VIII. DIE SOZIALEN WURZELN DES OPPORTUNISMUS.

VIII. DIE SOZIALEN WURZELN DES OPPORTUNISMUS.

Die Mitläufer.

Bei Ausbruch des Krieges sind in allen wichtigsten Ländern der Arbeiterbewegung die Opportunisten zu Sozialchauvinisten geworden.

Die Evolution einzelner Personen, einzelner Vertreter der II. Internationale kann aus dem Kampf zweier Richtungen nicht erschöpfend erklärt werden. Man kann nicht behaupten, dass alle jetzigen Sozialchauvinisten früher Opportunisten waren. Zweifellos wahr jedoch ist die umgekehrte Behauptung: alle früheren Opportunisten sind jetzt Sozialchauvinisten. Einzelne, ganz vereinzelte Ausnahmen bestätigen auch hier nur die Regel. In der alten Theorie des Opportunismus waren die wichtigsten Elemente des modernen Sozialchauvinismus stets potentiell enthalten. Der Krieg ist gekommen, und alles, was im Opportunismus noch unklar gärte, nahm scharf umrissene Formen an; der ganze bürgerliche Schlamm, der sich hinter der Maske des Sozialismus verborgen hielt, kam plötzlich ans Tageslicht, die potentielle (bürgerliche) Energie verwandelte sich in kinetische — alles bisher Geheime wurde offen ausgesprochen.

Aber hier entsteht die Frage: woher kommt der Opportunismus in der sozialistischen Bewegung? Wie, auf welchem Wege, durch welche Kanäle dringt der bürgerliche Einfluss in die Arbeiterpartei ein?

Eine der Ursachen des Opportunismus sind die so genannten Mitläufer, d. h. die sich hauptsächlich aus der Kleinbourgeoisie .rekrutierenden Wählerschichten, die der sozialdemokratischen Partei nicht angehören, die keine überzeugten Sozialisten sind, die aber trotzdem unter dem Einfluss dieser oder jener zufälligen Umstände sich zeitweise der Sozialdemokratie anschließen und ihr bei den Wahlen ihre Stimmen geben.

Diese Erscheinung hat tiefere Ursachen und wurzelt vor allem in der ganzen Entwicklung der bürgerlichen Parteien und des bürgerlichen Liberalismus. In allen Ländern, in denen — so oder anders — eine bürgerliche Revolution stattgefunden hat, ist die Bourgeoisie seit langem — in Deutschland seit 1848 — gegenrevolutionär und volksfeindlich geworden. Die von der Bourgeoisie gesammelte historische Erfahrung hat dazu geführt, dass selbst in einem Lande, das sich in einem Entwicklungsstadium befindet, das dem des heutigen Russland entspricht, die Bourgeoisie zu einem durch und durch konterrevolutionären Faktor geworden ist.

Der bürgerliche Liberalismus hat seine Anziehungskraft verloren und verliert sie mit jedem Jahr mehr. In Deutschland zum Beispiel gibt es schon seit langem außer der Sozialdemokratie keine wirkliche Volkspartei. Eine große bürgerlich-demokratische Partei, die in ihren Reihen nicht Proletarier, sondern Millionen von kleinen Leuten aufnähme, und zwar diejenigen. die mit der bestehenden Ordnung unzufrieden sind, die sich von der modernen Gesellschaft benachteiligt fühlen, die sich nach einer radikalen wirtschaftlichen und politischen Besserung ihrer Lage sehnen, ist nicht vorhanden. Alle Unzufriedenen, alle Notleidenden und Benachteiligten sind gezwungen, zur Sozialdemokratie zu gehen. Wie gemäßigt in ihren Forderungen, wie opportunistisch die deutsche Sozialdemokratie auch vor dem Kriege schon gewesen ist, sie war in Deutschland die einzige demokratische Volkspartei, sie allein verteidigte, gut oder schlecht, die Interessen der kleinen und mittleren Leute. So kam es, dass sie die Zuflucht aller nichtproletarischen Elemente wurde, die sich mit den Gewohnheiten des gegenrevolutionären und anti- demokratischen Liberalismus, der fest in den Klauen des Imperialismus saß, nicht abfinden konnten. Zur Sozialdemokratie kamen, ihr gaben — unter dem Einfluss dieser oder jener aggressiven Schritte der Bourgeoisie und des Junkertums — ihre Stimmen bei den Wahlen viele Hunderttausende von kleinbürgerlichen Mitläufern.

