon in Hinterindien. Es waren kaum wenige Jahrzehnte vergangen, als Frankreich wieder zu einer Kolonialmacht ersten Ranges wurde und am neuesten Imperialismus teilnahm.

Die Rivalität zwischen Frankreich und England nahm auf neuer Basis, auf der Basis des modernen Imperialismus, ihren Fortgang.

In den sechziger Jahren konzentrierten die Franzosen ihre Aufmerksamkeit auf den Bau des Suezkanals, dem eine große internationale Bedeutung beigemessen wurde. Die Engländer widersetzten sich zunächst diesem Unternehmen, da sie fürchteten, der Kanal werde ihnen die Vorteile ihrer monopolen Lage nehmen. Als sich der Ingenieur Ferdinand de Lesseps im Jahre 1864 an Palmerston wandte und ihn bat, die Schwierigkeiten zu beseitigen, die die britische Diplomatie dem Projekt in Konstantinopel in den Weg legte, da antwortete Palmerston: “Nach Ansicht der britischen Regierung sei der Kanal eine physische Unmöglichkeit; wenn er gebaut würde, so werde er die britische Suprematie schädigen; und der Plan sei lediglich ausgeheckt, um die Einmischung Frankreichs im Orient zu befördern.”13

Als der Kanal trotzdem angelegt wurde, da riss England Frankreich diesen fetten Bissen geradezu vor der Nase weg. 1875 kaufte England 176.602 Aktien des Suezkanals, und dadurch bekam es den Kanal ganz in seine Hände. Damit begann zunächst die finanzielle und später die territoriale Unterordnung Ägyptens unter England.

Um Ägypten wurde ein langer und harter Kampf zwischen den englischen und französischen Imperialisten ausgefochten.

Das imperialistische Frankreich betrachtete Ägypten als sein “gesetzmäßiges” Gut. Hatte doch schon Napoleon I. Expeditionen dorthin ausgerüstet. Und trotzdem mussten die französischen Imperialisten schweigend dulden, dass die englischen Imperialisten 1882 nach dem Aufstand in Ägypten und dem Bombardement Alexandriens ihre Hände auf Ägypten legten. Frankreich musste schweigen, denn seine Flotte war bedeutend kleiner als die englische, sein Landheer aber war in Europa gefesselt — aus Angst vor Deutschland.

Den französischen Imperialisten blieb nur eines übrig: sich an anderer Stelle schadlos zu halten, soweit England damit einverstanden war. 1879 raubte Frankreich den Kongo, 1883 “erwarben‘‘ die französischen Imperialisten Cochin-China, Kambodscha und Annam. 1883-1885 führten sie Krieg gegen China um Tonking. 1893 erhielt Frankreich das Protektorat über Siam, 1894 Timbuktu, 1896 Besitzungen auf Madagaskar usw.

Aber die Reibungen zwischen Frankreich und England nahmen ihren Fortgang. Innerhalb von 7 Jahren brachen drei Konflikte ans: in Siam ‚ am Niger und am oberen Nil.

1896 beginnt der vor kurzem umgekommene englische General Kitchener einen systematischen Feldzug gegen den Sudan. Am 2. September 1898 vernichtet er mit einer Armee von 22.000 Mann bei Ondurman eine Derwisch-Armee von 40.000 Mann. Damit ist der Widerstand des Kalifen gebrochen. Aber zu gleicher Zeit machen auch die französischen Imperialisten Jagd auf den Sudan. Es werden französische militärische Expeditionen dorthin ausgerüstet. Kitchener, der sich den Nil aufwärts bewegt, begegnet einer französischen Expedition des Hauptmanns Marchand, der dort im Juli 1898 die französische Flagge gehisst hatte. Es kommt zum Konflikt. Am 11. Dezember 1898 geben die Franzosen unter dem Druck des englischen Ultimatums nach.

