IV. ENGLAND UND DEUTSCHLAND VOR DEM WELTKRIEG.

IV. ENGLAND UND DEUTSCHLAND VOR DEM WELTKRIEG.

This war is not made in Germany, butMade in Germanyis the reason of the war.”1

England und Deutschland als Konkurrenten.

In den Krieg sind 1914-1916 unmittelbar gegen 15 Staaten hineingezogen worden. Indirekt nehmen alle, oder fast alle übrigen Mächte in dieser oder jener Weise an ihm teil. Und da der Krieg, nach der richtigen Definition von Clausewitz, die Fortsetzung der Politik ist, nur mit anderen Mitteln, so müsste man, wollte man die Ursachen des Weltkrieges erschöpfend erklären, die ganze Geschichte der Weltpolitik eingehend schildern. Wir verfolgen mit vorliegender Arbeit nicht dieses Ziel. Wir haben nur die Absicht, in ganz allgemeinen Zügen die Ursachen zu behandeln, die den gegenwärtigen Krieg hervorgerufen haben. Um aus dem ganzen, ungeheuer großen Komplex der ineinander verflochtenen Ereignisse, die zum Krieg geführt haben, die charakteristischsten und wesentlichsten hervorzuheben, wählen wir vor allem den Kampf zwischen England und Deutschland. Die englisch-deutsche Rivalität hat die größte, die entscheidende Rolle gespielt. England und Deutschland standen und stehen an der Spitze jeder der beiden Mächtegruppierungen. Von hier aus ist es unseres Erachtens am leichtesten, einiges Licht auf die Summe der Erscheinungen zu werfen, die zum Weltkrieg geführt haben.

In der Mitte der neunziger Jahre beginnt das sich rasch entwickelnde Deutschland durch seine Industrie und seinen Handel die englischen Imperialisten, die an eine bedingungslose Weilherrschaft gewöhnt sind, ernstlich zu bedrohen. 1896 hält der frühere Premierminister Englands, Lord Rosebery, eine Rede, in der er öffentlich erklärt:

Uns droht ein furchtbarer Gegner, der uns ebenso bedrängt wie die Meereswellen das nicht befestigte Sandufer. Ich spreche von Deutschland. Der Handel Großbritanniens wird stets kleiner und alles, was wir verlieren, kommt zum größten Teil Deutschland zugute.”

Dass das die Ansicht nicht nur Lord Roseberys war, sondern auch der regierenden Kreise Englands im Allgemeinen, dafür zeugt das berühmte “Made in Germany”. In vollem Widerspruch zu der alten englischen Tradition des “free trade” schaffen die englischen Imperialisten 1887 ein besonderes Gesetz, demzufolge alle deutschen Waren, die nach England und in seine Kolonien zum Verkauf gebracht werden, den Stempel “Made in Germany” tragen müssen. Das war ein schlecht maskierter Versuch, einen Boykott der deutschen Waren in England zu organisieren. Der Hass gegen alles Deutsche wurde systematisch geschürt, und man hatte gehofft, der Stempel “Made in Germany” würde zu einem Zeichen der Verachtung in den Augen der breiten Käufermassen werden. In Wirklichkeit geschah das Gegenteil. Die verhältnismäßige Billigkeit der deutschen Waren hat dieses Hindernis überwunden, und “Made in Germany” wurde, im Gegenteil, zur besten Empfehlung für die Produkte der deutschen Industrie. Die englischen Imperialisten hatten sich verrechnet. Les affaires sont les affaires — sagen die Franzosen. Der Kaufmann kauft, was billiger ist und größeren Gewinn verheißt, selbst wenn die Ware das Kainszeichen tragen sollte.

In den englischen Kreisen, die der Gang der Ereignisse zur Ernüchterung gebracht hat, sagt man jetzt mit bitterem Sarkasmus: “This war is not made in Germany, but “Made in Germany” is the reason of the war.” — Dieser Krieg ist nicht in Deutschland gemacht, aber der Fabrikstempel “gemacht in Deutschland” (“Made in Germany”) ist seine Ursache. in diesen Worten liegt sehr viel Wahrheit. Die Rivalität auf dem Gebiet des Handels und der Industrie, der Kampf um die Profite — das ist die Hauptursache des Krieges.

Der jetzige Krieg geht um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt und um die Neueinteilung der Welt. Der offenherzige deutsche Imperialist Arthur Dix nennt diesen Krieg auch den Weltwirtschaftskrieg, und sein Programm sei kurz und klar: “Auf einen Schelmen anderthalb.” Seine Philosophie ist nicht kompliziert: Bist du ein Schelm und ein Gauner, so bin ich ein Schelm und ein Gauner zum Quadrat! Für einen Zahn — zwei Zähne! Mich stößt man in die Brust, ich antworte, indem ich den Gegner an der Gurgel fasse!

Wollte England den ganzen deutschen Weltwirtschaftsanteil an sich reißen und die deutsche Volkswirtschaft erdrosseln, so gibt es für uns darauf nur eine Antwort: das Streben nach Vernichtung des englischen Weltwirtschaftsanteiles und nach tödlichen Schlägen gegen die englische Volkswirtschaft.”2Weltmacht, Weltmarkt” — das sind die Losungen, die dieser deutsche Imperialist verkündet, dessen Programmbüchlein sich in Deutschland und Österreich eines so großen Erfolges erfreut hat. Um die Schönheit des Stils zu erhöhen, fügt er noch “und Weltkultur” hinzu. Aber es dürfte jedem klar sein, dass es sich nicht um “Kultur”, sondern um den Beutel handelt. Als einen “Kampf, heraus geboren aus wirtschaftlichen Beweggründen, der als der gigantischste Wirtschaftskampf aller Zeiten dastehen wird”,3 so charakterisiert diesen Krieg ein anderer bekannter deutscher Imperialist, der Abgeordnete Gustav Stresemann. Die Entwicklung der deutschen Kolonialpolitik, der deutschen Flotte und Deutschlands Industrie und Welthandel, das seien jene drei Faktoren, die die Beziehungen zwischen England und Deutschland bestimmen. Als Hauptetappen des industriellen Krieges Englands gegen Deutschland betrachtet der Abgeordnete Stresemann: 1. das Gesetz von 1887 (“Made in Germany”), 2. das für die deutsche Industrie ungünstige englische Patentgesetz (1907), 3. die Politik der staatlichen Subsidien für Schifffahrtsgesellschaften zum Zwecke der Förderung ihrer Konkurrenz gegen die deutsche Handelsflotte, und 4. die Zollpolitik Englands und seiner Kolonien, eine Politik, die Deutschland mit seinen “Phrasen von der offenen Tüv” gehörig übers Ohr gehauen habe.

Daher sind am Krieg gegen England vor allem die weitesten Kreise der Industrie und des Handels interessiert “Als die Nachricht von der Niederlage Englands bei St. Quentin an der Börse zu Hamburg bekannt wurde, da spielten sich dort Szenen eines Freudenausbruches ab, die man dem korrekt steifen Hamburger Kaufmannstand kaum zugetraut hätte.”4

Mit seinem Außenhandel von 19 Milliarden jährlich steht Deutschland heute nach Großbritannien (mit 25 Milliarden Außenhandel), an zweiter Stelle und noch vor den Vereinigten Staaten (15 Milliarden). Deutschland ist die zweite Handelsmacht der Welt geworden. “Von dem Augenblick an, da Deutschland, nachdem es seine Aufgabe auf dem Gebiet der Kontinentalpolitik erfüllt und seine Lage in Europa gesichert hatte, zu verstehen gab, dass es nicht geneigt sei, auf eine Weltpolitik zu verzichten, stellte es sich England in den Weg”5 — sagt Fürst Bülow. Und obgleich derselbe Fürst Bülow an einer anderen Stelle seines Buches erklärt, dass die deutsche politische Methode nicht die Methode eines Kaufmanns sei, der auf jedes Risiko hin spekuliert, sondern eher die Methode eines Bauern, der, langsam und sicher vorwärts scheitend, sorgfältig seinen Acker bestellt und ohne Ungeduld die Ernte abwartet,6 so stehen doch auf beiden Seiten zwei konkurrierende “Kaufleute” die Vertreter des Finanzkapitals, einander gegenüber.

Die liberale Freihandelspolitik wird von England nur noch wenigen seiner Kolonien gegenüber ausgeübt, und zwar nur den Dominions gegenüber (gegen 18 Millionen Kolonisten, die in autonomen Kolonien leben). Der über 300 Millionen starken farbigen Bevölkerung der Kronländer (Indien usw.) gegenüber wird die alte (merkantile) Politik der Vergewaltigung und der Unterdrückung durch Zollsysteme angewandt.

Die Neigung zu Schutzzöllen wächst in England, wie die Resultate der Parlamentswahlen 1906 und 1910 unwiderleglich bewiesen haben.7 Das verschärft die Rivalität zwischen England und Deutschland in hohem Maße.

Alle Ereignisse der Weltpolitik unserer Zeit werden bestimmt durch den Interessengegensatz des deutschen und des englischen Imperialismus”, schrieb Otto Bauer während des Balkankriegs 1912. Und in diesen Worten liegt keine Übertreibung. Seitdem der deutsche Imperialismus genügend erstarkt ist, um als erster Rivale des englischen Imperialismus gelten zu können, finden in allen Winkeln der Erde feindliche Zusammenstöße zwischen England und Deutschland statt.

Weltpolitik und deutsche Flotte.

Um die Möglichkeit zu haben, dem imperialistischen England ernstlich die Hegemonie streitig zu machen, brauchte das imperialistische Deutschland vor allem eine Flotte.

Die Frage der Flotte ist eine der Hauptfragen, um deretwillen England und Deutschland sich feindlich gegenüberstanden.

Die Vorherrschaft Englands in der Weltpolitik beruht vollkommen auf der Macht seiner Flotte. Darum sehen die regierenden Kreise Englands, die eine Reihe von Generationen hindurch aus der englischen Vorherrschaft Milliarden schöpften, mit Eifersucht auf das Entstehen einer starken Flotte bei anderen Mächten. Sobald irgendwo eine starke Flotte im Entstehen begriffen war, wurde sie systematisch von England vernichtet. Im XVI. Jahrhundert vernichtete England die Armada Philipps II., im XVII. Jahrhundert die holländische Flotte, während der Napoleonischen Kriege versetzte England der französischen Flotte bei Toulon (1793) vernichtende Schläge, der spanischen bei St. Vincente (1797), der holländischen bei Camperdorn (1797), der französischen bei Abukir (1798), der neapolitanischen unter Napoleon (1798), den Resten der holländischen Flotte (1799), der dänischen (1801), der französisch-spanischen bei Trafalgar (1805), der dänischen bei Kopenhagen (1807). Nach der Berechnung der Engländer haben sie während der napoleonischen Kriege 260 große und 980 kleine Kriegsschiffe erobert und in der Zeit zwischen 1801 und 1812 2,500 bis 4000 fremde Handelsschiffe beigebracht, die sich als brauchbar erwiesen und in die englische Handelsflotte eingereiht wurden.

So sah England auch in der neuesten Zeit natürlich um so misstrauischer nach Deutschland hinüber, je stärker dort die Flotte wurde.

Die deutschen Imperialisten aber mussten sich von den ersten Schritten ihrer Eroberungspolitik an immer mehr überzeugen, dass das Vorhandensein einer soliden deutschen Flotte für sie eine conditio sine qua non war. Die Vertreter der Militärkaste mit Wilhelm II. an der Spitze hoben in ihrer Propaganda für die deutsche Flotte Motive “heroischen” Charakters hervor und huldigten dem Kultus der militärischen Romantik. Die Vertreter der imperialistischen Bourgeoisie jedoch begnügten sich mit rein geschäftlichen Motiven. Kurz vor Kriegsausbruch schrieb der bekannte deutsche Imperialist Ruedorffer: “Als — ein einiges Deutsches Reich geschaffen und so dem deutschen Volke die äußere Möglichkeit weltpolitischer Betätigung gegeben wurde, war es spät geworden; die besten Stücke des Erdkreises waren verteilt. Jeder Staat habe sein Expansionsgebiet vor der Türe: Russland hat Asien, Österreich-Ungarn den Balkan, Frankreich und Italien die afrikanische Nordküste, das meerumflossene England die Welt”.8 Deutschland müsse sich in weiterer Entfernung Kolonien suchen. Dazu, für die Beteiligung an der Weltpolitik, brauche es eine Flotte.

Bis zu den achtziger Jahren sind nur England, Frankreich (seit Napoleon III.) und Russland große Weltmächte im modernen Sinn gewesen. Nach den achtziger Jahren betreten drei in diesem Sinne neue Weltmächte die historische Arena: Deutschland, die Vereinigten Staaten Amerikas und Japan. Und für jede von diesen drei Mächten wird die Gründung einer eigenen Kriegsflotte zu einer Frage erster Ordnung.

Wir haben gesehen, dass schon seit Beginn der achtziger Jahre die Achillesferse des Dreihunds der Mangel an einer eigenen bedeutenden Flotte war. Die deutschen Politiker nannten das “eine Lücke in der Ausrüstung des Dreibunds”. Diese kleine Lücke hat seinerzeit den Dreibund in eine große Abhängigkeit von England gebracht. Nur dank dem Wohlwollen Englands — “England gibt die Flotte, der Dreibund das Landheer”, so lautete damals Bismarcks Losung — konnte Italien im Dreibund gehalten werden.

Diese ihre Schwäche, diese “Lücke in der Ausrüstung” fühlten die deutschen Imperialisten auf Schritt und Tritt; je mehr sie auf eigenen Füßen standen, um so mehr.

Gegen Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre verfolgt der Nachfolger Bismarcks, Caprivi, bekanntlich die Politik der Annäherung Deutschlands an England — auf Kosten der früheren deutsch-russischen Freundschaft. Eins der Momente, das diese englisch-deutsche Annäherung ermöglichte, war das französisch-russische Bündnis. Gegen Ende der achtziger Jahre war es bereits genügend vorbereitet. Galt dieses Bündnis einerseits Deutschland, so war es andrerseits zu jener Zeit auch gegen England gerichtet. Im Jahre 1889 führte England ein großes Schiffbauprogramm durch, wie es bis dahin noch nicht dagewesen war — National Defence Act —‚ das sich gegen Frankreich und Russland richtete. Zur Grundlage dieses Programms wurde damals der so genannte “Zwei Mächte-Standard” gelegt, d. h. die Gefahr eines Krieges gegen die vereinigten Mächte Frankreich und Russland.

Ein anderes Moment, das die Möglichkeit einer Annäherung zwischen England und Deutschland erleichterte, war die damalige außergewöhnliche Schwäche Deutschlands zur See. Diese Schwäche war so groß, dass England jede Möglichkeit einer Rivalität von Seiten Deutschlands für lange Zeit als ausgeschlossen betrachtete. Als im August 1889 Wilhelm II. der Ehrentitel eines Admirals der englischen Flotte verliehen wurde, als im Juni 1890 England an Deutschland Helgoland abtrat, da war das der Ausdruck der damaligen Ansicht Englands über die “Seemacht” — vielmehr Seeohnmacht — Deutschlands.

Für die Insel Helgoland erhielt England Uganda und Sansibar, außerdem noch einige “Kleinigkeiten”. Nach Zustandekommen des Handels behaupteten die englischen Imperialisten sie hätten ihre deutschen Freunde übers Ohr gehauen und nicht im Gegenteil. Lord Salisbury sagte: Helgoland sei einfach eine wertlose “sentimentale Insel”. Lord Stanley wird die Bemerkung zugeschrieben, England habe für einen alten Hosenknopf einen ganzen Anzug erhalten. Die deutschen Imperialisten behaupteten das Gegenteil — sie hätten ihre englischen Freunde sehr geschickt hinters Licht geführt. Graf Reventlow ist überzeugt oder sagt wenigstens, er sei überzeugt, dass niemand Deutschlands Nöte zur See so genial vorausgesehen hätte, wie Wilhelm II. Dieser soll angeblich schon im Jahre 1890 vollkommen klar verstanden haben — im Gegensatz zu Bismarck —welch große Rolle Helgoland infolge seiner geographischen Lage für die zukünftige deutsche Flotte spielen werde.9

Tatsache bleibt es jedenfalls, dass die englische Regierung freiwillig — aber gegen eine gute Entschädigung Deutschland einen wichtigen Stützpunkt zur See von großer strategischer Bedeutung abgetreten hat: die Nähe von Hamburg, Kiel und Bremen gibt Deutschland große Vorteile und nimmt England einen wichtigen Punkt, von dem aus es innerhalb kürzester Zeit einen Angriff gegen Deutschland unternehmen könnte. Ein solches Geschäft war nur möglich, weil England zu jener Zeit Deutschland als Seemacht absolut nicht ernst nahm.

Als Wilhelm II. den Thron bestieg, stand die deutsche Flotte an fünfter Stelle. An unbestritten erster Stelle stand England. Frankreichs Flotte besaß einen Tonnengehalt, der zwei Dritteilen der englischen gleich war, der Tonnengehalt der italienischen und der russischen Flotte entsprach zwei Fünfteln der französischen. Dann erst kam die deutsche Flotte. In qualitativer Beziehung stand die deutsche Flotte auf noch tieferer Stufe.10 Die englische Flotte war in beständigem Wachsen begriffen. Im Jahre 1890 erblickte das Licht der Welt das erste Schiff, das den jetzt so berühmt gewordenen Namen “Dreadnought” führte.

Indessen schritt die industrielle Entwicklung Deutschlands rasch vorwärts und die Schwäche seiner Flotte wurde immer schwerer zu tragen. Bismarck behauptete, dass Deutschland bis 1866 eine preußisch-deutsche, bis 1870 eine deutsch-europäische, von dann an eine Weltpolitik verfolgt habe. Man durfte, mit der Zukunft rechnend, auch die Vereinigten Staaten nicht vergessen, die sich in industrieller Beziehung so sehr entwickelten, dass sie zu einem gefährlichen Rivalen werden konnten, einem Rivalen, dessen Gefährlichkeit sich die meisten überhaupt nicht vorzustellen vermochten. Um der Gefahr zum begegnen, musste man sich bewaffnen, musste man eine Flotte haben.

Im Lager des jungen deutschen Imperialismus wird der Gedanke des Ausbaus einer starken Flotte immer populärer. Wilhelm II. brachte diese Stimmungen in einer Rede zum Ausdruck, die er zur Feier des 20-jährigen Bestehens des Deutschen Reiches hielt. In dieser Rede, die als ein ganzes Programm aufgefasst wurde, sagte der Kaiser: “Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat. An Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern.” Und diese “Herren”, die deutschen Imperialisten, nahmen diese Aufforderung, die ihnen aus der Seele gesprochen war, mit freudiger Zustimmung auf.

Auf diese bedeutsame Rede Wilhelm II., die die Ziele des imperialistischen Deutschlands zum Ausdruck brachte, antwortete sofort die einflussreichste englische Zeitung “Times”, die mit Besorgnis erklärte: “Die Verkündung eines zukünftigen, anderen Deutschen Reiches muss unbedingt einige ernste Fragen aufwerfen: Aus welchen noch nicht verteilten Ländern wird dieses (erweiterte) Deutsche Reich bestehen, oder welchem Lande gedenkt Deutschland mit Hilfe eines Krieges die diesem Lande schon gehörenden Besitzungen abzunehmen?” Eine leicht begreifliche Besorgnis! Ein neuer Konkurrent in der Eroberung der Welt ist erstanden. Aber wo wird er auf Raub ausgehen, da alles oder fast alles schon geraubt und verteilt ist? Führt er vielleicht etwas im Schilde, gegen unseren “rechtmäßig” erworbenen Besitz oder gegen das, was morgen “rechtmäßig” unser Besitz werden soll?

