IX. PAZIFISMUS UND SOZIALPAZIFISMUS.

IX. PAZIFISMUS UND SOZIALPAZIFISMUS.

Was ist Pazifismus? Die Predigt des ewigen Friedens auf Erden, eine Propaganda, die die Kriege ein für allemal beseitigen will, unabhängig davon wie sich die Eigentumsbeziehungen unter den Menschen gestalten, ob der Kapitalismus erhalten bleibt oder nicht. Nimmt man das Wort “Pazifismus” als allgemeinen Begriff, so muss anerkannt werden, dass der Pazifismus seinem Ursprung nach eine uralte Idee ist. Denn schon in sehr frühen Zeiten hat es religiöse Denker gegeben, Philosophen, Politiker, Priester, die den Krieg als eine unmoralische, gottlose, naturwidrige Erscheinung verurteilten.

Davon wollen wir hier nicht sprechen. Wir werden den Pazifismus als eine mehr oder weniger bedeutungsvolle soziale Erscheinung der Neuzeit behandeln. Betrachten wir das Wort “Pazifismus” in diesem letzten Sinne, so können wir sagen, dass seine Heimat England, die Epoche seines ersten Auftretens die Mitte des XIX. Jahrhunderts ist. Die Verkünder des englischen Liberalismus der alten Schule protestierten schon gegen die Kriege 1792/1793 aus Gründen mehr oder weniger pazifistischen Charakters. Die Epoche Napoleons I. hält für einige Zeit die Entwicklung des Pazifismus auf. Die Zeit der Herrschaft Napoleons war für die Verbreitung kosmopolitischer und pazifistischer Ideen nicht günstig. Die historische Atmosphäre ließ Schwärmereien vom ewigen Frieden nicht zu, überall dachte man nur an eins — an die Niederwerfung der despotischen Herrschaft Napoleons. Aber sehr bald nach Napoleons Fall leben die pazifistischen Tendenzen wieder auf, und in den sechziger und siebziger Jahren gewinnt der liberale Pazifismus einen ziemlich bedeutenden Einfluss in England. Die Proteste der idealistisch gesinnten Schriftsteller und der Vertreter des englischen Liberalismus der alten Schule gegen die Teilnahme Englands am Krimkrieg sind bekannt. Es genügt, die Namen der bürgerlichen englischen Pazifisten Charles Fox, John Bright, John Ruskin, Campbell-Bannerman u. a. zu nennen. Unter den englischen Liberalen der alten Schule gab es Leute, die nicht nur gegen den Krieg protestierten, sondern auch mehr oder weniger konsequent für die Freiheit der Kolonialbevölkerung eintraten.1

Die Idee der unbeschränkten Freiheit — “laissez faire, laissez passer” — übertragen die Pazifisten dieser Schule auch in die Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen. Jeder Staat muss selbst seines Glückes Schmied sein. Freie Bahn den Tüchtigern! In den Jahren 1846-1860 schafft England — nach langem inneren Kampf — die Grenzzölle ab. Der freie Handel wird zur wichtigsten Kampfeslosung.

Die materielle Grundlage der Free-Trade-Bewegung war damals die unbestrittene Herrschaft Englands auf dem Weltmarkt. Sein Monopol war unbeschränkt. Der freie Handel war für die englische Bourgeoisie außerordentlich günstig. Als das regierende England den Freihandel zum allgemeinen Prinzip proklamierte, da verfolgte es das bestimmte Ziel, seine monopole Lage zu einer dauernden zu machen. Wenn die Länder zweiten Ranges ihrerseits die volle Freiheit des Handels anerkannten, wenn sie auf alle, selbst die Erziehungszölle verzichteten, die für die Entwicklung ihrer eigenen Industrie notwendig waren, dann wurden diese Länder infolge der Ohnmacht ihrer Industrie für lange Zeit in voller wirtschaftlicher Abhängigkeit von der englischen Einfuhr bleiben.

Ihr schwärmt entzückt, mit verklärten Blicken,

Für die Freiheit der Länder, die ohne Fabriken”, —

schrieb Grillparzer.

Auf diesem Hintergrund kam der englische bürgerliche Pazifismus zur Blüte, bürgerlich nicht in dem Sinne, dass jeder einzelne Ideologe des Pazifismus bewusst danach strebte, die Interessen seiner Bourgeoisie zu verteidigen, — sondern in dem Sinne, dass er seiner objektiven Bedeutung nach durch und durch bürgerlich blieb.

Aber der Pazifismus blieb kein rein englisches Produkt. Er trat auch in anderen Ländern auf. Es unterschied sich durch verschiedene unwichtige Merkmale der Pazifismus eines Landes und einer “Schule” vom Pazifismus eines anderen Landes und einer anderen “Schule”. Der englische Pazifismus ist z. B. dem der Schweiz nicht absolut ähnlich. Und ihre objektive Rolle ist nicht immer die gleiche. In der Schweiz ist es einfach die Ideologie der guten Spießer, die ihre Schäfchen gern im Trocknen haben, die infolgedessen die Neutralität ihres Ländchens hüten. In England erfüllt der Pazifismus oft eine ganz eigenartige Funktion. Wenn die englischen Imperialisten (wie es bekanntlich kurz vor Ausbruch des Weltkriegs gewesen ist) den Vorschlag machen, die Rüstungen zur See einzuschränken, — was nichts ist als ein Schachzug gegen ihre deutschen Rivalen, — dann verteidigt der englische Pazifismus stets diese “pazifistische” Forderung, wodurch er zu einem einfachen Werkzeug “seines” Imperialismus wird. Der nordamerikanische quasi-pazifistische “Pan-Amerikanismus” sieht z. B. nicht in allem dem französischen Pazifismus ähnlich. Der Pazifismus der d‘Estournelles, de Constant, Frédéric Passy und anderer französischer Pazifisten wird hauptsächlich bedingt durch die Angst, das französische Vaterland könne sich wieder schwächer erweisen als sein Erbfeind Deutschland. Der ‚.Pan-Amerikanismus” ist nur ein pazifistisches Schild für den Imperialismus. Die nordamerikanischen Imperialisten sind bereit, die kleinen Staaten — auch in “pazifistischer” Zubereitung — zu verschlingen. Der “Pazifismus” der zaristischen russischen Diplomatie, die auf der Erweiterung der Funktionen der Haager Konferenz bestand, und der Anti-Pazifismus der deutschen Diplomatie, die sich mit allen Mitteln widersetzte und sich eine Zeit hindurch sogar bemühte, die Haager Konferenz zu verhindern, — waren eigentlich nicht sehr voneinander verschieden. Sowohl für die eine wie für die andere Partei war die Haager Konferenz nur eine Episode auf dem Wege zum unvermeidlich gewordenen Kriege. Die Umstände wollten es, dass es für die einen vorteilhafter war, sich vorübergehend als “Pazifisten” aufzuspielen, für die anderen — umgekehrte Ideen zu propagieren.

Der bürgerliche Pazifismus in England, Amerika, Deutschland, Russland ist nicht in allein dem bürgerlichen Pazifismus in der Schweiz, in Belgien, in Holland ähnlich. Hier macht sich der Unterschied geltend zwischen den imperialistischen Großmächten einerseits und schwachen, untergeordneten Mächten andrerseits. Aber im Wichtigsten und Grundlegenden ist der bürgerliche Pazifismus überall der gleiche: Einzelne seiner Ideologen können sich als uneigennützige Kämpfer für Fortschritt und Menschheitsideale betrachten. Es sind beschränkte bürgerliche Philanthropen, große Utopisten mit kleinen Utopien. Der Pazifismus als Ganzes jedoch ist eine reaktionäre Bewegung, da er die Volksmassen vom wirklichen Kampf gegen den Krieg ablenkt. Er sieht seine Aufgabe darin, die Regierenden von der Schädlichkeit der Kriege zu “überzeugen” und versucht mit leeren Worten Frieden zu predigen, wo es notwendig ist, zu revolutionären Mitteln zu greifen, Gewalt zu gebrauchen.

Es kommt zwar ab und zu vor, dass in den Reihen der reaktionären Bourgeoisie Stimmen der Unzufriedenheit mit den Pazifisten laut werden. Aber meistenteils beschränkt man sich auf gutmütige Ironie. In imperialistisch-militärischen Kreisen verlangt man sogar oft, dass man “Maßnahmen” gegen die Pazifisten ergreife, aber die weitsichtigeren Vertreter der herrschenden Klassen sind sich vollkommen bewusst, dass die Pazifisten nicht nur unschädlich, sondern direkt nützlich für sie sind. Denn es ist vorteilhaft für die Imperialisten, dass ein Teil der Bevölkerung mit Hoffnungen auf Gott und den Pazifismus eingeschläfert wird. Darum haben die reaktionärsten Regierungen vor dem Kriege die pazifistische Propaganda nirgends verhindert, sondern —- im Gegenteil — sie sehr geschickt für eigene Zwecke ausgenutzt.

Die Pazifisten selber behaupten, dass ihre “Lehre” zwei Perioden durchgemacht habe. Früher bestand die Epoche des utopischen Pazifismus. In den letzten Jahrzehnten aber habe die Epoche des — man höre und staune — “wissenschaftlichen Pazifismus”, oder, wie manche Pazifisten es auszudrücken belieben, des “revolutionären Pazifismus” begonnen. Früher appellierte man an das Gefühl, an die Religion, jetzt operiert man mit materialistischen Erwägungen der Zweckmäßigkeit. Der Pazifismus der Gegenwart habe mit einfacher Nächstenliebe, mit brüderlichen Gefühlen nichts zu tun, behauptet ein hervorragender Pazifist. Nein, es sei nur kalte Berechnung der größten Vorteile für den Menschen, eine Arbeitsteilung nicht nur innerhalb eines jeden Staates, sondern auch unter den Staaten. Es sei keine Stimmung, sondern ein Rechnungsbuch, eine nüchterne Berechnung.