Tatsächlich ist es seit langem klar, dass Frankreich seinen Kolonialbesitz nur erweitern kann, soweit es dem englischen Imperialismus genehm ist. Aber 1898 wird das auch formell bestätigt. Eine französische Abteilung unter dem Kommando des Hauptmanns Marchand muss auf Geheiß Englands Faschoda verlassen. Das ist eine große Erniedrigung für den französischen Imperialismus. Er muss sich offen dem englischen unterordnen. England führt seinen Plan der Teilung des Sudans durch. Am 21. März 1899 wird zwischen Frankreich und England ein Vertrag abgeschlossen: der östliche Sudan mit dem Niltal wird als ‚‚Einflusssphäre‘‘ Englands, der westliche als ‚‚Einflusssphäre‘‘ Frankreichs anerkannt. Das Schicksal Ägyptens wurde im selben Jahre 1898 während des Faschoda-Konflikts endgültig besiegelt. 1899 erhielt England seine Rechte auf den Sudan. Um dieser Rechte willen war England, wie wir gesehen haben, zum Kampf gegen Frankreich bereit — so wichtig war ihm diese Frage. Das erklärt sich aus dem Umstand, dass der Sudan den Schlüssel zu Ägypten darstellt. wer im Sudan herrscht, besitzt Ägypten. Wer den Sudan in seinen Händen hält, der kann im Hochsommer sehr leicht Ägypten für vier bis sechs Wochen vom Nilwasser abschneiden, das in die Täler und Oasen der Libyschen Wüste abgeleitet werden kann. Dadurch würde ganz Ägypten von Assuan bis Alexandrien selbst in eine Wüste verwandelt werden. Spezialisten, Geologen und Techniker behaupten, dass einige von den Engländern unternommenen technischen Vorbereitungen in Assuan gerade diesem Zwecke dienen sollten.14

Das imperialistische Frankreich betrachtete sich als die zweite Macht nach England. Jetzt konnte England eine Annäherung an den ungefährlich gemachten Rivalen wünschenswert erscheinen. Eine solche Annäherung war für England um so notwendiger, als inzwischen der deutsche Imperialismus sein Haupt erhoben halte, der für sich ebenfalls “einen Platz an der Sonne” forderte. Der deutsche Imperialismus fletschte seine Zähne auf Marokko. Er begann ebenfalls Frankreich den Hof zu machen, um sich mit ihm zwecks einer gemeinsamen Ausbeutung der Türkei usw. zu verbünden. Da unternimmt der englische Imperialismus einen entschlossenen Schritt. Er beschließt, Deutschland zu isolieren, und zu diesem Zweck “gibt” er Frankreich Marokko. Natürlich nicht ohne Entgeht. Erstens muss Frankreich einen kleinen Teil des Gebiets an Spanien abtreten. Zweitens erhält Frankreich den wichtigsten marokkanischen Hafen, Tanger, nicht. Drittens, und das ist das Wichtigste, erhält England endgültig Ägypten.

Marokko für Ägypten! “Wir behalten Ägypten, ihr legt die Hände auf Marokko; andere Mächte haben dort nichts zu suchen. Will etwa Deutschland in Marokko seine kommerziellen Interessen wahrnehmen, so wird England euch schützen.” So formuliert den Inhalt des englisch-französischen Vertrages der deutsche Imperialist Professor Tönnies.15 Und im Wesentlichen hat er natürlich Recht.16

Ägypten für Marokko, Marokko für Ägypten! Die Anerkennung der Priorität des englischen Imperialismus von Seiten des französischen — das ist der Sinn des Vertrages des Jahres 1904.

Ein Abkommen von großer historischer Wichtigkeit war es, das England und Frankreich am 8. April 1904 unterzeichnet haben. Es legte die Grenzen fest zwischen den kolonialen Interessen Englands und Frankreichs überall, wo sie sich begegneten. In Neufundland, Westafrika, Ägypten, Siam‚ Madagaskar und den Neuen Hebriden. Und vor allem “regelte” es die marokkanisch-ägyptische Frage.

Gleichzeitig wurde ein Abkommen zwischen Frankreich und Spanien veröffentlicht, das ebenfalls Marokko betraf.

Doch in Wirklichkeit wurden zu der Zeit nicht zwei, sondern ganze vier Verträge abgeschlossen: zwei offene und zwei geheime. Zwischen England und Frankreich und zwischen Frankreich und Spanien wurden neben dem offenen Vertrag noch je ein geheimer abgeschlossen. In diesen Geheimverträgen, die erst im November 1911 veröffentlicht wurden, stand genau das Gegenteil von dem, was in dem offenen abgemacht war. In den offenen Verträgen wird von der Souveränität des Sultans von Marokko gesprochen, in den Geheimverträgen — wie Marokko aufzuteilen sei, wenn Frankreich die Souveränität des Sultans von Marokko beseitigt haben werde. Spanien wurde bestochen, indem man ihm Mehila, Cëuta und anderes versprach, ferner wurde die volle Unabhängigkeit Spaniens von Frankreich endgültig bestätigt. Andrerseits gab Frankreich England alle notwendigen “Garantien” bezüglich Ägyptens.