Während das imperialistische England mit dem imperialistischen Frankreich (und Russland) in Feindschaft lebt, beginnt das imperialistische Deutschland seine Flotte zu bauen. 1893 wird der erste ernste Schritt in dieser Richtung getan. 1897 bis 1898 tut Deutschland den entscheidenden Schritt. Ein großes Schiffbauprogramm wird durchgeführt. Es werden gebaut: 19 Linienschiffe, 8 Panzerschiffe, 42 Kreuzer. Bald darauf 8 Divisionen Schlachtschiffe zu je 4 Linienschiffen, 10 Minenleger: dann wiederum 22 Kreuzer usw.11

Seit 1891 ist der Bau einer für den Schutz unserer Interessen zur See genügend großen Flotte zur Lebensfrage geworden” sagt in seinem Buch der frühere Reichskanzler Fürst Bülow “Es ist das große historische Verdienst Wilhelm II., dies verstanden zu haben. Die Schaffung dieser genügend großen Flotte war die erste Aufgabe der deutschen Politik der Nach-Bismarck-Epoche. Es war die unaufschiebbare Aufgabe, an deren Verwirklichung auch ich mitarbeiten musste.”12 Der Bau der Flotte wurde von England mit eifersüchtigem Missbehagen aufgenommen. Ein militärischer Zusammenstoß mit England musste aber vermieden werden. “Während unsere Flotte gebaut wurde, musste unsere Lage auf dem Kontinent erhalten und gleichzeitig musste ein Konflikt mit England vermieden werden, dem wir zur See noch nichts entgegenstellen konnten”, — schreibt Fürst Bülow.13

In Deutschland schrie man viel über das böse Albion, das den Bau der deutschen Flotte stören wollte. Fürst Bülow war bemüht, über diesem Gezeter zu stehen — wenigstens versuchte er es vor dem Kriege. “In Wirklichkeit ist diese so genannte Böswilligkeit nichts anderes als ein gesunder und gerechter nationaler Egoismus, den andere Völker sich nur zum Beispiel nehmen könnten”, — schreibt Fürst Bülow.14 Die Imperialisten verschiedener Marke verstehen einander oft sehr gut…

Indessen wurde der Konkurrenzkampf zwischen England und Deutschland auf dem Weltmarkt gegen Ende der neunziger Jahre stets erbitterter. Im Herbst 1897 schrieb das einflussreiche englische Wochenblatt “Saturday Review”: “England … und Deutschland … rivalisieren miteinander auf jedem Fleck der Erdkugel. In Transvaal, Kapland, in Mittelafrika, Indien, Ostasien, auf den Inseln der Südsee und im fernen Nordwest — überall, wohin nach der Bibel die Marineflagge und nach ihr der Handel eindrangen, — an all diesen Orten konkurriert der deutsche commis voyageur mit dem englischen … Eine Legion kleiner Konflikte bereiten den größten Zusammenstoß vor, den die Welt je gesehen hat. Könnte Deutschland morgen vom Erdboden verschwinden, würde es morgen keinen Engländer gehen, der dadurch nicht reicher geworden wäre. Die Völker haben Jahre hindurch um irgendeine einzige Stadt oder um eine Thronfolge Krieg geführt, können sie also jetzt auf Kriege verzichten, wo es sich um einen jährlichen Handel im Umfange von fünf Milliarden handelt?”

Gegen Ende der neunziger Jahre wurden die Beziehungen zwischen England und Deutschland immer gespannter. Im Frühjahr 1898 wandte sich der Engländer Sidney Whitman, ein persönlicher Bekannter Bismarcks, an diesen mit einem Brief, in dem er fragte, ob es nicht möglich sei, irgend etwas zur Besserung des Verhältnisses zwischen England und Deutschland zu tun. Aber Bismarck antwortete, er “bedauere, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und England nicht besser seien, als sie eben sind. Bedauerlicherweise wisse er kein Mittel dagegen, da das einzige ihm bekannte, das darin bestehe, dass wir unserer deutschen Industrie einen Zaum anlegten, nicht gut anwendbar sei”.15

Im Jahre 1896 schlug die deutsche Marineflagge im Hamburger Hafen zum ersten Mal die englische. England verlor seine außerordentlich vorteilhafte Rolle als Vermittler, die es für Deutschland spielte, als dieses noch keine eigene Flotte besaß. Von 1886-1896 stieg der Seehandel Deutschlands mit England — in Tonnen gerechnet nur um 35 Prozent, mit Schweden um 97 Prozent, mit Österreich-Ungarn um 34 Prozent, mit den Vereinigten Staaten um 128 Prozent, mit Mexiko, Mittel- und Südamerika um 317 Prozent, mit Indien und Ostasien um 488 Prozent, mit Australien um 475 Prozent, mit Südafrika um 250 Prozent usw.16

Die Rivalität zwischen England und Deutschland wuchs ständig. Aber wie England zu der Zeit nicht an einen Krieg gegen Deutschland denken konnte, so konnte Deutschland noch weniger an einen Krieg gegen England denken. Englands Stellung war immer noch gegen Frankreich gerichtet. Und obgleich die französischen Minister England gegenüber erklärten: Wir haben keinen Feind außer Deutschland, — so konnten sich die englischen Imperialisten doch nicht darauf verlassen. Andererseits hatten es die englischen Imperialisten zu der Zeit auf Transvaal abgesehen. Die südafrikanische Politik stand für sie auf der Tagesordnung und verlangte die Konzentrierung aller Kräfte. Aber, wie schon gesagt, auch Deutschland konnte nicht kämpfen. Und das aus einem sehr einfachen Grunde: Es besaß keine Flotte.

Natürlich betrachteten die deutschen Imperialisten es als ihr gesetzmäßiges Recht, die Schwierigkeiten ihres Gegners in Südafrika auszunützen. Warum auf sein Glück verzichten? Daher die berühmte Sympathiedepesche an die Buren (in der Person Krügers) die Wilhelm II. (am 3. Januar 1896) absandte. Daher die ganze Propaganda zugunsten der Buren von Seiten der deutschen Bourgeoisie, die die Empörung der englischen Imperialisten hervorrief.

Die deutsche “Liebe” für die Buren war übrigens auch aufs engste verknüpft mit der Liebe der deutschen Imperialisten für die portugiesischen Kolonien. Schon seit den 90er Jahren beschweren sich die deutschen Imperialisten unaufhörlich über die “Ungerechtigkeit” einer Lage, in der irgendein Portugal fast über mehr Kolonien verfügt als Deutschland, 1894 entsendet Deutschland zwei Kriegsschiffe nach der Delagoa-Bai, um gegen die indirekte Einmischung Englands in die portugiesischen Konflikte zu demonstrieren. Imperialisten treten bekanntlich stets für die volle “Selbständigkeit” fremder Kolonien ein … Dieser Schritt war von großer Bedeutung, weil zu jener Zeit schon der Konflikt zwischen den Buren und England heranreifte. Die Entsendung der beiden Schiffe wurde von den Buren direkt begrüßt.

Als drei bis vier Jahre später der Burenkonflikt und die allgemeine Lage den englischen Imperialisten eine Politik vorübergehender “Annäherung” an Deutschland diktierten, da kamen sie den deutschen Imperialisten entgegen und traten ihnen Portugiesisch-Angola ab. Oder vielmehr, sie versprachen, die Kolonie abzutreten. Ein Geheimvertrag gab Deutschland die Garantie, dass, wenn unvermeidlicher Geldmangel Portugal zwingen sollte, seine Kolonien zu verkaufen, Deutschland beim Ankauf den Vorrang haben würde. Der Vertrag betraf Mozambique, Angola, Benguela, Mossamedes und Portugiesisch-Kongo. England und Deutschland waren sich einig geworden über die Verteilung dieser Kolonien untereinander, setzten die Preise fest, die an Portugal zu zahlen waren usw.

Der diesbezüglich im Winter 1899 befragte Fürst Bülow erklärte, dass er hierüber nicht offen sprechen könne, da England und Deutschland übereingekommen seien, den Vertrag geheim zu halten. Außerdem handle es sich nur um Pläne, die vielleicht in Zukunft verwirklicht würden. Jedenfalls zeichnete Bülow das Verhältnis zu England in den lichtesten Farben. “Ob jenes Angola-Abkommen gleichzeitig Deutschland verpflichtet, Großbritannien den Burenrepubliken gegenüber freie Hand zu lassen, ist eine Frage, die nicht einwandfrei beantwortet werden kann. Es ist besonders in Deutschland vielfach behauptet worden”, — schreibt Graf Reventlow.17

Das Geschäft auf Kosten Portugals kam zustande. Aber da die deutschen Imperialisten das Versprochene nicht sofort erhielten, so “vergaßen” die englischen Imperialisten ihr Versprechen kurze Zeit darauf, gleich nachdem sich die Umstände geändert hatten. Die deutschen Imperialisten waren empört und schrieben diese Böswilligkeit den Streichen Eduard VII. zu. Die Frage der portugiesischen Kolonien spielte in der Folge noch eine bedeutende Rolle in den englisch-deutschen Beziehungen. Die portugiesischen Kolonien stachen den deutschen Imperialisten ins Auge. Und um ihretwillen müssen sie noch jetzt Krieg führen.

Die deutschen Imperialisten hofften für die “Abtretung” der Burenrepubliken an die Engländer die portugiesischen Kolonien zu erhalten. Der übliche Kuhhandel zweier imperialistischer Cliquen untereinander! Wir geben euch die Buren ab, die wir so heiß lieben, so hoch schätzen — und ihr gebt uns dafür die portugiesischen Kolonien … Wir und ihr werden mit fremdem Gut zahlen und die Interessen “zweier großer Nationen” werden befriedigt sein! “Dazu kam … der Gedanke, dass Portugal früher oder später den Wunsch hegen könne, sich seiner Kolonien zu entledigen” schreibt der deutsche Imperialist Reventlow.18 Daher die Erpresserpolitik von Seiten der deutschen Imperialisten.

Und der Vorwand sah so ehrbar aus! “Wir” verteidigen die Unabhängigkeit der armen Buren “Die Billigung von Seiten der öffentlichen Meinung wäre uns sicher gewesen, wenn wir versucht hätten, die gegen die Buren erhobene Hand Englands anzuhalten”, schreibt Fürst Bülow, “aber” — fügt er offen hinzu — wir waren nicht stark genug zur See.”19

Wieder und immer wieder ist es dieselbe Weise: schaffen wir eine eigene Flotte, sonst sind wir gegen England machtlos, sonst schnappen unsere Konkurrenten uns die besten Bissen weg, sonst können wir weder die portugiesischen noch irgendwelche anderen Kolonien rauben, die so schön daliegen und nach denen man nur die Hand auszustrecken brauchte. Ohne Flotte lässt sich nichts erobern. Das Resultat sind nur Raubversuche mit unzulänglichen Kräften oder, wie sich Graf Reventlow ausdrückt, “Versuche, Weltpolitik zu machen mit ungenügenden Mitteln”. Gebt uns eine Flotte, und wir werden den englischen Konkurrenten auf die Knie zwingen!

Und die deutschen Imperialisten beginnen fieberhaft den weiteren Ausbau der Flotte. Dem Jahre 1898 folgt das Programm des Jahres 1900. Nach diesem Programm soll die Stärke der Flotte auf das Doppelte erhöht werden. Es werden Summen für neue 38 Linienschiffe, 14 große Kreuzer, eine Menge kleiner Kreuzer und Minenleger bewilligt.

Zu gleicher Zeit bauen auch Japan, Russland, Frankreich und die Vereinigten Staaten sehr intensiv an ihren Kriegsflotten. Der Beginn des XX. Jahrhunderts ist die Epoche des wütendsten Wetteiferns auf dem Gebiet des Kriegsschiffbaus.

England sah mit Zähneknirschen dem Rüsten der deutschen Imperialisten zu. Bülow lavierte, solange es ging, zwischen England und Russland. Daher — der Reihe nach — bald Erkaltung der Beziehungen zu England, bald neue Annäherung. Unverändert bleibt für die deutschen Imperialisten nur eine Losung: Jede Situation muss für die Stärkung unserer Flotte ausgenutzt werden.

lm Oktober 1900 schließt Deutschland mit England einen Vertrag, der China betrifft. Beide Mächte verpflichten sich, für die territoriale Unabhängigkeit Chinas einzutreten und garantieren einander die offene Tür für den Handel. Aber bald folgt der Annäherung eine Erkaltung der Beziehungen. Nach dem Boxerkrieg lässt Russland seine Truppen in der Mandschurei. Deutschland erhebt dagegen keinen Protest, sondern erklärt im Gegenteil, dass der Vertrag mit England die Mandschurei nicht betreffe. Infolge der Ziele seiner eignen imperialistischen Politik war es für Deutschland günstig, Russlands Aufmerksamkeit vom Nahen auf den Fernen Osten zu lenken. Darum verbündete es sich jetzt mit Russland gegen England.

Die ganze Lage veranlasst das imperialistische Deutschland dauernd um sich zu blicken, — bald auf Russland, bald auf England “Zwei Gefahren drohten uns”, — schreibt Fürst Bülow. “Einerseits durften wir nicht erlauben, dass die Pläne unsrer gegen England gerichteten Politik gestört wurden. Andererseits durften wir nicht in Abhängigkeit von England geraten und seine Freundschaft mit einem so hoben Preis bezahlen.”20 Diese Politik des Lavierens zwischen zwei miteinander rivalisierenden imperialistischen Lagern nennen die deutschen Imperialisten stolz die Politik der “freien Hand”. In Wirklichkeit war das die Politik der geschickten Hand…

In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts findet, wie wir schon wissen, eine Annäherung statt zwischen England und Frankreich einerseits und Frankreich und Italien andrerseits. Den englischen Thron besteigt Eduard VII., der, dem Programm des englischen Imperialismus treu, bestrebt ist, Deutschland zu isolieren, es von allen Seiten mit Gegnern zu umgeben. Er ist nicht nur bemüht, ein festes Bündnis Deutschlands mit Italien und Russland zu verhindern und eine mögliche Aussöhnung mit Frankreich nicht zuzulassen, — er versucht auch, selbst Österreich, den alten Bundesgenossen Deutschlands, auf seine Seite zu ziehen. Den ersten Besuch nach seiner Thronbesteigung stattet Eduard VII. — Portugal ab. In feierlicher Versammlung hält er hier eine Rede, in der er den Wunsch zum Ausdruck bringt, dass “sich der Handel in unseren beiden Ländern (England und Portugal) und ebenso in unseren Kolonien, deren Unantastbarkeit der Gegenstand meiner heißesten Wünsche und Bestrebungen ist, erfolgreich entwickeln möge”. Das war eine Kriegserklärung an die deutschen Imperialisten. In Übersetzung in die Alltagssprache bedeutete das: Ihr deutschen Imperialisten träumt schon seit langem von den portugiesischen Kolonien. Ich aber erkläre euch im Namen der englischen Imperialisten, gestützt auf die Macht der britischen Flotte: Hände weg von den portugiesischen Kolonien!

1901-1902 beginnt die britische Admiralität energischere praktische Maßnahmen gegen die deutsche Flotte zu treffen. Die englische Flotte war zu der Zeit nach Reventlows Charakteristik sehr stark auf dem Papier, aber in Wirklichkeit sehr schwach. Die Hauptmasse der englischen Schiffe befand sich damals noch im Mittelländischen Meer, wo sie Malta als Stützpunkt hatten. Das Bündnis mit Frankreich war noch nicht gefestigt, und auf jeden Fall hielt England hier seine Flotte bereit gegen die französische Flotte, die Toulon zum Stützpunkt hatte. Andrerseits befand sich ein bedeutender Teil der britischen Flotte in den ostasiatischen Gewässern.

Im Sommer 1903 bringt die britische Regierung im Unterhaus einen Gesetzentwurf ein über die Bewilligung von Summen zum Bau eines neuen Flottenstützpunkts in der Nordsee. Es handelte sich um die Bucht in Firth of Forth, dem jetzigen Rosyth. Es war ein sehr ernster, gegen Deutschland gerichteter Schritt.

Es ist interessant, festzustellen, dass die englischen Imperialisten schon die bloße Tatsache, infolge der wachsenden Kraft der deutschen Flotte einer Beunruhigung ausgesetzt sein zu müssen, als beleidigend empfanden.

In dieser Dislokation der englischen Flotte sahen einige englische Imperialisten sogar eine Niederlage Englands “England hat seine erste Niederlage, sein erste moralische Niederlage erlitten. Es sah sich gezwungen, seine Flotte aus dem Mittelmeer zurückzuziehen”, schreibt der englische Professor Crambe. England als armes Waisenkind schildernd, fährt er fort: “Dieses (das Mittelländische) Meer war einst eine englische See. Jetzt ist es nicht mehr unser. Unsre Kraft ist jetzt darauf gerichtet, unsre lieben Freunde zu beobachten, jene Deutschen, die nicht die geringste Absicht zeigen, sich England zu nähern.”21

Arme, arme englische Imperialisten! Wie bitter ist die Ironie des Professors Crambe. Man denke! England musste sich aus dem Mittelmeer zurückziehen und in die Nordsee gehen, um diesen schrecklichen Deutschen die Pistole auf die Brust zu setzen. Armes Mütterchen, wie müde wirst du, wenn du den Vater prügelst!

Indessen nahmen die Ereignisse ihren Fortgang. 1904 war die englisch-französische “Entente cordiale” endgültig befestigt. Der russisch-japanische Krieg begann. Im Herbst 1904 erreichte die Spannung zwischen Deutschland und England einen hohen Grad. In England begann man offen über Deutschland zu sprechen als über einen Feind, der seine Flotte rüste, um sich mit den Feinden Englands zwecks eines Kampfes gegen die englische Weltherrschaft zu verbünden. Als die russische baltische Flotte die Nordsee verlassen hatte, um gegen Japan vorzustoßen, da erschien in der einflussreichen englischen Marinezeitschrift ‚ “The Army and Navy Gazette” ein von der britischen Admiralität inspirierter Artikel, der großen Eindruck machte. Dieser Artikel sagte offen, dass der Augenblick gekommen sei, um mit der deutschen Flotte abzurechnen. Die russische Flotte sei nach dem fernen Japan gegangen und werde kaum je zurückkehren. Die deutsche Kriegsflotte in den Gewässern der Nordsee sei auf sich selbst angewiesen. Jetzt oder nie! England müsse mit der deutschen Flotte ein Ende machen, die von Jahr zu Jahr gefährlicher werde. Niemand könne sagen, ob eine so günstige Situation je wiederkehren werde.

Eine solche Sprache führten damals die kriegslustigen Elemente Englands.

Aber im noch einflussreicheren Teil der englischen regierenden Kreise war, wie es scheint, die Hoffnung noch vorhanden, die deutschen Imperialisten ohne Krieg nur mit Hilfe diplomatischer Mittel auf die Knie zu zwingen. 1904 hielt der erste Lord der Admiralität, Lord Goschen, in der Kammer eine Rede, in der er sagte: “Ich erkläre ganz formell, dass die britische Regierung bereit ist, den Vorschlag jeder beliebigen Macht, der die Einschränkung der Rüstungen zur See betrifft, zur Diskussion anzunehmen.”