Darin lag sowohl die Stärke als auch die Schwäche der deutschen Sozialdemokratie. Die starke Seite bestand darin, dass die deutsche Sozialdemokratie die einzige Volkspartei wurde, dass alle Unzufriedenen im Land ihren Schutz suchten, dass sich fast die gesamte demokratische Bevölkerung unter ihr Banner stellte. Die schwache Seite lag darin, dass die kleinbürgerlichen Mitläufer in die Arbeiterpartei politische Charakterlosigkeit, unsicheres Verhalten, bürgerliche Art zu denken und alle anderen Eigenschaften, die den zwischen den Klassen stehenden Schichten eigen sind, mit hineinbrachten. Der Sozialismus wurde vom Opportunismus angesteckt.

In einem Land mit allgemeinem Wahlrecht ist eine besonders intensive Jagd nach Wählern unvermeidlich. In der Jagd nach Wahlerfolgen passte sich die offizielle deutsche Sozialdemokratie ihren eventuellen Verbündeten an, den Mitläufern, die sich aus nichtproletarischen Schichten rekrutierten. Es entstand eine ganze große Kategorie von Leuten, die für die Sozialdemokratie stimmten, aber der sozialdemokratischen Organisation nur ungern angehörten, die sich ausschließlich für die allgemein-demokratische und reformistische Arbeit der Sozialdemokratie interessierten.

Die Welt der “Mitläufer” schwemmte auch die entsprechenden Führer an die Oberfläche. Heine, Südekum, Landsberg, David — das sind die typischen Vertreter und Führer dieser Schichten. Eine solche Schicht, z. B. die Gastwirte, sind in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion stark vertreten. Von der Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten des Reichstags waren Gastwirte:1 im Jahre 1892 4 (von 35), im Jahre 1905 6 (von 81), im Jahre 1912 12 (von 110). Sich auf rückständigere Arbeiterschichten stützend, schaffen die ideell-politischen Führer der Mitläufer eine ganze Richtung innerhalb der Sozialdemokratie. Allmählich bildet sich ein Staat im Staate. Die kleinbürgerlichen Einflüsse werden immer stärker. Die Sozialdemokratie selber wird zu einem Mitläufer der Mitläufer. Nicht die Mitläufer passen sich ihr an, sondern sie den Mitläufern. In kritischen Momenten der Geschichte sind es die kleinbürgerlichen und nicht die proletarischen Tendenzen in der Sozialdemokratie, die die Oberhand gewinnen. Das Kleinbürgertum ist kraft seiner sozialen Lage stets dazu verurteilt, zwischen zwei Lagern hin und her zu pendeln. So ist es gar nicht verwunderlich, dass während einer solchen Krise, wie sie der Ausbruch des Weltkriegs schuf, der Pendel auf der bürgerlich-imperialistischen Seite stehen blieb. Das Bürgertum hat damit innerhalb der deutschen Sozialdemokratie einen großen Sieg über die Arbeiterelemente davongetragen.

Wie groß ist die Zahl der Wahlmitläufer in der deutschen Sozialdemokratie? Es ist nicht leicht, eine genaue Antwort auf diese Frage zu geben. Vorher muss kurz darauf eingegangen werden, wie sich die parlamentarischen Erfolge der deutschen Sozialdemokratie überhaupt entwickelten, wie die Gesamtzahl der aktiven Wähler in Deutschland wuchs und welchen Anteil sich die Sozialdemokratie eroberte.