Die größten Vorteile bot dieses Handelsgeschäft nach Ansicht einer dritten “uninteressierten” Partei — nach Ansicht der deutschen Imperialisten — den französischen Imperialisten. Graf Reventlow schreibt darüber: “Frankreich befand sich zu Marokko in einer ganz anderen Stellung wie Großbritannien zu Ägypten. Die Engländer herrschten dort schon längst in jedem Sinne des Wortes und waren de facto auch international als Herren anerkannt. Mit den Franzosen stand es umgekehrt: sie wollten alles, aber sie besaßen nichts — als die Grenznachbarschaft durch Algerien.”17 Aber nach Faschoda konnte England mit Zugeständnissen an Frankreich freigebiger sein. Der von England erreichte Erfolg im Jahre 1904 war so groß, dass es mit Kompensationen für Frankreich nicht allzu geizig umzugehen brauchte.

Der Vertrag von 1904 bedeutete einen entschlossenen Schritt zur Vorbereitung der Triple-Entente. Die Bildung einer englisch-französischen “Entente cordiale” besagte, dass ein Glied in der Kette der Triple-Entente bereits fertig war. Der Ring musste nur noch von der anderen, der englisch-russischen Seite geschlossen werden.

Von kardinaler Bedeutung dafür war die Politik in Asien.

Den Ausgangspunkt für die Entwicklung in Asien bildet der Krieg Japans gegen China um Korea (1895). Japan ist bekanntlich aus diesem Kriege als Sieger hervorgegangen und schloss mit China den außerordentlich vorteilhaften Frieden von Simonoseki. Aber gegen Japan vereinigten sich Russland, Frankreich und Deutschland. Japan musste Port Arthur an China zurückgeben, das Russland “in Pacht” bekam. Japan bereitet sich zum Krieg schon nicht mehr gegen China, sondern gegen Russland vor. Am 30, Januar 1902 schließt England mit Japan einen Vertrag ab, der gegen Russland gerichtet ist. In Russland wird das mandschurische Abenteuer vorbereitet, Wilhelm II., der “Freund” Russlands, stößt Russland bewusst nach dem Fernen Osten hin, um seine Aufmerksamkeit vom Nahen Osten abzulenken.

1904 beginnt der russisch-japanische Krieg. England, das formell neutral ist, steht Japan bei. Aber nachdem Japan Russland besiegt hat, bemüht sich England während des Portsmouther Friedens zu verhindern, dass Russland an Japan Kontributionen zahlen muss. Es will kein zu starkes Russland, aber auch kein zu reiches Japan.

Im Jahre 1905 schließt England mit Japan ein Bündnis. Japan verpflichtet sich, Indien zu verteidigen usw. Im Jahre 1907 ist der Moment gegeben, in dem das imperialistische England mit seinem früher mächtigen, jetzt genügend geschwächten Rivalen Russland ein Bündnis schließen kann.

Unter der Feder der Verfasser des Abkommens, in seinen abgerundeten diplomatischen Sätzen, gewinnt der Vertrag ein sehr unschuldiges Aussehen. Er lautet: 1. Persien: “Die vertragschließenden Regierungen sind übereingekommen, dass jeder von ihnen aus geographischen und wirtschaftlichen Gründen ein besonderes Interesse hat an der Erhaltung des Friedens (!) und der Ordnung (!) in einigen Provinzen Persiens, die von der einen Seite an Russland, von drei anderen an Afghanistan und Belutschistan grenzen.” England verpflichtet sich, keinerlei Konzessionen politischen oder handelswirtschaftlichen Charakters jenseits der Linie, die durch Kaswa-Schirin durch Isfahan und Jesd geht, zu verlangen … und sich den Forderungen solcher Konzessionen in diesem Gebiet von Seiten der russischen Regierung nicht zu widersetzen (§ 1). Die gleiche Verpflichtung übernimmt die russische Regierung jenseits der Linie, die von der Grenze Afghanistans über Hasik, Birdschan, Kerman geht und in Bender-Abbas endet (§ 2). Zwischen den genannten Linien wird eine neutrale Zone festgelegt (§ 3). 2. Afghanistan: “Die britische Regierung erklärt, dass sie keine Absicht habe, die politische Lage Afghanistans zu ändern”, und dass sie dort “nur im friedlichen Sinne” arbeiten wolle. Russland “anerkennt, dass sich Afghanistan außerhalb der Sphäre russischen Einflusses befindet”.