Diese Worte waren natürlich an Deutschland gerichtet. Zum ersten Mal sprachen die englischen Imperialisten vom Plan einer Herabsetzung der Rüstungen. Durch den Vorschlag der Einschränkung der Rüstungen hofften sie die deutschen Imperialisten in eine schwierige Lage zu bringen. Die Einstellung weiterer Rüstungen war für die englischen Imperialisten in dem Moment vorteilhaft: ihre Vorherrschaft zur See war immer noch sehr stark; gingen die deutschen Imperialisten auf die Einstellung weiterer Rüstungen ein, dann konnten sie England nicht einholen. Wir werden sehen, dass die Engländer später noch mehrfach auf diesen schlauen Plan zurückkamen.

Indessen fand die Dislokation der englischen Flotte statt. Die Freundschaft mit Frankreich war gefestigt und der größte Teil der Mittelmeerflotte wurde in die Nordsee befördert. “Der Schwerpunkt der Flotte Großbritanniens war aus dem Mittelmeer fortgerückt und in die Nordsee verlegt worden. Es ist keine Übertreibung, diese Verlegung zum den epochemachenden Ereignissen der politischen Geschichte Europas zu rechnen”, sagt Graf Reventlow.22

Die Ereignisse 1902-1905 können kurz folgendermaßen zusammengefasst werden: 1902 steht England noch gegen Frankreich im Mittelmeer; zwischen England und Deutschland beginnen sich die Beziehungen zuzuspitzen, das Verhältnis von England und Russland ist sehr gespannt. 1904: englisch-französische Freundschaft, englisch-japanisches Bündnis, Verschwinden der russischen Flotte aus den europäischen Gewässern. 1905: fast die ganze englische Flotte wird gegen Deutschland frei, die beschriebene Dislokation findet statt.

All das beantworten die deutschen Imperialisten ihrerseits mit einer starken Anspannung der Kräfte. Trotz ihres ungeheuren Umfangs erweisen sich die früheren Schiffbauprogramme als nicht ausreichend. Den Bau der Dreadnoughts in England beantwortet Deutschland von 1905 ab mit dem Bau eigner Dreadnoughts. Außerdem wird ein umfassendes Programm für den Bau von Unterseebooten entfaltet. Die Ausgaben für die Marine erreichen eine schwindelnde Höhe. Ein neues Programm für den Kriegsschiffbau, das bis 1914 verwirklicht werden soll, wird ausgearbeitet. Um den Bau der Dreadnoughts durchzuführen, müssen Milliarden für technisch vervollkommnete Hilfsmittel verausgabt werden.

Nach der Überführung der Flotte in die Nordsee beginnen die englischen Imperialisten die deutschen zu provozieren. Lord Arthur Lee hält eine Rede, in der er den Deutschen droht, die englische Flotte könne ihnen jetzt einen vernichtenden Stoß versetzen, bevor Deutschland selbst von der Kriegserklärung etwas erfährt. “Dreifach gesegnet, wer den ersten Stoß versetzt.” — ruft dieser Gegner begeistert aus. Eine einflussreiche englische Zeitung schreibt: “Wäre die deutsche Flotte im Oktober zerstört worden, nach dem Zwischenfall von Hull, so wäre der Friede für 60 Jahre garantiert,” Dem Lord der Admiralität John Fisher werden die Worte zugeschrieben, er hoffe, den Untergang der deutschen Flotte noch selbst miterleben zu können.

Wenn es damals nicht zum Krieg Englands gegen Deutschland gekommen ist, so wahrscheinlich nur, weil die englischen Imperialisten immer noch hofften, dass es ihnen mit Hilfe des englisch-französischen Bündnisses und ihrer Dreadnoughts ohnehin gelingen würde, ihre deutschen Rivalen niederzuwerfen.

Eine besonders wichtige Rolle spielte die Frage der Dreadnoughts. Die englischen Imperialisten hofften lange Zeit, dass ihre deutschen Konkurrenten aus Mangel an Geld und technischen Mitteln den Bau der Dreadnoughts nicht bewältigen würden. Aber die deutschen Imperialisten wussten, dass, wenn es ihnen nicht gelänge, diese Frage zu lösen, dies nach dem Ausdruck ihres Troubadours, des Grafen Reventlow, das deutsche Faschoda bedeuten wurde. Die industrielle Entwicklung Deutschlands barg, wie es sich erwies, soviel Kräfte in sich, dass auch diese schwierige Aufgabe gelöst werden konnte. Die englischen Imperialisten hatten sich verrechnet. Ja, sie hatten entgegengesetzte Resultate erzielt. Vor dem Bau der Dreadnoughts war die englische Flotte der deutschen stark überlegen. Doch die Ära der Dreadnoughts machte die früher gebauten kleineren Schiffe fast wertlos. Im Bau von Dreadnoughts konnten aber die Engländer einen ebenso starken Vorsprung aus Mangel an Zeit nicht erreichen. Und so kam es, dass die Ära der Dreadnoughts, im Gegenteil, den Deutschen die Möglichkeit gab, das verhältnismäßige Übergewicht der englischen Seestreitkräfte herabzusetzen

Als Revanche für die ihnen zugefügten “Beleidigungen” versuchen die deutschen Imperialisten zur Marokkofrage zurückzukehren. Wilhelm II. reist nach Tanger, wo er dem marokkanischen Sultan versichert, dass er, Wilhelm, ihn als unabhängigen und souveränen Herrscher betrachte. Dann folgt die Komödie der Konferenz zu Algeciras, auf der die Diplomaten der anti-deutschen Koalition, die die Geheimverträge schon in den Taschen haben, sich über die deutschen Imperialisten gehörig lustig machen. Diesen blieb nichts anderes übrig, als entweder sich zu ergeben oder mit einem Kriege zu antworten. Sie wählten den ersten Weg,. in der Hoffnung auf “bessere” Tage. “Sollten wir tatsächlich Marokkos wegen einen Krieg anfangen?” — sagte damals der Reichskanzler im Reichstag. — “Nein, meine Herren, Marokkos wegen fangen wir keinen Krieg an. In Marokko haben wir keine direkten politischen Interessen.”23 Das hinderte die deutschen Imperialisten nicht, vier bis fünf Jahre später das Gegenteil zu erklären — dass sie Gott weiß wie stark in Marokko interessiert seien. Aber in diesem Moment beschließt das imperialistische Deutschland den Krieg hinauszuschieben — bis zur Beendigung seines Flottenbaus.

Die englischen Imperialisten halten nun den Augenblick für gegeben, von neuem, die Frage der Herabsetzung der Rüstungen zur See anzuschneiden. Es beginnt die Epoche der “Haager Utopien und Intrigen”, wie die deutschen Imperialisten sie gerne zu nennen pflegen. Der ersten Haager Konferenz (1899) folgte unmittelbar der Burenkrieg, der Boxerkrieg, der russisch-japanische Krieg, die Periode des wütendsten Flottenbaus. Nun kam (1907) die zweite Haager Konferenz. Sie versprach das gleiche Resultat…

Die Einschränkung der Rüstungen, die in diesem Moment für die englischen Imperialisten günstig war, schien den deutschen Imperialisten ungünstig. Sie lehnten das Angebot sehr höflich ab. Und da die anti-deutsche Koalition sich noch nicht endgültig geformt hatte, und nicht genügend ausgerüstet war, antwortete sie nicht mit einem Krieg, sondern beschloss, abzuwarten.

Seitdem beginnen nicht mehr zu verheimlichende Kriegsvorbereitungen auf beiden Seiten. Wenn auch Versuche einer Annäherung zwischen den beiden Hauptgegnern — England und Deutschland — stattfinden, so doch nur ganz vorübergehend und hauptsächlich zur Ablenkung der Aufmerksamkeit.

Im Jahre 1907 wird das englisch-russische Bündnis geschlossen, wodurch England gegen Deutschland noch mehr freie Hand bekommt. Spanien wird endgültig zum Vasallen Englands. Wenige Jahre zuvor stand den deutschen Imperialisten noch der von Chamberlain vorgeschlagene Weg offen: Anschluss an England und Bündnis mit Japan und den Vereinigten Staaten. Aber daran hinderte es die Flottenfrage. Eine unvermeidliche Vorbedingung für jedes Bündnis mit England war die Schwächung der deutschen Flotte. Darauf aber gingen die deutschen Imperialisten, die den Krieg vorbereiteten, nicht ein.

Es beginnt das Jahr 1908. Österreich annektiert Bosnien und die Herzegowina. Im Zusammenhang mit den Ereignissen 1908 bis 1909 schlagen die englischen Imperialisten Alarm. Der englische Feldmarschall Lord Roberts tritt bereits seit 1906 für die Bildung eines stehenden Heeres in England ein. 1909, in Beantwortung neuer Rüstungen Deutschlands zur See, hebt in England eine geräuschvolle Propaganda an. Die englischen Imperialisten übertreiben die militärischen Rüstungen Deutschlands, indem sie erfundene Zahlen anführen. 1909 gelingt es ihnen, in England ein neues riesiges Flottenprogramm zur Annahme zu bringen. Die deutschen Imperialisten tun desgleichen. Weiter findet die berühmte Expedition nach Agadir statt. Der Marokkokonflikt verschärft die Lage bis zum äußersten. Aber der Krieg wird trotzdem von neuem verschoben.

Das Jahr 1912 bringt in Deutschland eine neue Stärkung der Flotte. Im Winter 1912 versucht England wiederum, auf diplomatischem Wege ein Abkommen mit Deutschland über die Einschränkung der Rüstungen zur See zu treffen. Der englische Kriegsminister Haldane reist in dieser geheimen Mission nach Berlin. Anscheinend sind Deutschland als Entgelt wiederum die portugiesischen Kolonien (Angola u. a.) angeboten worden “Im Jahre 1912” — schreibt Graf Reventlow, — “begannen Verhandlungen zwischen den beiden Mächten (Deutschland und England) über die Ausführung jenes Delagoa-Vertrages von 1898 (über die portugiesischen Kolonien) in andrer Form.”24 Diese Kolonialgebiete betrachtete man britischerseits als “das Stück Fleisch, das man dem hungrigen Hunde an der Kette hinhält”, — bemerkt Graf Reventlow. Dieser Vergleich ist absolut zutreffend. Schon nach Kriegsbeginn wurden die deutschen Imperialisten etwas offenherziger über diesen Handel vom Jahre 1912 mit dem Vertreter der englischen Imperialisten. England war sogar bereit zu versprechen, dass es an einem Angriffskrieg gegen Deutschland nicht teilnehmen werde. Aber seine Bedingung war, dass Deutschland seinen Schiffbau auf zwei große Panzerschiffe im Jahre reduziere. Deutschland verlangte seinerseits einen formellen Neutralitätsvertrag. England sollte garantieren, dass es sich in jedem Krieg Deutschlands gegen andere Mächte neutral verhalten werde. Darauf ging England nicht ein. Da brachten die deutschen Imperialisten ihr Flottenprogramm 1912 im Reichstag ein, wenn auch “erheblich verstümmelt” (Reventlow).25

Die deutschen Imperialisten rüsteten ununterbrochen. Aber auch ihre Gegner standen ihnen nicht nach.

Die französischen Imperialisten wollten sich die Freude nicht nehmen lassen, ihre deutschen Rivalen damit zu reizen, dass England ausschließlich gegen Deutschland rüste. In seinem Buch, das dem französischen Botschafter Paul Cambon gewidmet und mit einem Vorwort des früheren französischen Außenministers Deschanel versehen ist, schrieb Ernest Lemonon:

Deutschland versteht jeden Tag besser, dass die englischen Rüstungen trotz einiger offizieller Erklärungen, die dem widersprechen, ausschließlich gegen Deutschland gerichtet sind.”26

Das sollte heißen: wartet, der Engländer kommt und haut euch die Knochen entzwei.

Die deutschen Imperialisten “duldeten” dies mit zusammengebissenen Zähnen. Der Präsident des Hansabundes Dr. Rießer beschwerte sich später empört, dass sich französische Blätter nach der Marokkokrise “erlaubten … von unserem Kaiser … als von ‚Guillaume le timide‘ (‚Wilhelm dem Schüchternen‘) zu sprechen, und dass schon vorher Eduard VII. die deutsche Flotte ‚ein Spielzeug Wilhelms‘ genannt hatte”. “Der in England immer mächtiger gewordene Imperialismus drängte zum schärferem Vorgehen”, sagt derselbe Autor.27

Die deutschen Imperialisten wissen genau, dass in England der Imperialismus die Triebkraft des Krieges war. Und umgekehrt: in Bezug auf Deutschland — wissen das die englischen Imperialisten sehr genau. Nur sagt niemand den lmperialisten des eignen Vaterlandes: Arzt heile dich selbst…

1898 war die deutsche Flotte noch eine quantité negligeable, eine Größe, mit der nicht gerechnet zu werden brauchte. 15 Jahre später, 1913, stand sie bereits nach der englischen Flotte an erster Stelle. Und da konnten nicht nur die Überredungskünste Churchills nichts helfen, der behauptete, für Deutschland sei die Flotte ein “Luxusgegenstand”, sondern auch das “Stück Fleisch”, die portugiesischen Kolonien, erreichten ihr Ziel nicht mehr. Der tolle Hund empfand zu großen Hunger und hatte ein zu starkes Bewusstsein seiner Kraft, um sich mit solchen Kleinigkeiten zufrieden geben zu können.

England spekuliert auf unsre internationalistischen und pazifistischen Strömungen, wenn es eine Einschränkung der Rüstungen vorschlägt”, — sagten die deutschen Imperialisten. 1914 näherte sich das deutsche Flottenprogramm dem Ende. Begeistert schrieb Graf Reventlow am Schluss seines Buches, das 1914 erschien: “Peter der Große hat gesagt: Ein Herrscher, der eine Armee habe, besitze einen Arm. Erst mit einer Armee und einer Flotte habe er zwei Arme … Der zweite Arm ist (uns) mittlerweile gewachsen.”28 Die deutschen Imperialisten hielten ihre Zeit für gekommen. Der Krieg nahte.

Man versuchte nun den Wettkampf zwischen England und Deutschland um die Flottenstärke vom Standpunkt der Defensive zu rechtfertigen. “Wir verteidigen uns nur”, — sagten die englischen Imperialisten .“Für uns ist die Vorherrschaft zur See eine Lebensnotwendigkeit.” In einem Memorandum (1910), das von hundert englischen Generalen und Admiralen unterzeichnet war, wurde darauf hingewiesen, dass es für England zu Verteidigungszwecken notwendig sei, die deutsche Flotte so sehr zu übertreffen, dass diese nie imstande wäre, die englischen Staatsmänner ernstlich zu beunruhigen.

Was antworteten die deutschen Imperialisten?

Die Weltpolitik der andren Länder, gegen die England oft auftrat, trug einen Offensivcharakter; unsre Politik trägt einen defensiven Charakter. Wir wollen und müssen so stark zur See werden, dass ein Angriff gegen uns für die stärkste Macht ein ernstes Risiko bedeutet”, sagte der frühere Reichskanzler Fürst Bülow.29

Er war also auch nur für die “Defensive”.

In dem Pamphlet “Freie Meere”, das schon während des Kriegs erschien, empört sich Schulze-Gaevernitz darüber, dass die zivilisierte Welt nicht verstehen wolle, dass Deutschland, als es auf seiner Flotte bestand, ausschließlich defensive Ziele im Auge hatte. “Dieser reine Verteidigungszweck der deutschen Flotte trat um so klarer zutage, seit Tirpitz, der verantwortliche Minister Deutschlands eine Flottenkontingentierung im Verhältnis von 10 zu 16 öffentlich angeboten hatte. Mit diesem Vorschlag, der eine gemäßigte Flottensuprematie Großbritanniens anerkannte, trat Deutschland an die Spitze des Weltpazifismus; denn alle Abrüstungsfrage ist müßiges Gerede, solange sie nicht zur Ziffernfrage sich verdichtet.”30

In der Tat, warum sollten Tirpitz und Wilhelm nicht Vorkämpfer des “Weltpazifismus” gewesen sein? Gingen sie doch freiwillig auf die Proportion 10 zu 16 ein!

Wer hatte nun Recht: die englischen oder die deutschen lmperialisten? Wer verfolgte in der Kardinalfrage, dem Flottenbau, eine defensive und wer eine offensive Politik? Ist nach allem Erzählten nicht klar, dass man vom Standpunkt einer wirklichen Demokratie diese Frage überhaupt nicht ernst stellen kann? Vom Standpunkt der lmperialisten haben sowohl diese wie jene Recht. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse — verfolgten sowohl diese wie jene nur die Interessen der Vertreter des Finanzkapitals. Beide Parteien trieben in gleicher Weise “Defensiv-” und Offensivpolitik.

Um die Türkei.

Eines der Hauptobjekte des Kampfs zwischen England und Deutschland ist die Türkei. Die türkische Frage, Konstantinopel, das ist der Hauptknotenpunkt der Weltpolitik unserer Epoche.

Paul Rohrbach schreibt in einem Artikel der “Österreichischen Bundschau”, der Zeitschrift der österreichischen Imperialisten: “Die Entwicklung der Weltwirtschaft hat uns zur Weltpolitik und zum Weltkrieg geführt. Das bezieht sich auf unsere Gegner im gleichen Maße wie auf uns. Ein verhängnisvolles Ereignis war für England die Anlegung des Suez-Kanals. Sein Unglück besteht darin, dass mit dem Erwerb des Kanals der Überfall von der Landseite ermöglicht wurde. Von dem Moment an, in dem Ägypten englischer Besitz wurde, musste England einen Kampf gegen den zukünftigen Feind — die Türkei — beginnen. Darum schließt England sein Bündnis mit Russland und Frankreich.”

Im Wesentlichen hat Rohrbach Recht.

Die Rolle Ägyptens ist in allen Ereignissen der letzten Epoche sehr groß. Die Frage Ägypten hat in den Beziehungen zwischen England und Frankreich und später auch zwischen England und Russland eine entscheidende Rolle gespielt. Das Schicksal Ägyptens entschied auch das Schicksal der Türkei, wenigstens soweit es von England abhängt.

Wir sprechen gar nicht mehr davon, dass England mit seinem Anspruch auf Ägypten ein Gebiet antastet, das durch Verträge, wenn auch rein formell, an die Türkei gebunden ist.

Entscheidende Bedeutung für die englisch-türkischen Beziehungen hatte das Bündnis Englands mit Russland, diesem traditionellen Feind der Türkei. Die Schwenkung der Türkei mussten sie unter diesen Bedingungen unvermeidlich aus dem Regen in die Traufe bringen — vom Joch des englischen Imperialismus unter das Joch des deutschen Imperialismus.