Die “wissenschaftlichen Pazifisten” weisen auf die unbestreitbar richtige Tatsache hin, dass mit jedem Jahr nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die kulturellen Bande zwischen den Nationen stets engere werden. Daraus folgt der Schluss: es ist nur notwendig, dass sich die Menschheit, die “Friedenstechnik” aneigne, die die genialen Pazifisten zwecks vollständiger Beseitigung militärischer Konflikte vorschlagen. Diese “Technik” aber ist bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet: Friedensverträge, Schiedsgerichte, internationale kulturelle Unternehmungen, demokratische Kontrolle der Außenpolitik, Schaffung eines “supranationalen Areopags”, Gründung eines “pan-europäischen Büros” nach Muster des “pan-amerikanischen” Schaffung eines internationalen Vollzugsorgans, das jeden, der den Frieden verletzt, zur Ordnung zu rufen habe usw. Professor Forel hat z. B. den pazifistischen Plan des Umbaus der ganzen Welt bis in alle Einzelheiten durchgearbeitet. Vor allem wird als Übergangsmaßnahme vorgeschlagen, zehn internationale Kommissionen ins Leben zu rufen: “1. Eine Kommission zur Ausarbeitung einer internationalen Sprache; 2. Kommission für den freien Handel; 3. Eugenik-Kommission; 4. Kolonial-Kommission (es genügt eine Kommission zu bilden, und sofort hört natürlich jeder Streit um Aufteilung und Neueinteilung der Kolonien auf); 5. Kommission zur Bildung einer Friedensarmee; 6. Kommission für die soziale Jugenderziehung; 7. Kommission zur Ausarbeitung einer Reform der Presse; 8. Kommission zur Bekämpfung des Gebrauchs von Alkohol und Narkotika; 9. Kommission internationaler Wirtschaft; 10. Kommission für Frauenstimmrecht usw.

Danach werden wir bald die Stufe erreicht haben, auf der die Welt von folgenden Zellen verwaltet wird:

a) Übernationaler Areopag; b) einzelne vereinigte Staaten der Welt; c) jetzige halb souveräne Staaten oder Provinzen; d) Landschaftsbezirke.”2

Der Plan ist, wie man sieht, außerordentlich eingehend behandelt. Das Geheimnis der Errettung der Welt trägt Forel stets mit sich in der Tasche … Nichts einfacher als das! Es bleibt — nur! — übrig, die Imperialisten und ihre Regierungen zu überzeugen, dass die Lösung der Konflikte mit Hilfe der “Friedenstechnik” für sie viel vorteilhafter sei als die Lösung mit Hilfe von Gewalt…

Wie die Sozialisten stellen auch die “wissenschaftlichen Pazifisten” die Tatsache des ungeheuren Wachstums des Warenaustausches und des Erstarkens der internationalen Beziehungen fest. Mit schwindelerregender Schnelligkeit wachsen Verkehrswege, Welthandel, Informationsmittel, internationaler Kapitalexport. Die Weltwirtschaft wird immer mehr internationalisiert. Aber zwischen den Vertretern des wissenschaftlichen Sozialismus und den Vertretern des “wissenschaftlichen Pazifismus” besteht ein grundlegender Unterschied. Die Sozialisten sehen auch die entgegengesetzte Tendenz, deren Trägerin die nur auf ihren Vorteil bedachte Bourgeoisie ist. Sie wissen, dass ohne Umbildung der ganzen Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage diese Tendenz, deren Trägerin im jetzigen historischen Moment die Finanzoligarchie ist, nicht überwunden werden kann. Sie wissen, dass ohne die große soziale Revolution eine solche Umbildung nicht möglich ist. Ihre Aufgabe sehen sie darin, diese Revolution zu propagieren, sie vorzubereiten, für sie die Kräfte zu sammeln. Die “wissenschaftlichen Pazifisten” aber — sind zu allein bereit, nur nicht zur sozialistischen Revolution.

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Es kann nicht geleugnet werden, dass der bürgerliche Pazifismus in den letzten Jahrzehnten einen gewissen äußeren Erfolg zu verzeichnen hat. Der bekannte Pazifist Professor Fried widmet in seinem “Handbuch der Friedensbewegung” mehrere Druckbogen der einfachen Aufzählung der verschiedenen pazifistischen Organisationen, und noch mehr Platz beansprucht die Aufzählung der pazifistischen Literatur. Es entsteht der Eindruck einer ungeheuren pazifistischen Bewegung. Bis zum Jahre 1912 haben 17 interparlamentarische Friedenskonferenzen stattgefunden. In den Parlamenten von 21 Ländern zählte Fried 39413 Abgeordnete, die zur interparlamentarischen Friedensliga gehören. Ein ganzes Kapitel des Buches, und zwar 120 Seiten großen Formats, widmet Fried nur dem Namensregister der einflussreichen Vertreter des Pazifismus.4 Hier findet man Milliardäre (Carnegie), Minister im Dienst und außer Dienst, hochgestellte Diplomaten, Fürsten, Lords, Barone usw. Alle diese Leute zählt Fried zu den Pazifisten. Und formell hat er Recht. Sie sind wirklich Pazifisten — bis zum Ausbruch des nächsten Krieges.

Im jetzigen Deutschen Reichstag zählt Fried 157 “Pazifisten” auf. Im japanischen Unterhaus sind alle 379 Abgeordnete Pazifisten! In der 4. russischen Staatsduma findet Fried 116 Pazifisten. Und Herr Fried kommt nicht einmal auf den Gedanken, dass sie alle für die wirkliche Friedenssache nur tote Seelen sind. Als im Jahre 1914 die Kriegskrise begann, da erwiesen sich all diese Pazifisten als wütendste Militaristen. Und all die zahlreichen pazifistischen Organisationen, mit deren so gewissenhafter Aufzählung Fried sein Handbuch füllt, erwiesen sich entweder als Organisationen, die dem Kriege Vorschub leisteten, oder — als einfache Nullen.

Von der Rolle des Pazifismus während des Weltkriegs und von der Rolle, die er wahrscheinlich nach dem Kriege übernehmen wird, werden wir weiter unten noch einige Worte sagen. Jetzt wollen wir uns kurz mit der Ideologie des Pazifismus vor dem Kriege beschäftigen. Betrachten wir zu ihrer Charakteristik zwei hervorragende literarische Vertreter: einerseits den Vertreter des österreichisch-deutsch-schweizerischen Pazifismus, Fried, andrerseits den besten Vertreter des englischen Pazifismus Norman Angell.

Fried ist eine der anerkannten Säulen des internationalen Pazifismus. Seine “Titel”, die in seinem eigenen Handbuch aufgezählt werden, sind folgende: Laureat des Nobelpreises, Mitglied des Berner Büros, Mitglied des Internationalen Friedensinstituts, Sonderkorrespondent der 1. Abteilung der Carnegie-Stiftung, Sekretär für Mitteleuropa der “Conciliation internationale”, Generalsekretär der “Union internationale de la Presse pour la Paix”, Herausgeber der Zeitschriften “Friedenswarte” und “Politisch-pazifistische Korrespondenz”, Begründer der Berliner Revue “Die Waffen nieder!”, Redakteur der “Monatlichen Friedenskorrespondenz”, Begründer der Deutschen Friedensgesellschaft, Begründer der in Brüssel erscheinenden Zeitschrift “Annuaire de la vie internationale”, Vertreter des “Verbandes für internationale Verständigung”, Teilnehmer der meisten Friedenskongresse und interparlamentarischen Kommissionen, Teilnehmer der Haager Friedenskonferenz, Verfasser vieler Bücher, Broschüren, Artikel und Übersetzungen, die der Friedenspropaganda gewidmet sind.

Die Ansichten dieses hervorragenden Führers der pazifistischen “Internationale” sind zweifellos sehr charakteristisch für den Pazifismus im Allgemeinen. Vor allem sticht eine rein mechanische Auffassung der Dinge in die Augen. Mit ungewöhnlicher Gewissenhaftigkeit zählt unser Pazifist auf: Im Zeitraum 1840 bis 1860 haben im ganzen 28 internationale Kongresse verschiedenster Art stattgefunden. 1861-1870 schon 69 Kongresse, 1871-1880 150, 1881-1890 295, 1891.1900 645, 1900.1910 790. Für Fried genügen diese Zahlen, um in unbeschreibliche Begeisterung zu geraten. Die Zahl der internationalen Kongresse wächst, folglich wächst der Pazifismus, folglich werden Kriege immer unmöglicher. Das ist der sehr vereinfachte Syllogismus, der wie ein roter Faden durch alte Arbeiten dieses Pazifistenführers geht. Mit einer Sorgfalt, die wirklich einer besseren Sache wert gewesen wäre, zählt Fried auf vielen Seiten alle Konferenzen auf, an denen Regierungsvertreter der verschiedenen Länder von 1815—1910 teilgenommen haben. Von diesen Konferenzen — Herr Fried nennt sie “internationale” Konferenzen — hat es natürlich nicht wenige gegeben. Und wie ein Kind freut sich Fried über diese “erfreulichen Erscheinungen”, die uns dem Triumph der pazifistischen Ideale immer näher brächten.