Jahr

Im ganzen wurden Stimmen abgegeben

Stimmenzuwachs (+) oder Rückgang (-)

Für die Sozialdemokratie wurden Stimmen abgegeben

Zuwachs (+) oder Rückgang (-)

Zahl der sozialdem. Abgeordneten

1871

3.881.000

-

113.000

-

2

1874

5.190.300

+ 1.305.300

351.700

+ 243.300

10

1877

5.401.000

+ 210.700

493.000

+ 141.700

1

1878

5.760.000

+ 349.900

437.200

- 56.200

9

1881

5.097.800

- 663.100

312.000

- 125.200

13

1884

5.663.000

+ 566.200

550.000

+ 238.000

24

1887

7.540.900

+ 877.900

763.100

+ 213.000

11

1890

7.228.500

- 312.500

1.427.300

+ 664.200

35

1893

7.674.000

+ 445.500

1.786.700

+ 359.406

44

1898

7.752.700

+ 74.700

2.107.000

+ 320.300

56

1903

9.495.600

+ 1.742.900

3.010.800

+ 994.000

81

1907

11.262.800

+ 1.767.200

3.259.000

+ 248.200

43

Folgende Tabelle gibt darüber Aufschluss:

Das ist das allgemeine Bild bis zum Jahre 1907. Schließlich eroberte die deutsche Sozialdemokratie bei den letzten Reichstagswahlen (1912) 990.000 neue Wähler. Sie erhielt 4½ Millionen Stimmen und 110 Abgeordnetensitze.

Betrachten wir diese Zahlen näher. Was den absoluten Stimmenzuwachs anbetrifft, so schreitet die deutsche Sozialdemokratie von Sieg zu Sieg. Nur zweimal, zu Beginn des Sozialistengesetzes, verlor sie an absoluter Zahl der für sie abgegebenen Stimmen. Aber der absolute Stimmenzuwachs geht nicht regelmäßig, sondern sprunghaft vor sich. In Anbetracht dieses Umstands entsteht die Frage: gibt es nicht auch in dieser Sprunghaftigkeit eine Gesetzmäßigkeit, gibt es keine Verbindung zwischen ihr einerseits und dem Zustrom und Rückgang der Mitläufer andererseits?

Auf diesen Umstand wies 1912 K. Kautsky hin; er behauptete, dass in den Jahren, in denen die allgemeine Zahl der Wahlbeteiligten wächst, die Sozialdemokratie nicht sofort diese neuen Wähler erobert, sondern verhältnismäßig sogar an Wählerzahl verliert. Aber schon 3 bis 4 Jahre später, bei den folgenden Wahlen, trägt die Sozialdemokratie gewöhnlich einen großen Wahlsieg davon und vergrößert ein Bedeutendes die Zahl der gesammelten Stimmen und der erhaltenen Sitze. So sei 1887 die allgemeine Wählerzahl um fast zwei Millionen gestiegen, die Sozialdemokratie aber habe ihre Stimmenzahl nur um 213.000 vergrößert und sogar 13 Sitze verloren. Aber bei den folgenden Wahlen 1890 gewinnt die Sozialdemokratie 664 200 Stimmen und 24 Abgeordnetensitze. Eine ähnliche Erscheinung tritt 1907 und 1912 auf. 1907 steigt die allgemeine Wählerzahl wiederum um fast 2 Millionen, die Sozialdemokratie aber gewinnt nur 248.000 Stimmen und verliert 38 Sitze. Und erst bei den Wahlen 1912 gewinnt die Sozialdemokratie neue 990.000 Stimmen und 67 Mandate.

Natürlich spielen hierbei interparteiliche Kombinationen und verschiedene Wahlmachenschaften eine Rolle. Aber im Allgemeinen ist es klar, dass sich die unregelmäßige Bewegung folgendermaßen erklärt. Wenn sich die Zahl der Wähler plötzlich sehr stark vergrößert, so bedeutet dies, dass Bevölkerungsschichten, die früher der Politik gleichgültig gegenüberstanden, zu politischem Leben erwacht sind. Oft sind es bürgerliche Parteien und selbst Regierungen, die dazu beitragen, sie am politischen Lehen teilnehmen zu lassen. In ihrer wahnsinnigen Jagd nach Stimmen sind Zentrum, Konservative, Liberale usw. gezwungen, immer neue und neue Bevölkerungsschichten in die Politik hineinzuziehen. In der ersten Zeit gelingt es den bürgerlichen Parteien, diese neuen Schichten politisch unerfahrener Wähler — Bauern, Kleinbürgertum, Handwerker, Verkäufer usw. — zu betrügen. Die bürgerlichen Parteien tragen einen Wahlsieg davon. Aber dieser Sieg ist nur von kurzer Dauer. Die neuen Wählerschichten sehen sich sehr bald in den bürgerlichen Parteien getäuscht, sie überzeugen sich, dass man sie betrügt, politisch ausbeutet. Sie beginnen dann allmählich zur Sozialdemokratie überzugehen. Daher der besonders starke sozialdemokratische Stimmenzuwachs bei den Wahlen mehrere Jahre nach dem starken Anwachsen der allgemeinen Wählerzahl.