Hätte sich die Türkei nicht in die Gefangenschaft Deutschlands begeben, so wäre ihr Schicksal trotzdem kaum besser gewesen. Denn England konnte keine starke Türkei brauchen: eine Wiedergeburt des mohammedanischen Staates würde unvermeidlich das Wachstum der revolutionären Stimmung in Ägypten, das Erstarken des Widerstands gegen die englische Expansion in Persien, in Afghanistan, in Belutschistan und wahrscheinlich auch der Opposition gegen England in Indien bedeuten. England sah sich in seinen antitürkischen Plänen um so mehr gestärkt, als seine Politik in Ägypten vorläufig von unbedingtem Erfolg begleitet war. Der Krieg 1914-16 hat das bewiesen. Ägypten erklärte an Deutschland den Krieg schon zwei Tage nach Englands Kriegserklärung (7. August 1914). Schon während des Tripoliskriegs und auch wahrend des ersten Balkankriegs trat Ägypten trotz seiner Verpflichtungen nicht für die Türkei ein. Die Proklamierung des “heiligen Krieges” durch die Türkei hat, wie die Deutschen selbst bekannten, in Ägypten keinen besonderen Eindruck gemacht. “Die nationalistische Partei als solche war im Lande so gut wie verschwunden. Auch die religiöse Kraft des ägyptischen Islams beugte sich mehr oder weniger unter England”, bekennt der deutsche Imperialist Erich Meyer.31

Der deutsche Imperialismus ist bis zu einem gewissen Zeitpunkt an der Erhaltung der so genannten “Unabhängigkeit” der Türkei interessiert. Einfacher ausgedrückt: er ist gegen den Plan der Verteilung der Türkei, den die Imperialisten des antideutschen Trusts aufgestellt haben. Und das aus sehr einfachem Grunde: weil bei der Durchführung dieses Planes Deutschland benachteiligt werden würde.

Der genannte Plan der Aufteilung der Türkei (seine Durchführung wurde seinerzeit durch die türkische Revolution verhindert) ist für niemand ein Geheimnis gewesen. Während der bosnischen Krise (1908) — erzählt Graf Reventlow — war die Rede von einem großzügigen Aufteilungsplan der Türkei. Der frühere Vizekönig von Indien, Lord Curzon, sollte ihn entworfen haben. Die Hauptzüge dieses Planes wären gewesen, dass Großbritannien die asiatische Türkei von der europäischen abtrennen und ein Kalifat in Mekka errichten wollte. lm Norden sollten Russland und Österreich an den Gliedern des kranken Mannes beteiligt werden. Frankreich hätte Syrien usw. erhalten. Italien Tripolis, England Ägypten genommen, ein tatsächliches Protektorat über Arabien ausgeübt und damit einen gesicherten Landweg nach Indien erhalten.32

Der deutsche Imperialist ist über diesen Plan natürlich empört. Aber warum? Vielleicht weil er ihn als Unrecht gegen die Türkei betrachtet? 0 nein! Natürlich nur, weil er ihn als ungerecht empfindet den deutschen Imperialisten gegenüber. “Das deutsche Reich allein” — entrüstet sich Graf Reventlow -- “wäre leer ausgegangen und hätte völlig isoliert dagestanden.”33

Darum also handelte es sich!

Es ist klar, dass die deutschen Imperialisten, wenn sie von ihrer Liebe zur “Unabhängigkeit” der Türkei sprechen, nicht weniger lügen als ihre Gegner. Deutschland war vollkommen damit ausgesöhnt, dass sein Verbündeter Österreich-Ungarn der Türkei Bosnien und die Herzegowina wegnahm, und dass sein zweiter damaliger Verbündeter, Italien, sich Tripolis aneignete, das der Türkei gehörte. Deutschland wird auch damit einverstanden sein, (und das Stadium in dem sich der Krieg im Jahre 1916 befindet, scheint es zu bestätigen) wenn als Resultat dieses Krieges diese oder jene türkischen Besitzungen zu Russland und England übergehen werden. Wenn das Kräfteverhältnis es verlangt, wird Deutschland nichts dagegen haben, sich auf Kosten der Türkei diesen oder jenen Vorteil zu verschaffen. Aber trotzdem, wir wiederholen es, müssen jetzt die deutschen Imperialisten infolge ihrer Rivalität mit den englischen Imperialisten, die Knechtung der Türkei hinter der Losung der “Unabhängigkeit” der Türkei und der Erhaltung ihrer “Staatseinheit” verbergen. So verlangen es die Interessen des deutschen Imperialismus…

Die Forderung der Türkei, England möge Ägypten räumen, lehnte England im Jahre 1890 offen ab. Lord Salisbury erklärte, England habe dort noch “seine Mission zu erfüllen”. Die annexionistischen Pläne Englands in Bezug auf Ägypten und die sich daraus ergebende Feindschaft der Türkei gegen England traten immer klarer zutage. Und Deutschland, das seine imperialistische Politik begonnen hatte, beeilte sich, daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Früher hatte Bismarck geäußert, die ganze Balkanfrage sei für Deutschland nicht die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert. Jetzt begann eine neue Ara.

In eine nicht wiederkehrende Vergangenheit waren die Zeiten entschwunden, da Bismarck (im Reichstag am 26. Januar 1889) sagen konnte, England sei der “traditionelle” Verbündete Deutschlands, und auch ohne schriftliche Verträge bestehe zwischen England und Deutschland eine Solidarität auch in kolonialen Fragen.34 Es gab eine Zeit (in den achtziger Jahren) da Bismarck selber England auf Ägypten hinwies, um eine Feindschaft zwischen England und Frankreich zu entfachen. Es gab eine Zeit, da Bismarck Frankreich auf Tunis hetzte, um Italien zu veranlassen, aus Feindschaft gegen Frankreich ein Bündnis mit Deutschland zu suchen. Andere Zeiten, andere Lieder. Freien unbesetzten Boden gab es nur wenig. Die Kolonialpolitik begann auch für Deutschland die wichtigste Rolle zu spielen. Das imperialistische Deutschland konnte sich mit nur europäischer Politik nicht mehr zufrieden geben. Es entstand in Deutschland eine eigene afrikanische, eine eigene asiatische und eine eigene Orientpolitik.

In den ersten zwei Jahren der Herrschaft Wilhelm II. ging in der deutschen Politik eine merkliche Veränderung zugunsten der Türkei vor sich. 1888 proklamierte Deutschland die Unantastbarkeit der türkischen Einheit. Im selben Jahre erhielt eine deutsche Gesellschaft die erste Konzession zum Bau und zur Ausbeutung der anatolischen Eisenbahnlinie Ismid-Ankara und das Vorzugsrecht auf Diarbekr und Bagdad. 1890 wurde der erste deutsch-türkische Handelsvertrag geschlossen.

Das wichtigste Mittel zur Befriedigung der eigenen Habgier und gleichzeitig zur Festigung der Deutschland wohlgesinnten türkischen Macht innerhalb des Landes war der Bau von Eisenbahnen. Der Direktor der Deutschen Bank, Herr von Gwinner, kennzeichnet den Einfluss, den der Bau der anatolischen Eisenbahn auf das innere Leben der Türkei ausgeübt hat, folgendermaßen: Vor Beginn des Eisenbahnbaues, sagte er, haben Konstantinopel und die türkische Armee Brot gegessen, das aus russischem Getreide hergestellt war, jetzt äßen sie aus eigenem Getreide hergestelltes Brot. Vor Beginn des Eisenbahnbaues habe die öffentliche Sicherheit in Kleinasien nicht auf höherer Stufe gestanden als augenblicklich in Kurdistan. Als die von der Deutschen Bank entsandten Ingenieure zum ersten Male die Station jenseits von Ismid am Marmarameer erreichten, da terrorisierten noch tscherkessische Räuberbanden die ganze Gegend. Jetzt sei der Führer dieser Banden als Stationsvorsteher bei der anatolischen Eisenbahngesellschaft angestellt

Der wichtigste dieser Eisenbahnbaupläne war die Bagdadbahn. Diese Konzession erhielt (1903) eine deutsche Gesellschaft, hinter der die Deutsche Bank stand. Die Eisenbahnlinie wurde geplant von der Stadt Konia in Kleinasien, die mit Smyrna am Ägäischen Meer und Haidarpascha am Bosporus bereits durch eine Eisenbahnlinie verbunden ist, bis Basra. 1912 war bereits die Linie Konia-Ergeli fertig gestellt. Dann begann der Bau der Linie von Ergeli über Adana nach Killis, von dort aus ist eine Zweiglinie nach Damaskus geplant, das an der bereits in Betrieb gesetzten Bahnlinie Beirut-Damaskus-Medina-Mekka liegt. Von Killis aus ist die Eisenbahn über Charan, El-Helif, Mossul, Bagdad nach Basra geplant, von wo aus sie mit einem der Häfen des persischen Meerbusens verbunden werden soll.

Die Bagdadbahn ist ein grandioses Unternehmen, das ungeheuer große Kapitalien beansprucht. Dieses Unternehmen hat eine sehr große strategische Bedeutung für die Türkei, folglich auch für Deutschland. Es bedroht die unbeschränkte Herrschaft Englands am persischen Meerbusen. Außerdem hat die Bagdadbahn eine große politische und wirtschaftliche Bedeutung. Der Erfolg dieses Unternehmens muss zum Triumph des deutschen Imperialismus werden.

Unter den Faktoren, die zum gegenwärtigen Krieg zwischen Deutschland und England geführt haben, steht die Bagdadbahn sicherlich mit an erster Stelle.

Zunächst haben die Imperialisten Englands, Frankreichs und der übrigen Länder einfach nicht geglaubt, dass es dem deutschen Kapital gelingen würde, diese riesige Aufgabe zu lösen. Aber als es klar wurde, dass die Sache vorwärts ging, da begann England besonders eifrig allerhand Hindernisse in den Weg zu legen. Für den englischen Imperialismus handelte es sich um sehr wichtige Fragen. Die monopole Lage Englands im Persischen Golf ist von größter Bedeutung für seine Herrschaft über Indien. Von dem Augenblick an, da die Türken die Möglichkeit hätten, ihr Militär mittels der Eisenbahn an den Persischen Golf zu befördern, würde die früher nur fiktive Souveränität der Türkei am Persischen Meerbusen einen ganz anderen Charakter gewinnen. Das deutsche Kapital, das eine direkte Verbindung Berlin-Bagdad erhielte, bedrohte das Handelsmonopol Englands am Persischen Meerbusen in hohem Grade. Außerdem musste die Frage des Schicksals Mesopotamiens die Besorgnis der englischen Imperialisten erregen.

Es ist klar, dass die englischen lmperialisten sehr beunruhigt waren. Am 7. Mai 1903 erklärte der englische Minister für auswärtige Angelegenheiten, Lord Landsdowne: “England kann keiner anderen Nation gestatten, Dampferstationen oder Eisenbahnen am Persischen Meerbusen zu haben; jeder Versuch irgendeiner Macht, dort Fuß zu fassen, würde den Krieg bedeuten.” Wenn der Krieg nicht schon vorher erklärt worden war, so nur, weil der Krieg zwischen England und Deutschland unbedingt zu einem allgemeinen europäischen Krieg geführt hätte. Für einen solchen aber betrachteten sich beide Koalitionen als noch nicht genügend vorbereitet. Deutschland erklärte nicht den Krieg, weil seine Flotte noch nicht genügend groß war. Aber dafür hatte es den notgedrungenen Aufschub ausgenützt, um die Bagdadbahn zu bauen. England erklärte den Krieg nicht, weil sein Bündnis mit Russland noch nicht verwirklicht war, als dieses aber verwirklicht wurde, da brauchte Russland noch einige Jahre zur Vorbereitung.

Darum blieb den englischen Imperialisten vorläufig nichts übrig, als sich darauf zu beschränken, der Bagdadbahn auf “friedlichem Wege” allerhand Hindernisse in den Weg zu legen. Der Bau dieser Bahn durch deutsche Banken eröffnete dem deutschen. Kapital die Möglichkeit der Eroberung Vorderasiens. Wie dagegen kämpfen? Die Londoner und Pariser Börsen lehnten zunächst jede Beteiligung an der Gründung eines Aktienfonds ab, ferner verweigerte Frankreich der Türkei eine Anleihe, von der ein Teil für die Bagdadbahn in Anspruch genommen werden sollte. England verweigerte aus demselben Grunde seine Einwilligung zur Erhöhung der türkischen Einfuhrzölle von 11 auf 15 Prozent. Ferner erklärte England, dass das Gebiet um Kuwait am Persischen Meerbusen unter seinem Protektorat stehe und dass es dort keine Eisenbahn dulden würde. Außerdem förderte England die aufständischen Stämme in Arabien, es erleichterte die Einfuhr der Waffen durch das Rote Meer usw. Durch all diese Maßnahmen erreichten die englischen lmperialisten jedoch nur eine gewisse Verzögerung im Bau der Bagdadbahn. Der Kampf zwischen den englischen und deutschen Imperialisten wird in seiner ganzen Größe erst durch den gegenwärtigen Krieg entschieden werden…

Die deutschen Imperialisten, die vor dem Krieg natürlich leugneten, dass sie mit der Bagdadbahn irgendwelche offensiven Ziele gegen England verfolgten, werden jetzt offenherziger: “Die Bagdadbahn gilt England als eine höchst bedrohliche Gefahr, mit Recht … jeder Meter Schiene der Bagdadbahn, der weiter nach Osten hin verlegt wird, bringt den Bahninhaber näher an Indien heran…” Schon Bruch, der bedeutende Fachminister Österreichs habe an einen Zollverband von Hamburg bis Basra gedacht. “Die Dardanellenfrage steht im engsten und ursächlichsten Zusammenhange mit der politischen Neugeburt Mitteleuropas.”35

Berlin-Bagdad, diese beiden Worte sind ein ganzes Programm der Politik des deutschen Imperialismus gegen den englischen. Und Berlin-Konstantinopel, diese beiden Worte enthalten auch eine Politik gegen den russischen Imperialismus. “Seit Jahren wird geredet, zwischen Deutschland und Russland gäbe es keine Reibungsflächen keine Interessengegensätze. Nun, größere lind schärfere als die am Bosporus lebendigen kann es gar nicht geben. Dort schneiden sich die deutschen nebst den ungarischen und balkanischen Interessen mit den russischen so gewiss, wie dies am Yalu mit den russischen und japanischen geschehen ist. Ihretwegen musste es zwischen Deutschland und Russland zur Auseinandersetzung kommen.” Das sind die Bekenntnisse, die jetzt der deutsche Imperialist L. Trampe macht.36

Die Orientpolitik Deutschlands ist zwanzig Jahre alt. Den Beginn dieser Politik bildet die Stellungnahme Deutschlands während des türkisch-griechischen Kriegs und später der Eisenbahnbau in der Türkei. Am Ende des XIX. Jahrhunderts waren die türkische Politik Deutschlands und die Ziele des deutschen Imperialismus bereits klar umrissen. Im November 1898 hielt Wilhelm II. in Damaskus unter theatralischer Aufmachung seine berühmte Rede, in der er sagte: “Möge Seine Majestät der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde verstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, versichert sein, dass der deutsche Kaiser zu allen Zeilen ihr Freund sein wird.”

Am Ende des ersten Jahrzehnts des XX. Jahrhunderts wurde der Schwerpunkt der Politik des deutschen Imperialismus endgültig nach Konstantinopel verlegt. Nach der Verwirklichung des englisch-russischen Bündnisses und besonders nach der Begegnung in Reval wurde die “Freundschaft” zwischen der Türkei und Deutschland endgültig besiegelt. Die türkischen Politiker ließen sich dabei durch die Erwägung leiten, dass sie jetzt ohnehin die englisch-russische Rivalität nicht mehr ausnutzen konnten, die allein der Türkei bisher gestattet hatte, zu atmen. In Deutschland und in der Türkei behauptete man (wir wollen hier nicht näher darauf eingehen, inwieweit diese Behauptung begründet war), dass während des Zusammentreffens in Reval der Plan der Verteilung der Türkei unter Russland und England endgültig ausgearbeitet worden sei. Den Türkei blieb nichts übrig, als sich bis zum Äußersten gegen England zu schützen und zu diesem Zweck in die Netze des deutschen Imperialismus zu gehen.

Die Türkei wurde das Opfer der Rivalität zwischen zwei Koalitionen. Selbst einer der äußersten deutschen Sozialimperialisten, Herr Cunow, sagt in seiner Broschüre, die nach Kriegsausbruch erschienen ist, dass “die Türkei nur ein Spielball der Großmächte” sei.37 Er “vergisst” nur hinzuzufügen, welch ausbeuterische Rolle der Türkei gegenüber sein “Vaterland”, sein “Großmachtdeutschland” gespielt hat.

Für kurze Zeit hatte die jungtürkische Revolution die Sachlage geändert. Die Jungtürken hegten keine besonders zarten Gefühle für Deutschland. Denn “Deutschland — wie der österreichische Sozialdemokrat Otto Bauer richtig bemerkt — beschützte den türkischen Feudalismus, Deutschland unterstützte die Knebelung Mazedoniens, Deutschland ermunterte die Ausrottung der Armenier, die Verfolgung der jungtürkischen Revolutionäre.”38 Aber die Abhängigkeit der Türkei von Deutschland war bereits so stark, dass selbst die “erneuerte” Türkei, die außerdem sehr bald einen entscheidenden Schritt zum Alten machte, der Vasall des deutschen Imperialismus bleiben musste.

Die deutschen Imperialisten “lieben” die Türkei und sind um ihre Unabhängigkeit besorgt. Aber selbst Fürst Bülow anerkennt, dass dieses Gefühl gar nicht aus dem von Liebe überströmenden deutschen Herzen komme. Mit großer Sorgfalt kultivierte man die Beziehungen zur Türkei. Diese Beziehungen beruhten nicht auf sentimentalen Gefühlen, o nein: “Die Erhaltung der Türkei erfordern unsere ernstesten wirtschaftlichen, militärischen und politischen Interessen”, schreibt der ehemalige deutsche Kanzler und jetzt einer der hervorragendsten deutschen Diplomaten. Auf die Marokkofrage eingehend, erklärt v. Bülow, warum die deutschen Imperialisten nach dem Rücktritt Delcassés nicht mit Frankreich in Verhandlungen eintraten, um in der Marokkofrage zu einer Einigung zu gelangen: “In Tanger — sagt er — hat Kaiser Wilhelm II. sich entschieden für die Unabhängigkeit Marokkos ausgesprochen. Wir würden jeden Kredit in den Augen der Islamvölker verloren haben, wenn wir so kurze Zeit nach dieser Erklärung Marokko an die Franzosen verkauft hätten. Unser Botschafter in Konstantinopel, Baron Marschall, sagte mir in jener Zeit: Wenn wir trotz Damaskus und Tanger (d. h. der Reden, die Wilhelm II. in Damaskus und Tanger gehalten hat, und seines Liebäugelns mit den Muselmanen — d. Verf.) Marokko auslieferten, so würden wir mit einem Schlage unsere Stellung in der Türkei verlieren und damit auch alle Vorteile und Perspektiven auf die Zukunft, die wir im Verlauf langer Jahre mit so viel Mühe errungen haben.”39

Mit anderen Worten: Die Türkei ist für uns ein so leckerer Bissen, dass wir um seinetwillen bereit sind, jenes Stück des schmackhaften Kuchens zu “opfern”, das uns nach dem Rücktritt von Delcassé unsere französischen Konkurrenten abtreten würden. So sehr schätzen wir unsere “Stellung” und unsere “Perspektiven” in der Türkei, so sehr “lieben” wir die Türkei!