Welches der wirkliche Sinn dieser “internationalen” Konferenzen ist, das interessiert Herrn Fried nicht. Es genügt ihm, dass sie international sind. Die Naivität des Herrn Fried geht so weit, dass er auch den Wiener Kongress 1816, der bekanntlich zu einer Reihe neuer Kriege Anlass gab, ferner die vier “internationalen” Konferenzen von Aachen, Troppau, Laibach, Verona, die der Festigung der reaktionären Heiligen Allianz dienten, zu den “erfreulichen Erscheinungen” rechnet. In seiner Liste der internationalen Konferenzen trägt er auch sorgfältig jeden internationalen Gefängniskongress ein. Und da es von solchen Kongressen eine stattliche Anzahl gegeben hat, so wird die Liste des Herrn Fried beträchtlich verlängert. Selbstverständlich sind hier auch alle Konferenzen der Regierungen aus Anlass des Marokko- Konflikts, die Algeciras-Konferenz, das “Übereinkommen” zwischen Österreich einerseits und Serbien und der Türkei andrerseits in der Frage der Annexion von Bosnien und der Herzegowina, alle pan-amerikanischen Konferenzen usw. aufgezählt.5 Schade, dass Herrn Fried die genauen Daten der “internationalen” Konferenzen, die der Einteilung der Einflusssphären in Persien vorangingen, nicht bekannt sind. Er würde vielleicht auch diese in seine Liste der erfreulichen Erscheinungen, die den Triumph des Pazifismus beschleunigen, eingetragen haben…

Dem Propheten des Pazifismus kommt nicht einmal der Gedanke, dass die Mehrzahl dieser “internationalen” Kongresse eben gerade den Krieg und nicht den Frieden vorbereitet haben. Er hat nicht begriffen, dass z. B. die “beigelegten” Marokko-Konflikte nur Episoden waren, die mit dem Heranreifen des imperialistischen Krieges aufs innigste verknüpft sind. Er begnügt sich nicht mit den besonderen Listen der “erfreulichen Erscheinungen”, die im Handbuch verzeichnet sind. Er gibt außerdem eine “Pazifistische Chronik” heraus, die den Titel trägt: “Der Weg zum Weltfrieden”. In dieser Chronik werden alle “Siege” des Pazifismus noch sorgfältiger registriert. Man betrachte z. B. die Friedsche Chronik des Jahre 1912. Am 19. März speiste der deutsche Kaiser beim französischen Botschafter Cambon zu Mittag — diese Tatsache wird sofort registriert. Am 23. März desselben Jahres besuchte der deutsche Kaiser den Kaiser Franz Joseph — auch das wird als Beweis friedlicher Bestrebungen verzeichnet. Am 12. April erteilen Deutschland, Österreich, England, Frankreich und Russland der Türkei den “Rat”, mit den Balkan-Verbündeten Frieden zu schließen — auch das ein Sieg des Pazifismus. Am 22. Juli begründet der englische Minister Churchill in der Kammer die Forderung neuer Kredite für die Flotte (990.000 Pfund Sterling) ‚ und Asquith spricht sein Bedauern über das stets wachsende Wettrüsten aus. Auch das wird in das pazifistische Protokoll als ein Ereignis eingetragen, das dem Pazifismus viel verspricht. Am 7. Dezember 1912 wird die Erneuerung des Dreibunds offiziell bekannt gegeben — und das wird als Sieg der Idee der internationalen Verständigung vermerkt.6

Das allgemeine Fazit der “Pazifistischen Chronik des Jahres 1912” ziehend, bemerkt der Verfasser selbstzufrieden: “Der anglodeutsche Friede ist bereits eines der größten Werke des Pazifismus (In Wirklichkeit war dies nur ein eingebildeter Frieden. D. Verf.) … Hier ist die große Legitimation unseres Seins. Hier wirkt die Geschichte unserer Zeit, nicht dort unten. Hier haben wir Pazifisten Geschichte gemacht.”7 Kann man noch naiver sein?

Aber man glaube ja nicht, dass mit den Mittagessen bei Botschaftern, mit Gefängniskonferenzen und verschobenen imperialistischen Konflikten die Liste der pazifistischen Siege erschöpft ist! Bekanntlich gehört zum Programm des Pazifismus die Gründung eines internationalen Vollzugsorgans, das die im Interesse der Sicherung des Friedens notwendigen Beschlüsse in die Praxis umsetzt. Und es stellt sich heraus, dass die Pazifisten auch in dieser Beziehung nicht wenig erreicht haben. “Mit internationalen Konferenzen ist das gemeinsame Handeln der Regierungen noch nicht erschöpft. Auch in anderer Weise als durch Beratung und Erörterung sehen wir die Staaten zusammenstehen. So haben wir in den letzten Jahren internationale Exekutionen gesehen, wie die Friedensblockade der Großmächte gegen Griechenland im Jahre 1886, die internationale Besetzung von Kreta im Jahre 1898, die internationale Strafexpedition gegen China im Jahre 1900.”8

Die Strafexpedition der europäischen Imperialisten gegen China als Symptom des Wachstums der pazifistischen Ideen! Man denke nicht, das sei Übertreibung oder ein zufälliger, ungeschickt ausgedrückter Satz. Im II. Band seiner kapitalen Arbeit kehrt unser Pazifistenführer zum gleichen Thema zurück. In einem besonderen Kapitel, das den Titel “Günstige Symptome” trägt, schreibt er: “Das China-Unternehmen zeigte in anderer Weise den Einfluss der Friedensidee auf die Gegenwart. Es zeigte eine internationale Assoziation der Heere. Nachdem ein europäisches Polizeiheer zum ersten Mal einige Jahre vorher auf Kreta mit einem europäischen Mandat operierte, trat diese vereinigte Heeresmacht, durch Hinzutritt der nordamerikanischen Kontingente zu einer Weltheeresmacht vereinigt, in China unter dem Oberbefehl eines europäischen Generalissimus in Wirksamkeit … Wir Friedensfreunde erblickten in dem Weltgeneralissimus (Der von Wilhelm II. ernannte Graf Waldersee! D. Verf.) … den Vorläufer des Weltstaatsmannes, der das von uns erhoffte Ziel auf friedlichem Wege zu erreichen imstande sein wird.”9

Der Leser wird mit mir einverstanden sein, dass das selbst für einen Pazifisten etwas über die Schnur gehauen ist. Es gibt Parlamentsidioten. Aber Herr Fried hat durch seine eigene Person den Beweis erbracht, dass es noch eine besondere Sorte von Idioten des Pazifismus gibt. Sich zu den “Prinzipien” des pazifistischen Kretinismus bekennen, ist das absolute Recht eines jeden Menschen und Bürgers. Aber auch dieses Recht darf nicht missbraucht werden! — Das räuberische Unternehmen der europäischen Imperialisten wird unter der Feder des Herrn Fried zu einer Versinnbildlichung der “Friedensidee”. Den Günstling Wilhelms II. den Feldmarschall Graf Waldersee, sieht er als Engel im weißen Kleid, der der Menschheit die Palme des ewigen Friedens bringt. Eine von den schlimmsten Reaktionären ausgerüstete Strafexpedition wird zu einem friedlichen Unternehmen, nur weil diese Expedition auf “internationaler” Grundlage organisiert ist, d. h. weil sie aus Armeen besteht, die von den imperialistischen Regierungen verschiedener Länder gestellt sind. Herr Fried zeigt sich uns hier nicht nur als hervorragender Vertreter des pazifistischen Kretinismus, sondern auch als Eunuche des Imperialismus.

Das Kriechertum vor den Starken dieser Welt ist ein wesentlicher Bestandteil der konterrevolutionären Ideologie des Pazifismus. Die Pazifisten schauen nicht nach unten. sondern nach oben. Sie wollen keine Volksbewegung gegen den Krieg. Der revolutionären Massenbewegung stehen sie feindlich gegenüber. Sie streben die Beseitigung der Kriege an, jedoch soll die Unantastbarkeit aller Grundlagen der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung erhalten bleiben. Sehr viele Pazifisten vereinigen ihr “Ideal” mit der untertänigsten Ergebenheit für ihre Monarchen und die Prinzipien des Monarchismus überhaupt. Wohin sollen sie also ihre Blicke wenden, wenn nicht zum Fuße des Thrones? Woher sollen sie die Verwirklichung der pazifistischen Träume erwarten, wenn nicht von oben?

Sehr bezeichnend ist das Verhältnis des Pazifismus zu den Haager “Friedenskonferenzen”. Fried schreibt darüber: “Eine allgemeine Begeisterung bemächtigte sich der Friedensfreunde. Erkannten sie doch in den Worten des Manifestes (Es handelt sich uni das erste Manifest vom 18. August 1898, in dem die Zarenregierung alle Mächte zur Haager Konferenz einlud. D. Verf.) Geist von ihrem Geiste, eine Bestätigung ihrer Lehren seitens des Oberhauptes eines der größten Staaten der Welt.”10

Man beachte, dass das pazifistische Evangelium, das wir zitieren, 10 Jahre nach der ersten Haager Friedenskonferenz geschrieben ist. Wollte man selbst für einen Augenblick zugeben, dass man sich im Jahre 1898 für tönende Worte begeistern konnte, so hätte im Jahre 1911 — nach dem Burenkrieg, nach dem russisch-japanischen Krieg, nach der Entstehung der Triple-Entente, nach dem Vertrag über die Aufteilung Persiens — selbst Fried schon verstehen können, worin der wahre Sinn der “pazifistischen” Vorschläge Murawiews und anderer bestand. Aber davon war gar keine Rede. Fried ist auch jetzt noch vollständig überzeugt, dass die Vertreter der russischen Diplomatie damals unter dem Einfluss von ihnen gelesener pazifistischer Bücher gehandelt hätten “Auch die Arbeiten Johann v. Blochs, dessen großes Werk damals in russischer Sprache zu erscheinen begann, hatten auf den Zaren eingewirkt, nicht minder andere pazifistische Schriften, die er gelesen hatte.”11 Wie würden Murawiew und seine Nachfolger lachen, wenn sie diese Erklärung ihrer pazifistischen Politik läsen!

Aber Fried lässt sich nicht einschüchtern: “Die Pazifisten triumphierten; sie waren die einzigen, die die Bedeutung der Kundgebung richtig (??) einzuschätzen wussten.”12 — schreibt mit grenzenloser Selbstzufriedenheit unser Verfasser. Endlich trat der ersehnte Moment ein. Am 18. Mai 1899 versammelte sich im Haag die Friedenskonferenz. “Es war ein feierlicher Moment, als der holländische Minister des Äußeren die Vertreter von 26 Regierungen begrüßte und zum ersten Male offiziell die Bezeichnung “Friedenskonferenz” anwandte: Auf der Kuppelgalerie des Saales war etwa 15 Journalisten der Zutritt zu jener feierlichen Eröffnungssitzung gestattet worden. Darunter — die einzige Frau, die diesem historischen Augenblick beiwohnte. Das war Bertha v. Suttner. Ich stand neben ihr. Ich sah, wie eine Freudenwelle sie erfasste, als sie sehen durfte, dass sich unten, im Saal, ein großes Ideal erfüllte, das Ideal, das ihr vorschwebte, als sie zuerst den Ruf erklingen ließ: Die Waffen nieder! Ich war mir des historischen Augenblicks voll bewusst, dem ich beizuwohnen das Glück hatte; und wie so mancher sich glücklich preist, irgendeiner Schlacht beigewohnt zu haben, so preise ich mich glücklich, bei der Eröffnung der ersten Haager Friedenskonferenz anwesend gewesen zu sein…”13

Wie gefällt dir diese Tirade, lieber Leser? Unser pazifistischer Prophet versieht es wahrlich, durch seine Unschuld zu entwaffnen. Seine Sentenzen sehen oft so aus, als wären sie einem Witzblatt entnommen. Was geht es ihn an, dass unmittelbar nach der ersten “großen historischen Friedenskonferenz” im Haag der imperialistische Krieg der Engländer gegen die Buren begann, dass diesem der russisch-japanische Krieg folgte, wonach ein ungeheures Wachstum der Rüstungen einsetzte, dass noch viele imperialistische Konflikte folgten, die den Weltkrieg vorbereiteten? Was geht es ihn an, dass es sich in Wirklichkeit nur um den geschickten diplomatischen Schritt der Imperialisten einer Marke gegen die Imperialisten eine anderen Marke handelte? Das alles interessiert unseren Pazifisten nicht im Geringsten. Hat er doch selbst dem historischen Ereignis beigewohnt! Er hat die Freude im Antlitz Bertha v. Suttners gesehen. Er kennt schließlich die Worte Franz Josephs, der am 1. Dezember 1899 in seiner Thronrede zu bemerken geruhte, dass er in der Haager Konferenz eine “neue Garantie des Friedens”14 sehe. Was will man mehr?

