VI. DER INTERNATIONALISMUS UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE VON DEN NEUNZIGER JAHREN BIS ZUR NEUESTEN ZEIT.

VI. DER INTERNATIONALISMUS UND DIE DEUTSCHE SOZIALDEMOKRATIE VON DEN NEUNZIGER JAHREN BIS ZUR NEUESTEN ZEIT.

Das sozialchauvinistische Programm v. Vollmars.

Der Charakter der Weltwirtschaft hat sich radikal geändert, und der Charakter der Kriege hat sich nicht weniger radikal geändert. Verfolgen wir jetzt die Evolutionen der Ansichten der sozialistischen Parteien über das Kriegsproblem.

Die Ansichten der deutschen Sozialdemokratie im Zusammenhang mit dem letzten großen nationalen Krieg (1870/71) haben wir im ersten Teil unserer Arbeit eingehend behandelt. Wie haben sich aber diese Ansichten im Verlauf der letzten Jahrzehnte geändert?

Die alte Tradition der Einteilung der Kriege in — im historischen Sinn — “defensive” und “offensive” hat tief Wurzeln gefasst. Sie ist auch später in Erscheinung getreten. Das in einer anderen historischen Epoche entstandene Kriterium ist dank der Kraft der Trägheit auch in den neuen Verhältnissen erhalten geblieben. An diesem. Kriterium hielt man auch in der II. Internationale lange Zeit fest. Aber allmählich beginnt die Wirkung der Tradition doch nachzulassen. Wir sehen in der neuesten Zeit keinen einzigen offiziellen Parteibeschluss — weder der deutschen Partei, noch der gesamten II. Internationale —der direkt und konsequent das Kriterium des Verteidigungskrieges empfohlen und offen erklärt hätte: in jedem Verteidigungskrieg geht die Sozialdemokratie mit “ihrer” Regierung zusammen.

Die heutigen Sozialchauvinisten pflegen nichts lieber zu tun, als sich darauf zu berufen, was die verschiedenen Führer des Sozialismus vor 30-40 Jahren vom Kriege gesagt haben! Ihr sagt, wir seien dem Sozialismus untreu geworden? Aber haben Bebel im Jahre 1890, Liebknecht 1891 usw. nicht gesagt, dass man in Verteidigungskriegen das Vaterland verteidigen müsse? Diese Entgegnung kann man von jedem einzelnen Sozialchauvinisten hören. Man beachte hierbei besonders den Katechismus des zeitgenössischen Sozialchauvinisten, das Buch Eduard Davids: “Die Sozialdemokratie im Weltkriege”.

Dabei werden nur drei “Kleinigkeiten” vergessen. Erstens: was für die Epoche der nationalen Kriege richtig war, steht in keinem Verhältnis mehr zu der völlig anderen Epoche der imperialistischen Kriege; damals hatte das Kriterium des historisch-progressiven Verteidigungskriegs einen großen Sinn, jetzt hat dieses Kriterium gar keinen Sinn mehr. Zweitens: auch während der nationalen Kriege haben sich die revolutionären Sozialdemokraten ganz anders verhalten, als jetzt die Herren Sozialchauvinisten. Das beste Beispiel ist das Verhalten Bebels und Liebknechts, Marx‘ und Engels‘ während des Krieges 1870/71; drittens: auch in den neunziger Jahren haben Bebel und Liebknecht nicht ganz das, oder vielmehr ganz und gar nicht das gesagt, was die wahrheitsliebenden Herren aus dem sozialchauvinistischen Lager ihnen jetzt in den Mund legen.

Schon durch den Krieg 1870/71, auf jeden Fall aber durch den Krieg 1877/78, ist die Ära der großen nationalen Kriege abgeschlossen worden. Jetzt, nachdem mehr als vier Jahrzehnte seit jenen Kriegen vergangen sind, muss jedem klar geworden sein, dass es so ist. Aber während die Ereignisse noch im Gange waren, konnte es den Zeitgenossen nicht so klar zum Bewusstsein kommen, dass durch diese Kriege eine ganze Epoche zum Abschluss gelangt war. Dem Genius eines Marx (siehe unsre Äußerungen über seinen Briefwechsel mit Engels im ersten Band dieses Werkes) leuchtet schon damals das Bewusstsein dieser Tatsache auf. Marx zeichnet sieh überhaupt dadurch aus, dass er mitten in den stürmischsten Ereignissen aus ihnen das abzusondern verstand, was in der Weltgeschichte eine besondere Epoche, in der gesellschaftlichen Entwicklung ein historisches Wegzeichen bilden musste. Aber die meisten der zeitgenössischen Sozialisten lebten weiter, als wären sie noch in der guten alten Zeit. Für sie blieb der Maßstab des “Verteidigungskriegs” bestehen. Dazu gehörten auch Bebel und Liebknecht.

Aber man muss Folgendes im Auge behalten. In den neunziger Jahren sind auch neben Bebel und Liebknecht die hervorragendsten Vertreter des deutschen Opportunismus — v. Vollmar, Schippel, Auer u. a. — mehr als einmal für die Vaterlandsverteidigung im Defensivkrieg eingetreten. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es bekanntlich nicht immer dasselbe. Für v. Vollmar & Co. war die Vaterlandsverteidigung untrennbar verknüpft mit ihrer ganzen Linie opportunistischer, nationalliberaler Politik. Für sie handelte es sich um ein ganzes System der auswärtigen Politik des Opportunismus. Für Bebel und Liebknecht war es nichts als ein einfacher Tribut an die Tradition, ein Tribut an eine Epoche, die eben begonnen hatte zur Vergangenheit zu werden. Für Bebel und Liebknecht handelte es sich nur um einen mehr oder weniger zufälligen Irrtum von Männern, die ihre revolutionäre, marxistische Position behalten und es nur nicht rechtzeitig verstanden hatten, aus den neuen Kampfverhältnissen die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenigstens mit den Erklärungen Bebels und Liebknechts, die sie zu Beginn der neunziger Jahre abgegeben haben, verhält es sich zweifellos so.

Man betrachte z. B. den hervorragendsten und ältesten Vertreter des deutschen Opportunismus — Georg u. Vollmar. Er ist in noch höherem Maße als Eduard Bernstein der Vater des deutschen Opportunismus, denn er war der erste, der 1891 die Fahne des praktischen Revisionismus in Deutschland erhob. 1891 trat v. Vollmar in München mit zwei programmatischen Reden auf, die viel Staub aufgewirbelt haben, und die später in einer besonderen Broschüre veröffentlicht wurden.1 v. Vollmar war zu jener Zeit schon ein bekannter Führer der deutschen Sozialdemokratie. Vor diesen Reden galt er als sehr linksradikal und als Verteidiger der “Jungen”. Jetzt war er aus einem Saulus ein Paulus geworden.

Er stellte die Frage so: Zur Zeit des Ausnahmegesetzes waren wir gezwungen, eine revolutionäre Partei zu sein. Nicht so jetzt. Jetzt sind wir legalisiert, wir müssen uns von den alten revolutionären Gewohnheiten freimachen, wir müssen Annäherung an die “fortschrittliche” Bourgeoisie suchen, wir müssen uns mit “positiver” Arbeit befassen und uns so rasch wie möglich die Methoden der revolutionären Negation abgewöhnen.

Das war ein geschlossenes Programm des Opportunismus.

Es ist eine historische Tatsache, dass der erste Verkünder der opportunistischen Taktik auf dem Gebiet der inneren Politik in Deutschland zu gleicher Zeit auch ein ganzes sozialchauvinistisches Programm der Außenpolitik des Proletariats entwarf. v. Vollmar hielt seine Rede zur selben Zeit, als die Gründung des französisch-russischen Bündnisses in aller Munde war. Im Zusammenhang damit waren in Deutschland der kleinbürgerliche Patriotismus und Chauvinismus im Schwellen begriffen. Die deutsche Sozialdemokratie wurde wegen ihrer “Vaterlandslosigkeit” besonders heftig angegriffen. Zu der Zeit tritt v. Vollmar auf und entwickelt folgendes Programm: Es wird ganz fälschlich behauptet, dass wir keine Patrioten seien. Wir sind ebenso “gute Deutsche” wie alle achtbaren Bürgersleute. Wir erklären, dass wir unser Vaterland verteidigen werden, wenn es angegriffen werden sollte. “Sobald unser Land von außen her angegriffen wird, gibt es nur noch Eine Partei, und wir Sozialdemokraten werden nicht am letzten unsere Pflicht tun.”2

Vollmar erklärt weiter, dass man bereit sei, die Taktik nicht nur auf dem Gebiet der inneren, sondern auch der äußeren Politik zu ändern “Es braucht gar nicht erst versichert zu werden, dass wir zur Diplomatie und ihren Werken wenig Zutrauen haben. Nichtsdestoweniger müssen wir für den Dreibund eintreten, weil seine Tendenz unzweifelhaft auf die Erhaltung des Friedens gerichtet, und er deshalb etwas verhältnismäßig Gutes ist.” So sprach v. Vollmar wörtlich.3

Das ist das konsequente Programm des Sozialchauvinismus, dessen logische Schlussfolgerung der direkte Vorschlag ist, die “eigene” Regierung und den von ihr organisierten Dreibund zu unterstützen.4

Wie verhielten sich nun zu diesen Reden v. Vollmars — und insbesondere zu den angeführten Stellen dieser Rede — Bebel und Liebknecht? Hätten die Herren Sozialchauvinisten Recht, die behaupteten, dass Liebknecht und Bebel “dasselbe” gesagt haben, so hätten diese die Reden v. Vollmars billigen, ihnen Beifall spenden müssen. In Wirklichkeit aber geschah etwas ganz anderes. Bebel und Liebknecht schlugen Alarm. Sie erreichten es, dass die Frage auf die Tagesordnung des Erfurter Parteitags gesetzt wurde, und der Parteitag sprach v. Vollmar seine Missbilligung aus. Sie griffen den Vollmarschen Opportunismus aufs schärfste an. — Vollmar schleppe die Partei in den “Sumpf des Opportunismus”, er schlage eine ‚‚nationalliberale‘‘ Politik vor, — sagten auf dem Parteitag Bebel und Liebknecht.5

Wir wollen uns bei der Diskussion über das ganze Programm v. Vollmars nicht aufhalten. Wir wollen nur die Diskussion über sein sozialchauvinistisches Programm der internationalen Politik näher betrachten.