Wie sollte man sie auch nicht lieben? Der bekannte deutsche Imperialist, Alfred Hettner, definiert jetzt während des Krieges offen und fast erschöpfend die große Bedeutung, die die Türkei für den deutschen Imperialismus hat. Er formuliert diese Bedeutung mit folgenden Worten: “Sie gibt uns ein neues Feld der Betätigung und des Erwerbs, öffnet uns ein Produktionsgebiet von Nahrungsmitteln und Rohstoffen und ein Absatzgebiet unsrer Fabrikate, von dem uns die englische Flotte auch im Kriege nicht absperren kann, so dass uns die Möglichkeit der Ernährung noch sicherer als bisher und auch bei wachsender Bevölkerung gewährleistet wird. Sie gibt uns einen starken, mit jedem Tage stärkeren Bundesgenossen, der für uns größeren Wert hat, als afrikanische Kolonialtruppen je gewinnen können, und öffnet uns zugleich die Wege nach Persien, Ägypten und durch den Persischen Golf, in dem wir die englische Herrschaft brechen müssen, zum Indischen Ozean und dessen Umländern. Durch sie schieben wir uns zwischen das russische Reich auf der einen, die englische Seeherrschaft auf der anderen Seite und gewinnen einen gleichberechtigten Anteil an der Erschließung Vorderasiens. Dadurch gelangen wir auch an zwei Punkten, am Kanal von Suez und am Persischen Meerbusen, vom Lande her an den großen Hauptweg des See- und Weltverkehrs, und damit an besonders empfindliche Stellen der englischen Weltherrschaft heran und können England durch deren Bedrohung zwingen, an anderen Stellen, wo wir empfindlich sind, auf unsere Wunsche und Interessen größere Rücksicht als bisher zu nehmen.”40

Die deutschen Imperialisten haben Ursache, Krieg zu führen, nicht wahr?

Aber es gilt nur, sich in Erinnerung zu rufen, dass überall dort, wo der deutsche Imperialist Pluszeichen hinsetzte, der englische Imperialist Minuszeichen malen muss und umgekehrt, und — gleich wird es klar, wie groß die Rolle ist, die die türkische Frage im Kriege auch für die antideutsche Koalition spielt.

Mit der Erwerbung des Suezkanals gewann Ägypten für die englischen Imperialisten eine noch größere Anziehungskraft. Und umgekehrt, nachdem der Wettkampf mit Frankreich um Ägypten zugunsten Englands entschieden war, gewann der Suezkanal in englischen Augen einen noch größeren Wert. Dieser Kanal, dessen Anlage 12.000 Leben gekostet hat, stellt auch an und für sich eine Quelle großer Profite dar. Im Jahre 1875 kaufte Disraeli die Suezkanal-Aktien zu ungefähr 450 Francs auf, bei Kriegsausbruch 1914 wurde eine Aktie des Suezkanals auf 5000 Francs geschätzt! Die Dividenden betrugen 1913 33 Prozent, der Reingewinn 92 Millionen Francs im Jahr.41 Im Übrigen sind all das Kleinigkeiten im Vergleich zu seiner strategischen Bedeutung für England, die ungeheuer ist.

Aber auch hier treten die deutschen Imperialisten ihren englischen Brüdern auf die Füße. Nach der Zahl der Schiffe, die durch den Suezkanal gehen, steht Deutschland gleich hinter England an zweiter Stelle. Im Jahre 1912 betrug der Tonnengehalt der englischen Schiffe, die durch den Suezkanal gegangen waren, 58 Prozent, der deutschen 15 Prozent, im Jahre 1913 66 Prozent und 17 Prozent.42

Vor allem aber: durch die Unterstützung der Türkei, durch die Stärkung ihrer Armee und Flotte, durch den Bau strategischer Eisenbahnen für sie usw. mussten die deutschen Imperialisten natürlicherweise auch in dieser Hinsicht die erbittertste Feindschaft des regierenden England auf sich ziehen.

Um Indien, diese “Perle” der englischen Krone, zu erhalten, nahmen die englischen Imperialisten Ägypten, später Südpersien. Zu demselben Zwecke brauchen die englischen Imperialisten Mesopotamien. Zu demselben Zweck müssen sie mit allen möglichen Mitteln immer neue Kolonien, die auf dem Wege nach Indien liegen, erwerben.

Eines zieht das andre nach sich. Um der Erhaltung Indiens willen “muss” Ägypten genommen werden. Um der Erhaltung Ägyptens willen “muss” Persien mit den alten Gegnern geteilt werden. Um der Erhaltung Ägyptens und der gerechten Teilung Persiens willen “muss‘‘ die Türkei aufgeteilt werden. Um der Teilung der Türkei willen “muss” man gegen Deutschland Krieg führen. Um des Krieges gegen Deutschland willen wird der europäische Krieg angezettelt. Das sind die einzelnen Glieder der imperialistischen Politik auf der einen Seite. Aber genau den gleichen Charakter trägt die imperialistische Politik des anderen imperialistischen Trusts, an dessen Spitze Deutschland steht.

Wir sind näher eingegangen auf die Gegensätze der Interessen zwischen den englischen und deutschen Imperialisten in der Türkei. Aber das ist natürlich nicht die einzige Stelle, an der sie sich feindlich gegenüberstehen. Der Historiker der deutschen auswärtigen Politik. Paul Arndt, übertreibt absolut nicht, wenn er sagt, dass im Verlaufe einer Reihe von Jahren Deutschland und England einen diplomatischen und wirtschaftlichen Krieg gegeneinander führten, und zwar in Paris, Petersburg, Wien, Rom, Madrid, Konstantinopel, Teheran, Tanger, Peking, Tokio usw. Man könnte noch hinzufügen: in Sofia, Bukarest, Athen u.a. Leichter wäre es wohl, diejenigen wichtigen Punkte der Erdkugel zum nennen, an denen die Imperialisten Englands und Deutschlands sich nicht bekämpfen.

Derselbe Arndt versucht die Hauptfragen festzulegen, die England und Deutschland trennen, und nennt dabei: die Frage der Bagdadbahn und Mesopotamiens, die Frage der Dardanellen, Chinas,43 des Kolonialbesitzes in Afrika und der afrikanischen Eisenbahnen.44 Aber auch das ist noch nicht alles.

Der bereits zitierte Hettner schreibt: “Wir (deutschen Imperialisten) wollen uns einen Platz an der Sonne erringen und wollen zu diesem Zwecke die englische Weltherrschaft brechen, auch Russland in den ihm gebührenden Schranken halten, weder den Vereinigten Staaten ganz Amerika noch den Japanern ganz Ostasien und den Stillen Ozean einräumen … Dadurch, dass die Vereinigten Staaten die Monroedoktrin aufstellen und uns Europäer gleichsam aus Amerika ausweisen, ist doch nicht gesagt, dass wir uns dieser Doktrin fügen müssen. Wenn wir es meist tun, so liegt das an der europäischen Uneinigkeit, die es den Vereinigten Staaten erlaubt, im Trüben zu fischen.”45 Mit einem Wort, was den guten Appetit anbetrifft, so steht der junge deutsche Imperialismus seinen älteren Brüdern absolut nicht nach. Von einem Stück Fleisch wird er nicht satt.

Mau beachte: die deutschen Imperialisten, die ein Meer von Blut vergießen, um sich die Türkei endgültig zu unterwerfen und dann die Pistole auf die Brust ihrer englischen Rivalen zu setzen, erfüllen nur das Vermächtnis des “großen Treitschke”. War es nicht Treitschke gewesen, der geschrieben hatte, dass im Jahre 1893 inmitten der Friedenszeit das Gebirgsnest Aden, der Schlüssel zum Roten Meer, das Gibraltar des Ostens, gestohlen worden sei? Die englische Rasse ist die Besitzerin des fünften Teils der bewohnten Erdkugel. “Auf Grund welchen Rechts? Auf Grund zunächst der List und dann der Vergewaltigung” — empören sich die deutschen Imperialisten, die das Vermächtnis Treitschkes achten. Und diese Herren wollen gute Menschen glauben lassen, dass nur ihre Gegner ihre Kolonien “auf dem Wege der Barbarei” erworben hätten, sie selber jedoch sich in Afrika, China in der Türkei nur von den “grundlegenden Regeln der Moral und des Rechtes” leiten ließen.

Man höre nur, wie diese tugendhaften deutschen Imperialisten sprechen! Selbst gleichgültige, für sie ganz unerwünschte Annexionen müssen sie vornehmen, nur … des bösen Englands wegen. Zum Beispiel Belgien. Die deutschen Imperialisten mochten es gar nicht annektieren. Aber nur Englands wegen werden sie es doch mit schwerem Herzen tun müssen. So wenigstens behauptet einer von ihnen: “Eine Annexion Belgiens würde für uns nicht in Betracht kommen als eine Erweiterung unseres Gebietszuwachses, sondern lediglich von dem Gesichtspunkte aus, ob zur Aufrechterhaltung der eroberten Küstenstriche die Annexion notwendig ist oder nicht. Ist sie strategisch notwendig, so müssen (!) wir eine auch unerwünschte Annexion (!) vornehmen … Deutschland kann nur dann für die folgenden Jahrzehnte Frieden halten, wenn England das Bewusstsein hat, dass sein Seemonopol ein für allemal erledigt ist…”46 Arme deutsche Imperialisten!

Ungefähr bis zum Beginn des XX. Jahrhunderts nährt England noch die Hoffnung, aus Deutschland eine dienstbare “Rute” zu machen, in dem deutschen “dummen, aber kräftigen Burschen” seinen “Schutzmann auf dem Kontinent” zu haben. Aber das gelingt nicht. Da entsteht die Kombination England-Frankreich. Verschiedene englische Staatsmänner sind auch der Meinung, dass ein dauerndes Bündnis mit Frankreich überhaupt vorteilhafter sein werde: Frankreichs Seemacht zeigt die Tendenz zum Rückschritt. Sein Landheer befindet sich in stationärem Zustand. Ein solches Land entspricht dem englischen Ideal eines Verbündeten mehr als das zu Lande und zu Wasser sich rasch entwickelnde Deutschland.

Die deutschen Imperialisten wiederum ließen sich durch ihre Berechnungen leiten: Treten wir in ein Bündnis mit England ein, sagt Fürst Bülow, so haben wir im Kriegsfalle die ganze Schwere des Krieges zu Lande auf den eigenen Schultern zu tragen, England aber würde die gegenseitige Schwächung der Kontinentalmächte ausnutzen und eine Reihe neuer Kolonien einfach in die Tasche stecken.

Der Krieg zwischen England und Deutschland war durch die Summe all dieser Umstände nicht mehr zu umgehen. Er war nur noch eine Frage der Zeit.

Als der englische Professor Crambe im Jahre 1913, die Reden des Lord Salisbury preisend, die Ansieht bekämpfte, wonach Deutschland nicht England, sondern die englischen Kolonien erobern wolle, und behauptete, “Deutschland wünscht nicht unsere Kolonien, es wünscht ein großer, zentraleuropäischer Staat zu sein und unsere Inseln wie eroberte Provinzen zu beherrschen”,47 übertrieb er natürlich sehr stark. In derselben Weise versuchten die deutschen Imperialisten den guten deutschen Bürgern Schrecken einzujagen, indem sie ihnen das Märchen erzählten England wolle Berlin zu einer “englischen Provinz” machen. Aber dass in diesem Kriege der Kampf zwischen England und Deutschland auf Leben und Tod geht, dass es sich dabei um die Kolonien, Privilegien und Einflusssphären handelt, dass die Frage der Hegemonie auf dem Spiele steht — das ist zweifellos wahr.

Die deutschen Imperialisten.

Beide Parteien bereiten im Verlaufe einer Reihe von Jahren eben den Krieg vor, der 1914 ausgebrochen ist. Nach 1907, dem Jahre des englisch-russischen Abkommens, bestehen hierüber keine Zweifel mehr. Das ganze politische Leben Europas verläuft im Zeichen der Kriegsvorbereitungen beider Parteien.

Je mehr sich das Jahr 1914 nähert, um so offener wird davon gesprochen. Die deutschen Imperialisten z. B. beginnen bereits direkt Zeitpunkte zu nennen und sprechen ohne jeden Rückhalt von der Unvermeidlichkeit eben des Krieges, der 1914 ausgebrochen ist, mit seinen imperialistischen Zielen, die jetzt immer klarer zutage treten.

Verweilen wir etwas bei der Literatur zunächst der deutschen Imperialisten.

Das Buch des Generals Bernhardi ist von größter Bedeutung. Es ist eines der populärsten Bücher in Deutschland. (Wir sprechen natürlich von den besitzenden Klassen und von jenen Schichten, die unter ihrem ideellen und politischen Einfluss stehen.) General Bernhardi ist eine in seiner Art einheitliche Gestalt, ein “ganzer Mann” wie man in Deutschland zu sagen pflegt. Er kennt keine Schranken, kein Zaudern. Seine Ideologie ist wie aus einem Stück gegossen. Er kann den Kampf kaum erwarten. Er weiß, dass ein europäischer Krieg nicht zu vermeiden ist. Sein Ideal, dem er bis zum Ende treu bleibt und das er mit einer Begeisterung verteidigt, die eines besseren wert wäre, ist das Ideal des Imperialismus. Ein “mächtiges Deutschland”, deutsche Expansion, Neueinteilung der Welt zugunsten des deutschen Kapitals, und zu diesem Zweck — Kampf gegen den englischen Imperialismus. Das ist das Programm dieses Clausewitz unserer Tage.

Die deutschen Imperialisten erklären das Buch Bernhardis für genial, sehen in ihm eine Offenbarung, vergleichen Bernhardi mit Kant und Hegel. Das ist natürlich Unsinn. Das Buch Bernhardis — trotz seiner starken Seiten — riecht schon von zehn Meilen Entfernung nach der preußischen Kaserne. Es ist ein eigenartiges Durcheinander von Nietzsche, Treitschke, Hindenburg und jenem preußischen Leutnant, von dem Bismarck einst sagte, dass die Nachbarn Deutschland soviel sie wollen nachmachen könnten, nur der deutsche Leutnant bliebe unnachahmbar.

Die “philosophischen” Wahrheiten, die General Bernhardi zum Ausdruck bringt, erschöpfen sich in folgenden Sentenzen:

Der Krieg (ist) nicht nur ein notwendiges Element im Völkerleben sondern auch ein unentbehrlicher Faktor der Kultur, ja, die höchste Kraft- und Lebensäußerung wahrer Kulturvölker.” Oder: “(Der Krieg) ist … nicht nur eine biologische Notwendigkeit, sondern auch eine sittliche Forderung und als solche ein unentbehrlicher Faktor der Kultur.”48

Den deutschen Bürgern, die jetzt dem Gespann des Imperialismus nachlaufen — zu ihnen gehört auch ein guter Teil der “Sozialisten” — fließt der Mund über vor Begeisterung über die “Tiefe” dieser Gedanken ihres Abgottes. Uns interessiert aber jetzt nicht diese Philosophie, sondern die politische Seite im Buch Bernhardis.

Bernhardi ist seit langem als erster militärischer Schriftsteller, als Teilnehmer an den intimsten Kriegsräten usw. bekannt. Wenn ein solcher Mann im Moment des formellen Friedens ein Buch herausgibt, dessen Titel allein — “Deutschland und der nächste Krieg” — so beredt für sich spricht, so bedeutet das, dass die deutschen Imperialisten aufgehört haben, zu verheimlichen, dass sie sich zum Krieg vorbereiten. “Der scheinbar friedliche Zustand darf uns aber nicht darüber täuschen, dass wir heute in einer latenten, aber desto gewaltigeren Krisis leben, vielleicht der bedeutendsten und folgenschwersten, die dem deutschen Volk bisher beschieden war.”49 — so schreibt der einflussreiche General Bernhardi lange vor dem Krieg.

Man lese weiter! Worum soll dieser Krieg gehen? Aus welchen Gründen wird der “scheinbare Frieden” von einem offenen Krieg abgelöst werden? “Als Belgien für neutral erklärt wurde, hat gewiss niemand daran gedacht, dass es einen großen und wertvollen Teil Afrikas (das Kongobecken) für sich in Anspruch nehmen würde. Es kann sehr wohl die Frage aufgeworfen werden, ob mit dieser Erwerbung die Neutralität nicht schon verletzt ist…”50 Weiter folgen natürlich philosophische Aussprüche über die “höchsten sittlichen Ziele” und über die Normen der Neutralität, aber diese können wir getrost den Liebhabern solcher Wortspielereien überlassen. Wichtig ist, dass vor dem Krieg klar und offen gesagt war: wir deutschen Imperialisten können uns nicht damit abfinden, dass ein so fetter Bissen wie der Kongo den belgischen Imperialisten gehört. Aus diesem Grund sind wir bereit, Krieg zu führen.

Im Weiteren wird der General noch offenherziger. Die Abkommen mit England seien nicht genügend dauerhaft, sagt er, “wir dürfen sie höchstens dazu benutzen, den notwendigen und unvermeidlichen Krieg so lange hinauszuzögern, bis wir glauben ihn mit einiger Aussicht auf Erfolg führen zu können.”51

Kann man noch offener sein? Und wären diese Erklärungen aus dem Munde eines Mannes wie Bernhardi möglich gewesen, wenn nicht schon die Spatzen auf allen Dächern von den Kriegsvorbereitungen beider Koalitionen gepfiffen hätten?

Lasst hell die Waffen klirren!” — so schließt General Bernhardi sein Buch. Und als Echo kommen ebensolche Rufe “vom anderen Ufer”…

Um bei militärischen Schriftstellern zu bleiben, erinnern wir an das Buch des Freiherrn von Freytag-Loringhoven. Er ist auch nicht der erste Beste. Freytag-Loringhoven ist “Oberst im Range eines Brigadekommandeurs und Allerhöchst beauftragt mit Wahrnehmung der Geschäfte eines Oberquartiermeisters”. lm Jahre 1911 lässt die “Königliche Hofbuchhandlung” Mittler & Sohn das Buch Loringhovens erscheinen, das den Titel “Krieg und Politik in der Neuzeit” trägt. Der Verfasser beschäftigt sich mehr mit der kriegstechnischen Seite der Angelegenheit, wie übrigens auch General Bernhardi dieser Seite einen ganzen Band widmet. Aber er spricht ganz offen von dem europäischen Krieg, der vorbereitet wird. Man streite um die Gerechtigkeit der defensiven und offensiven Kriege, meint der hochgestellte Verfasser. Aber, “der Hieb ist die beste Parade”. “Man sollte mit dem Schrecken des Krieges keine Angst einjagen … Gewiss, der Krieg schlägt Wunden der verschiedensten Art, aber die werden am Volkskörper nicht entfernt so schwer empfunden, wie die pazifistische Propaganda glauben machen will.” Der Krieg ist unvermeidlich. “Weil eine gesunde Politik nur national sein kann, wird sie darum nimmermehr auf den Krieg verzichten wollten.”52 Man kann Loringhoven kaum ungenügende Offenheit vorwerfen.

Oder nehmen wir das bekannte Buch von Frobenius “Des Deutschen Reiches Schicksalsstunde”. Frobenius ist auch nicht irgendein zufälliger Schriftsteller. Er ist Oberstleutnant, sein Buch ist vom deutschen Kronprinzen besonders warm empfohlen worden. Die ganze Militärpartei Deutschlands hat für dieses Buch große Reklame gemacht.