Man darf aber nicht glauben, dass nur Fried die Dinge so “vereinfacht” sah. Nein: est modus in rebus. Der ganze Pazifismus steht auf demselben Boden. Es gibt eine Einfalt, die schlimmer ist als Diebstahl. Und mit dem Pazifismus steht es ebenso. Seine objektive Rolle ist die Rolle eines Spielzeugs in den Händen der Regierungen und ihrer “pazifistischen” Diplomaten. Muss es für die Imperialisten, ihre Regierungen und Diplomaten nicht wirklich sehr vorteilhaft sein, dass es die guten Pazifisten auf der Welt gibt, die aufrichtig und mit einer Träne im Auge die Haager Konferenzen verherrlichen und dem verehrten Publikum zu beweisen suchen, dass diese Konferenzen ein großer Schritt vorwärts auf dem Wege zum ewigen Frieden sind? Je uneigennütziger das getan wird, mit je größerem Pathos die pazifistischen Einfaltspinsel die konterrevolutionäre Sache der Imperialisten verteidigen, um so besser für diese.

Noch erstaunlicher ist die Friedsche Einschätzung der II. Haager Konferenz, die 1907 stattfand. Zu dieser Zeit erreicht der imperialistische Wettkampf der beiden Koalitionen seinen Höhepunkt. Die Rüstungen wachsen mit schwindelerregender Geschwindigkeit. Von Abrüstung spricht man nur, um dem dummen “Volk” Sand in die Augen zu streuen. In diesem Moment tritt die II. Haager Konferenz zusammen. Keiner ihrer Teilnehmer glaubt auch nur einen Augenblick, dass sie ernst gemeint sei. Alle betrachten sie als Episode im diplomatischen Spiel. Deutschland will nicht einmal von Abrüstung sprechen. Aber das Publikum muss mit nichts sagenden Versprechungen gefüttert werden und die Urheber beider Koalitionen finden sich zu einer “einstimmig angenommenen Resolution” zusammen, in der es heißt: “Die II. Friedenskonferenz … erklärt im Hinblick darauf, dass die Militärlasten … in fast allen Ländern erheblich gewachsen sind, es für höchst wünschenswert, dass die Regierungen das ernstliche Studium (!) dieser Frage wieder aufnehmen.”15 Es ist klar, dass wir es mit einem Block zweier feindlicher imperialistischer Koalitionen zu tun haben, die mit gemeinsamen Kräften ihre Völker, die unter dem Joch des Militarismus stöhnen, mit Phrasen zu betrügen suchen. Und wenn die Kämpfer des Pazifismus, wie z. B. unser Herr Fried,16 den Diplomaten des Imperialismus helfen, die Volksmassen einzulullen, indem sie den Betrug für wahre Münze ausgeben, so ist es klar, dass die reaktionären Regierungen nichts als Dankbarkeit für die Pazifisten empfinden können…

Als Deutscher preist Fried vor allem den “Pazifismus” seiner Regierung und seiner Bourgeoisie. Allerdings muss er auch einsehen, dass die deutsche Regierung sich mehr als alle übrigen der Haager Konferenz widersetzt hat. Aber das erklärt sich — nach Fried — nur aus einfachen Missverständnissen, die immer mehr und mehr schwinden. Dafür hat Kaiser Wilhelm “einen starken Willen zum Frieden”, das weiß Herr Fried aus glaubwürdigster Quelle. Außerdem habe auch der Reichskanzler Bethmann Hollweg mehrfach seinen Sympathien für den Pazifismus Ausdruck gegeben.17 Aber nicht nur der Kaiser und der Kanzler. Dasselbe kann auch von der deutschen Diplomatie im Allgemeinen gesagt werden. “In der deutschen Diplomatie (ist) eine Annäherung an die pazifistische Auffassung der Dinge zu bemerken.”18 All das wird im Jahre 1912 geschrieben, während der Weltkrieg mit Volldampf vorbereitet wird!

Aber es wäre ungerecht, Herrn Fried der Einseitigkeit zu bezichtigen. Ebenso eifrig preist er den Pazifismus anderer Regierungen an. Dafür ist er ja ein “internationalistischer” Pazifist. Man betrachte z. B. die Annäherung zwischen England und Frankreich nach Faschoda! Es ist genügend bekannt, dass dieser Annäherung die Formel “Ägypten für Marokko” zugrunde lag. Aber man frage Fried, wie diese imperialistische Annäherung aufzufassen sei, und er wird sofort erklären, dass hier die pazifistische “Gruppe des internationalen Schiedsgerichts” die Hauptrolle gespielt habe, dass der Einfluss der Reden d‘Estournelles‘ auf die öffentliche Meinung in England außerordentlich groß gewesen sei, dass Balfour und Chamberlain ebenfalls zum Pazifismus neigten usw. Kurz gesagt, dass “der englisch-französische Schiedsvertrag ein Ergebnis der pazifistischen Agitation” ist.19

Vollkommen unparteiisch stellt unser “internationalistischer Pazifist” die Verdienste der Regierungen und ihrer Diplomaten in allen Ländern fest.,, Nicht nur 1900 in China, auch schon ein Jahr früher am Togo kämpften deutsche und französische Soldaten als Waffenbrüder nebeneinander.”20 Das ist natürlich ein Sieg des Pazifismus. “Bei dem Londoner Feuerwehrkongress (1901) toastete der Pariser Feuerwehrkommandant Guesnet im speziellen Auftrag des Präsidenten Loubet auf Kaiser Wilhelm.” Und das ist natürlich auch ein Sieg des Pazifismus. Während des Marokkokonflikts hat die Diplomatie aller Länder im pazifistischen Sinne gehandelt. “Dank dem bereits pazifistisch beeinflussten Zeitgeist kam es, allerdings nach schwierigen Verhandlungen, zu jenem Abkommen, das zur Einberufung der Algeciras-Konferenz führte.”21 Als im Jahre 1904 die Lage sehr gespannt war, da “mischten sich die Pazifisten ein”, und sofort ging alles viel besser. In Amerika steht es mit dem Pazifismus so gut, dass man nur helle Freude darüber empfinden kann. Argentinien und Chile haben 1902 einen Abrüstungsvertrag abgeschlossen. Dieser Vertrag wurde dadurch gekennzeichnet, dass man an der Grenze beider Länder eine Christusstatue aus umgegossenen Kanonen aufstellte. Jetzt ist die Sache des Pazifismus dort gesichert … “Diese letzten 5 Jahre (1908-1912) nach der II. Haager Konferenz sind nicht arm an politischen Ereignissen, die den Fortschritten der internationalen Rechtsentwicklung Hohn sprechen. Aber es fehlt glücklicherweise auch nicht an Erscheinungen, die hoffnungsfroh in die Zukunft blicken lassen.”22

Der durch den Pazifismus hervorgerufene Wandel der internationalen öffentlichen Meinung, ihre Erstarkung und die ebenfalls durch die pazifistische Entwicklung veränderte Psyche der Regierenden haben dahin geführt, dass eine ganze Anzahl schwerer zwischenstaatlicher Streitfälle, die früher unbedingt zu kriegerischen Maßnahmen geführt hätten, durch Ausgleich und Entgegenkommen ihre Lösung fanden.”23 All dies hat wiederum einen großen Anstoß zur Entwicklung der “Technik der Friedensdiplomatie”24 gegeben. Die nächste Zukunft wird zweifellos zeigen, dass “der ungeheure pazifistische Aufwand zur Entwaffnung der auf beiden Seiten der Nordsee aufs höchste erregten Geister nicht umsonst vertan ward.”25 Wenn irgend jemand noch daran zweifeln kann, dass der Pazifismus einen ungeheuren Einfluss auf die Regierungen ausübt, so ist hier der letzte “Beweis”: das interparlamentarische Friedensbüro wird bereits von 19 Regierungen offiziell subsidiert. Diese 19 Regierungen zusammengenommen haben dem Büro im Jahre 1911 ganze 16.000 Franken gespendet. Die russische Regierung gab 6.000 Franken, die deutsche 6.195 Franken usw. Wenn alle diese Regierungen für den Militarismus immer noch etwas größere Summen ausgeben als für die “Friedenstechnik”, so nur, weil der Pazifismus noch nicht Zeit gehabt hat, die “Psyche der Herrschenden” endgültig umzumodeln…

Die Pazifisten verstehen absolut nicht, was Imperialismus, was imperialistische Konflikte, imperialistische Bündnisse sind. Sie wollen und können den wirklichen Sinn der Ereignisse nicht verstehen! Darum gehen ihre Pfeile immer am Ziel vorbei. Darum konnte Fried noch im Jahre 1912 über die “Unwahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen den europäischen Großmächten” schreiben.