Man sagt (siehe die Behauptung des Herrn David), Bebel habe das “Gleiche” gesagt wie v. Vollmar! Hören wir zunächst v. Vollmar selbst. Er schildert die Stellungnahme Bebels folgendermaßen:

Der Weltkrieg sei unvermeidlich, behauptet Bebel, in ihm werde sich die alte Gesellschaft vollkommen verbluten, sodass der Bankrott, die Katastrophe, der große Kladderadatsch eintritt. Der Zeitpunkt, wann das geschehen soll, ist — da das Prophetentum in der Partei jetzt Mode wird — zuerst von London aus auf das Jahr 1898 festgesetzt worden, Tag und Monat weiß ich nicht … Das Ziel unsrer endgültigen Hoffnungen sei nunmehr unerwartet uns ganz nahe vor Augen gerückt. Er (Bebel) hat das gestern dahin ausgedrückt, dass wohl wenige im Saale wären, die es nicht erreicht sehen würden ... Wenn man unausgesetzt die Unabwendbarkeit eines Krieges predigt und jedes Mal hinzufügt, dass dieser Krieg auch der letzte Krieg auf Erden sein werde, dass in diesem Krieg die Befreiung von allen Lasten und Gebrechen der Menschheit vor sich gehen werde, dann muss man den Anschein erwecken, dass man ihn wünscht.”6

Das also wirft v. Vollmar Bebel vor! Bebel “wünsche” und propagiere einen Krieg, der den Beginn der sozialistischen Revolution, den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft bedeuten werde. Was gibt es Gemeinsames zwischen dieser Auffassung und der jetzigen Politik des Sozialchauvinismus? Absolut nichts! Es ist ein diametraler Gegensatz.

Wir wissen, dass z. B. Jules Guesde im Jahre 1885, d. h. als er noch nicht Gefangener der Sozialchauvinisten war, den damals drohenden Krieg zwischen Russland und England “wünschte” und “begrüßte”, weil er hoffte, dass ein militärischer Zusammenstoß dieser beiden Riesen den Beginn der sozialistischen Revolution beschleunigen würde. Der Anhänger des Nationalchauvinismus Jaurès (der der Vollmarschen Richtung nahe stand) stellte es damals so dar, als habe Guesde direkt “vive la guerre!” (Es lebe der Krieg!) geschrieen. Aber lag im damaligen Verhalten von Guesde auch nur eine Spur von Sozialchauvinismus? Absolut nicht. Guesde konnte sich damals in der Frage der Tatsache, in der Beurteilung der konkreten Situation irren, aber dem Geiste seiner Agitation nach war er ein revolutionärer Marxist.

Ebenso Bebel zu Beginn der neunziger Jahre. Bebel war zu jener Zeit, wie wir weiter unten aus seinen eigenen Erklärungen ersehen werden, in Fragen der auswärtigen Politik vollkommen solidarisch mit Engels. Engels aber predigte mit aller Energie, dass, wenn man gezwungen sein sollte, einen Krieg gegen das angreifende Russland zu führen, dieser Krieg unbedingt zu einem revolutionären gemacht werden müsse, dass dann die Arbeiter in Deutschland die Macht ergreifen und das französische Jahr 1793 wiederholen müssten; dass es notwendig sei, diesen Krieg auszunutzen, um ihn umzuwandeln in einen Krieg für den Sozialismus.

Es ist einmal von einem hervorragenden Parteigenossen der Ausdruck gebraucht worden, dass der so genannte Dreibund der Gendarm Europas sei, und dass man für einen Gendarmen keine Sympathie habe. Vollkommen einverstanden. Ich habe für Diplomatenwerk überhaupt so wenig Sympathie wie irgendeiner von Ihnen, aber ich weiß, dass, wenn Leib und Leben in Gefahr kommen, die deutsche Sozialdemokratie den deutschen Gendarmen auch zu finden weiß; welche Vorteile er hat, welche Macht, um Schlimmeres zu verhüten; und dass diese Bündnispolitik etwas weiteres sei, habe ich nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, dass sie für den Augenblick die Aufrechterhaltung des Friedens zu gewährleisten mir geeignet erscheine, und dass sie deshalb das relativ Bessere sei.”7

Liebknecht und Bebel gegen Vollmar.

So sprach v. Vollmar.

Und was antworten ihm W. Liebknecht und A. Bebel, die angeblich seinen Standpunkt teilten? Wilhelm Liebknecht sagte:

Vollmar klammert sieh an Bebel und mich. Er sagt, wir hätten bei dieser und jener Gelegenheit dasselbe geäußert wie er. Das ist richtig, wenn ich die Worte aus ihrem Zusammenhang nehme … Man wirft mir vor, dass ich erklärt habe, wenn wir angegriffen würden, wenn wir zur Abwehr kämpfen müssten, seien wir bereit, das Vaterland zu verteidigen. Ei gewiss, das habe ich wiederholt erklärt — das ist etwas Selbstverständliches, das tut jeder von uns … und schließlich werden wir ja gar nicht gefragt, erheischt es denn nicht unser eigenes Interesse, dass wir den, der in unser Land eindringt, hinauswerfen, wie man einen Räuber hinauswirft, der in unser Haus einbricht? Ich habe aber bei meinen Erklärungen stets hinzugefügt, dass der Krieg ein notwendiger, gerechter sein muss. Und nicht jeder Krieg, der der Form nach ein Verteidigungskrieg ist, ist es auch in Wirklichkeit. Der scheinbare Verteidiger ist manchmal tatsächlich der Angreifer gewesen. In keinem Fall aber darf sich die Sozialdemokratie in eine chauvinistische Strömung hineinlocken lassen. Der Brüsseler Beschluss (Es handelt sich um den Beschluss des Brüsseler Internationalen Kongresses 1891, s. w. u. D. Verf.) gegen den Militarismus präzisiert nach allen Richtungen scharf und konkret unsere Stellung … Falsch ist die Schlussfolgerung: Wenn Bebel und ich einen Weltkrieg als die Folge der herrschenden Misswirtschaft für wahrscheinlich erklärten, seien wir auch verpflichtet, der Regierung die Gelder für den Militarismus zu bewilligen. Der heutige Militarismus ist selber eine Ursache der Kriegsgefahr und jedenfalls unfähig, den Krieg zu verhindern.”8

Ohne Zweifel zahlt W. Liebknecht mit diesen Worten einen reichlichen Tribut an den traditionellen Standpunkt über den Verteidigungskrieg. Wenn er von einem “gerechten Krieg” spricht, so klingen in seiner Rede noch die Töne aus einer vergangenen Epoche; aus seinem Munde spricht der alte Demokrat, der noch nicht erkannt hat, dass wir in eine ganz neue Epoche eingetreten sind, dass es jetzt in Europa keinen andern wirklich notwendigen und gerechten Krieg geben kann als den revolutionären Krieg des im Kampf gegen die Bourgeoisie siegreichen Proletariats gegen die herrschenden Klassen anderer Länder, die diesen Sieg verhindern wollen. Mit dem “gerechten Krieg” haben Liebknecht und Bebel vor allem den Krieg gegen das alte Russland im Auge gehabt. Engels hat aber schon 1891, nachdem er von dem Beginn einer Bewegung in Russland infolge des dort herrschenden Hungers erfahren hatte, einen Nachtrag zu seinem Artikel “Der Sozialismus in Deutschland” geschrieben, in dem er richtig bemerkte, dass die ganze Fragestellung in Bezug auf den Krieg gegen Russland eine ernste Änderung erfahren müsse, sobald der Sozialismus einen Verbündeten innerhalb Russlands gefunden haben werde. Die Hauptsache jedoch war, dass, seitdem das französisch-russische Bündnis einerseits, der Dreibund andrerseits zur Tatsache geworden waren, der Krieg Deutschlands gegen Russland — das sollte klar gewesen sein — unbedingt zu einem europäischen Krieg führen musste. Dies zum ersten. Zweitens aber hätte man verstehen müssen, dass heute in jedem europäischen Krieg rein imperialistische und nicht nationale Motive die entscheidende Rolle spielen werden. War doch der Dreibund an und für sich nur dadurch möglich geworden, dass Italien und Frankreich sich Tunis‘ wegen entzweit und England und Frankreich die afrikanische Beute untereinander verteilt hatten, wodurch sie Italien in die Arme Deutschlands und Österreichs trieben.

Allerdings: Deutschland begann erst zu dieser Zeit eine eigene imperialistische Politik zu treiben, es machte die ersten Schritte in dieser Richtung. Daher war es möglich, dass selbst so weitsichtige Politiker wie W. Liebknecht zu der Zeit noch nicht bemerkt hatten, dass eine ganz neue Ara angebrochen war, in der das Kriterium des Verteidigungskriegs einfach sinnlos geworden war.

Dies erklärt die oben angedeuteten Stellen aus der Rede Liebknechts. Aber trotz allem: vergleicht man die Rede v. Vollmars mit der Rede Liebknechts, so wird man sofort die Überzeugung gewinnen, dass es zwei vollkommen entgegengesetzte Programme sind. v. Vollmar spricht von einer direkten Unterstützung des von der Regierung gegründeten Dreibunds, von dem bei Liebknecht nicht einmal die Rede ist. Liebknecht erklärt, dass die Sozialdemokratie unter keinen Umständen gestatten kann, dass man sie in einen chauvinistischen Strom hineinzieht. Von solch einer Erklärung ist aber bei Vollmar keine Spur zu finden. Liebknecht warnt vor seinem “Vaterland” mit dem Hinweis, dass oft die angreifende Partei sich als verteidigende aufspiele Vollmar dagegen will sein “Vaterland” verteidigen eben nur, weil es das seine ist. Liebknecht erklärt, dass eine Bewilligung der Kriegskredite unzulässig sei, — v. Vollmars Programm ist ganz darauf gerichtet, die Opposition der Sozialdemokratischen Partei gegen den Militarismus abzuschwächen.

Auf der einen Seite — der fertige Opportunist, den sein Weg logischerweise zum Sozialchauvinismus führt, denn auf dem Gebiet der internationalen Politik sind Opportunismus und Sozialchauvinismus identisch. Auf der anderen Seite — der alte Revolutionär, der revolutionäre Marxist, der der alten Tradition der Einteilung der Kriege in defensive und offensive seinen Tribut zollt, weil er den Beginn einer ganz neuen imperialistischen Epoche nicht genügend klar erkennt.

Das war die Stellung Liebknechts9 im Gegensatz zu Vollmar.

Und Bebel, welche Antwort gab er auf das in Vollmars Reden niedergelegte Programm?

Damit kommt man in den nationalliberalen Sozialismus hinein, das hieße die nationalliberale Taktik in die Sozialdemokratische Partei einführen … Es ist … nicht wahr, dass Liebknecht und ich einen gleichen Standpunkt eingenommen haben wie Vollmar in der Dreibundfrage … (Wir) haben … im Gegensatz zu Vollmar, der über diese Dinge am liebsten möchte Schweigen beobachtet sehen, mit allem Nachdruck fortgesetzt den Fehler der Annexion von Elsass-Lothringen und die Notwendigkeit einer Versöhnung mit Frankreich bis zu diesem Augenblick betont. Wir sind, im Gegensatz zu ihm, nicht gewillt, die Ereignisse von 1871 in Vergessenheit zu bringen ... Zwischen Engels und mir … besteht … wie unser fleißiger Briefwechsel hierüber beweist, in Bezug auf die Auffassung der europäischen Lage eine fast wunderbare Übereinstimmung … Greift Russland, der Hort der Grausamkeit und Barbarei, der Feind aller menschlichen Kultur, Deutschland an, um es zu zerstückeln und zu vernichten, und das kann nur der Zweck eines solchen Krieges sein, so sind wir so gut und mehr interessiert, wie diejenigen, die an der Spitze Deutschlands stehen, und werden dem entgegentreten … (Russlands) Sieg (bedeutet) unsere Niederlage als Sozialdemokratie…

Freilich, wenn die leitenden Kreise sagen, lieber sollen 42 Millionen auf der Strecke bleiben, als dass ein einziger Stein von unseren Festungen verloren geht, dann werden wir den bitteren Kelch über uns ergehen lassen müssen, aber wehe denen, die diese Zustände herbeiführten! Auf sie fällt die volle Verantwortung, und sie werden auch erfahren, dass das Ende der von ihnen geschaffenen Dinge ein solches ist, das sie nicht erwartet und nicht gewollt haben.”10

In dieser Rede Bebels sind drei Dinge von Wichtigkeit:

Erstens ist er nicht damit einverstanden, dem Dreibund, d. h. seinem “Vaterland” die Unterstützung im Kriege zu garantieren; zweitens hält er es nur dann für notwendig, am Krieg teilzunehmen, wenn Russland angreift, um Deutschland zu zersplittern und zu vernichten; drittens fällt in diesem Falle die Verantwortung auf die regierenden Kreise Deutschlands, die mit allen Folgen zu rechnen haben werden.