3. Tibet: “Beide vertragschließenden Parteien verpflichten sich, die Gebietseinheit Tibets zu achten und auf jede Einmischung in seine innere Verwaltung zu verzichten (!) … Russland und Großbritannien verpflichten sich, mit Tibet nur durch die Regierung Chinas in Verbindung zu treten (§ 4). Beide Regierungen sind übereingekommen, dass kein Teil des Einkommens Tibets verpfändet oder sowohl Russland und Großbritannien als ihren Untertanen zur Verfügung gestellt werden kann” (§ 5).

Übersetzt in die gewöhnliche Sprache, kann der englisch-russische Vertrag von 1907 folgendermaßen zusammengefasst werden:

Die “Einflusssphären” in Persien sind verteilt: der Norden wird Besitz Russlands, der Süden der Englands. Der zentrale Teil bleibt neutral. England erhält Afghanistan, Tibet bleibt vorläufig formell unter Chinas Protektorat. Zweifellos enthielt dieser Vertrag auch geheime Punkte über die Teilung der Türkei — diesen alten Zankapfel Englands und Russlands. Zwei Räuber hatten sich miteinander ausgesöhnt, um zusammen Persien auszuplündern.

So schloss sich der Ring auch auf der anderen Seite. Die Triple-Entente wurde zur Tatsache. Ihre Etappen bildeten das englisch-französische Bündnis 1904, der Frieden zu Portsmouth 1905 und die Algeciras-Konferenz 1906. Es entstand ein starker imperialistischer Trust, in dem England die erste Stelle einnahm.

Nachdem es sich seine beiden Hauptkonkurrenten unterworfen hatte, schloss es mit ihnen ein Bündnis gegen den neuen stärksten Konkurrenten —- gegen das imperialistische Deutschland.

Das bedeutet nicht, dass der französische oder der russische Imperialismus sich durch England beleidigt, benachteiligt fühlten. Nicht im Geringsten! Sie bekamen auch mehr als genug. England konnte sich‘s leisten, freigebig zu sein, besonders da es stets mit fremdem Eigentum, fremdem Gebiet, fremder Unabhängigkeit zahlte. Das bedeutet nur, dass es England gelang, die ersehnte Vorherrschaft zu erhalten. Die Rivalen, von denen der eine es in Ägypten bedrohte, der zweite nach Indien hinüberschielte, sind in gewissem Sinne unterworfen worden, und alle Kräfte sind gegen den neuen Gegner — Deutschland — gerichtet.

Im Zeichen des Imperialismus entstand die Triple-Entente. Im Zeichen des Imperialismus lebte und lebt sie. Im Zeichen des Imperialismus ist die Triple-Entente zu einer Entente von fünf Mächten geworden. Im Zeichen des Imperialismus zerfiel der Dreibund und wurde er nachher zum Vierbund. Im Zeichen des Imperialismus können beide Gruppierungen morgen auseinander fallen. Im Moment, in dem diese Zeilen geschrieben werden, kann niemand genau sagen, auf welcher Seite Rumänien und Griechenland kämpfen werden -— wenn sie überhaupt mitkämpfen werden. Denn alles beruht auf dem Spiel der imperialistischen Interessen, auf Bestechung und Profitgier.

Die ganze Welt war in zwei starke imperialistische Trusts geteilt. Aber die Kapitalmagnaten und Kanonenkönige nahmen auf den Patriotismus keine besondere Rücksicht. Sowohl Krupp als auch Schneider-Creusot belieferten den beiderseitigen “Erbfeind”, den morgigen Gegner ihres ‚Vaterlands” mit Kanonen. Die Pariser Banken lehnten es nicht ab, sich an den Anleihen der Gegner der Triple-Entente zu bereichern. Die Regierungen und die Diplomatie konnten nicht (und wollten auch nicht) viel dagegen machen.

Im Herbst 1910 machte die französische Regierung einen sehr interessanten Versuch, die Interessen des Kapitals den Forderungen der Politik unterzuordnen. Ungarn wurde das Recht abgesprochen, eine 500-Millionen-Anleihe, von der ein Teil für Rüstungszwecke, d. h. so oder anders zur Stärkung des Dreibundes bestimmt war, in Paris zu realisieren. Gleichzeitig wurde die Genehmigung einer türkischen Anleihe aufgehalten, bis die Türkei sich zur Erfüllung einiger Bedingungen teils finanziellen, teils politischen Charakters bereit erklärte. Schließlich konnte man nicht übereinkommen und die Verhandlungen wurden abgebrochen. Der autoritäre (so qualifiziert ihn Fürst Trubetzkoj) Finanzkorrespondent der Zeitung “Temps” warnte die französische Regierung vor Missbrauch dieses Vetorechtes, der das Kapital veranlassen werde, Umwege zu suchen. Nach seinen Worten können Moral und Patriotismus unglücklicherweise nichts Praktisches tun in der Wahl der Werte für die Anlage des Geldes”.18 Der Humor des autoritären Tempskorrespondenten sieht einem Galgenhumor ähnlich, aber seine Bemerkung trifft ins Schwarze.