Anpreisung ihrer “Ideen” bei den Regierenden, Kriechertum vor den Großen — das ist die objektive Rolle des Pazifismus. Der Pazifismus dürfte mit Antimilitarismus nicht verwechselt werden, schreibt Fried, der Antimilitarismus sei der Pazifismus der Leute, die nichts verstehen. Sehr richtig! Euer Pazifismus, ihr Herren, hat tatsächlich mit dem wirklichen Kampf gegen den Militarismus nichts gemein. Aber gerade er ist der Pazifismus der Dummköpfe, der Pazifismus von Leuten, die glauben, dass man aus einem Stock schießen könne, dass Krieg sich verhindern ließe, wenn man mit guten Worten die “Psyche der Herrschenden” zu beeinflussen sucht. Und das im besten Fall. In Wirklichkeit ist es nicht nur der Pazifismus der Dummköpfe, sondern auch der Pazifismus, der den schlimmsten Reaktionären unsrer Zeit hilft, die Volksmassen zu betrügen.

Die Logik, die diesem Pazifismus innewohnte, kam besonders krass zum Ausdruck, als der Krieg ausbrach, den Herr Fried an allen Straßenecken als “absolut unwahrscheinlich” verkündet hatte. Wie handelten die Pazifisten, als der Krieg begann? Jeder stellte sich auf die Seite “seiner” Regierung (wie übrigens auch die Sozialpazifisten, von denen weiter unten die Rede sein wird). Wir kennen nur eine Ausnahme: den englischen Pazifisten Norman Angell. Aber diese Ausnahme bestätigt nur die Regel. “Jetzt, da die Frage, ob Krieg oder Frieden, unserem Willen entrückt ist und unser Volk von Ost, Nord und West bedroht, sich in einem schicksalsschweren Kampf befindet, hat jeder deutsche Friedensfreund seine Pflichten gegenüber dem Vaterlande genau wie jeder andere Deutsche zu erfüllen.”26 So schrieb der Vorstand der “Deutschen Friedensgesellschaft” in einem Aufruf, der in Stuttgart am 15. August 1914 erschien.27 Die Worte der Empörung gegen den Krieg als gegen ein barbarisches Mittel der Lösung internationaler Konflikte verstummten. Sofort erklärten die Herren Pazifisten. “Wir fühlen mit unseren Landsleuten, was der Krieg an ethischen Werten zur Auslösung gebracht hat.”28

Und nicht nur die deutschen Pazifisten stellten sich auf diesen Standpunkt. Die österreichische Gesellschaft der “Friedensfreunde” anerkennt in einer Resolution vom 3. Juli 1914 die ganze Schwere der Beschuldigungen, die die österreichische Monarchie gegen ihre südlichen Nachbarn erhebt, und sie fordert die Pazifisten auf, das österreichische “Vaterland” zu verteidigen.29 Der Zentralvorstand der englischen Friedensgesellschaften (National Peace Council) erklärt, dass die Pazifisten ihrem Vaterland gegenüber Bürgerpflichten hätten, deren Erfüllung sie nicht aus dein Wege gehen dürften, wobei er sich darauf beruft, dass sie in einem Schreiben vom 19. August 1911 dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Herrn Wilson, für sein Arbeiten für den Frieden ihren Dank ausgesprochen und der Überzeugung Ausdruck gegeben hätten, dass Nordamerika im gegebenen Augenblick den kriegführenden Mächten seine guten Dienste anbieten würde.”30 Das Berner Pazifistische Zentralbüro aber, das am 31. Juli 1914 eine Sitzung abhielt, fasst den Entschluss, ernste Schritte gegen den Krieg zu unternehmen und zu diesem Zwecke sendet es entsprechende Depeschen an Wilhelm II., an den Papst in Rom, an den höchsten Regierungsvertreter in Russland, an Sir Eduard Grey und an den Grafen Berchthold. Sic transit … Jedem Pazifisten, der gegen sich selbst ehrlich sein wollte, hätte ein solcher Zusammenbruch der pazifistischen Organisationen einen scharfen Schmerz verursachen müssen. Aber die offiziellen Führer des Pazifismus sind absolut nicht verlegen. Noch während des Krieges erschien ein neues Buch Frieds. Und was erweist sich? Der Verfasser ist, ganz wie früher, mit sich und der Welt und seinen Pazifisten zufrieden. Der Krieg ist natürlich ein großes Übel. Aber dafür ist es jetzt schon ganz bestimmt der letzte, der allerletzte Krieg, ob man‘s glauben wolle oder nicht. “Der Pazifismus … hat das Umlernen nicht nötig… Jetzt schlägt seine große Stunde.”31

Der Pazifismus muss nur im alten Sinne weiterarbeiten. Und der pazifistische Prophet setzt tatsächlich seine Arbeit in gleicher Weise fort. Gerade jetzt schlägt die Stunde des Pazifismus. Aber man glaube nicht, unser Pazifist sei jetzt etwa bereit, an die Völker selber, an die unteren Schichten zu appellieren. Nein, auch jetzt ist sein flehender Blick auf die Thronsessel gerichtet. “Wer wäre aber berufen, diesem Wirrwarr ein Ende zu machen, diesen Wahn zu beseitigen, als jener Fürst, der selbst der Internationalisten einer ist, der dauernd die europäische Welt bereist und ihre Kulturhöhe kennen gelernt hat,”32 — so ruft Herr Fried aus. Der Leser ist erstaunt: wer mag wohl dieser große Unbekannte, dieser Fürst mit internationalistischer Gesinnung sein? Nun, dem Leser mag das Rätselraten schwer fallen: natürlich ist es niemand anders als Wilhelm II.

Und wieder muss bemerkt werden: est modus in rebus. Es handelt sich nicht um die persönliche Dummheit des Herrn Fried. Nein, so muss eben jeder “klassische” Pazifist reden. Wir verdächtigen keinen Augenblick die Aufrichtigkeit der Mehrheit der Pazifisten. Viele von ihnen wollen ganz aufrichtig den ewigen Frieden und hassen den Krieg. Aber da nun einmal der Krieg ausgebrochen ist, was sollen da Leute tun, die an den revolutionären Massenkampf nie geglaubt, die diesen Kampf nie gewollt, die Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft nie gewünscht haben und auch jetzt nicht wünschen? Was bleibt ihnen anderes übrig, als dass jeder seine eigene Regierung unterstützt und die pazifistische Propaganda bis zur Beendigung des Krieges verschiebt. Und auf wen sollen sie ihre Hoffnungen setzen, wenn nicht auf die friedliebenden Fürsten mit internationalistischer Gesinnung und auf die Änderung der “Psyche der Herrschenden”?

Im Frieden konnten die Pazifisten sich einbilden “über den Klassen” zu stehen. Aber seit dem Ausbruch des Krieges ist ein Mittelweg nicht mehr möglich. Wer nicht mit den revolutionären Internationalisten ist, der ist mit den Nationalisten und den Reaktionären. Mit den ersteren sind die Pazifisten nie gewesen und können sie nicht sein. Darum ist es natürlich, dass sie vollkommen auf der Seite der letzteren stehen.

Die klugen Führer des Imperialismus wissen sehr gut, dass die vor die Wahl gestellten Pazifisten stets für die herrschenden Klassen eintreten werden. Darum beunruhigt sie die pazifistische Propaganda absolut nicht. Oft waren sie sogar bereit, die pazifistische “Friedenstechnik” auszunützen. Ihr wollt Schiedsgerichte? Gut! in den Fällen, in denen wir den Krieg nicht wollen, sind wir bereit, Schiedsgerichte anzuerkennen. “Im großen ganzen dient das Instrument der Schiedsgerichte nur dazu, den Ausbruch ungewollter Kriege … zu vermeiden”, schreibt der deutsche Imperialist Ruedorffer-Ritzner.33 Und die gleiche Politik der Ausnützung des Pazifismus setzen die Imperialisten auch jetzt noch während des Krieges fort. Die englischen Imperialisten haben sich ihre Pazifisten gefügig gemacht, die deutschen die ihren. Die Imperialisten eines jeden “Vaterlandes” beweisen, dass eben im Interesse des Pazifismus und der Kulturideale die Pazifisten den betreffenden Generalstab unterstützen müssen. Zwischen Imperialismus und Pazifismus gäbe es keinen prinzipiellen Abgrund, behauptet der deutsche Imperialist Dr. Kumpmann. Aber natürlich spricht er nicht von irgendeinem, sondern vom deutschen Imperialismus. Es gibt nämlich Imperialismus und Imperialismus. “Unser (d. h. der deutsche) Imperialismus der Verteidigung … führt … im Grunde zum Liberalismus und, wenn man will, zum Pazifismus zurück. Man könnte ihn paradox sogar als pazifistischen Imperialismus bezeichnen. Im Ideal stimmt der weltpolitische Gedanke Deutschlands mit dem Pazifismus im Wesentlichen überein: Völkerfreiheit, Völkerfriede ist seine Losung.”34 In gleicher Weise sprechen die Imperialisten aller Länder mit “ihren” Pazifisten.

Man wird sagen: aber diese Sprache ist nur für Einfältige berechnet. Dem kann nicht widersprochen werden. Aber eins ist zu beachten: überall sind die Pazifisten auf diesen Leim gegangen. Der Pazifismus als Ganzes hatte keinen anderen Ausweg als die Imperialisten seines Vaterlandes zu unterstützen. Und das aus sehr einfachem Grunde: der Pazifismus ist das leibliche Kind der Bourgeoisie, er hat für keinen Augenblick den bürgerlichen Boden verlassen, hat keinen Moment gewagt, gegen die Grundlagen der bürgerlichen Ordnung aufzutreten.35

*

Der Sozialpazifismus ist nicht sehr verschieden vom einfachen bürgerlich-philanthropischen Pazifismus. Im Sozialpazifismus gibt es keine Spur revolutionären Wesens. Es sind die gleichen bürgerlichen Ansichten, die mit tugendhaften “sozialistischen” Phrasen schmackhafter zubereitet sind. Eine revolutionäre Perspektive haben die Sozialpazifisten nicht. Jede beliebige Perspektive ist für sie real bis auf eine: die Perspektive des revolutionären Umsturzes, des Aufstands des bewaffneten Proletariats.

Vor Kriegsausbruch tritt der Sozialpazifist für den Frieden ein, nach Kriegsausbruch für die Vaterlandsverteidigung. Das ist das Schicksal selbst der besten Sozialpazifisten.