Mit diesen letzten Worten hatte Bebel dasselbe im Auge wie Engels, mit dem er sich in seiner Rede mehrfach solidarisch erklärte. Engels aber sagte offen: Wird Deutschland einen Krieg gegen Russland und das jetzt mit ihm verbündete Frankreich führen müssen, so muss es ein revolutionärer Krieg11 sein; die Arbeiter müssen in Deutschland die Republik errichten und diesen Krieg in den Beginn einer sozialistischen Revolution umwandeln. Engels prophezeite optimistischerweise, dass ein solcher Krieg, wenn einmal zur Wirklichkeit geworden, den Sieg des Sozialismus außerordentlich beschleunigen würde. Er glaubte damals, das müsste in 5—10 Jahren eintreten. “Nüchterne” Leute lachten Engels deswegen aus, Bebel aber erklärte in Erfurt stolz seine Solidarität mit Engels, und dass er ihm gerade im Hinblick auf diese Prophezeiung geschrieben habe: “Alter, Du und ich, wir sind die einzigen Jungen in unsrer Partei!”12

Von dieser Stellung der Frage bis zum deutschen Sozialchauvinismus und bis zum sozialchauvinistischen Programm v. Vollmars ist es sehr weit.

Bebel hat auch in späteren Jahren mehrfach geäußert. dass die deutschen Sozialdemokraten in einem Verteidigungskrieg ihr Vaterland verteidigen müssten. Aber — und das ist sehr wichtig — wenn er vom Verteidigungskrieg sprach, hatte Bebel stets ausschließlich einen Krieg gegen Russland im Auge. Noch 1907 auf dem Parteitag in Essen sagte Bebel, dem Führer der Opportunisten, David, entgegnend:

Genosse David hat, wie ich aus dem Bericht ersehe, bestritten, dass ich das Wort, ich sei bereit, noch in meinen alten Tagen die Flinte auf den Buckel zu nehmen, in Bezug auf einen Krieg gegen Russland gesagt hätte. Und doch habe ich es so gesagt und nicht anders. Vor zirka 7 Jahren führte ich aus, dass, wenn es zu einem Krieg gegen Russland käme, das ich als Feind aller Kultur und aller Unterdrückten nicht nur im eigenen Lande, sondern auch als den gefährlichsten Feind von Europa, speziell für uns Deutsche, ansehe, auf den sich in erster Linie die deutsche Reaktion stützt, dann sei ich alter Knabe noch bereit, die Flinte auf den Buckel zu nehmen und in den Krieg gegen Russland zu ziehen.”13 Diese Worte geben uns den Schlüssel zur ganzen Stellungnahme Bebels, sie erklären uns ihre Schwäche in der Frage des Verteidigungs- und Angriffskrieges.

In seiner deutschen Broschüre “Der Krieg und die Internationale” beschäftigt sich L. Trotzki mit der Frage, wie ein Mensch von so großem Verstand wie Bebel auch noch in neuester Zeit das Kriterium des Verteidigungskriegs in Schutz nehmen konnte, das jeden Sinn verloren hatte. Und Trotzki kommt zu der Schlussfolgerung dass Bebel selbst dieses Kriterium nicht ernst nahm, dass er es nur als pädagogisches Mittel, als “politische Drohung” gebrauchte. “Ihr rechnet im Kriegsfall auf die indirekte Unterstützung von Seiten der deutschen Sozialdemokratie? Wenn ihr die angreifende Partei sein werdet, so wird die deutsche Sozialdemokratie Hand in Hand mit ihrer Regierung gegen euch gehen.” So habe Bebel den Mächten der antideutschen Koalition gedroht. Der deutschen Regierung aber selbst habe er gesagt: “Nehmt euch in acht, ihr Herren, wenn ihr zuerst den Krieg hervorruft, dann werden wir gegen euch sein.” So soll die Taktik Bebels gewesen sein. Und auf diese Weise soll Bebel versucht haben, den ganzen Einfluss der deutschen Sozialdemokratie in die Wagschale des Friedens zu werfen.

Das ist die Erklärung Trotzkis.14 Unserer Ansicht nach kann die Erklärung kaum richtig sein. Die Sache erklärt sich viel einfacher. Ein Politiker wie Bebel konnte nicht viele Jahre hindurch öffentlich etwas behaupten, woran er selbst nicht glaubte. Nein, Bebel war auch in diesem Fall vollkommen aufrichtig. Ihm hat nur seine sehr verständliche Feindschaft gegen das zaristische Russland einen schlechten Streich gespielt.

Jahrzehnte hindurch haben Marx selbst und alle seine Freunde ständig behauptet, dass das zaristische Russland der schlimmste Feind der europäischen Demokratie sei und dass ein Krieg gegen Russland ein (nach Liebknechts Ausdruck) “gerechter” rechtmäßiger Verteidigungskrieg sein würde. Marx starb, als in Russland noch nicht einmal ein Anfang einer revolutionären Massenbewegung der Arbeiter vorhanden war. Und, was noch wichtiger ist, Marx starb, als die Epoche des europäischen Imperialismus in seiner neuesten Form eben gerade erst begonnen hatte. Darum hat er bis zu den letzten Tagen seines Lebens den früheren Standpunkt über den Krieg gegen Russland vertreten.

Durch sein Verhältnis zum “Verteidigungskrieg” gegen Russland blieb Bebel der alten revolutionären Tradition treu, die durch die neueste gesellschaftliche Entwicklung bereits überholt war. Er vergaß, dass Russland nicht mehr das gleiche war, und dass die internationale Lage Russlands sich geändert hatte. Er überlegte nicht, dass in der jetzigen imperialistischen Epoche ein Krieg gegen Russland auch den Krieg gegen Frankreich und England, vor allem aber — den Krieg für den Imperialismus Deutschlands und Österreichs bedeuten musste.

Aber trotz dieses Irrtums war Bebel weit entfernt vom Programm der heutigen Sozialchauvinisten. Wir haben gesehen, dass Bebel es selbst während des nationalen Krieges 1870/71, als es sich nicht um einen Kampf gegen Russland — diesen “schlimmsten Feind Europas” — handelte, in der Praxis verstanden hat, einen revolutionären Standpunkt zu wahren und keinerlei Zugeständnisse an den Chauvinismus zu machen. Die Richtigkeit seines (und Liebknechts) Verhaltens während des Krieges 1870/7t hat Bebel bis zu den letzten Tagen seines Lebens vertreten.

Das sozialchauvinistische Auftreten der Führer des deutschen Opportunismus in den neunziger Jahren. Schippel, Auer, Heine.

Einen ganz anderen Charakter trägt das Auftreten der deutschen Opportunisten seit den neunziger Jahren. Die Tradition des Verteidigungskrieges dient ihnen nur als Argument zur Begründung eines ganzen Programms des Sozialchauvinismus. Sie beuten diese alte Tradition geradezu aus im Interesse der opportunistischen Taktik.

Bebel hatte einmal die Unvorsichtigkeit, im Reichstag Reformen für die Neueinkleidung der deutschen Armee vorzuschlagen (den Ersatz heller Farben durch dunklere, die Abschaffung der Metallknöpfe usw.) Durch solche positive Arbeit auf diesem Gebiet reichte er den Opportunisten einen Finger. Aber diese versuchten sofort, seine ganze Hand zu ergreifen. Auf dem Hamburger Parteitag 1897 erklärte Max Schippel als Referent der Parlamentsfraktion:

Wir haben die Soldaten nicht bewilligt, aber sie sind einmal da … Das ist eine Tatsache, die uns sicherlich unangenehm ist, mit der wir aber rechnen müssen … Im Kriegsfall müssten “unsere” Soldaten gut bewaffnet sein, sonst würden es die deutschen Arbeiter “mit ihrem Blute zu büßen haben … Kann man die Kriege nicht verhindern, so kann man doch nicht unseren Soldaten schlechte Flinten, schlechte Kanonen geben.” (Gelächter und Zustimmung).15

Solche Schlussfolgerungen wies Bebel energisch zurück. In der “Neuen Zeit” schrieb er, er habe Reformen in der Uniformierung vorgeschlagen, um im Kriegsfall die Zahl der Toten zu vermindern, die anderen aber träten für gute Flinten und Kanonen ein, um die Zahl der Toten zu vergrößern. “Ersteres (Beschaffung dunkler Uniformen) können wir sogar von unserem Standpunkt aus beantragen, das letztere nie.”16

Aber Schippel stand nicht allein da. Die Opportunisten traten für ihn ein. Der Klügste von ihnen, Auer, versuchte Bebels und Liebknechts Zugeständnisse an die alte Tradition des Verteidigungskriegs auszunützen. Auf dem Hamburger Parteitag erklärte er:

Wir sind Gegner des Krieges, und doch … lässt sich … eine Möglichkeit denken, in der wir auch für den Krieg eintreten und ihn für absolut notwendig halten. Ich erinnere nur an die Äußerungen von Bebel und Liebknecht im Reichstage über die Möglichkeit, dass es dazu kommen kann, gegen den Feind ans dem Osten, gegen die Barbarei, gegen den russischen Zarismus und seine Eroberungsgelüste in den Krieg einzutreten ... Wollen Sie denn, dass dieser Krieg eventuell geführt werden soll mit Kanonen, die von allen übrigen Staaten, Russland mit eingeschlossen, längst überholt sind?” Man könne doch die Soldaten nicht mit Stöcken in der Hand ins Feld schicken.17

Gestützt auf den Hass der revolutionären deutschen Proletarier gegen den russischen Zarismus, führen die opportunistischen Politiker und Führer ein rein bürgerliches, sozialchauvinistisches Programm durch: Ihr hasst den russischen Zarismus? Nun gut. Dann gebt der Hohenzollernmonarchie gute Flinten und Kanonen. Wie werdet ihr sonst einen “Verteidigungskrieg” führen können?