Wer gibt am meisten? — das ist das Hauptprinzip der ganzen Politik der imperialistischen Regierungen. Sowohl dies Entstehen der Bündnisse als ihr Zerfall gehen im Zeichen des Imperialismus vor sich. Heute ist diese Kombination günstig, morgen jene. Das ist gerade das charakteristische Merkmal des Imperialismus, dass er unbeständige und unsichere Situationen schafft, die Erschütterungen, Katastrophen, Kriege, Revolutionen hervorrufen. Wir haben gesehen, dass der Imperialismus der Geburtshelfer sowohl des Dreibundes als der Triple-Entente gewesen ist.

1 Vergl Gottlob Engelhaaf, “Geschichte der Neuesten Zeit”, Stuttgart, 1908, 19. Buch § 6, “Frankreich 1871—1879”. Engelhaaf ist ein Verehrer Bismarcks, darum sind seine Geständnisse in Bezug auf diesen besonders wertvoll.

2 Unter Mitwirkung des Reichstags wurden die fünf Milliarden folgendermaßen verteilt: 120 Millionen Mark in die Kriegskasse, die in Spandau aufbewahrt wurde zur Erleichterung der ersten Schwierigkeiten im Kriegsfall; 500 Millionen in die Invalidenkasse ; 350 Millionen für Festungen und Kasernen. 116 Millionen Kriegsentschädigung für das Rheinland; 17 Millionen für die Schifffahrtsgesellschaften, die durch den Krieg Schaden erlitten hatten; 66 Millionen für die Flotte; 12 Millionen für 28 verdienstvolle Generale; 12 Millionen für die während des Krieges aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen usw.

3 Zu gleicher Zeit bemühte sich Delcassé, auch Ungarn zu bestechen, es vom Dreibund zu trennen. Enthüllungen haben bewiesen, dass Delcassé dem Führer der so genannten “Ungarischen Unabhängigkeitspartei”, von Ugron, Verhandlungen zwecks einer Propaganda für die “Freundschaft Russland und Frankreich” und der Bildung einer französisch-russisch-österreichischen Allianz pflegte. Hierfür wurde in Ungarn mit französischem Gelde eine spezielle Bank gegründet.

4 Reventlow, “Deutschlands auswärtige Politik 1888—1913”, S. 192

5 Lemonon, “Europe et la politique britannique” (1882—1909) Paris, Alcan, 1910, S. 484.

6 “Unseres Erachtens — sagt diesbezüglich Fürst G. N. Trubetzkoj — War das ein großer Fehler von Seiten der französischen Regierung, die dem Druck der Freimaurer (!) zu sehr nachgab und leichten Herzens auf die Seit Jahrhunderten bestehende Stütze ihrer Politik im Osten verzichtete” (“Russland als Großmacht”, S. 82).

7 a.a.O., S. 83

8 a.a.O., S. 92f.

9 Trubetzkoj, “Russland als Großmacht”, “Großrussland”, 1. Buch, S. 29.

10 a.a.O., S. 30

11 I. R. Seeley, “Expansion of England”, 6. Aufl., S. 24/28.

12 “Englands Vorherrschaft, aus der Zeit der Kontinentalsperre”, von Alexander Peez und Paul Dehn, Leipzig, 1912, S. 35

13 Prof. Tönnies, ‚Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung”, Berlin, 1915, S. 61

14 Siehe hierüber Näheres in “Ägypten einst und jetzt‘‘, von Friedrich Kayser und Ernst M. Roloff, 1908, S. 240/241 u.a.

15 Tönnies, “Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung”, S. 62

16 Wie diese Formel durch die zweite: Marokko für Tripolis, Tripolis für Marokko, ergänzt wurde, davon sprachen wir oben.

17 Graf Ernst von Reventlow, “Deutschlands auswärtige Politik”, 1888 bis 1913”, S. 222.

18 Fürst G. N. Trubetzkoj. “Russland als Großmacht”, S. 90.

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