Jaurès war ein typischer Vertreter des Sozialpazifismus, und zwar nicht einer von den schlechtesten. In seinen Adern floss das heiße Blut des Kämpfers, des Volkstribuns. Aber zu welchen politischen Fehlern, zu welch leblosen Behauptungen hat der Pazifismus selbst diesen Kämpfer geführt! Man betrachte seine Ansicht über das französisch-russische Bündnis. Wer von den Sozialisten hat den reaktionären Charakter dieses Bündnisses nicht von Anfang an gesehen? Und trotzdem hat Jaurès — es ist unglaublich, aber wahr! — dieses Bündnis als einen Sieg des Pazifismus gefeiert. Unmittelbar nach den Kronstädter Feierlichkeiten schreibt Jaurès einen begeisterten Artikel “Frankreich und Russland”, in dem er diese Feierlichkeiten als “schön und rührend” bezeichnet. “Es gibt keine Missverständnisse mehr zwischen französischen und russischen Herzen … Das Haupt des russischen Reiches (d. h. der Zar!) hat die Republik nicht nur formell, sondern von Herzen anerkannt.”36

Wie konnte es kommen, dass Jaurès solche Dinge schrieb? Sehr einfach: hier zeigt sich die Logik des Pazifisten. Für einen guten Pazifisten ist jedes Bündnis zwischen zwei oder mehreren Staaten schon a priori ein Schritt vorwärts, ein Sieg der Friedensidee. Wir haben gesehen, wie der gute Professor Fried sorgfältig die Zahlen der internationalen Verträge und der internationalen Regierungskongresse zusammenzählt, in der festen Überzeugung, dass jeder von ihnen uns der Verwirklichung des pazifistischen Ideals näher bringt. Jaurès stand natürlich auch in den neunziger Jahren sehr viel höher als der gute Fried. Aber die Logik des Pazifismus muss ihr Opfer haben. Das französisch-russische Bündnis ist — dieser Logik zufolge — schon deswegen gut, weil es ein Bündnis ist! Bündnis, das bedeutet eine neue “Garantie für den Frieden”! Und darum ist Jaurès bereit, alles zu schlucken. Über die Annäherung zwischen der “Heimat der Revolution” und der Heimat des Zarismus beruhigt Jaurès sein Gewissen mit folgender Sentenz: “Es gibt keine Ähnlichkeit”, schreibt er, “zwischen der russischen Monarchie und den Monarchien des Dreibundes: Russland befindet sich noch in jener Geschichtsperiode, in der die Monarchie — bis auf einige verbesserungsfähige Felder — nur der Nation selber zusammenfällt; sie (die russische Monarchie) ist der Ausdruck der tiefsten Instinkte der Nation. Sie ist das notwendige Werkzeug ihres Handelns, die Seele des Volkes selber.”37 Es ist kaum möglich, noch weiterzugehen. Und kann man sich dann über Fried und seine Beurteilung des Haager Manifests wundern? Kann man erstaunt sein, wenn er die Verfasser dieses Manifests in den Himmel hebt oder Wilhelm II. den “internationalistischen” Kaiser nennt?

Aber man wird vielleicht einwenden, dass dies zu Beginn der neunziger Jahre war, als Jaurès erst begonnen hatte, sich eine politische Überzeugung zu bilden. Das ist wahr, beweist aber nichts gegen uns. Jaurès blieb ein Pazifist sein Leben lang. im Jahre 1905, als er schon den Höhepunkt seiner Tätigkeit erreicht hatte und bereits als anerkannter Führer der französischen Sozialisten galt, was schrieb er da? Er schrieb: “Das französisch-russische Bündnis trug an und für sich keinen offensiven Charakter … In der gegenwärtigen Zeit stellt das französisch-russische Bündnis keine Gefahr dar.”38

Als Pazifist begrüßt Jaurès jedes Abkommen zwischen Regierungen. In der Aussöhnung mit Italien, in der Annäherung an England sieht er “eine neue Gewähr für den Frieden, eine neue Möglichkeit der Entwicklung friedliebender Bestrebungen”. Das Abkommen zwischen England und Frankreich beurteilt Jaurès als eine große kulturelle Errungenschaft und Gewähr für den Frieden.39 Was tut‘s, dass all diese Abkommen von Imperialisten, im Interesse des Imperialismus, im Zeichen des Imperialismus getroffen werden? Was tut‘s, dass gerade diese Abkommen es waren, die den jetzt ausgebrochenen Krieg in sich bargen? In seiner Eigenschaft als Pazifist will Jaurès all das nicht sehen. Er verschließt sich Tatsachen gegenüber, die der Aufmerksamkeit eines Politikers wie Jaurès nicht entgehen konnten. Der Pazifismus schwächt sein politisches Sehvermögen, seinen politischen Willen. Von diesen Behauptungen Jaurès ist es wirklich nicht mehr weit bis zu den Thesen des kleinbürgerlichen Pazifisten Fried, der schon im gemeinsamen Vormarsch der französischen, deutschen, englischen und russischen imperialistischen Truppen gegen China eine “Gewähr für den Frieden” und den Sieg des Pazifismus sah!

Oder ein anderes Thema: man lese Jaurès‘ Programmrede zur Frage des französisch-deutschen Abkommens, die er am 19. und 20. Dezember 1911 im Parlament hielt. “Es gibt drei Kräfte, die für den Frieden arbeiten”, erklärt Jaurès in dieser Rede, “Die erste ist die internationale Organisation der Arbeiterklasse in allen Ländern … Der zweite Friedensfaktor (force de paix) ist der moderne Kapitalismus … Die Interessen gehen immer mehr ineinander über, verflechten sich, werden mobilisiert. Durch die Sprachgrenzen, durch die Zollgrenzen arbeiten große Korporationen der Industrie und des Finanzkapitals und Banken, ungeheuer große Banken stehen hinter ihnen … Fällt der Kredit in Paris, so merkt man sofort die Auswirkung in Hamburg, New York … So entsteht der Anfang einer kapitalistischen Solidarität, die furchtbar ist, wenn niedrige Interessen ihre Triebkräfte sind, die aber unter dem Einfluss des einmütigen Willens der Völker in einem bestimmten Moment zur Garantie des Friedens werden kann.” Das ist also die zweite Kraft, die für den Frieden arbeitet, “Es gibt ferner eine dritte pazifistische Kraft, die Wiederauferstehung des angelsächsischen Amerika, des alten Ideals der Puritaner … Seht nur, das Schiedsgericht zwischen den Vereinigten Staaten und England, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan beginnt zur Wirklichkeit zu werden … Wenn Europa morgen auf die wahnsinnige Idee kommen wird, sich gegenseitig zu zerfleischen, dann wird der amerikanische Idealismus euch durch den Vorschlag eines Schiedsgerichts beschämen.”40

Ist das nicht dasselbe, was wir aus dem Munde des Spießbürgers Fried und besonders Norman Angells gehört haben? Diese beiden Pazifisten würden nicht in solchen Ausdrücken von der Arbeiterinternationale sprechen, aber was die andern beiden “Friedensfaktoren” anbetrifft, so sind sie mit dem Sozialpazifisten Jaurès so solidarisch, dass man nicht wissen kann, wer diese Beweisführung zuerst erfunden hat: Jaurès oder die bürgerlichen Pazifisten.

In der Solidarität der Interessen der internationalen Bankiers sieht Jaurès einen Friedensfaktor! Das ist eine Wiederholung des “Angellismus”. In den wachsenden “pazifistischen” Stimmungen der herrschenden Schichten Amerikas sieht Jaurès den dritten Friedensfaktor! Das ist genau dasselbe, was Fried vorbringt, wenn er den “Pan-Amerikanismus” anpreist.

Schiedsgericht — das ist ein Wort, das den Sozialpazifisten Jaurès hypnotisiert. Amerika anerkennt in manchen Fällen das Schiedsgericht, folglich ist es das gelobte Land des Pazifismus, folglich wird es durch seinen Pazifismus Europa beschämen und es zwingen, in Frieden zu leben. Jaurès, der große Politiker Jaurès sieht nicht, was der deutsche Imperialist Ruedorffer so nüchtern und richtig ausgedrückt hat, als er sagte: das Schiedsgericht ist für uns nur ein Mittel, diejenigen Kriege zu vermeiden, die wir nicht wünschen.

Ende 1911 stellt Jaurès das imperialistische Amerika als ein Unschuldslamm dar! Der bürgerliche Abgeordnete Bouger musste den Sozialisten Jaurès au Kuba erinnern. “Erzählen Sie uns lieber, wie sich Amerika im Krieg um die Insel Kuba benommen hat”, rief ihm dieser Bourgeois zu. Worauf Jaurès nichts anderes zu antworten wusste, als: “Habe ich denn gesagt, dass Heilige nie sündigen?”41

Im amerikanischen Imperialismus sah Jaurès einen Friedensfaktor! Das war nur möglich, weil er die Welt durch die rosig gefärbte sozialpazifistische Brille sah. Die Worte der amerikanischen “Puritaner” sah er für die Wirklichkeit an. Die diplomatischen Manöver dieser oder jener herrschenden Cliquen in Amerika nahm er für bare Münze. Europa beschämen und den Frieden herstellen, diese Mission wollte Jaurès Amerika auferlegen, wenn ein europäischer Krieg ausbrechen sollte! Der Krieg ist gekommen, und die amerikanischen “Pazifisten” haben den besseren Teil gewählt: sie versorgen die Kriegführenden mit Munition und stecken Milliarden und Abermilliarden von Kriegskrediten in die Tasche … So gehen die Hoffnungen der “realen Politiker” des Opportunismus und Sozialpazifismus in Erfüllung.”42

Die Ideen des Sozialpazifismus hatten und haben nicht nur unter den anglo-romanischen opportunistischen Sozialisten viele Anhänger, sondern auch unter den österreichischen und deutschen Opportunisten, die sich für gute Theoretiker hielten. Niemand anderer als Südekum schrieb über das bekannte pazifistische Buch Norman Angells, dass er es als ein großes Verdienst im Sinne der Aufklärung über die wirkliche Grundlage des internationalen Friedens betrachte. Und fragt man Südekum, so sagt er auch heute noch, er sei Pazifist, wie sich vor dem Kriege alle Bernsteinianer für Pazifisten erklärten. Hat doch im Frühjahr 1916 Scheidemann eine “pazifistische” Broschüre unter dem schreienden Titel: “Es lebe der Frieden” geschrieben.