Das ist keine zufällige Äußerung der Opportunisten, sondern ein wichtiges Glied in der Kette ihrer Taktik. Die “Vaterlandsverteidigung” ist eine Folgeerscheinung ihrer ganzen Weltanschauung, ihres ganzen Verhältnisses zur Bourgeoisie. Die Bewilligung der Kriegskredite betrachten sie als vollkommen rechtmäßig, und es geht ihnen nur um bestimmte politische Kompensationen. Es entsteht ein ganzes Programm des “do ut des” (ich gebe, damit du gibst). Derselbe Auer äußerte sich kurz nach dem Hamburger Parteitag in einer Wahlversammlung in Hannover am 9. Februar 1898, bei der gegebenen Sachlage könne man auf den ablehnenden Standpunkt nicht verzichten. Der heutigen oder einer anderen Regierung könne man überhaupt nichts bewilligen, solange man nicht “als gleichberechtigter Faktor im parlamentarischen und öffentlichen Leben anerkannt” werde. “Wird die Arbeiterklasse aber als gleichberechtigt anerkannt, so … ist es sehr wohl möglich, dass wir von dem Tage an, wo man die Arbeiter als gleichberechtigten Faktor ansieht, auch mit uns reden lassen über Flottenfragen.”18

Und der bekannte — jetzt besonders berühmt gewordene — Opportunist Wolfgang Heine erklärte direkt: “Kanonen für Reformen”! Macht uns politische Zugeständnisse, und wir gehen euch Kanonen (d. h. wir werden für sie stimmen). In der Berliner Wahlversammlung am 10. Februar 1898 hielt Heine eine Rede, die eine traurige Berühmtheit erlangt hat. Er sagte, er sehe im Stimmen gegen die Kriegskredite keine Frage des Prinzips und sei der Ansicht, dass die Zeit kommen werde, in der die Partei als Entgelt für politische Zugeständnisse für die Kredite werde stimmen können. Und man möge ihm nicht sagen, dass das Opportunismus sei. Nein, “die Politik der Kompensationen” sei vollkommen zulässig und liege im Interesse der Arbeiterklasse.

So nutzten die Opportunisten das Schwanken der Marxisten in der Frage des Verteidigungskriegs im Interesse der Verteidigung des bürgerlichen Standpunkts aus. Für sie war das ein einheitliches opportunistisches und sozialchauvinistisches Programm. Aber diesen Herren wurde doch ein Widerstand entgegengesetzt. Die Partei als Ganzes billigte die “Theorien” Schippels, v. Vollmars, Auers und Heines nicht. lm Gegenteil: in Erfurt wurde 1891 eine Resolution gegen die von Vollmar vorgeschlagenen Neuerungen angenommen, auf dem Parteitag zu Hannover aber wurde Schippel für seine Artikel über den Militarismus direkt verurteilt, da der Parteitag in ihnen einen “Verzicht auf den sozialistischen Standpunkt” erblickte.19

Die Herren David haben vollkommen Recht, wenn sie behaupten, dass sie und ihre Gesinnungsgenossen — v. Vollmar, Schippel, Heine & Co. — stets im allgemeinen dasselbe gesagt hätten, was sie jetzt vertreten, dass sie schon in den neunziger Jahren im Sinne des Sozialchauvinismus aufgetreten seien. Aber sie lassen sich eine kleine Schiebung zuschulden kommen, wenn sie behaupten, dass auch Bebel und Liebknecht “dasselbe” gesagt haben, wenn sie versichern, dass die Partei in ihrer Mehrheit stets die Politik verfolgt habe, die die Herren Scheidemann und David jetzt, während des Weltkriegs, durchführen.

Paul Singer, Rosa Luxemburg und Georg Ledebour.

Die Ideologie des “Verteidigungskriegs” spielt auch weiter in der deutschen Sozialdemokratie eine große Rolle. Aber je größer der Raum war, den der Imperialismus auf der politischen Schaubühne beanspruchte, je mehr die militärischen Zusammenstöße einen rein imperialistischen Charakter annahmen, um so stärker wurden die Stimmen gegen dieses alte traditionelle Kriterium. Besonders seitdem Deutschland selbst die imperialistische Politik einer Großmacht zu treiben begann.

Es wurde zu klar, dass von fortschrittlichen “gerechten” Kriegen von Seiten der europäischen Mächte keine Rede mehr sein könne, dass es sich hier um ein Wetteifern der Finanzcliquen untereinander, um einen Kampf um die Verteilung der Welt und um die Aufteilung der Beute handelte.

Charakteristisch sind die Debatten auf dem Parteitag in Mainz im Jahre 1900. Das war nach der Besitzergreifung von Kiautschou und während des Burenkriegs. Einen besonderen Punkt der Tagesordnung des Parteitags bildete die “Weltpolitik”. Als Referent hatte Wilhelm Liebknecht auftreten sollen, aber er war kurz vorher gestorben, und so referierte Paul Singer. Er hielt eine kampfesfreudige Rede gegen den Imperialismus und verteidigte den revolutionären Standpunkt. Man versuche, sagte er (und in einer prinzipiellen Rede zu dieser Frage sagte Schoenlanck dasselbe), den imperialistischen Zusammenstößen den Standpunkt der Verteidigung zu unterschieben. Alle räuberischen Überfälle der Imperialisten begännen gewöhnlich so, dass man durch tierische Behandlung die eingeborene Bevölkerung soweit bringe, dass sie mit irgendeinem Kerl — einem deutschen oder englischen Offizier — abrechnet. Und dann schreie man, man müsse den “Wilden” eine Lehre geben, man müsse die Kultur schützen … “Im Namen der Zivilisation raubt man den Leuten ihr Land. Im Namen der Zivilisation geht man, in der einen Hand die Bibel, in der anderen die Flinte, nach fernen Ländern.”20

Die deutsch-chinesische Kriegspolitik”, erklärt die Resolution des Parteitags, “…beruht außer auf der allgemeinen Profitwut der Bourgeoisie auf militärischer Ruhmsucht und der chauvinistischen und ehrgeizigen Leidenschaft, ein “größeres Deutschland” zu schaffen21. Die Resolution wurde einstimmig angenommen.22 Offene Verteidiger für das auf imperialistische Kriege angewandte Kriterium des Verteidigungskriegs fanden sich nicht. Dafür aber gab es auf dem Parteitag eine außerordentlich charakteristische Kritik von links. Besonders bemerkenswert waren die Reden von Rosa Luxemburg und Ledebour. Rosa Luxemburg kritisierte scharf die Untätigkeit der Parteiführer während der Experimente des deutschen Imperialismus in China. “Wir wettern jeden Tag gegen die Weltpolitik, wir donnern gegen den Militarismus in Friedenszeiten; wo es aber einmal wirklich zum Krieg kommt, unterlassen wir es, das Fazit zu ziehen und zu zeigen, dass unsere jahrelange Agitation auch wirklich in die Halme geschossen ist.”23

Gleichzeitig wirft sie einige Bemerkungen hin über die beginnende Epoche. Sie spricht von der imperialistischen Politik als von “Ereignissen, die einen Wendepunkt in der Geschichte des kapitalistischen Europa bilden”. Die “größten weltgeschichtlichen Vorgänge” spielen sich ab, es handelt sich um einen “blutigen Krieg des vereinigten kapitalistischen Europa gegen Asien”. Wenn die Partei “auf den offiziellen und nichtoffiziellen Chauvinismus” Rücksicht nähme, wäre das verhängnisvoll für die Bewegung.24

Ledebour weist darauf hin, dass “dieselbe imperialistische Raubpolitik von den verschiedensten Staaten des Kapitalismus geführt wird, … dass wir es mit welthistorischen Erscheinungen im letzten Stadium des Kapitalismus zu tun haben”. Und schon damals — vor 15 Jahren — beschuldigt er die Opportunisten offen, dass sie von imperialistischer Ideologie angesteckt seien. “Wir haben leider bei dieser Bekämpfung der imperialistischen Seuche in der bürgerlichen Gesellschaft sogar damit zu rechnen, dass bereits einzelne Leute in unseren Reihen davon angekränkelt sind. Wir haben es erlebt, dass in … den “Sozialistischen Monatsheften”, von dem Genossen Bernstein dieser imperialistischen Kolonialpolitik das Wort geredet wird … Die “Frankfurter Zeitung” fügt hinzu: “Und dieser Mann lebt in Verbannung in London, während er doch nahezu reif ist, in unser deutsches Auswärtiges Amt einzutreten!”25

Wie dem auch sei, im Jahre 1900 haben die Sozialchauvinisten in der deutschen Partei es nicht gewagt, dem Parteitag ein direktes sozialchauvinistisches Programm vorzuschlagen. Die in Mainz angenommene Resolution brandmarkt den Imperialismus in schärfsten Ausdrücken. Sie spricht nur davon, wie man gegen die imperialistischen Kriege kämpfen muss, sie weist darauf hin, dass die internationale Solidarität der Arbeiter das beste Mittel hierfür sei. Keinen Moment lässt sie den Gedanken zu, dass man an diese Kriege mit dem Maßstab der Defensive und Offensive, mit dem Kriterium des fortschrittlichen, “gerechten”, des “Verteidigungskrieges” herantreten könne. Und für keinen Moment gestattet sie die Annahme, dass es sich mit dem Programm der sozialdemokratischen Partei vereinigen ließe, solche Kriege zu unterstützen, für die Bewilligung der Kriegskredite zu stimmen usw.

Der Herero-Aufstand.

Das bedeutet nicht, dass in der deutschen Sozialdemokratie in Bezug auf imperialistische Kriege kein Schwanken vorhanden war. Im Gegenteil, ein solches Schwanken war da. Und es führte zu sehr bösen Konsequenzen. Es wurden Fehler gemacht, die zu den traurigsten Überlegungen Anlass gaben. Ein Beispiel: das Verhalten der deutschen Sozialdemokraten während des Hereroaufstands.

Die Kolonialvölker, die lange Jahre hindurch das ihnen durch die imperialistischen Regierungen auferlegte Joch tragen müssen, gehen oft mit den von den Metropolen entsandten Truppen und Beamten nicht gerade freundlich um. Sie fassen sie oft nicht mit Glacéhandschuhen an. In solchen Fällen erheben die Imperialisten und ihre Lakaien ein Geschrei über ganz Europa, dass man sie beleidigt, sie überfallen habe, dass sie sich für die unschuldigen Opfer rächen müssten und gezwungen seien, einen Verteidigungskrieg zu führen.

Die Sozialisten, die formell das Kriterium des Verteidigungskriegs anwenden wollten, müssten in solchen Fällen für ihre Regierungen gegen die Eingeborenen eintreten. Das Schwanken in dieser Frage hat die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1904, während des Aufstands der Hereros in eine sehr zweideutige Lage gebracht. Als die Kunde von den “Niederträchtigkeiten” der Aufständischen nach Deutschland kam, da erklärten die deutschen Imperialisten wie immer, dass man sie ohne jede Schuld ihrerseits überfallen habe, dass sie gezwungen seien, sich zu verteidigen usw., und zu diesem Zweck verlangten sie vom Reichstag Kredite für die Expedition einer neuen Armee nach Afrika. Alle Grundbesitzer und Bourgeois traten natürlich voll und ganz dafür ein und bewilligten die Kredite. Und die sozialdemokratischen Abgeordneten? Sie — enthielten sich der Stimme. Warum? Weil sie noch nicht wussten, wer zuerst angefangen hatte, wer der Urheber des Aufstands war.