Der Verfasser lässt noch eine kleine Hoffnung durchblicken, dass Russland sich vielleicht — aus Gründen der inneren Politik — von der Beteiligung am Krieg zurückhalten werde. Er erinnert vielsagend an die Worte Bismarcks, dass beide große Monarchien (er spricht von Österreich und Russland) durch eine Revolution sehr viel mehr zu verlieren riskieren, als sie durch einen Krieg gegeneinander gewinnen können. Aber dass der Krieg nicht zu umgehen ist, dass weiß Frobenius sehr gut, und er spricht davon mit voller Offenheit. Nüchtern berechnet er, dass sich in Russland im Sommer 1914 nur 1.450.000 Soldaten unter den Waffen befinden könnten, während es im Winter 1915-1916 schon 1.900.000 sein würden. Ohne jeden Vorbehalt weist er darauf hin, dass Frankreich jetzt seine Militärreform noch nicht durchgeführt habe, und dass es sich gerade 1914 in einer Lage befände, die ihm eine Beteiligung am Kriege fast unmöglich mache.

Der ganzen Sachlage zufolge muss Frankreich danach streben, dass der Krieg gegen Deutschland im Jahre 1915 oder auf jeden Fall im Jahre 1916 beginne. Die Schlussfolgerung hieraus: Deutschland muss den Krieg sofort wollen, solange die Gegner noch nicht ganz fertig sind. Man pflegt zu sagen: “si vis pacem, para justiciam”, aber … eine absolute Gerechtigkeit gibt es nicht — und Herr Frobenius hält sich an das alte Prinzip: “si vis pacem, para bellum” — wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.53

Dass die antideutsche Koalition den Krieg für ein bis zwei .Jahre später wünschte, das behaupten ohne Ausnahme alle deutschen Imperialisten, die sich zu dieser Frage geäußert haben.

In einem 1914, aber schon nach Kriegsbeginn erschienenen Pamphlet schreibt Graf Reventlow: “1914 kam der Krieg den britischen Wünschen wohl etwas zu früh. Frankreich und Russland waren mit ihren Armeen noch nicht so weit, wie sie zwei Jahre später gewesen waren. 1916 würde, so war der Gedanke der Mächte der Triple-Entente, der Augenblick zum Kriege da sein.”54

Diese Erklärungen der deutschen Imperialisten enthalten das Bekenntnis, dass es Deutschland war, das 1914 den Krieg, und zwar als Präventivkrieg, begonnen hat, damit ihn 1916 nicht die Entente beginne. Viele Umstände sprechen dafür, dass es wirklich so war. Aber andrerseits können die Behauptungen der deutschen Imperialisten, dass ihre Gegner den Krieg für 1915 oder 1916 vorbereiteten, durch nichts widerlegt werden. Und ferner kann nicht geleugnet werden, dass sowohl Frankreich als England ebenfalls im gewissen Sinne einen Präventivkrieg führen, denn der unmittelbare Zusammenstoß am Anfang fand nur zwischen Österreich-Deutschland und Serbien-Russland statt. Eine Neutralität Englands und Frankreichs wäre Deutschland sehr erwünscht gewesen. Aber England und Frankreich waren der Ansicht, dass Deutschland, sobald es einen Gegner erledigt hatte, sich gegen sie richten werde. Eine richtige Berechnung! Aber sie beweist nur eines: Das formale Kriterium, wer zuerst angefangen hat, ist nichtssagend in einer Epoche, in der beide Parteien in gleicher Weise imperialistische Politik treiben und sich darauf vorbereiten, wenn nicht heute, dann unbedingt morgen “anzufangen”…

Der Führer der deutschen Imperialisten, Paul Rohrbach, schreibt, dass der Krieg zwischen dem imperialistischen Deutschland und dem imperialistischen England im Verlaufe einer ganzen Reihe von Jahren mit absoluter Notwendigkeit herangereift ist. Von einem Frieden zwischen England und Deutschland sprächen nur “friedliebende” Naturen, Pastoren und Professoren.

Außer den bürgerlichen Pazifisten waren es auch die Sozial-Pazifisten, die das nicht abwendbare Schicksal mit guten Worten zu beschwören suchten. Als Muster der sozial-pazifistischen Literatur der letzten Jahre vor Kriegsbeginn kann das 1911 erschienene Büchlein Eduard Bernsteins dienen: “Die englische Gefahr und das deutsche Volk”. Bernstein hat ein gutes Werk getan, da er mit diesem Büchlein gegen den Chauvinismus gerade in einem Moment auftrat, in dem der antienglische Nationalismus in Deutschland Orgien feierte. Aber dadurch, dass er die Unvermeidlichkeit des Krieges zu vertuschen suchte, dass er den Arbeitern den “friedlichen” Kapitalismus als paradiesischen Garten schilderte, dass er Campbell Bannerman einen “ehrlichen, demokratischen Minister” nannte, dass er den ganzen Imperialismus als private kapitalistische Interessen” einzelner böser Kapitalisten darstellte und die Imperialisten zu überzeugen suchte, dass hinter ihrer Politik kein nationales Interesse von ernster Bedeutung stände,55 — hat Bernstein mit seinem süßlichen Pazifismus die Arbeiter verhindert, sich auf den kommenden ernsten Kampf vorzubereiten. Und die gleiche Rolle haben zusammen mit Bernstein viele hervorragende Führer der II. Internationale gespielt, die die Imperialisten zu überreden suchten, ein englisch-deutsches Abkommen zu treffen.

Der Führer der deutschen Imperialisten, Rohrbach, erzählt, dass der Überfall auf Deutschland und Österreich von der französischen und der russischen Regierung für die erste Hälfte des Jahres 1916 beschlossen war. Deutschland sei hiervon informiert gewesen. (Bekanntlich gab es in Russland die Miassojedows — d. Verf.) Jetzt habe die französische Armee noch keine schwere Feldartillerie, bis 1916 würde sie sie jedoch haben. Deutschland habe also keine Wahl zwischen Krieg und Frieden gehabt, sondern zwischen Krieg heute oder Krieg in ein bis zwei Jahren, nur mit dem Unterschied, dass der spätere Krieg für Deutschland sehr viel gefährlicher geworden wäre.

Deutschland war “hungrig”, es musste unbedingt neue Gebiete haben. Russland schlug ihm vor, die zehn Millionen österreichischer Deutschen zu nehmen, die 1866 und 1870/71 bei der nationalen Einigung außerhalb des Deutschen Reiches bleiben mussten, — erzählt Rohrbach weiter. Warum gingen die deutschen Imperialisten auf diesen verführerischen Vorschlag nicht ein? Aus Treue gegenüber dem verbündeten Österreich? Keine Spur! Der Ideologe des deutschen Imperialismus ist nicht im Geringsten empört über die “Unsittlichkeit” des gemachten Vorschlags. Nein, für ihn hat nur kalte Berechnung entscheidende Bedeutung. Nach reiflicher Überlegung, sagte er, sei man zur Meinung gelangt, dass dann in kurzer Zeit Russland zu stark für Deutschland werden würde. Zuerst würde es mit Österreich abrechnen, und dann, im Bündnis mit England und Frankreich, gegen Deutschland vorgehen .“In kurzer Zeit wären wir an die Reihe gekommen.”

Unter solchen Bedingungen konnte der Krieg nicht verschoben werden, die Gelegenheit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers musste ausgenutzt werden. “Wenn je ein Blutopfer eine befreiende, eine erlösende Wirkung gehabt hat, so war es dieses.”56 “Wir müssen es als ein Glück betrachten, dass durch das Todesopfer des Erzherzogs Franz Ferdinand der Ausbruch der großen antideutschen Verschwörung in Europa vorzeitig veranlasst worden ist. Zwei Jahre später wäre der Krieg für uns viel schwieriger, opfervoller, vielleicht zweifelhafter geworden”,57 klärt derselbe Verfasser im Buch “Der Krieg und die deutsche Politik”, das vor dem Krieg geschrieben und kurz nach Kriegsausbruch veröffentlicht wurde.

Wir brauchen Kleinasien oder Mesopotamien” schreibt er, wir wiederholen: vor Kriegsbeginn! “Ein deutsches Kleinasien oder Mesopotamien könnte zur Wirklichkeit werden, wenn vorher zum mindesten Russland und damit auch Frankreich zum Verzicht auf ihre gegenwärtigen politischen Ziele und Ideale gezwungen wären, d. h, wenn vorher der Weltkrieg (!) seinen Ausgang entschieden im Sinne der deutschen Interessen genommen hätte.”58 Während sie sich systematisch auf den Krieg vorbereiteten, versuchten die deutschen Imperialisten die englischen an der Nase herumzuführen, indem sie so taten, als suchten sie den Frieden mit ihnen. Aber auch umgekehrt. Am Schlusse seines Buches schreibt Rohrbach: “Jetzt, wo sich alles gewandelt hat, kann man ja ruhig sagen, dass die Verträge mit England über die Abgrenzung unserer Interessengebiete im Orient und in Afrika fertig und unterschrieben waren, und dass nur noch um ihre Veröffentlichung verhandelt wurde. In Afrika war uns die englische Politik überraschend weit entgegengekommen.”59 Natürlich! Warum sollte man nicht auf dem Papier nachgiebig sein, wenn der militärische Konflikt uni jeden Preis um ein oder zwei Jahre hinausgeschoben werden musste

Es ist klar, dass die deutschen Imperialisten bereit sind, sich mit besonderer Wut auf ihre englischen Kollegen zu stürzen. Von Frankreich muss — nach dem Programm, das Rohrbach in diesem Buch entwickelt — “nur” eine fette Geldkontribution genommen, Russland muss territorial beschnitten, England aber, das verhasste England muss “zerstört” werden.60

Ein anderes Buch desselben einflussreichen Verfassers, das volle zwei Jahre vor Kriegsbeginn das Licht der Welt erblickt hat, enthält noch wertvollere Mitteilungen! Wir brauchen Kolonien um jeden Preis … “in Afrika … ist der deutsche Besitz noch einer größeren Ausdehnung fähig (!)‚ und darum muss und wird diese Ausdehnung hier zu gelegener, vielleicht sehr naher Zeit stattfinden”, schreibt der Verfasser und unterstreicht diese Stelle. “Wir wollen niemanden ungerechterweise mit Gewalt berauben (Rohrbach scheint der Ansicht zu sein, dass es auch ‚gerechten‘ Raub gibt. — d. Verf.). Aber wie die Dinge heute offenkundig liegen, braucht man kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass das endgültige Revirement unter den afrikanischen Kolonialmächten noch bevorsteht, und dass es unsere Aufgabe sein wird, dabei ein erheblich größeres afrikanisches Deutschland zu schaffen — “Wir wissen alle, dass wir im Sommer und Frühherbst des Jahres 1911 wiederholt dem Kriege mit England nahe gewesen sind, und wir wissen auch, dass am 18. September 1911 die englische Flotte in der Nordsee und im Kanal auf den Stand der Angriffsbereitschaft gebracht war und das entsprechende Maßnahmen auch im Stillen Ozean gegen Kiautschou und unsere Südseekolonien getroffen waren …” “Wenn wir nicht den Entschluss fassen wollen, den vorhandenen politischen Knoten durch einen Krieg zu zerhauen, (sind) unsere Gegner imstande …, uns das Gesetz des Handelns vorzuschreiben.” Der Krieg ist notwendig und unvermeidlich. Aber “solange die Schienen der Bagdad-Bahn Aleppo noch nicht erreicht haben, solange der Nordostseekanal, Helgoland, und noch andere wichtige Punkte im Befestigungssystem der Nordseeküste unvollendet sind, können wir den Angriff der englischen Flotte … nicht mit dem Gefühl relativen Vertrauens entgegensehen, wie es nach Vollendung dieser Anlagen möglich sein wird.”61

Kann es eine größere Klarheit geben? Zwei Jahre vor dem Krieg erklärt der einflussreichste imperialistische Schriftsteller offen und unzweideutig: Wir werden Krieg führen, der Krieg ist notwendig. Die Ursache des Krieges ist, dass wir mehr Kolonien in Afrika haben wollen, für ‚sie‘ (die Engländer) liegt der Schwerpunkt in Mesopotamien, Ägypten, Ostafrika. Wir bereiten uns auf den Krieg vor, sie bereiten sich auf den Krieg vor. Wir müssen Zeit gewinnen bis zur Beendigung einiger Küstenbefestigungen und bis die Arbeiten an der Bagdadbahn bis zu einem bestimmten Punkt gediehen sein werden. Sie brauchen aber vielleicht noch ein paar Jahre mehr. Der Unterschied liegt nur im Ausmaß der Zeit.

Die “Alldeutschen Blätter”, das Wochenblatt des sehr einflussreichen “Alldeutschen Verbandes für ein größeres Deutschland” beginnen in der ersten Hälfte des Jahres 1914 besonders eifrig für den Krieg Propaganda zu machen. “Das alldeutsche Hochziel (ist) ohne Krieg nicht zu erreichen”, lesen wir in der Nummer vom 10. Januar 1914 im Artikel “Sind wir Chauvinisten?” “Wir hielten und halten heute mehr denn je dafür, dass Deutschland und Österreich-Ungarn eine kriegerische Auseinandersetzung mit ihren ost-westlichen Nachbarn auch bei ehrlichstem Friedenswillen nicht werden vermeiden können”, lesen wir in der Nummer vom 14. März 1914.

In dem Heft vom 4. April 1914 wendet sich die genannte Zeitschrift gegen die Versuche, das deutsche Volk von der Möglichkeit eines Übereinkommens zwischen Deutschland und England überzeugen zu wollen. Nein, der Krieg sei nicht abzuwenden. Er kam früher von Jahr zu Jahr, jetzt kommt er von Monat zu Monat näher, “wir verlangen (von England) nichts, als dass es sich nicht in unseren Weg stellt beim Erwerb einer Kolonie … Gerät England mit uns in einen Krieg, so ist seine Weltstellung ernstlich bedroht”, lesen wir in der Nummer vom 11. April 1914. “Belgien … nimmt eine durchaus unfreundliche Miene gegen uns an”, heißt es in demselben Heft.

Mitte April 1914 findet eine Sitzung des Zentralausschusses des genannten Verbandes statt. Admiral Breusing und Generalmajor Keim erstatten Berichte, in denen sie erklären, die entscheidende Stunde sei nahe. Die Hauptrede hält der Münchner Professor Graf du Moulin-Eckart; er erklärt: “Der Schicksalstag naht … Und wäre über uns Ragnarök, die Götterdämmerung verhängt, dann lieber in tobender Schlacht als in schleichendem Siechtum.”

Mit der gleichen Klarheit sprechen die deutschen Imperialisten von der Unvermeidlichkeit des Krieges in ihrem Kampforgan “Das Größere Deutschland”. Die Zeitschrift erscheint zum ersten Male am 5. April 1914 und ihre Losung ist der Krieg. Ihre Herausgeber sind Rohrbach und Ernst Eck. Mitarbeiter sind Graf Reventlow, eine Reihe einflussreicher imperialistischer Professoren, Gouverneure deutscher Kolonien, ganze Plejaden “hochgestellter Persönlichkeiten” usw. Tatsächlich ist es das offiziöse Organ des deutschen Imperialismus.

Während es den Kampf gegen England führt, trägt das Blatt aber auch der “russischen Gefahr” Rechnung. In einem Artikel unter diesem Titel vom 19. April 1914 kommt Rohrbach zu der Schlussfolgerung, dass die reaktionären Parteien in Russland jetzt den Krieg wünschen, um einer Revolution vorzubeugen. “Aus dieser Lage bietet sich der reaktionären Partei als der erwünschte Ausweg ein siegreicher Krieg dar. Das Ziel des Krieges soll entweder ein großer Gewinn im türkischen Orient sein oder die Herstellung der russischen Führerschaft unter den Südslawen auf Kosten Österreichs — oder womöglich beides … Glückt es, einen solchen (Krieg) zu führen, so würden damit die Forderungen der liberalen Opposition für eine Zeitlang kraftlos gemacht werden … Die eigentliche Revolution ist noch gar nicht gewesen, sondern sie steht erst noch bevor…”62

Krieg gegen Russland und England und folglich auch gegen Frankreich und Belgien — diese Perspektive sahen die deutschen Imperialisten seit langem. Und sie gingen ihr mit vollem Bewusstsein entgegen. Mögen Millionen und Abermillionen auf dem Schlachtfeld fallen — “wir” brauchen Kolonien und “Einflusssphären” Weil vorgewendete Redensarten und salbungsvolle Heuchelei dem Deutschen nicht ziemen, wollen wir es gleich unumwunden aussprechen: Der Krieg zwischen den drei Weltmächten Europas wird nicht nur in Belgien, er wird auch um Belgien geführt … Aus Sicherheitsgründen militärischer Art muss nicht nur die ganze belgische Küste, es müssen auch alle festen Plätze des Landes in deutscher Gewalt verbleiben … Das ganze Gebiet muss in den künftigen mitteleuropäischen Wirtschaftsblock einbezogen werden. Diese Land- und Menschenunterlage ist Vorbedingung der entsprechenden kolonialen, ja zuvor noch der maritimen Stärke, nicht umgekehrt … Wer Belgien an Mitteleuropa angliedert, wird damit früher oder später auch das belgische Kongogebiet von sich abhängig machen”, so schreibt mit lobenswerter Offenheit der deutsche Imperialist Hermann Losch.63

Natürlich mangelt es auch in Deutschland nicht an Heuchlern. Auch dort schreien Millionen Exemplare von Zeitungen täglich bis zur Heiserkeit, dass dieser Krieg der Krieg Deutschlands für “Kultur‘‘, “Recht‘‘, “Freiheit‘‘, “Zivilisation‘‘, “Menschheitsideale” sei. Auch dort gibt es Tausende von Büchern, die bemüht sind, diesen Betrug in die Köpfe der Volksmassen zu säen. Es gibt dort sogar “fromme” Schriftsteller, die in der Presse zu beweisen suchen (ganz wie unsere “gläubigen” Philosophen aus der Schule “Russkaja Mysl”), dass Wilhelm II. durch diesen Krieg Gottes Willen erfülle. Schrieb doch in einem ernsten konservativen Organ ein Mann, der den Titel Doktor führt, folgendes: “Sein (des Krieges) universeller Zweck ist … die Vernichtung der absoluten Seeherrschaft Englands. Gott hat es gewollt, dass gerade wir dieses Gericht vollziehen sollen; aber darum ist die Reinheit des sittlichen Gewissens auch auf unsrer Seite.”64 Und in der gleichen Zeitschrift betitelte ein Pastor seinen Artikel: “Gottes Anteil am Kriege”.65

Aber das ist nur “Belletristik”. Die wirklichen Ziele des Krieges sind genügend klar geworden aus den oben angeführten programmatischen Erklärungen der deutschen Imperialisten.

Die englischen lmperialisten.