Der bekannte Theoretiker und Führer des österreichischen Opportunismus, Renner (Springer) schrieb in seinem kurz vor dem Krieg erschienenen Buch: “Die Idee des Weltstaates und des Weltfriedens ist im Verhältnis zur herrschenden Praxis eine revolutionäre Idee. Und das unabhängig davon, dass diese Idee durch die Ironie der Geschichte sich oftmals in die Form eines zaristischen Manifestes kleidet oder in die Form dicker Bücher, die russische Staatsräte geschrieben haben: das ist so, unabhängig auch davon, dass es der kapriziösen Geschichte oft gefällt, den Anstoß zu historischen Wandlungen durch die Kongresse von Berufsdiplomaten zu geben … Es wäre dumm, auch weiterhin der pazifistischen Bewegung keine Aufmerksamkeit zu widmen.”43

Heute ist Renner ein ziemlich offener Sozialimperialist. Aber nach Kriegsende wird er sicherlich wieder als Pazifist auftreten. Vom Sozialpazifismus zum Sozialchauvinismus, vom Sozialchauvinismus zum Sozialpazifismus. Das ist der circulus vitiosus…

Der Sozialpazifismus lässt sich nicht klein kriegen. Es scheint, als müsste der jetzige Krieg jeden Tag unbarmherzig den Schiffbruch der pazifistischen Illusionen zeigen. Aber nein! Der Sozialpazifismus ist lebendiger denn je, und er fährt fort, die sozialistische Bewegung zu demoralisieren. Wir sprechen nicht mehr von den Sozialchauvinisten, die sich mit den Federn des Pazifismus schmücken. Die Wiener Konferenz der “Sozialisten” der Zentralmächte verkündet als ihr unmittelbar nach dem Kriege gültiges Programm: Abrüstung, Schiedsgerichte, demokratische Kontrolle der Diplomatie. Die Londoner Konferenz der “Sozialisten” der Ententeländer stellt — zur Zufriedenheit Kautskys, der aus diesem Anlass die Einmütigkeit der Ansichten innerhalb der II. Internationale freudig feststellt — dasselbe Programm auf. Die Haager Konferenz der “Sozialisten” der neutralen Länder tritt für die gleichen Forderungen ein und verfasst außerdem — nach dem Referat des holländischen Kautskyaners Wibaut44 — ein spezielles “wirtschaftliches Programm” im Sinne des Sozialpazifismus.

Aber auch im Lager der “Opposition” sind die pazifistischen Illusionen immer noch lebendig. In seinem Programm-Artikel “An der Schwelle des dritten Kriegsjahres” schreibt Eduard Bernstein, dass während des Krieges angestellte Überlegungen ihn veranlasst hätten, die so genannte pazifistische Bewegung höher einzuschätzen .”Gegen die Untergrabung der Rechtsbegriffe findet man in der Literatur der Pazifisten vortreffliches Aufklärungsmaterial und in ihren Reihen Personen von einer Überzeugungstreue, die uns allen zum Muster dienen kann.”45

Aber was Bernstein! Sein Beispiel ist nicht weiter verwunderlich. Bernstein ist durch seine ganze Vergangenheit mit dem Opportunismus und dem Pazifismus eng verbunden. Aber — da ist ein anderer deutscher Sozialdemokrat, der auf dem linken Flügel der Kautsky-Anhänger steht und früher Mitarbeiter der Mehringschen Zeitschrift “Die Internationale” gewesen ist. Wir sprechen von Heinrich Ströbel. In seinem im Juli 1916 veröffentlichten Artikel “Pazifismus und Sozialdemokratie” fordert er direkt auf, das frühere Verhältnis der Marxisten zum Pazifismus zu revidieren. Man dürfe über den Pazifismus nicht lachen, meint Ströbel, sondern man müsse seine Verdienste anerkennen. ,,(Es) geziemt … ehrlichen Sozialisten nicht mehr, pharisäisch über den rein platonischen und theoretischen Charakter des bürgerlichen Pazifismus den Stab zu brechen.” Unter den Anhängern dieses letzteren gebe es nicht wenige, die auch “unter den schwierigsten Umständen den Gedanken der Völkerversöhnung auf der Grundlage des internationalen Rechts zu propagieren suchten”.46 Wenn Ströbel sagen würde, dass die “sozialistischen” Pazifisten kein Atom besser seien als die bürgerlichen Pazifisten, hätte er Recht. Aber das sagt er nicht. Für ihn besteht die Lehre des Krieges darin, dass wir bisher den Pazifismus zu gering eingeschätzt haben. Er fordert nicht etwa dazu auf, die pazifistischen Illusionen aus der sozialistischen Bewegung mit der Wurzel zu entfernen, nein, er schlägt genau das Gegenteil von dem vor, was der Krieg die Sozialisten gelehrt haben sollte.

So sieht es in der deutschen “Opposition” aus, die die Richtung Kautsky darstellt. In Frankreich ist es noch schlimmer. Die Zeitung Longuets, die in Opposition zu Renaudel steht, betrachtet die Veröffentlichung von rein pazifistischen Artikeln als den Beweis ihrer oppositionellen Gesinnung.47 Der französische Zimmerwalder, der Abgeordnete Brison, war so sehr daran gewöhnt, den Sozialismus mit dem Pazifismus zu identifizieren, dass er jene Stelle der Resolution der Zimmerwalder Linken, die der Kritik des Pazifismus vom marxistischen Standpunkt aus gewidmet war, als einfaches Missverständnis betrachtete.

Einen reichlichen Tribut — wozu es verbergen? — zahlt auch der Zimmerwalder Block an den Sozialpazifismus. In der italienischen Sozialistischen Partei, die die Hauptorganisatorin der Zimmerwalder Konferenz war, sind die pazifistischen Stimmungen sehr stark. Ihr typischer Vertreter, der Abgeordnete Morgary, ist schließlich ein ganz einfacher Sozialpazifist. Vom Standpunkt des Sozialpazifismus kritisiert er die nach seiner Ansicht “zu radikalen” Zimmerwalder Beschlüsse. Man dürfe die Sache nicht so darstellen, als wären alle Bourgeois Teufel, und alle Arbeiter Engel, oder als wären alle Bourgeois für den Krieg, und alle Arbeiter gegen ihn, meint Morgari. Nein, auch unter den Bourgeois gäbe es edel denkende Pazifisten usw. “Die Unabhängige Arbeiterpartei”, die mehr oder weniger auf dem Boden von Zimmerwald steht, teilt den sozialpazifistischen Standpunkt vollkommen. Die Neigung zum Sozialpazifismus ist eine ernste Gefahr für den Zimmerwalder Block — es wäre falsch, das nicht zugeben zu wollen.

Der Sozialismus ist nicht Pazifismus. Der Sozialismus ist kämpfender Marxismus. Solange dieser Gedanke innerhalb der Arbeiterbewegung nicht allgemein anerkannt sein wird, wird der bürgerliche Einfluss auf das Proletariat, der auch im Pazifismus zum Ausdruck kommt, der Freiheitsbewegung der Arbeiter stets schädlich sein.

Ja, wir sind keine prinzipiellen Pazifisten, wir sind nicht gegen alle Kriege. Wir sind gegen ihre Kriege, gegen die Kriege der Unterdrücker, gegen die imperialistischen Kriege, gegen Kriege, die auf die Unterjochung von Millionen und Abermillionen von Arbeitern gerichtet sind. Aber “die Sozialdemokraten können die positive Bedeutung der revolutionären Kriege nicht leugnen, d. h. nicht imperialistischer Kriege, sondern solcher, wie sie z. B. in der Epoche von 1789-1871 geführt wurden, um die Niederwerfung eines fremden Joches und um die Bildung von national- kapitalistischen Staaten aus feudal-zersplitterten, oder die notwendig sind zum Schutz der Errungenschaften des im Kampf gegen die Bourgeoisie siegreichen Proletariats.”48

1 Vergl. Jacques Barboux, “Essai d‘une psychologie de l‘Angleterre contemporaine”, Paris, 1906, Band I, besonders die Kapitel: “L‘idéalisme litteraire et la paix”, “Le liberalisme politique et la paix”, S. 163-300.

2 Prof. August Forel: Die Vereinigten Staaten der Erde. Kapitel IX (Aus dem Russischen zurückübersetzt. D. Übers.)

3 Diese Zahl erhielten wir aus der Tabelle, die Fried auf S. 274-75 seines “Handbuchs der Friedensbewegung” (Band II) bringt.

4 Siehe das Kapitel “Qui êtes vous?”

5 A. Fried, “Kurzgefasste Darstellungen der pan-amerikanischen Bewegung”, 1912, S. 28 u. a.

6 Alfred H. Fried, “Der Weg zum Weltfrieden im Jahre 1912” “Pazifistische Chronik”, Berlin-Wien-Leipzig, S. 15-31.

7 a.a.O., S. 6f.

8 A. Fried, “Handbuch der Friedensbewegung”, Band 1, S. 133.

9 a.a.O., Band II, S. 149-50

10 “Handbuch der Friedensbewegung”, Bd. 1, S. 203.

11 a.a.O., S. 204.

12 a.a.O., S. 205.

13 a.a.O., S. 206f.

14 a.a.O., S. 261.

15 a.a.O., S. 229.

16 Herr Fried widmete der II. Haager Konferenz ein ganzes Buch: “Die II. Haager Konferenz, ihre Arbeiten, ihre Ergebnisse und ihre Bedeutung”. Die Beschlüsse dieser Konferenz findet er trotz allem “trostreich” und “heilvoll”. Siehe S. 217f. des genannten Werkes.

17 “Handbuch der Friedensbewegung”, II. Aufl., Berlin u. Leipzig, 1913, S. 242.

18 a.a.O., S. 244.

19 a.a.O., S. 157f.

20 a.a.O., S. 157f.

21 a.a.O., S. 164.

22 a.a.O., S. 192.

23 a.a.O., S. 194.

24 a.a.O., S. 195.

25 a.a.O., S. 196.

26 “Die Friedens-Warte” 1914, II., S. 308.

27 a.a.O., S. 308.

28 a.a.O., S. 309.