Die Stimmenthaltung der sozialdemokratischen Abgeordneten hat unter den Arbeitern große Empörung hervorgerufen. Auf dem Parteitag in Bremen 1904 verteidigte Bebel das Verhalten der Parlamentsfraktion mit folgenden Worten:

Wir hatten sehr scharfe Debatten. Schließlich hat sich die Mehrheit, und darunter war ich, für die Stimmenthaltung ausgesprochen. Warum? — Weil in der Periode, wo die Sache zur Verhandlung stand, wirklich erwiesene Tatsachen über die Ursachen des Aufstands noch nicht vorlagen. In Volksversammlungen, wo man keine direkte Verantwortung zu tragen hat, kann ein Redner leicht auftreten und kurzerhand sagen: wir dürfen die Forderung unter keinen Umständen bewilligen. Aber als Volksvertreter habe ich zu prüfen, wie das vorhandene Material auf meine Entschließung einzuwirken hat. Deshalb habe ich namens der Fraktion dem Sinne nach erklärt: Wir haben große Befürchtung, dass durch Eure Politik in Südwest-Afrika der Aufstand hervorgerufen wurde, aber wir haben in diesem Augenblick noch nicht diese Beweise, und weil wir andrerseits auch nicht glauben können, dass die Schuld nur auf der Gegenseite liegt, wie Ihr es darstellt, enthalten wir uns vorläufig der Abstimmung, werden aber, falls unsere Befürchtung, dass durch Eure Politik der Aufstand verursacht war, sich rechtfertigt, gegen die Forderung stimmen. Als dann bei der dritten Lesung des Etats das Material vorlag, das bewies, was wir von Anfang an befürchtet hatten, haben wir die Kredite abgelehnt.”26

Der Leser sieht, dass selbst Bebel die hoffnungslos ungerechte Sache nicht irgendwie befriedigend zu verteidigen vermochte. Dass die sozialdemokratischen Abgeordneten bei der dritten Lesung gegen die Kredite stimmten, war natürlich gut und richtig. Aber dass sie sich bei den ersten beiden Lesungen der Stimme enthielten, war ein nicht zu verzeihender Fehler. Was der unmittelbare Anlass zum Kampf der Hereros gegen die deutschen Imperialisten auch gewesen sein mag, die Gerechtigkeit konnte nicht auf Seiten der letzteren sein: denn sie waren die Unterdrücker, sie die Sklavenhalter. Die Stimmenthaltung der Partei der Lohnarbeiter, wo es sich um den Kampf der Sklaven gegen ihre Sklavenhalter handelt, ist ein Verbrechen. Sich hier auf das formelle Kriterium der Defensive und Offensive zu berufen — das bedeutet, den Imperialisten einen treuen Dienst leisten.

Zum hundertsten Mal hat der Fall des Hereroaufstands gezeigt, Wie unmöglich es für Sozialisten ist, sich in der imperialistischen Epoche dieses Kriteriums zu bedienen.

Der Parteitag in Essen. Die Rede Kautskys. DerFallNoske

Besonders wichtig waren die Debatten über diese Frage auf dem Parteitag in Essen im Jahre 1907. Erstens fand er unmittelbar nach dem Internationalen Kongress in Stuttgart statt, wo um diese Fragen eben erst heiße Debatten im internationalen Maßstab entbrannt waren. Zweitens hatte sich kurz vorher der so genannte “Fall” Noske abgespielt.

Der Abgeordnete Noske, ein überzeugter Opportunist, trat im Reichstag mit einer Programmrede auf, in der er erklärte, dass die deutsche Sozialdemokratie in jedem Verteidigungskrieg auf Seiten “ihrer” Regierung stehen und das “Vaterland” nicht dem Schicksal überlassen dürfe. Die Bourgeoisie nahm diese Rede mit sichtlichem Vergnügen auf. Aber in den breiten Parteikreisen rief sie einen Sturm der Entrüstung hervor. Alle einflussreichen marxistischen Zeitungen schlugen Alarm. In Versammlungen wurden Resolutionen gegen Noske angenommen.

Der Essener Parteitag beschäftigte sich mit dieser Frage. Alle Opportunisten, v. Vollmar, David & Co., versuchten, sich der beliebten opportunistischen Methode zu bedienen: Noske habe ja nur “das gleiche” gesagt, was seinerzeit Bebel und Liebknecht mehrfach geäußert hätten.

Die übergroße Mehrheit der Redner, mit Ausnahme der Opportunisten, verhöhnte diesen Versuch Davids, Noskes & Co. Als aber die letzteren bei der “Verteidigungsformel” zu beharren versuchten und weiter behaupteten, die Partei habe stets auf dem Standpunkt gestanden, dass sie im Verteidigungskrieg für ihr Vaterland eintreten müsse, da traf Kautsky den Nagel auf den Kopf, indem er die “Theorie” der Verteidigungskriege selbst einer Kritik unterzog.

Kautsky befand sich damals noch .nicht auf dem Wege zum Opportunismus. Im Gegenteil. In den Jahren 1907 bis 1909 nahm er mehr denn je eine revolutionär-marxistische Stellung ein. Auf dem Essener Parteitag hatte Kautsky das volle moralische Recht, im Namen aller Marxisten zu sprechen.

Die Rede Kautskys ist von so großer Wichtigkeit, sie steht in so krassem Gegensatz zum heutigen Renegatentum des deutschen sozialdemokratischen “Zentrums”, und insbesondere Kautskys selbst, dass wir sie hier vollständig, Wort für Wort, zitieren wollen. Die Rede lautete:

Meiner Ansicht nach können wir uns nicht darauf festlegen, jedes Mal, wenn wir überzeugt sind, dass ein Angriffskrieg droht, die Kriegsbegeisterung der Regierungen zu teilen. Bebel meint allerdings, wir seien heut schon viel weiter als 1870, wir könnten heute schon in jedem Fall genau unterscheiden, ob ein wirklicher oder ein vermeintlicher Angriffskrieg vorliegt. Ich könnte diese Verantwortung nicht auf mich nehmen. Ich könnte nicht die Garantie übernehmen, dass wir in jedem Fall schon eine solche Unterscheidung genau treffen können, dass wir stets wissen werden, ob eine Regierung uns hinters Licht führt, oder ob sie wirklich die Interessen der Nation gegenüber einem Angriffskrieg vertritt. (Sehr richtig!) Aber abgesehen davon, frage ich, ob denn unter allen Umständen die Sozialdemokratie jedes Landes verpflichtet ist, in einem wirklichen Angriffskrieg mitzumachen. Wenn z. B. Japan Russland angegriffen hatte, waren da die russischen Sozialdemokraten zur Verteidigung ihrer Nationalität gezwungen, die Regierung zu unterstützen? Sicherlich nicht! (Zustimmung). Wir haben uns nicht von dem Gesichtspunkt leiten zu lassen, ob Angriffskrieg oder Verteidigungskrieg, sondern oh ein demokratisches oder proletarisches Interesse in Gefahr ist. Denken wir z. B. an Marokko. Gestern war die deutsche Regierung aggressiv, morgen ist es die französische, und wir können nicht wissen, ob es übermorgen nicht die englische ist. Das wechselt fortwährend. Marokko aber ist niemals das Blut eines einzigen Proletariers wert. Wenn ein Krieg um Marokko ausbricht, müssten wir ihn entschieden ablehnen, auch wenn wir die Angegriffenen wären. (Sehr richtig!) In Wirklichkeit handelt es sich im Falle eines Krieges für uns nicht um eine nationale, sondern um eine internationale Frage; denn ein Krieg zwischen Großstaaten wird zum Weltkrieg, er berührt ganz Europa und nicht bloß zwei Länder allein. Die deutsche Regierung könnte aber auch eines Tages den deutschen Proletariern weismachen, dass sie die Angegriffenen seien, die französische Regierung könnte das gleiche den Franzosen weismachen, und wir hätten dann einen Krieg, in dem deutsche und französische Proletarier mit gleicher Begeisterung ihren Regierungen nachgehen und sich gegenseitig morden und die Hälse abschneiden. Das muss verhütet werden, und das wird verhütet, wenn wir nicht das Kriterium des Angriffskrieges anlegen, sondern das der proletarischen Interessen, die gleichzeitig internationale Interessen sind. Denken wir an den deutsch-französischen Krieg! Es war damals ein proletarisches Interesse, dass das Kaisertum nicht die Republik demütige, und dass den Bewohnern von Elsass-Lothringen die Angehörigkeit zu einem Staat nicht aufgedrängt werde nach dem Recht der Eroberer, sondern nach dem Selbstbestimmungsrecht. Die Demokratie musste verlangen, dass die Elsass-Lothringer selbst entscheiden, wozu sie gehören wollen. Unsere Genossen in Deutschland haben damals dementsprechend gehandelt im Einvernehmen mit der gesamten Internationale, es war nicht eine deutsche oder französische, sondern eine internationale Angelegenheit. Und es ist eines der größten Ruhmesblätter von Bebel, dass er sich damals nicht auf die patriotische Seite gestellt hat, sondern auf die Seite, die ihm das proletarische, das internationale Interesse gebot. (Zuruf: Wird wohl immer so sein.) Glücklicherweise ist es ein Missverständnis, als ob die deutsche Sozialdemokratie im Kriegsfalle nach nationalen und nicht nach internationalen Gesichtspunkten urteilen wollte, dass sie sich in erster Linie als Deutsche und in zweiter Linie als proletarische Partei fühlte. Die deutschen Proletarier sind solidarisch mit den französischen Proletariern und nicht eins mit den deutschen Scharfmachern und Junkern. (Sehr richtig!) Wenn wir nach diesen Gesichtspunkten handeln, werden wir stets leicht darüber klar werden, wie wir der Kriegsgefahr gegenüber handeln sollen. Das kann heute nicht in allen Einzelheiten festgestellt werden, wir müssen uns in der Auswahl der Mittel freie Hand lassen, ohne eines dabei von vornherein auszuschalten. Aber was wir Deutschen nicht für uns allein entscheiden können, das ist die Frage: welche Stellung wir einem bestimmten Kriege gegenüber einnehmen sollen, das ist eine internationale Frage. Stuttgart hat bewiesen, dass die deutsche Sozialdemokratie in diesem Sinne handeln will, das ist die weltgeschichtliche Bedeutung des Stuttgarter Kongresses, und ich glaube, auch die heutigen Verhandlungen haben bewiesen, dass das deutsche Proletariat im gleichen Sinne handeln will und dass es, was auch kommt, seinen Mann stellen wird.” (Beifall.)27

Kautsky hat als Beispiel den russisch-japanischen Krieg und Marokko angeführt. Er hätte natürlich noch viele andere Beispiele aus dem Gebiet der imperialistischen Konflikte zitieren können. Die Quintessenz seiner Ansichten ist klar: in der imperialistischen Epoche kann von einem Kriterium des Verteidigungskriegs nicht die Rede sein. Heute greift eine imperialistische Clique an und die andere verteidigt sich, morgen umgekehrt. Alle Beziehungen sind aufs innigste miteinander verfochten. Im Verhältnis zum Imperialismus kann es nur eine Losung geben: Internationalismus, internationalistischer Kampf der Proletarier eines jeden Landes gegen “ihre” Bourgeoisie und “ihre” Regierung.