Aber auch auf der anderen Seite kann man nicht weniger wertvolle Bekenntnisse finden. Aus verständlichen Gründen sind wir gezwungen, hier vieles wegzulassen…

Noch kurz vor dem Kriege sagte Fürst Kotschubey in einem im “Correspondent”66 veröffentlichten Artikel, dass ein Weltkrieg für Frankreich und Russland schließlich nur die Bedeutung haben würde, dass diese Länder gezwungen wären, die Weltherrschaft Englands zu verteidigen. Während England über ungeheuer große Besitzungen in Amerika, Asien, Afrika und Australien verfüge, müssten andere Industriestaaten innerhalb der Grenzen ihres Landes förmlich ersticken. “Die Deutschen brauchen ein Kolonialreich; dieses Reich gehört England, sie wollen es früher oder später erobern, widrigenfalls sie sich gegen ihre europäischen Nachbarn wenden werden. Das ist einfach und deutlich, wie schließlich alles, was mit dem Kampf ums Leben zusammenhängt…”67

Im Juni 1914, also kurz vor Kriegsausbruch, erschien in der einflussreichen deutschen konservativen Zeitschrift “Preußische Jahrbücher” ein Artikel des Petersburger Professors Paul von Mitrofanow. Seinem ganzen Charakter nach ist dieser Artikel inspiriert vom Ministerium für auswärtige Angelegenheiten. In ihm wird der bevorstehende Krieg klar und offen verkündet. Die Erwerbung des Bosporus und der Dardanellen wird als Bedingung erklärt, ohne die Russland nicht Frieden halten könne. Wenn alles so verbleibt wie es ist, geht der Weg nach Konstantinopel über Berlin. Wien ist eigentlich eine sekundäre Frage … Es ist kein taktisches Manöver, um die Deutschen einzuschüchtern — wir haben eine zu gute Meinung von der deutschen Tapferkeit, sondern um offen und ehrlich dem Nachbar zu sagen: Ich gebe dir, damit du mir gibst.”

Und die Schriften der Gruppe “Welikaja Rossija” (Großrussland) ‚ forderten sie nicht direkt zum Krieg und zur imperialistischen Politik auf? Und die ganze Tätigkeit der 3. und der 4. Staatsduma — einschließlich der russischen Liberalen, die in dieser Beziehung oft eifriger waren als die Rechten —führte sie nicht auch dazu?68

In der parteilosen Zeitschrift “März”69 erklärte ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn der jetzige belgische Minister Vandervelde, dass seit 1912 die Beziehungen zwischen den belgischen und französischen Regierungen (d. h. zwischen den belgischen und französischen Imperialisten) stets engere werden. Deutschland strecke seine Hand nach dem belgischen Kongo aus. Belgien unterstütze England und Frankreich, um den Schlag von Seiten Deutschlands abzuwenden.

Im selben Jahre 1914 entlarvt auf den Seiten der “Neuen Zeit” der jetzige belgische Sozialchauvinist de Broucquère die Politik der belgischen Imperialisten, die das Schicksal Belgiens mit den Interessen der französischen Bourgeoisie verbänden und so das Land Ereignissen entgegenführten ‚ die verhängnisvoll werden könnten,

Aber gehen wir zu England über, das uns neben Deutschland in erster Linie interessiert. Der englische Pazifist Norman Angell, der in England große Berühmtheit erlangt hat,70 obgleich sein Pazifismus auf die englische Politik absolut keinen praktischen Einfluss hat, bringt in einem vor kurzem erschienenen Buch “Prussianism and its destruction”71 eine Kollektion von Aussprüchen einflussreicher englischer Imperialisten. Der Oxforder Professor Wilkinson schreibt:

England steht vor einer großen Alternative: entweder zur ersten der Nationen der Welt zu werden oder zur letzten; entweder der Führer der Menschheit zu sein oder das Reich untergehen zu lassen und selbst den Schatten der Selbständigkeit zu verlieren.” Professor Crambe sagt: “Diese beiden Reiche (England und Deutschland) nehmen ihren Ursprung vom Kriegsgott Odin, darum sind sie zu diesem großen Konflikt verurteilt gewesen.” Mister Wiatt schreibt: “Die höchste Moral ist bestrebt, die höchste militärische Macht zu schaffen.” Lord Roberts geht verschwenderisch um mit Komplimenten für die von Bernhardi und Bethmann-Hollweg verkündeten Staatsprinzipien.

Homer Lee sagt in einem, Roberts gewidmeten und von diesem mit einem Vorwort versehenen Buch, dass “die nackte Gewalt die Bürgschaft für die nationale Entwicklung sei”. “Keine Nation”, schrieb derselbe Verfasser, “hat sich so beharrlich wie England an das Prinzip gehalten, kriegerische Handlungen zu beginnen, ohne vorher den Krieg zu erklären … Das Prinzip der Heiligkeit der Neutralität ist nur eine menschliche Verirrung, ein Beweis der Entartung … Wenn England am Anfang des XIX. Jahrhunderts das Recht hatte, von Dänemark Besitz zu ergreifen, nur um die Ausnutzung der dänischen Flotte durch Frankreich zu verhindern, um wie viel berechtigter wäre es jetzt, im XX. Jahrhundert, die Neutralität Dänemarks zu verletzen und seine südlichen Grenzen zu besetzen, um zwei Länder — England und Frankreich — vor einem Überfall Deutschlands zu schützen.” Major Murrag schreibt: “Dem Volk bei uns von der Heiligkeit des internationalen Rechts zu sprechen, wäre nichts anderes als Heuchelei oder Unwissenheit.” Derselbe Murray nennt Clausewitz “den Shakespeare unter den militärischen Schriftstellern”. (Verwandte Seelen finden sich!)

Der englische angesehene militärische Kritiker Dr. Magir schreibt: “Eine wirkliche Strategie besteht darin, der feindlichen Armee einen furchtbaren Schlag zu versetzen und der Bevölkerung solche Qualen zu bereiten, dass sie ihre Regierung zwingt, um Frieden zu bitten” usw. “Germany our enemy of enemies!‘‘ (Deutschland ist unser Feind der Feinde) -- schrieb Professor Crambe im Jahre 1913.

Schon zu der Zeit, als das englisch-japanische Bündnis in Vorbereitung war, verkündet Lord Curzon, der ehemalige Vizekönig Indiens, öffentlich das Programm der englischen Souveränität im zentralen Osten, und der berühmte englische Ingenieur Willcocks tritt in Kairo mit seinem Aufsehen erregenden Vortrag auf über die Wiederherstellung der alten Kultur in Babylonien durch die Engländer. Endlos viel Zitate von drohend-offenen imperialistischen Aussprüchen Dilks und Churchills, Lord Milners und Asquiths, Arthur Lees und Roberts usw. könnten noch angeführt werden, “Germaniam esse delendam” (Deutschland muss vernichtet werden), — so schließt ein berüchtigter Artikel in der “Saturday Review”. “Sucht euch Kompensationen! Nehmt in Deutschland, was ihr wollt. Das Wachstum der deutschen Flotte wird nur dazu führen, dass ihre Vernichtung durch England für Deutschland ein noch größerer Schlag sein wird.”

Die offizielle Version Englands lautet, dass es Krieg führe der Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland wegen. — Warum geht es in diesem Krieg um die Ehre unseres Landes?” — fragt der englische Minister Lloyd George in seiner am 19. September 1914 in Queens Hall in London gehaltenen Rede. Und er antwortet. “Weil wir durch einen Ehrenvertrag verpflichtet sind, die Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Freiheit des mit uns benachbarten kleinen Landes zu schützen … Ein Mensch, der seine Pflicht gegenüber seinem Gläubiger vergisst, nur weil dieser zu schwach ist, um ihn dazu zu zwingen, — ein solcher Mensch handelt wie eine Kanaille.” (Beifallssturm. Niemand kam es in den Sinn, dazwischen zu rufen: “Und der Burenkrieg—?”) “Gott (!) hat die kleinen Völker auserwählt … Die Literatur steht bei den kleinen Völkern in höchster Blüte … Wir kämpfen gegen den Anspruch auf die Weltherrschaft” (Das sagte der englische Minister!) usw.72

Doch es ist natürlich klar, dass nicht diese Motive das imperialistische England in den Krieg getrieben haben. Hätte es sich nur um die Selbständigkeit der “von Gott auserwählten” kleinen Staaten gehandelt, so war ja Deutschland zu Beginn des Krieges bereit gewesen, die volle Unabhängigkeit Belgiens und sogar — Frankreichs zu garantieren. Nur in Bezug auf die französischen Kolonien wollte der deutsche Reichskanzler keine klare Antwort geben. Und das war der Kernpunkt. Die “Unabhängigkeit Belgiens” schützen die englischen Imperialisten, weil sie die Erweiterung des deutschen Besitzes in Afrika nicht zulassen wollen, und weil die Besetzung eines Teiles von Belgien durch Deutschland die Position der deutschen Flotte der englischen gegenüber stärkt. Nur darum handelt es sich. Den eigenen Kolonien “Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Freiheit” zu gewähren, das fällt den englischen Imperialisten nicht im Traume ein. Nicht allzu fern ist die Zeit, da das Hauptorgan der englischen Imperialisten (“Times”) sich darauf bezog, dass “Sklaverei in der Bibel nirgends kategorisch verboten sei”. Nicht allzu fern ist die Zeit, da Gladstone in einer öffentlichen Rede erklärte, man brauche Ägypten um jeden Preis, und es sei gleichgültig, “ob wir dort die erste bedeutende Basis durch Kauf oder Diebstahl gewinnen…”

Über die wahren Ursachen des Krieges zwischen England und Deutschland lesen wir bei englischen Schriftstellern: “Die Hauptursache wurzelt in der stets wachsenden Unzufriedenheit Deutschlands wegen der Neuerwerbungen seiner Gegner in Afrika. Europa und Asien, ferner in der Tendenz Deutschlands, seit 1905 in einen Kampf mit Frankreich um die nordafrikanischen Gebiete zu treten”, — so schreibt H. Johnston im Artikel “Stand Großbritannien Deutschland im Wege? ”73 Derselbe Verfasser, der erklärt, dass er in diesen Angelegenheiten gut unterrichtet sei, bestätigt, dass England durch Lord Haldane mit den Deutschen um die portugiesischen Kolonien gefeilscht hat.

Ein anderer Engländer, E. D. Morel, lacht darüber, dass man England jetzt als unschuldiges Lamm darstelle, das niemandem ein Wässerchen trübe. Und er weist darauf hin, dass die Konflikte im Zusammenhang mit der Bagdadbahn und dem Geheimvertrag zwischen England und Frankreich (Ägypten für Marokko) die Hauptursachen des Krieges seien.74

Und ein englisch-französischer Politiker, der Anglo-French zeichnet, erklärt mit voller Offenheit: es handelt sich nur darum, dass “wir Deutschland, dem einzigen Land, das noch Kolonien braucht, jedes Mal Widerstand entgegensetzten, wenn es irgendeine Kolonie erwerben wollte … Nachdem wir alles Wertvolle in der ganzen Welt, bis auf Süd-Amerika, untereinander verteilt hatten, haben wir Deutschland gnädigst erlaubt, sich alles übrige zu nehmen. Frankreich, das keinen Bevölkerungsüberschuss für Kolonien besitzt, hat sich Marokko genommen; Italien — Tripolis; Russland hat seine Hand auf Persien gelegt und beabsichtigt Galizien und Konstantinopel zu nehmen; Japan hat jetzt — mit unserem Einverständnis — die Absicht, seine alten Pläne in Bezug auf China zu verwirklichen. Und als Kompensation haben wir Deutschland nur in der Samoa-Frage und Helgoland-Frage Zugeständnisse gemacht”.75

Das ist die Meinung eines “gerechten” Imperialisten, der der Ansicht ist, dass man in Anbetracht der gegebenen Sachlage mit Zugeständnissen an die deutschen Imperialisten freigebiger hätte sein können.

Außer dem Kampf um die “Unabhängigkeit” Belgiens spricht man in England noch viel von dem Kampf gegen den “preußischen Militarismus”. Aber auch hierzu hat ein Pastor in der englischen Presse sehr treffend bemerkt: “Für euch”, sagte er zu den englischen Imperialisten, “handelt es sich nicht um das Hauptwort (Militarismus), sondern um das Eigenschaftswort (preußisch). Ihr erinnert mich an einen protestantischen Redner, der behauptete, das Prinzip der Inquisition sei gar nicht so schlecht, aber unglücklicherweise befände sie sich in schlechten Händen.”76

Kampf um die Kolonien, imperialistische Rivalität — das sind die wirklichen Motive, von denen sich nicht nur Deutschland, sondern auch England leiten lässt. Und auch in England gibt es Menschen, die das jetzt offen aussprechen. In der englischen Zeitschrift “Krieg und Frieden” erklärt Lord Courtney of Penwith: “In der jetzigen Zeit kann man nicht von einem toleranten Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands sprechen, ohne auf die Verhinderung seiner kolonialen Expansion zu verzichten und ohne wenigstens sein Recht auf die bereits erworbenen Kolonien wiederhergestellt zu haben.” Lord Courtney hat sozusagen den Stier bei den Hörnern gefasst.

Die imperialistische Bourgeoisie Englands stellt über die Kriegsziele ebenso “blutrünstige” Programme auf wie die imperialistische Bourgeoisie Deutschlands. Wenn in Deutschland die Herren Liszt, Reventlow, Rießer, Rohrbach, Dix & Co. die Weltkarte nach ihrer Art zuschneiden, wilde Pläne über Annexionen von Gebieten entwerfen, die früher unter russischer Herrschaft standen, wobei die frühere Bevölkerung verjagt werden soll usw., so stehen ihnen auch ihre Gegner nicht nach. In dem englischen Almanach “Krieg und Demokratie” verlangt Watson, dass die deutsche Flotte vernichtet und der Kieler Kanal neutralisiert werde, dass man Deutschland Elsass-Lothringen, Schleswig-Holstein, Posen und Oberschlesien abnehme, dass man aus jetzt österreichischem Besitz eines neuen Staat “Jugoslawien” gründe usw. Zu diesem Zweck wird für ein noch innigeres Bündnis mit Russland Propaganda gemacht. Und Mister Watson macht Russland zweifelhafte Komplimente, indem er es, was Lebensfähigkeit anbetrifft, mit “vielzelligen, wirbellosen Tieren” vergleicht und seine Unbesiegbarkeit preist, die bedingt wird eben durch Rückständigkeit, durch die Anspruchslosigkeit der russischen Bauern, durch die Frömmigkeit der russischen Bevölkerung im altchristlichen Sinne usw.

Der Leser sieht, dass eine Partei der anderen wert ist. Etwas vulgär ausgedrückt, könnte man sagen: Zwei Stiefel sind ein Paar…

Um was geht der Krieg?

Zum Schluss wollen wir versuchen, kurz zusammenzufassen, um was der 1914 ausgebrochene Krieg geführt wird, was die Großmächte durch diesen Krieg bezwecken.

Die türkische Frage spielt eine der wichtigsten Rollen.

Die Verteilung der Türkei — das ist einer der Hauptpunkte im Programm der einen der kriegführenden Mächtegruppen, die Türkei endgültig für sich behalten — das ist das Programm der andern. Die reichen Profite, die der Bourgeoisie beider Koalitionen die türkische Beute verspricht, machen die regierenden Sphären trunken, benebeln die Köpfe der “Weltpolitiker”, reizen den Appetit, rufen wütende Wettkämpfe hervor, treiben zu den gewagtesten Experimenten, die mit der Vernichtung von Millionen von Existenzen und mit Milliardenverlusten verbunden sind.

Deutschland will Kleinasien, Mesopotamien, Belgisch- und Französisch-Kongo, Niederländisch-Indien, die portugiesischen Kolonien, Marokko für sich haben, seine südwestlichen und östlichen Besitzungen in Afrika zu einem einheitlichen Gebiet zusammenfassen, möglichst auch England einen Teil der afrikanischen Kolonien wegnehmen. Ferner führt Deutschland Krieg, um seine ungeteilte Macht über die Türkei zu festigen. Es ist außerdem nicht abgeneigt, seine Grenzen auf Kosten Russisch-Polens “auszugleichen” und sich denjenigen Teil von Belgien zu unterwerfen, den es braucht, um eine ständig gegen England gerichtete Pistole in der Hand zu haben.

Frankreich will Syrien, einen Teil Kleinasiens, die deutschen Besitzungen in Afrika. Außerdem wird in diesem Krieg für Frankreich die Frage entschieden, ob es die umfassenden kolonialen Besitzungen, die es im Verlaufe der letzten Jahrzehnte angehäuft hat, behalten wird oder nicht. Die Rivalität des Kapitals um die Absatzmärkte, der Kampf um die besten Bedingungen der Kapitalanlage spielen auch in Frankreich eine sehr große Rolle. Und schließlich ist die “Revanche” für 1870/71, das Bestreben, Elsass-Lothringen zurückzuerobern und bei dieser Gelegenheit noch ein Stückchen Landes jenseits des Rheins dazuzukriegen, die treibende Kraft Frankreichs in diesem Krieg.

England möchte ganz Afrika zu einem englischen Erdteil machen, oder wenigstens alles in Afrika, was nicht Frankreich gehört, für sich gewinnen. England ist bestrebt, das ganze afrikanische Gebiet vom Kap der guten Hoffnung bis Ägypten zu einer einzigen Besitzung zusammenzufassen. Und von dort aus, durch den Suezkanal, Kleinasien, Mesopotamien, Arabien, Persien und Afghanistan endgültig in seine Hand zu nehmen, um dies ganze Gebiet mit Britisch-Indien zu vereinigen.

Russlands Gelüste gehen nach dem Balkan, Konstantinopel, den Meerengen, Kleinasien, Persien, der Mongolei. Es möchte, wenn möglich, auch Häfen im Atlantischen Ozean haben. Ferner braucht Russland Galizien zur echtrussischen Lösung der ukrainischen und polnischen Fragen im eigenen Reich.

Deutschland, Frankreich, England, Russland, Japan und die Vereinigten Staaten betrachten China als ihre zukünftige Beute. Für Österreich ist die Ostküste des Adriatischen Meeres von Wichtigkeit. Es muss Serbien unterwerfen, auf dem Balkan festen Fuß fassen, Italien weiter fort schieben usw.

Italien sucht Erweiterungen seines Besitzes in Afrika, ferner hofft es, in Kleinasien etwas zu ergattern. Außerdem will es Trient, Triest, Istrien, Dalmatien, Albanien und die Häfen am Adriatischen Meer.

Belgien will seine afrikanischen Besitzungen (Belgisch-Kongo) behalten, die es sicher verlieren würde, wenn Deutschland siegte. Erleidet Deutschland eine Niederlage, dann gelingt es den belgischen Imperialisten vielleicht, ihren Besitz in Afrika noch etwas zu erweitern.

Portugal kämpft ebenfalls für die Erhaltung seiner Kolonien in Afrika. Und so weiter, und so weiter…77

Das nationale Element spielt nur im Kampf der Balkanmächte eine gewisse Rolle. Aber auch da wird es übertönt von imperialistischen Motiven, denn die Balkanmächte sind in Wirklichkeit seit langem nur noch Schachfiguren in den Händen der beiden miteinander konkurrierenden imperialistischen Trusts.