29 A. Fried, “Europäische Wiederherstellung” 1915, S. 138.

30 “Friedenswarte”, Juni 1916, S. 175.

31 A. Fried, “Europäische Wiederherstellung”, 1915, S. 138.

32 “Friedenswarte‘‘, Juni 1916, S. 175.

33 Ruedorffer, “Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart”, 1914. S. 157.

34 Dr. Karl Kampmann, “Imperialismus und Pazifismus”, 1916, S. 45.

35 Ein Teil des Kapitels, das vom englischen Pazifismus (Norman Angell und vom Sozial-Pazifismus (Kritik der Ansichten Kautskys, Macdonalds und anderer) handelt, ist in den Julitagen verloren gegangen und kann nicht wiederhergestellt werden. Das Kapitel bleibt unvollständig.

36 Jean Jaurès, “France et Russie”, Artikel in der “Action Socialiste”, Paris, 1899, S. 367.

37 a.a.O., S. 370

38 Jean Jaurès, “Die Ideen des Friedens und der Solidarität des Proletariats”, 1905.

39 a.a.O., S. 23, 25

40 Jean Jaurès, “La Protestation du droit pour Ia paix, contre Ia guerre”, Edition de “l‘Humanité”, S. 42 ff.

41 a.a.O., S. 46

42 Jeder, der den Jaurèsismus kennt; weiß, dass wir noch viele solche Urteile von Jaurès über die “Friedensfaktoren” anführen könnten. Wir wollen hier nicht weiter auf sie eingehen und lenken die Aufmerksamkeit unserer Leser auf Jaurès‘ Reden: “Diplomatie et Démocratie” (1906), “Socialisme et Internationalisme”, “Contre l‘Emprunt et le déficit” (1913), “Politique d‘Avenir” (1909) u. a. All diese Reden sind als Broschüren erschienen.

43 Karl Renner: “Die Nation als Rechtsidee”, Wien 1914, S. 11. (Aus dem Russischen rückübersetzt. D. Übers.)

44 Die Hauptthese Wibauts ist eine rein .‚angellistische”: der Krieg ist für die Kapitalisten selber unvorteilhaft. Nach diesem Krieg werden sie alle unbedingt den freien Handel anerkennen.

45 Eduard Bernstein “An der Schwelle des 3. Kriegsjahres”, “Vorwärts”, 1916, Nr. 226.

46 H. Ströbel, “Pazifismus und Sozialdemokratie”, “Sozialistische Auslandspolitik”, Nr. 27, vom 12. Juli 1916.

47 Siehe die Artikel H. Leperts, “Pour l‘abolition des guerres”, in der Zeitung “Le Populaire.

48 Die Kriegspolitik der französischen Sozialistischen Partei, der offene Verrat der revolutionären Traditionen einzelner Gruppen und der vollkommene Sieg des reformistischen Flügels hatten zur Folge, dass die mühevoll hergestellte Einheit der sozialistischen Bewegung Frankreichs von neuen, gesprengt wurde.

Während der reformistische Teil der Sozialistischen Partei Frankreichs immer tiefer in den Sumpf des Reformismus hinab glitt und nicht mehr ausschließlich die “Vaterlandsverteidigung” sondern auch den durch die Wilsonschen 14 Punkte schlecht verdeckten Imperialismus der Westmächte vor der Öffentlichkeit in Schutz zu nehmen suchte, bildete sich mehr und mehr eine Opposition der links stehenden Elemente. Aber ebenso wie in Deutschland fanden auch hier nur die Kommunisten den Mut, die Konsequenzen zu ziehen und für die Idee der internationalen Verständigung des Proletariats und der Revolution eine intensive Propaganda zu entfalten.

Eine kleine Zahl von Sozialisten und Gewerkschaftlern, die mit der patriotischen Politik der Sozialistischen Partei und des reformistischen Gewerkschaftsbundes nicht einverstanden waren, bildeten 1915 das Comité pour la reprise des Relations Internationales (Ausschuss zur Wiederaufnahme der internationalen Beziehungen), das die Beschlüsse von Zimmerwald und Kienthal als Richtlinien annahm.

Diese Gruppe bildete im Mai 1919 den “Ausschuss der Dritten Internationale”, der sich zum Ziel setzte, die Gesamtheit der proletarischen und sozialistischen Organisationen für die Kommunistische Internationale zu gewinnen.

Die Sozialistische Partei hat vergeblich versucht, ihr Verhalten gegenüber dem Versailler Friedensvertrag und der weiteren französischen Reparationspolitik von neuem mit einem pazifistischen Mäntelchen zu umkleiden. Die Sozialistische Partei trat 1920 aus der Zweiten Internationale ans und weiter in die 2½ Internationale über, da in ihr die Strömungen gegen den Ministerialismus und die patriotische Politik vorübergehend den pazifistischen unterlegen waren. Dies konnte um so leichter geschehen, als die Sozialistische Partei ihre Aufgabe, die patriotische Kriegspolitik zu decken, in so hinreichendem Maße erfüllt hatte, dass die Zeit für eine neue nationalistische Regierung gekommen war. Die “heilige Einheit” wurde abgelöst von dem nationalen Block, der die vom Bolschewismus erschreckten Kleinbürger und Rentner ins Schlepptau der französischen Schwerindustrie nahm, dessen Politik sich aber von der “heiligen Einheit” nur durch die größere Offenheit und Brutalität unterschied.

In der raschen Schwenkung der Sozialistischen Partei zeigt sich vor allem die Tatsache, dass sie keine proletarische Partei ist, sondern eine parlamentarische Partei — wie alle anderen französischen bürgerlichen Parteien —‚ die sich zur überwiegenden Mehrzahl zusammensetzt aus Berufspolitikern, Journalisten und Advokaten, für die der Name “Sozialistische Partei” nur ein Deckmantel für die Betätigung ihrer politischen Streberei ist.

Das Proletariat politisch zu organisieren und mit seiner Hilfe den Einfluss der bürgerlich-pazifistischen Elemente und der offenen Patrioten zu brechen, war Sache der immer mehr wachsenden kommunistischen Bewegung. Der Sieg der Pazifisten (Bracke, Longuet) innerhalb der Sozialistischen Partei bedeutete nichts anderes als das Wiederaufleben der alten pazifistischen Illusionen: nicht in der Einigung des revolutionären Proletariats, sondern in der Verbindung mit den bürgerlich-pazifistischen Elementen suchte diese Gruppe ihr Heil.

Die französischen Kommunisten zeigten in hartem Ringen um die Massen des französischen Proletariats immer wieder den einzig möglichen revolutionären Weg zur Bewahrung des Friedens, und wiesen aus diesem Grunde immer und immer wieder darauf hin, dass jede auch noch so “anständige” Reparationspolitik nichts anderes bedeutet als den kapitalistischen Aufbau des einen Landes auf Kosten des anderen, nichts anderes als den Versuch, im Wege der gesteigerten Ausbeutung des Proletariats des einen oder des anderen Landes dem bankrotten Kapitalismus wieder auf die Beine zu helfen. Während die französischen Kommunisten dies taten, schlossen sich die Sozialisten immer mehr an die von der weiterverarbeitenden Industrie Frankreichs geführten “linken Elemente” an.

Dies ist besonders der Fall, seitdem sich die Sozialistische Partei in ihrer Mehrheit auf dem Kongress von Tours (Dezember 1920) zum Eintritt in die Kommunistische Internationale entschlossen hat und die Minderheit eine neue Partei bildete, in der sie nach Herzenslust ihren Idealen huldigen konnten, ohne eine Störung von Seiten der revolutionären Elemente befürchten zu müssen.

Diese Politik der pazifistischen Illusionen musste notwendigerweise zum vollständigen Versagen der Partei in dem Augenblick fuhren, in dem die reale Gefahr eines neuen Krieges bestand, den die Ruhrpolitik des nationalen Blocks hervorzurufen drohte. Als im Januar 1923 eine neue Kriegsgefahr offenbar wurde, da blieben die französischen Sozialisten wiederum bei leeren Protesten und gütlichem Zureden stehen. Sie glaubten, der Regierung und der Bourgeoisie beweisen zu müssen, dass die Politik Poincarés den Interessen der Bourgeoisie Frankreichs zuwiderlaufe und dass diese besser gewahrt wären durch eine Regierung, die sich auf die Forderungen beschränkte, die nach dem Versailler Vertrag berechtigt erscheinen.

Den Kampf gegen die Ruhrpolitik haben die französischen Sozialisten getreu ihrer sonstigen Politik den Kommunisten überlassen und sind ihnen dabei noch zu wiederholten Malen in den Rücken gefallen. Den Sieg der pazifistischen Illusionen kennzeichnet als entscheidender Einschnitt der Wahlkampf des Jahres 1924, in dem die pazifistischen Elemente, Sozialisten, Rentner, Bauern und sonstige mit der Politik Poincaré Unzufriedene gemeinsam den Block der Linken bildeten, dessen Programm Völkerbund und Friede war, und dem es gelang, den nationalen Block zu überwinden.

In diesem Wahlkampf stand auf der einen Seite Bürgertum und Kleinbürgertum, getrennt in nationalistische Reaktion und pazifistische Linke, auf der anderen Seite das revolutionäre Proletariat, das unter der Fahne des Blocks der Arbeiter und Bauern dem Rufe der Kommunisten in den Wahlkampf folgte. Siegreich blieb jene Gruppe, die bewiesen hat, einerseits durch ihre Impotenz im Ruhrkampf, andererseits aber durch die Teilnahme an der “Heiligen Einheit”, dass sie würdig ist, in kritischen Zeiten der Schildknappe des französischen Imperialismus zu sein: der Block der Linken.

Der Block der Linken ist ein neuer Versuch, den französischen Pazifismus auch innerhalb der Arbeiterbewegung neu zu beleben. Während aber der Pazifismus von Jaurès getragen war von revolutionärem Idealismus, während die Sozialisten vor 1914 ein gewisses Recht hatten, die Ehrlichkeit ihrer Überzeugung zu behaupten, ist der Pazifismus des Jahres 1924 der Beweis des politischen Bankrotts und der zynischen Unterwerfung der so genannten Sozialisten unter dem Willen ihrer Bourgeoisie.

Eugen Varga

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