Auf die Rede Kautskys antwortete Bebel mit einigen scherzenden Worten, mit denen er die Meinungsverschiedenheiten zu mildern suchte. Auf das Wesen der Frage ging er mit folgenden wenigen Worten ein: “Zweifellos sind die Japaner die Angreifer gewesen, wir haben uns darüber gefreut, wir haben ihnen den Sieg gewünscht und unseren russischen Freunden gar nicht zugemutet, den Angriffskrieg mit einem Gegenschlag zu beantworten. (Zuruf: Na also! — Heiterkeit.) Das zweite Beispiel von Kautsky war Marokko. Ich weiß nicht, wie er aus Marokko die Möglichkeit eines Angriffskrieges gegen Deutschland herzuleiten vermag.”28

Kautsky dachte damals gar nicht daran, aus Marokko oder einem anderen imperialistischen Konflikt den Fall eines “Verteidigungskriegs” abzuleiten. Die offizielle deutsche Sozialdemokratie jedoch hat es jetzt fertig gebracht, den Krieg, der aus rein imperialistischen Konflikten entstanden ist, zu einem nationalen “Verteidigungskrieg” zu erklären. Sie hat aus einem rein imperialistischen Zusammenstoß einen Angriffskrieg gegen Deutschland abgeleitet. Und erst jetzt ist es absolut klar geworden, dass die Theorie der Verteidigungskriege heute, in der neuen Epoche, nur der Bourgeoisie, nur den Imperialisten und ihren Handlangern aus dem sozialchauvinistischen Lager einen guten Dienst leisten kann. Einen bestimmten Beschluss hat die Partei in Essen nicht gefasst. Sie hat nicht klar gesagt, wer Recht hatte. Kautsky oder David und Noske. Jetzt hat es sich herausgestellt, dass Noske und David in Wirklichkeit die Führer der Partei sind und selbst Kautsky hat sich von seinen früheren sozialistischen Ansichten abgewandt und sie durch ein Gemisch von Sozialpazifismus und Sozialchauvinismus ersetzt.

Um den Marokkokonflikt.

Nach 1907 standen die Fragen von Krieg und Imperialismus noch zweimal auf der Tagesordnung. Und beide Mal wurden sie — wenigstens auf dem Papier — im Sinne der revolutionären Sozialdemokratie gelöst.

August Bebel trat in den letzten Jahren seines Lebens gegen den linken Flügel der Sozialdemokratie auf, der die nahende Gefahr des Krieges vollkommen klar sah, die neue imperialistische Epoche richtig beurteilte und die Partei aufforderte, zur revolutionären Taktik der Massenaktion, zur Propaganda und Vorbereitung des Massenstreiks überzugehen. Aber Bebel war doch ein zu ehrlicher Demokrat, ein zum aufrichtiger Feind der Bourgeoisie, um noch umlernen zu können. Er zog zwar die letzten politischen Schlussfolgerungen nicht, aber er richtete doch die Parteitätigkeit gegen den Imperialismus, er bemühte sich, aus der Partei eine überzeugte und entschlossene Gegnerin des Imperialismus zu machen.

Wir sind jetzt in einer Zeit, wo wir uns auf faule Kompromisse nicht einlassen dürfen. Wir marschieren sehr, sehr ernsten Zeiten entgegen. Was kommt nach den nächsten Wahlen? Das wollen wir abwarten. Wenn es gar dazu kommt, dass 1912 ein europäisches Kriegsgewitter losbricht, dann sollt ihr sehen, was wir erleben und wo wir zu stehen haben. Sicherlich ganz wo anders als man jetzt in Baden steht!”29

So sprach Bebel 1910 auf dem Magdeburger Parteitag, wo er einen entschlossenen Kampf gegen die badischen Opportunisten (Frank u. a.) führte, die für das Budget gestimmt und sich somit, nach Bebels Worten, auf den Boden des Nationalliberalismus gestellt hatten.

Und Bebel, den oben angeführten Worten treu, hat viel dazu beigetragen, dass die Partei auf den Parteitagen in Jena (1911) und Bremen (1912) in der Frage des Imperialismus einen entschieden revolutionären Standpunkt einnahm.

Im Juli 1911 trat der Marokkokonflikt in seine akuteste Phase. Das demonstrative Absenden des deutschen Kreuzers “Panther” nach Agadir rief den Eindruck hervor, als sei Deutschland bereit, einen Krieg zu beginnen. Die französischen Imperialisten verlangten ihrerseits “energische” Maßnahmen. Asquith und Lloyd George hielten kriegerische Reden. Die spanische Regierung begann in herausfordernder Weise gegen Frankreich aufzutreten, wobei sie unter Deutschlands Einfluss handelte. Die Luft roch nach Pulver.

Da berief das Internationale Sozialistische Büro eine außerordentliche Sitzung ein, um über die Lage zu beraten und Maßnahmen zum ergreifen. Alle Parteien waren einverstanden mit Ausnahme der — deutschen Sozialdemokratie. Im Zusammenhang mit diesem Zwischenfall traten innerhalb dieser Partei außerordentlich charakteristische Stimmungen zutage.

Auf den Vorschlag des Internationalen Sozialistischen Büros antwortete als erster Molkenbuhr, einer der Vertreter der Partei im Büro und altes Mitglied des Parteivorstands. Er schlug vor, die geplante Sitzung “vorläufig” zu verschieben.

Warum?

Hier beginnt eben das Interessante. Er, Molkenbuhr, glaube nicht recht, dass die deutsche Regierung jetzt den Krieg wünsche. Wenn aber die Sitzung des Internationalen Büros jetzt stattfände, wenn die deutsche Sozialdemokratie an dieser Demonstration gegen den Krieg teilnehmen, dann — ja dann würden Regierung und Bourgeoisie in den bevorstehenden Parlamentswahlen diese Tatsachen gegen die Partei ausnutzen. Sie würden die deutsche Sozialdemokratie des Mangels an Patriotismus bezichtigen, und das würde ein gutes Mittel sein, um die Wählermassen gegen die Sozialdemokratie aufzuhetzen.

Unsere Regierung ... greift also zu dem beliebten Mittel wie Bismarck 1887 mit Boulanger und Bülow 1906 mit den Hottentotten”, schreibt Molkenbuhr.30

Molkenbuhr hat so die geheimsten Gedanken der deutschen sozialdemokratischen Parlamentarier aufgedeckt. Seit den Wahlniederlagen 1887 und 1907 fürchtet die deutsche Sozialdemokratie nichts so sehr, wie ihren “Anti-Patriotismus” zu sehr zur Schau zu tragen. Die Jagd nach kleinbürgerlichen Mitläufern bei den Wahlen ist der verhängnisvolle Fehler der deutschen sozialdemokratischen “Praktiker”. Da sie aus Erfahrung wissen, dass der Gegner die Sozialdemokratie in den Augen dieser Wählerschichten durch nichts so kompromittieren kann wie durch den Vorwurf des mangelnden Patriotismus, gehen diese Praktiker den Weg des geringsten Widerstandes. “Wir Sozialdemokraten sind die besten Patrioten”, — das ist gewöhnlich ihre Antwort auf solche Beschuldigungen. Anstatt des langwierigen prinzipiellen Kampfs gegen die Grundlagen des “Patriotismus”, wetteifern sie mit den bürgerlichen Parteien im “Patriotismus”, und nehmen so den Kampf auf einem gänzlich unzulässigen Gebiet auf.

Würden wir uns vorzeitig so stark engagieren und selbst die Fragen der inneren Politik hinter die Marokkofrage zurückstellen, so dass daraus eine wirksame Wahlparole gegen uns geschmiedet werden könnte, dann sind die Folgen nicht abzusehen. Denn in Sozialistenhass und Sozialistenfurcht bleiben Krupp und Thyssen nicht hinter Bethmann-Hollweg zurück. Für uns ist es ein Lebensinteresse, die inneren Vorgänge: Steuerpolitik, Agrarier-Privilegien, Versicherungsordnung usw., nicht in der Diskussion zurückdrängen zu lassen. Das könnte aber geschehen, wenn wir selbst in jedem Dorfe über die Marokkofrage reden und damit die Gegenströmung fördern würden.”31

In diesen Worten Molkenbuhrs, des typischen Vertreters des deutschen ‚.Durchschnittssozialdemokraten”, — ist die ganze Politik des praktischen Opportunismus der deutschen Sozialdemokratie enthalten.

Der Konflikt um Marokko droht den Brand des europäischen Krieges zu entfachen. Die lebenswichtigsten Interessen des Weltproletariats stehen auf dem Spiel. Die deutschen Sozialdemokraten aber fürchten sich, “in jedem Dorf über Marokko zu sprechen”, damit ihnen die Bourgeoisie nicht einige Sitze im Reichstag wegschnappt, indem sie die patriotischen Vorurteile der zurückgebliebenen Schichten gegen sie ausnutzt! Aus dieser Erwägung heraus ziehen sie es vor, in solch einem Moment “in jedem Dorf” über Marokko zu schweigen, und diese Schichten in ihren ‚‚patriotischen‘‘ Vorurteilen zum belassen. Und — mehr als das! — aus solchen Erwägungen heraus stören sie die internationale Aktion des europäischen sozialistischen Proletariats.

Der linke Flügel der deutschen Sozialdemokratie mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht u. a. an der Spitze griff deswegen den Parteivorstand in heftigster Weise an. Rosa Luxemburg war die erste, die den “Privatbrief” Molkenbuhrs veröffentlichte, der die angeführten Stellen enthielt. Aus diesem Anlass spielten sich auf dem Parteitag in Jena stürmische Debatten ab. Der Parteivorstand kehrte sehr geschickt die Waffe gegen Rosa Luxemburg, der vorgeworfen wurde, in “unzulässiger” Weise “Privatbriefe” veröffentlicht zu haben. Leider hielt es Bebel für nötig, dabei ebenfalls mit Hand anzulegen. Aber jedenfalls lehnte er öffentlich jede prinzipielle Solidarität mit Molkenbuhr ab: er, Bebel, sei im Wesen der Frage andrer Meinung, Molkenbuhr habe nicht die Ansicht des Vorstands, sondern seine Privatmeinung zum Ausdruck gebracht.

Der ganze Zwischenfall trug den Charakter einer ernsten Warnung vor der deutschen Sozialdemokratie. Etwas stimmt doch nicht — sagten sich die aufrichtigen Internationalisten.

Der Jenaer Parteitag.

Aber auf demselben Jenaer Parteitag stand auch die Marokkofrage prinzipiell auf der Tagesordnung. Und sie wurde im Sinne des entschiedenen Kampfs gegen den Imperialismus entschieden.