Je länger der Krieg andauert, um so klarer tritt sein imperialistischer Charakter hervor. Das heutige Stadium (März 1916) ist besonders lehrreich. Es wird immer klarer, dass die Gefahr nicht den “Vaterländern” der Großmächte droht, sondern etwas anderem. Beide Koalitionen richten ihre Kräfte dorthin, wo sie den geringsten Widerstand finden. Österreich und Deutschland auf den Balkan; hier haben sie Serbien, Montenegro, Albanien besetzt. Die Gegner haben ihre Kräfte auf Saloniki, Persien, die Türkei gerichtet. Die japanischen Imperialisten haben sich auf China gestürzt. Die Türkei ist von beiden Seiten ernstlich bedroht. Siegen ihre offenen Gegner, so kann sie natürlich keine Schonung erwarten. Aber auch wenn ihre Verbündeten — Deutschland und Österreich — siegen, ist ihr Schicksal durchaus kein heiteres. Die Deutschen wirtschaften in der Türkei ungestört, sie bringen ihre Truppen dorthin, ihre Offiziere kommandieren, als wären sie dort zu Hause. Und wenn fremdes Militär einmal im Land ist, so kommt es nicht sobald wieder heraus, wie historische Präzedenzfälle in den Balkanstaaten lehren

Äußerlich sieht es so aus, als ob die Türkei von zwei Seiten (England und Frankreich) angegriffen und von einer Seite (von Deutschland) verteidigt werde. In Wirklichkeit aber wird sie von drei Seiten angegriffen. Die Türkei ist Freiwild, auf das von allen Seiten Jagd gemacht wird. Und sie muss so oder anders unter ein Joch kommen. Wer weiß, wie die Friedensbedingungen sein werden? Wer kann dafür garantieren, dass nicht zum Beispiel ein Teil des französischen Marokko eingetauscht wird gegen Saloniki, dass Persien nicht für Polen herhalten muss, dass die portugiesischen Kolonien nicht gegen Belgien eingetauscht werden, dass Belgisch-Kongo nicht als Kompensation für diese oder jene “Zugeständnisse” an die englischen Imperialisten in der türkischen Frage dienen wird usw. Auf den ersten Blick erscheinen solche Kombinationen unerwartet und voller Widersinn. In der Tat sind sie aber sehr wahrscheinlich, denn sie ergeben sich aus der ganzen Politik des Imperialismus.

Neue imperialistische Kriege sind ganz unvermeidlich. Denken wir z. B. an Amerika. Als Resultat des Krieges werden vielleicht neue unerwartete Mächtegruppierungen zustande kommen. Aber wie neu diese Gruppierungen auch sein mögen, sie werden vollkommen im Zeichen des Imperialismus leben und sich betätigen. Solange nicht eine “dritte” anti-imperialistische Kraft dazwischen tritt, kann der imperialistische Krieg mit keinem anderen als einem imperialistischen Frieden abschließen. Träume von einem “demokratischen Frieden” — ohne an die aktive Einmischung jener genannten “dritten” Kraft zu appellieren — sind leere Hoffnungen, machtlose Wünsche. Der Inhalt des Friedensvertrages, den die Großmächte abschließen werden, wird den wahrhaft imperialistischen Charakter des Krieges aufdecken, trotz der “für das Volk” bestimmten Phrasen über die Kriegsziele. Wen der imperialistische Krieg nicht belehrt hat, den wird wohl der imperialistische Frieden belehren. Dieser Frieden wird jedenfalls nur ein kurzer Waffenstillstand sein, eine kleine Pause vor neuen Katastrophen, mit der die Imperialistische Epoche schwanger geht…78

1 Dieser Krieg ist nicht in Deutschland gemacht, aber der Fabrikstempel “Made in Germany” ist die Ursache des Krieges.

2 “Der Weltwirtschaftskrieg” von Arthur Dix, 1914 S. 22, 46 u. a.

3 Gustav Stresemann, “Englands Wirtschaftskrieg gegen Deutschland”, Berlin, 1915, S. 8, 22, 26.

4 a.a.O., S. 6f.

5 Fürst Bülow, “La Politique Allemande”, 1914, S. 32f.

6 a.a.O., S. 58

7 Angaben über das Anwachsen der Schutzzollsympathien in England und Einzelheiten über dessen handelswirtschaftliche Rivalität mit Deutschland führen wir noch an anderer Stelle an.

8 J. Ruedorffer, “Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart”, 1914, S. 101 u. 103.

9 Näheres über die Bedeutung Helgolands für Deutschland siehe bei Maximilian von Hagen “Geschichte und Bedeutung des Helgolandvertrages”, München, 1916.

10 Graf von Reventlow, “Deutschlands auswärtige Politik”, S. 62.

11 K. Lamprecht, “Zur jüngsten deutschen Vergangenheit”, II. Band., 2. Hälfte 1904, “Weltpolitik”, S. 703/705.

12 Prince de Bülow, “La Politique allemande”, mit einem Vorwort des Senators M. J. Selves, 1914, Paris. S.35/36. Das Buch erschien kurz vor Kriegsausbruch. Die Zitate sind dem französischen Exemplar entnommen. Im Sommer 1916 erschien eine “umgearbeitete” deutsche Auflage. die viel Staub aufwirbelte.

13 a.a.O., S. 35

14 a.a.O., S. 38

15 Graf von Reventlow, “Deutschlands auswärtige Politik”, S. 91.

16 a.a.O., S. 93

17 a.a.O., S. 118

18 a.a.O., S. 71

19 Fürst Bülow, a.a.O., S. 49

20 a.a.O., S. 46.

21 Prof. Crambe, “Deutschland und England”, russische Ausgabe, Moskau

22 Reventlow, a.a.O., S. 245.

23 Reventlow, S. 276.

24 a.a.O., S. 386.

25 Graf Reventlows Buch: “England, das ist der Feind”, S. 30. Dies Buch erschien ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch.

26 Ernest Lemonon, “L‘Europe et la politique britannique 1882-1909”, Paris, 1910, S. 344. “L‘Allemagne comprend chaque jour davantage … les armements anglais sont malgré quelques déclarations officieiles contraires nettement dirigés contre elle.”

27 Dr. L. Riesser, “England und wir”, Leipzig, 1914, S. 21 ff.

28 Reventlow, a.a.O., S. 398.

29 Fürst Bülow, “La Politique allemande”, 1914, S. 45.

30 Schulze-Gaevernitz, “Freie Meere”, 1915, S. 21.

31 “Deutschland und Ägypten”, von Erich Meyer, Pfarrer der deutsch-evangelischen Gemeinde in Alexandrien. Berlin, 1915. S. 2, 8, 24, 25.

32 Graf Reventlow, S. 322.

33 a.a.O.

34 Hans Delbrück, “Bismarcks Erbe”, Berlin-Wien, S. 181

35 L. Trampe, “Der Kampf um die Dardanellen.” 1915, S. 26 ff.

36 a.a.O., S. 28

37 H. Cunow, “Die Türkei und Ägypten”, 1914. S. 40-43

38 Otto Bauer, “Der Balkankrieg und die deutsche Weltpolitik. Berlin 1912, S. 45

39 Prince de Bülow, “La Politique allemande, 1914, S. 82 und 105.

40 Professor Alfred Hettner, “Die Ziele unserer Weltpolitik”, 1915, S. 20; s. vom selben Verfasser: “Englands Weltherrschaft und der Krieg”

41 Dr. Richard Hennig, “Der Kampf uni den Suezkanal‘‘, 1915, S. 19 u.a.

42 a.a.O., S. 18

43 Einige offene Bekenntnisse über die Politik des deutschen Imperialismus in Ost-Asien kann man in der Broschüre Fritz Wertheimers “Deutschland und Ostasien”, 1914, finden.

44 Paul Arndt, “Grundzüge der auswärtigen Politik Deutschlands”, 1912, S. 70-76 u. a.

45 Alfred Hettner, a.a.O., S. 25 f.

46 Max Apt, “Der Krieg und die Weltmachtstellung des deutschen Reiches”, 1914, S. 30 f.

47 Wir zitieren nach der russischen Ausgabe: Prof. Crambe, “Deutschland und England”, Moskau, 1915, S. 42 f.

48 Friedrich von Bernhardi, General der Kavallerie z. D. “Deutschland und der nächste Krieg”, 5. Aufl., Stuttgart und Berlin, 1913, S. 7, 19.

49 a.a.O., S. 115

50 a.a.O., S. 123

51 a.a.O., S. 343

52 Freiherr von Freytag-Loringhoven, “Krieg und Politik in der Neuzeit”, Berlin 1911, S. 279 f.

53 “Des deutschen Reiches Schicksalsstunde‘‘, von H. Frobenius, Oberstleutnant z. D., 10. Aufl., Mai 1914, S. 6, 25, 28, 62, 73, 74, 87 u. a. — S. auch die Broschüre des Generals der Infanterie A. von Janson; “Unsere Feinde”, geschrieben vor dem Kriege, erschienen in den ersten Kriegstagen. Unter dem Vorwort ist der 7. August 1914 datiert. “Unsere Feinde” werden in der Broschüre eingehend charakterisiert. Die Schlussfolgerung: “für uns” ist es vorteilhafter, jetzt und nicht später Krieg zu führen.

54 “England, der Feind”, 1914 S. 33.

55 Eduard Bernstein ‚”Die englische Gefahr und das deutsche Volk” Berlin, 1911, S. 18, 36.

56 Paul Rohrbach, “Warum es der deutsche Krieg ist”, Berlin, 1914, S.21.

57 Paul Rohrbach, “Der Krieg und die deutsche Politik”, Dresden, 1914, S. III.

58 a.a.O., S. 37.

59 a.a.O., S. 85

60 a.a.O., S. 100.

61 Paul Rohrbach, “Der deutsche Gedanke in der Welt”, Düsseldorf und Leipzig, 1912. S. 134, 187, 201, 215.

62 “Das Größere Deutschland”, Nr. 3, 1914, S. 59, 60, s. auch in Nr. 9 den Artikel Axel Schmidt. “Russlands Endziel” (3. Mai 1914); ferner die “Für das Volk” geschriebene Broschüre P. Rohrbachs “Was will Russland?”, Vortrag, gehalten vor Arbeitern (!) im Hamburger Volksheim am 28. Oktober 1914.

63 Dr. Hermann J. Losch, “Der mitteleuropäische Wirtschaftsblock und das Schicksal Belgiens”, Leipzig, 1914, S. 30, 35, 37. Die Grundidee des Buches ist dieselbe, wie im, “Programm” des imperialistischen Schriftstellers Liszt, das so viel von sich reden machte.

64 Dr. Ferdinand Jakob Schmidt, “Das Ethos des politischen Gleichgewichtsgedankens”, “Preußische Jahrbücher”, 1914, Oktober, S. 15.

65 “Preußische Jahrbücher”, Februar 1916, Artikel des Pastors Lehmann.

66 Dieser Artikel ist von der deutschen konservativen Zeitschrift “Preußische Jahrbücher” im September 1914 ungekürzt abgedruckt worden.

67 a.a.O., S. 503

68 Siehe die Duma-Reden Miljukows, Tschelnokows, Maklakows, die Zeitung “Rjetsch” und andere liberale Zeitungen, die Zeitschrift “Russkaja Mysl” und die Schriften der offenherzigen Nationalliberalen.

69 “März” vom 10. Januar 1914.

70 Ein Verehrer Angells, Vicomte Echer, äußerte in einem in der Sorbonne im Jahre 1914 gehaltenen Vortrag, dass die Thesen von Galilei den üblichen Ansichten seiner Zeit nicht diametraler entgegengesetzt waren als die (pazifistischen) Thesen Norman Angells.

71 Da wir das Original nicht zur Hand haben, zitieren wir nach dem Artikel A. Martynows: “Worin liegt im Kommenden das Neue?‘‘, “Die Internationale und der Krieg”, 1915, Nr. 1.

72 David Lloyd George, “La guerre Européenne”, Discours prononcé - par M. D. L. G. (Chancelier de l‘Echiquier) au Queens Hall de Londres, 19. Sept. 1914 (Trad. de l‘anglais). S. 3, 10, 22 u. a.

73 “New Statesman”, 6. Februar 1915.

74 a.a.O., 13. Februar 1915

75 “New Statesman”, 27. Februar 1915, Brief an die Redaktion, datiert: Paris, 18. Februar 1915.

76 “The Nation”, Nr. 14, 3. Oktober 1914, Artikel von R. L. Gales.

77 Vergl. diesbezgl. das entsprechende Kapitel der ausgezeichneten Arbeit des holländischen Marxisten H. Gorter, “Imperialismus, Weltkrieg und Sozialdemokratie”, Amsterdam 1915

78 Der Krieg löste alle hier aufgeworfenen Probleme. Deutschland wurde im Versailler Frieden aller seiner Kolonien beraubt; Österreich-Ungarn in Stücke zerschlagen, die Türkei zu einem Kleinstaat reduziert, Sowjet-Russland durch die Schaffung der Kette von Randstaaten von Mitteleuropa abgedeckt.

England hat seine Ziele im Kriege erreicht. Die deutsche Flotte ist vernichtet; das afrikanische Weltreich vom Kap bis Kairo ist hergestellt: die Bagdadbahn bedroht nicht weiter die Macht Englands in Indien. An das afrikanische Weltreich schließt sich das vorderasiatisch-indische an. England hat — trotz der formellen Unabhängigkeit Ägyptens — den Landweg vom Kap bis Indien fast lückenlos in Händen.

Frankreich hat Elsass-Lothringen zurückerhalten, sein nordafrikanisches Kolonialreich abgerundet und mit den eigenen und den von Deutschland abgenommenen westafrikanischen Gebieten verbunden. Es hält das Saargebiet auf 15 Jahre besetzt (tatsächlich auf immer, denn die “Volksabstimmung” wird bei den gegebenen Machtverhältnissen für Frankreich entscheiden), das linksrheinische und gegenwärtig auch das Ruhrgebiet auf unbestimmte Zeit besetzt. Es hat Syrien von der Türkei geraubt.

Italien hat Trient, Triest, Tirol, Fiume und ein ganz kleines Beutestück in Nordafrika erhalten. Seine kleinasiatischen Raubgelüste sind nicht In Erfüllung gegangen.

Japan erhielt Kiautschou und befestigte seine Position in Korea und der Mandschurei durch die Ausschaltung Russlands als imperialistische Macht.

Belgien und Portugal erhielten ihren kolonialen Besitz.

Die geschlagene Mächtegruppe: Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei wurden förmlich zerfleischt von den Räubern, Deutschland wurden alle Kolonien, ferner Elsass-Lothringen, Posen, der größte Teil Oberschlesiens genommen. Seine Kriegsflotte, diese von England so gehasste und gefürchtete Flotte, wurde an England ausgeliefert und vernichtet, das Reich unter Militärkontrolle gestellt, mit schweren, untragbaren Lasten für die Reparation der Kriegsschäden belastet, Auf eine “Kriegsentschädigung” hatten die Siegermächte heuchlerisch verzichtet. Auch die Beraubung Deutschlands und der anderen besiegten Staaten erfolgte unter dem Schlagwort: keine Annexionen! Die Kolonien wurden unter die Oberhoheit des Völkerbundes gestellt, der den einzelnen imperialistischen Räubern “Mandate” zur Verwaltung dieser Gebiete gab. Die Abtrennung Elsass-Lothringens war eine “Desannexion”. Die übrigen Teile wurden durch Volksabstimmung abgetrennt, wobei der Völkerbund, als die Volksabstimmung in Oberschlesien nicht den Wünschen Polens entsprach, dieselbe aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus korrigierte.

Österreich-Ungarn wurde auf Grundlage des Schlagwortes: “Befreiung der Nationen”, “Selbstbestimmungsrecht der Völker” in Stücke zerschlagen. Das Ergebnis ist, dass an Stelle einer Großmacht mit bunter nationaler Zusammensetzung eine Reihe von Kleinstaaten mit ebenso gemischter Bevölkerung entstanden ist. In der Tschechoslowakei wohnen außer Tschechen Slowaken, Deutsche, Magyaren und Ruthenen. In Jugoslawien außer Serben, Kroaten, Magyaren, Deutsche, Bulgaren, Türken. Ähnlich steht es mit Rumänien und Polen. An Stelle der austro-ungarischen Monarchie ist eine Reihe von notorisch durcheinander verwirrten Kleinstaaten getreten. Der Balkan reicht nunmehr bis Mitteleuropa hinein.

Bulgarien wurde rundherum zugunsten der umliegenden Ententestaaten beschnitten.

Die Türkei wollten die Sieger ganz zerfleischen. Aber es gelang ihr — mit Hilfe der Unterstützung Sowjet-Russlands und ihrer weit ausgedehnten schwer zugänglichen kleinasiatischen Gebiete —‚ sich der Vernichtung zu erwehren. Durch lang andauernde Kämpfe mit dem im Solde Englands stehenden Griechenland gelang es ihr, eine Revision des Sèvres-Vertrages durchzusetzen. Die zwei großen Räuber: England und Frankreich, gaben zwar ihre Beute nicht heraus. Aber Italien, Griechenland usw. wurden abgewehrt und die Türkei vermochte sich aus ihrer Lage als unterdrückte Kolonie wieder zu einem selbständigen Staat mit eigenem Heere zu erheben.

Die neuen weltpolitischen Gegensätze. Kaum hatte die Entente über die Mittelmächte den Sieg davongetragen, noch inmitten der wärmsten Freundschaftsversicherungen und trotz des Völkerbundes und des Weiterbestehens des Bündnisses zwischen den Entente-Ländern, entstanden die schwersten weltpolitischen Gegensätze von neuem. Nachdem Deutschland niedergeschlagen und Russland als imperialistischer Faktor ausgeschaltet war, lebte der alte englisch-französische Gegensatz sofort wieder auf. Es geht um die Frage: Wer soll Europa beherrschen; England oder Frankreich? Aber die Rivalität erstreckt sich auf die ganze Welt: auf Vorderasien, Afrika, China gleicherweise. Offen rüsten sie zu einem neuen Kriege zu Wasser, zu Lande, unter dem Wasser und in der Luft.

Hat auch England gegen Deutschland gesiegt, so hat es doch seine Rolle als absolut stärkste Seemacht eingebüßt. Trotz aller Freundschaft zwischen den Vereinigten Staaten und England hat ersteres England im Washingtoner Abkommen gezwungen, seine Flotte an großen Schiffen mit den Vereinigten Staaten auf gleicher Stufe zu halten. England ist nicht mehr die erste Seemacht der Welt.

Andererseits erhebt sich immer drohender der Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und Japan. Obwohl durch den Stillen Ozean getrennt, wetteifern sie untereinander im ganzen fernen Osten, rüsten offen gegeneinander!

So sehen wir, dass nach Beendigung des Weltkrieges keinesfalls eine Ära des Friedens gekommen ist. All die Schlagworte vom “letzten Krieg”, vom “Krieg gegen den Militarismus” dienten nur dazu, die Massen in der Hand zu behalten. Tatsächlich hat sich nichts geändert. Die siegreichen Räubermächte rüsten offen zu neuen Kämpfen.

Das Schicksal der Kolonien. Das Kolonialreich der imperialistischen Mächte hat sich durch den Krieg vergrößert. Andererseits wird aber dieser Besitz immer unsicherer. Das englische Kolonialreich ist auf dem Wege, zu zerfallen. Immer loser wird der Zusammenhang. Die Siedlungskolonien werden unabhängig: sie haben ihren eigenen Wirtschaftszoll und ihre eigene Handelspolitik. Kanada steht bereits den Vereinigten Staaten näher als England. In den unterdrückten Kolonien wird die revolutionäre Bewegung immer stärker (Indien, Ägypten usw.). England versucht, durch Konzessionen seine Kolonien zu behalten: dies kann aber auf die Dauer das Zerfallen des britischen Weltreichs nicht verhindern. Auch Frankreich, Spanien und die Vereinigten Staaten haben ständig mit Aufständen in den Kolonien zu kämpfen.

Eugen Varga

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