In der von Bebel vorgeschlagenen und einstimmig angenommenen Resolution wurde zum Ausdruck gebracht, dass ein Krieg zwischen Frankreich, England und Deutschland unvermeidlich zu einem Weltkrieg werden und mit einer allgemeinen Katastrophe enden müsse. Die Politik der deutschen Imperialisten, die von der Ehre und den Interessen der Nation sprechen, wird als Fälschung und schamlose Heuchelei bezeichnet. Am Krieg seien nur Kolonialpiraten und Chauvinisten interessiert, für die der Krieg Gewerbe sei; interessiert seien ferner Industrielle und Kriegslieferanten, die während des Krieges Milliardenprofite in die Tasche stecken würden. Der Parteitag fordere auf, gegen die Machinationen der Imperialisten zu kämpfen, er erwarte, dass insbesondere die deutsche Arbeiterklasse jedes mögliche Mittel anwenden werde, um einen Weltkrieg zu verhindern.32

Von der “Vaterlandsverteidigung” ist in dieser Resolution kein Wort enthalten.

In seinem Referat zur Marokkofrage geißelte Bebel auf demselben Parteitag den Imperialismus in den heftigsten Ausdrücken. Er nennt ihn eine Politik des Raubes, des Blutes, des Schmutzes, des Verbrechens. “Das stärkste, was man sich an Barbareien erlaubt hat, ist bekanntlich im südafrikanischen Aufstand vorgekommen‘‘, sagte Bebel. “Dass das unterdrückte, ausgebeutete, geknechtete Volk zur Empörung griff, war sein gutes Recht, Es war ihr Heimatland, ihr Vaterland. das die Hereros gegen die fremden Eroberer zu verteidigten suchten, und was man uns als die höchste Ehre anpreist, die Verteidigung des Vaterlandes, das wurde jenen als Verbrechen angerechnet.”33

Wenn es zum Kriege kommen sollte, so würde ich vorschlagen, dass aus diesen Kriegshetzern eine Brigade gebildet wird mit dem Titel ‚Brigade zur Rettung der Ehre des Vaterlandes‘ … Diese müssten zunächst in die Schlacht: die hetzenden Redakteure und Abgeordneten, die hetzenden Großindustriellen, kurz, alle jene, die an der Kriegshetze beteiligt sind. Diese müssten in der Schlacht vorausgeschickt werden, um mit ihren, meist ziemlich korpulenten Leibern zur Ehre des Vaterlandes das Feld zu decken…

Schon 1904 habe ich dem Reichskanzler Fürst Bülow gesagt, wenn ein großer Krieg kommt, steht die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Spiele (stürmische Zustimmung) … Sie allein (die Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft) tragen die Verantwortung für all das ungeheure Elend und die schrecklichen Folgen eines solchen Krieges.”34

So sprach Bebel, der mit Meisterhand ein Bild der unerträglichen Lage entwarf, die der Imperialismus auf seinem Vormarsch schafft.

Aber in dem glänzenden Referat Bebels war eine Stelle, die schon damals zu Zweifeln Anlass gab, und an die sich die Opportunisten, die künftigen Sozialchauvinisten, sehr bald und sehr fest klammerten. Er sagte: “Das eine glaube ich aber in erster Linie postulieren zu müssen: wir Sozialdemokraten, die wir der ganzen Marokkopolitik der deutschen Regierung ... feindlich gegenüberstehen und, wie sie jetzt betrieben wird, feindlich gegenüberstehen müssen, wir haben das natürliche Verlangen, dass Deutschlands Handel und Deutschlands industrielle Entwicklung unter den gleichen Bedingungen in Marokko sich vollziehen können, wie die jedes anderen Staates, dass also alle Staaten unter voller Gleichberechtigung in Marokko ihre Interessen verfechten dürfen…”35

Anstatt der Losung: “Heraus aus den Kolonien”, die die revolutionäre Sozialdemokratie stets vertrat, stellte Bebel mit diesen Worten die Parole auf: “Gleichberechtigung aller Staaten in den Kolonien”. Damit entzog er dem Streit den prinzipiellen Boden. Aus der “Gleichberechtigung” aller Staaten in den Kolonien haben die Revisionisten ohne Mühe die Gleichberechtigung aller Imperialisten in den Kolonien abgeleitet. Und da der deutsche Imperialismus zu den Benachteiligten gehörte, da Frankreich und England in kolonialer Beziehung Deutschland weit überflügelt hatten, gingen die deutschen Revisionisten — im Jahre 1912 noch ziemlich unentschlossen, im Jahre 1914 aber mit voller Entschiedenheit — auf die Seite “ihres” ungerechterweise benachteiligten und sich folglich “verteidigenden” vaterländischen Imperialismus über.

Der Chemnitzer Parteitag. Gegen den Imperialismus. Das Referat Haases

Das oben angeführte “Postulat” Bebels kann als ein den Revisionisten ausgestellter Wechsel bezeichnet werden. Die ungeduldigsten von diesen Revisionisten, die schlechtesten Diplomaten verlangten sofort, shylockmäßig, die Bezahlung des Wechsels.

Ein Jahr nach Jena, auf dem Chemnitzer Parteitag 1912, stand die Frage des Imperialismus als besonderer Punkt auf der Tagesordnung. An den Debatten nahm einer der “konsequentesten” Revisionisten, Herr Quessel, eine Säule der “Sozialistischen Monatshefte”, teil. Er erklärte folgendes:

Ich habe auf die Erklärung Bebels hingewiesen, dass wir unter allen Umständen für unsere Industrie die Gleichberechtigung auf dem Weltmarkt fordern müssen. Nun vermisse ich außerordentlich, dass diese Erklärung Bebels in Jena, die damals von uns allen ausnahmslos mit stürmischer Begeisterung begrüßt wurde, und die uns außerordentlich wertvolle Dienste im Wahlkampf geleistet hat (Wieder der Wahlkampf! D. Verf.), in der Resolution keinen Ausdruck findet … Es ergibt sich daraus aber auch die Notwendigkeit, dass überall da, wo die deutsche Regierung dafür eintritt, die Gleichberechtigung unsrer Industrie wirksam durchzuführen. wir hinter ihr stehen müssen.”

Von da ist es nicht mehr weit zur Politik des 4. August.

Und der Redner sagt tatsächlich schon direkt: “In der Marokkofrage … hätten wir mit größrer Energie, als es geschehen ist, eine selbständige Stellung des Landes gegenüber dem raubgierigen französischen (!) Imperialismus vertreten müssen … Es muss … betont werden, dass es sich um ein Lebensproblem für die deutsche Arbeiterschaft handelt.”36

So sprach der Sozialimperialist Quessel im Jahre 1912. Aber es ist bemerkenswert, dass absolut niemand es wagte, für Quessel einzutreten. Und obgleich er erklärte, aus sichrer Quelle zu wissen, dass Bebel der Frage eine außerordentliche Wichtigkeit beimesse, nannte Ledebour die Ansichten Quessels nationalliberal, und Haase, der Referent des Parteivorstandes, pflichtete Ledebour bei.37

In seinem Referat sagte Haase ebenso wie Bebel 1911, dass die Großmächte eine Eroberungs- und Raubpolitik treiben,38 er machte sich lustig über Kaiser Wilhelm mit seiner Losung eines “Großdeutschland”, brandmarkte Krupp & Co. als Leute, die im Interesse ihrer eignen Bereicherung gewissenlos zum Krieg hetzten,39 und leistete den Hannibalschwur, dass das deutsche Proletariat im entscheidenden Moment “mit allen Mitteln” gegen den Krieg kämpfen werde.

Alle Militärschriftsteller” — sagte Haase — “sind darin einig, dass gerade der moderne Krieg ein hohes Maß von Hingabe und Begeisterung von den Soldaten erfordert. Man kann zwar die Proletarier dazu bringen, in den Krieg zu ziehen, aber nicht dazu, mit Begeisterung und Hingabe das Kriegshandwerk auszuüben. Die Regierungen müssen sich auch Gedanken darüber machen, was aus ihnen wird, wenn der Krieg mit einer Niederlage endet. Die Sozialdemokratie hat die Bevölkerung dauernd vor dem Imperialismus und seinen furchtbaren Begleiterscheinungen gewarnt … Sollte nicht die Stunde für die Sozialdemokratie gekommen sein, die politische Herrschaft zu gewinnen, sich an die Stelle der herrschenden Klasse zu setzen?”40

So sprach der gemäßigte Haase, der Vertreter des Parteivorstands. Und mit seinen Ansichten solidarisierte sich die übergroße Mehrheit des Parteitags. Allerdings wurden die Ansichten der Linken, die Pannekoek entwickelte, — er verlangte die offne und systematische Propaganda der “Massenaktion” und bestand darauf: ‚‚Nur einen Weg gibt es: über den Imperialismus hinaus zum Sozialismus” - nicht gebilligt. Aber Hildebrand, der sozialimperialistische Anschauungen predigte, wurde auf diesem Parteitag (übrigens auf Vorschlag Scheidemanns) aus der Partei ausgeschlossen. Die Parteiresolution zu dieser Frage sprach nicht nur mit keinem Wort von der “Vaterlandsverteidigung”, sondern brandmarkte die Politik der Regierungen als schamlose gegen das Volk gerichtete Raubpolitik; sie sprach ferner davon, dass die Gefahr eines Weltkriegs “noch verschärft (wird) durch die schamlose Hetze der Kapitalmagnaten und Junker, die an der Lieferung von Kriegsmaterial, an der Vergrößerung des Beamtenapparats und der leitenden Stellen in Heer und Marine besonderes Interesse haben”.41

Der Krieg kam und die guten Resolutionen, die schönen Reden blieben auf dem Papier. Die Politik des Herrn Quessel hat gesiegt. So ist es. Warum die Ereignisse diesen und keinen anderen Verlauf genommen haben, — davon sprechen wir im letzten Teil unseres Buches. Jetzt ziehen wir das Fazit des Gesagten und stellen die Tatsache fest: kein Parteitag der deutschen Sozialdemokratie hat die Theorie des “Verteidigungskriegs” offiziell gebilligt. Die weit verbreitete entgegengesetzte Meinung ist einfach falsch. Es hat wohl einzelne Erklärungen einflussreicher Führer gegeben, einzelne Sätze in Resolutionen, die indirekt zu dieser Theorie führten. Einige Zugeständnisse an diesen Standpunkt waren vorhanden. Aber Beschlüsse in diesem Sinn sind nie gefasst worden.42

1 Georg v. Vollmar, “Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie, — zwei Reden, gehalten am 1. Juni und 6. Juli 1891 im “Eldorado” zu München”, München, 1891.

2 Einer der krassesten Opportunisten und Sozialchauvinisten, der Abgeordnete Keil, macht in seiner Broschüre “Das deutsche Volk im Kriege” (1915), Wilhelm II. die Priorität streitig. Der Kaiser hat die Worte ausgesprochen: “Ich kenne keine Parteien mehr”. Den gleichen Gedanken hat unser Freund v. Vollmar schon vor 23 Jahren in seiner berühmten, im Münchener Saal “Eldorado” gehaltenen Rede ausgesprochen. (Genannte Broschüre S. 12) Solche Patrioten sind wir! Nicht schlechter als Wilhelm II!

3 Siehe die Beurteilung dieser Reden v. Vollmars durch die französischen Sozialdemokraten im Buche des französischen Sozialisten Edgard Milhaud: “La democratie socialiste allemande”, Paris 1903, S. 262, 263. Jetzt ist Milhaud selber zum äußersten Chauvinisten geworden, wenn auch andrer “Farben”.

4 Es ist übrigens festzustellen, dass auf dem Internationalen Kongress zu Brüssel v. Vollmar im Zusammenhang mit seinen Reden schon offen des Chauvinismus beschuldigt wurde. Auf diese Anschuldigungen antworteten die deutschen Delegierten durch Zwischenrufe, dass es in allen Parteien einzelne Chauvinisten gäbe, und dass die Partei als Ganzes für sie nicht verantwortlich sei.

5 Siehe das Protokoll des Erfurter Parteitags 1891, S. 173, 207, 210 u.a.

6 a.a.O., S. 185, 187.

7 a.a.O., S. 186

8 “Protokoll des Erfurter Parteitags”, S. 206 f. Wie diese Rede jetzt von Plechanow zu chauvinistischen Zwecken ausgenutzt wird, davon weiter unten.

9 Bismarcks Nachfolger Caprivi hat 1891 im Reichstag ganz offen erklärt: “Ich fordere von ihnen die Vergrößerung der Anzahl der Unteroffiziere; sie sind mir nicht so sehr für den Krieg mit dem Feinde nötig, wie zum Schutze Ihrer selbst vor den Zufälligkeiten eines Straßenkampfes”. Das deutsche Kriegsministerium bildete zu der Zeit zwei besondere Corps aus “für die Erhaltung der Ordnung innerhalb des Landes im Kriegsfalle”. August Bebel sagte hierüber im Reichstag “In dem Grade wie die Sozialdemokratie die Massen erobert, dringt sie auch ins Heer … Sie dürfen nicht überzeugt sein, dass Sie in dieser Armee für immer ein absolut gehorsames Werkzeug besitzen werden, welches Sie, gegen wen es Ihnen beliebt, richten können”. W. Liebknecht aber rief der Reichstagsmehrheit folgende Worte zu: “Jetzt befinden wir uns in der Ära der Sozialdemokratie, und ihre Bakterien fliegen durch die Luft, wie 1848 die der bürgerlichen Demokratie. Tun Sie, was Sie wollen, führen Sie sich einen besonderen Professor Koch bei den Kasernen ein, um diese Bakterien zu fangen, und auch dann werden Sie sie nicht fassen, ihr Eindringen in die Kasernen nicht verhindern” (Zitiert bei v. Bloch in seinem bekannten Werk ..Der Krieg”, Band V, S. 179, 181, 182.) Gegen die Liebknechtsche Sozialdemokratie brauchte die deutsche Regierung spezielle Corps. Gegen die Scheidemannsche Sozialdemokratie sind Corps überflüssig.

10 Protokoll des Erfurter Parteitags, S. 275, 283 u. f.

11 Dass Bebel eben vom revolutionären Krieg sprach und dass ihn so auch die Sozialdemokraten der anderen Länder verstanden hatten, geht übrigens auch aus der Rede Plechanows auf dem internationalen Sozialistenkongress in Zürich im Jahre 1893 hervor: “In dieser Beziehung (in der Beziehung zum Krieg gegen Russland) sind wir vollkommen einverstanden mit unserem Freund Bebel”. (Protokoll S. 30.) “Wenn die deutsche Armee die russische Grenze überschreiten wird, so wird sie als Retterin zu uns kommen.” (a.a.O., S. 30)

Selbstverständlich würde ein russischer Sozialist diese Worte nicht ausgesprochen haben, wenn Bebel einfach von einem Krieg der preußischen Junker und Imperialisten gegen Russland, von der Rivalität zweier militaristischer oder zweier imperialistischer Gewalten gesprochen hätte.

Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass Bebel wie auch Engels zu der Zeit ungefähr den gleichen Krieg im Auge hatten, wie ihn Marx in der “Neuen Rheinischen Zeitung” propagierte. Auf die oben erwähnte Rede Plechanows kommen wir noch einmal zurück.

12 Protokoll des Erfurter Parteitags, S. 283 [August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Band 3, S. 130]

13 Protokoll des Essener Parteitags, 1907 S. 225

14 “Der Krieg und die Internationale”, von Leo Trotzki, Zürich, 1914, S. 35.

15 Protokoll des Hamburger Parteitags, S. 121 f, 137.

16 “Neue Zeit”, 1897-1898, letzter Teil, S. 105, Artikel “Der Hamburger Parteitag”.

17 Protokoll des Hamburger Parteitags, S. 139.

18 Zitiert nach dem Protokoll des Hannoverschen Parteitags, S. 250, 269. Im Jahre 1900, auf dem Pariser Kongress, verteidigte Auer den Millerandismus.

19 a.a.O., S. 250, 251

20 Protokoll des Mainzer Parteitags, 1900, S. 157.

21 a.a.O., S. 245

22 Bernstein trat zu der Zeit schon offen für die Kolonialpolitik ein (s. sein Buch “Voraussetzungen des Sozialismus”). Aber die ihrer abwartenden Taktik treuen Revisionisten wagten es nicht, gegen die Resolution Singers zu stimmen.

23 Protokoll des Mainzer Parteitags, 1900, S. 165.

24 a.a.O., S. 117

25 a.a.O., S. 167

26 Protokoll des Bremer Parteitags, S. 211.

27 Protokoll des Essener Parteitags, 1907, S. 261 f. Die Rede ist vollständig wiedergegeben.

28 a.a.O., S. 262

29 Protokoll des Magdeburger Parteitags, 1910, S. 258.

30 Protokoll des Jenaer Parteitags 1911, S. 466.

31 a.a.O., S. 467f.

32 a.a.O., S. 472

33 a.a.O., S. 334

34 a.a.O., S. 343, 347

35 a.a.O., S. 336

36 Protokoll des Chemnitzer Parteitags 1912, S. 429 f.

37 a.a.O., S. 433

38 a.a.O., s. 407

39 a.a.O., S. 411

40 a.a.O., S. 412

41 a.a.O., S. 520

42 Während 1914 und 1915 die SPD geschlossen, zum mindesten scheinbar, hinter der Politik der Reichstagsfraktion stand, und zu den ersten beiden Kriegsanleihen noch Hugo Haase die Fraktionserklärung abgab und nur Karl Liebknecht gegen diese Haltung opponierte, wuchs mit der längeren Dauer des Krieges immer mehr die Opposition jener Elemente, die zwar für die Vaterlandsverteidigung, nicht aber für die patriotische Politik der SPD waren. Diese Elemente bildeten die USPD. Ihre Gründung wurde vollzogen durch den Austritt von 18 Mitgliedern der Reichstagsfraktion aus der sozialdemokratischen Fraktion, da sie innerhalb der Partei ihre Anschauungen nicht durchsetzen konnten. Sie bildeten die sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft, die am 7, Januar 1917 auf einer Reichskonferenz in Berlin die Zusammenfassung der Opposition (noch gemeinsam mit der Gruppe Internationale) beschloss und auf dem Parteitag von Gotha vom 6. bis 8. April 1917 die USPD gründete.

Die USPD war die typische zentristisch-pazifistische Partei, die zunächst aber auch einen großen Teil der revolutionären Arbeiterschaft in ihre Reihen aufnahm.

Die USPD unternahm nichts gegen den Krieg, und auch nach dem Umsturz im November 1918 unterstützte der größere Teil der USPD die sozialdemokratische Politik. Während die kommunistischen Arbeiter für die Revolution kämpften, saßen die Vertreter der USPD zusammen mit den Sozialpatrioten in der Regierung und stützten ihre Politik.

Die Illusionen, an die sie anknüpften, waren die 14 Punkte Wilsons, auf deren Durchführung sie rechneten. Ihre pazifistische Einstellung erlaubte ihnen nicht, auf irgendeine Weise gegen den Versailler Vertrag zu kämpfen, sie nahmen ihn vielmehr als unabänderliches Schicksal hin und propagierten die Erfüllungspolitik.

Das Anwachsen der reaktionären Welle in Deutschland und die wiederholten Niederlagen des Proletariats, die die unbedingte Notwendigkeit einer Einigung der proletarischen Kampffront aufzeigten, trieben die USPD, nachdem in ihr nach dem Übertritt der Mehrheit zur KPD nur die pazifistische Minderheit verblieben war, immer weiter in die Arme der reformistischen Sozialdemokratie, von der sie nichts Prinzipielles trennte.

Während die SPD 1920 auf ihrem Parteitag in Görlitz die letzten Spuren des Marxismus und der revolutionären Theorie aus ihrem Programm entfernt hatte, hielt die USPD den Schein, eine revolutionäre Partei zu sein, so lange aufrecht, bis zu ihrer politischen Unfähigkeit, die sich bei Billigung aller außenpolitischen Maßnahmen auf eine bescheidene innenpolitische Opposition beschränkte, noch der finanzielle Bankrott kam.

Unter dem Eindruck der faschistischen Vorstoßes im Frühjahr 1922, dessen Höhepunkt die Ermordung des Außenministers Rathenau war, vollzog die USPD die Verschmelzung im Herbst des gleichen Jahres, nachdem schon im Juli durch die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft der Parlamentsfraktionen diese Einigung tatsächlich hergestellt worden war.

Nur ein bescheidener Rest unter Führung von Ledebour und Theodor Liebknecht, die beide aus persönlichen Gründen in die KP nicht eintraten, bildeten weiter die USPD. Die Politik der neuen Partei war nicht die der pazifistischen USPD, sondern die der alten patriotischen Sozialdemokratie.

Der Ruhrkampf sah wiederum die Sozialdemokratie in der bürgerlichen Einheitsfront. Der Sozialpatriot Sollmann sprach sogar aus: “Das Blut rinnt wieder durch die Adern wie 1914.” Der ganze patriotische Rummel wurde mitgemacht, und nur eine bescheidene pazifistische Opposition mit Levi und Rosenfeld an der Spitze ließ sich zu verschiedenen Malen hören. Aber selbst diese Opposition erkannte nicht die große entscheidende Gefahr eines neuen Krieges und trieb keine revolutionäre Opposition. sondern eine bürgerlich-pazifistische. Im Wesen steht die wiedervereinigte SPD auf demselben Boden wie die alte SPD vor dem Kriege, nur schenkt man heute den neuen pazifistischen Phrasen keinen Glauben mehr.

In dem patriotischen Rummel der Januartage 1923 war es wiederum allein die KPD, die das Erbe von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu wahren wusste, indem sie nicht pazifistische Phrasen machte, sondern den Konflikt der bürgerlichen Gesellschaft zum entscheidenden Bürgerkrieg zu treiben suchte, wenn auch vorläufig ohne Erfolg.

Eugen Varga

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