Auf die uns hier interessierende Frage der Mitläufer bezogen, bedeutet das folgendes: zwischen der offiziellen deutschen Sozialdemokratie einerseits und der Bourgeoisie, dem Junkertum, der Geistlichkeit andrerseits, entsteht ein Wettstreit um die schwankenden Zwischenschichten, in denen beide Lager ihre Hilfskaders der Mitläufer anwerben. Die Bourgeoisie und das Junkertum besitzen natürlich sehr viel mehr Mittel und Möglichkeiten, die neuen Wählerschichten auf die Beine zu bringen. aber ein großer Teil dieser letzteren, soweit sie nicht unmittelbar zur Zahl der Reichen und Ausbeuter gehören, muss späterhin unbedingt auf die Seite demokratischerer Prinzipien, deren einzige Vertreterin in Deutschland die Sozialdemokratie ist, abschwenken. Ein Teil dieser Mitläufer kann natürlich unter dem Einfluss verschiedener Umstände noch einmal zu den bürgerlichen Parteien zurückkehren Er ist eine veränderliche Größe, ein unzuverlässiges Element, sowohl vom Standpunkt der Sozialdemokratie als auch vom Standpunkt der Bourgeoisie.

*

Wenden wir uns jetzt zur quantitativen Seite der Sache. Sehen wir, ob es sich nicht feststellen lässt, welchen Teil der Wählerschaft der deutschen Sozialdemokratie die bürgerlichen Mitläufer ausmachen.

Über die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft in Deutschland gibt es in der Presse nicht viele Angaben, und das trotz der großen Bedeutung, die der Frage zukommt, aus welchen Schichten die ungeheuer große Wählerarmee der größten politischen Partei der Welt sich rekrutiert. Um so wertvoller ist der Versuch einer wissenschaftlichen Erforschung dieser Frage, den wir im “Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‘‘ Werner Sombarts vom Jahre 1905 finden. Wir sprechen von der dort veröffentlichten Abhandlung “Die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands”.

In einem besonderen Nachwort zu dem Artikel weist einer der Redakteure der Zeitschrift, Professor Max Weber, darauf hin, dass infolge des Charakters des Materials, mit dem der Verfasser operieren musste, das Resultat seiner Untersuchung keinen Anspruch auf absolute wissenschaftliche Genauigkeit erheben kann. Mit dieser Anmerkung muss auch unser Leser rechnen. Aber trotzdem sind die Angaben, die wir der genannten Arbeit entnehmen, außerordentlich wertvoll für die uns interessierende Frage.

Die Untersuchung beruht auf der Kombination von Wahlstatistik und sozialer Statistik. “Stellt man die bezüglichen beiderseitigen Verhältnisse einander gegenüber, so ergeben sich von selbst wertvolle Aufschlüsse über die fraglichen Verhältnisse, und der Inhalt der versiegelten Wahlurne tritt von selbst aus dem geheimnisvollen Dunkel heraus.”2

Die Gegenüberstellung ist auf Grund von Zahlen über die Wahlkampagne 1903 gemacht. Aber im Verlaufe der zwei weiteren Wahlkampagnen muss die Zahl der sozialdemokratischen Wähler aus der Mitte der Klein- und Mittelbourgeoisie nur noch mehr gestiegen sein.

Die Methode des Verfassers besteht in folgendem: Auf Grund der Angaben der sozialen Statistik berechnet er, wie groß die Zahl aller an der Wahl beteiligten Arbeiter in einer bestimmten Stadt Ist. Dann vergleicht er diese Zahlen mit den Angaben der Wahlstatistik und berechnet, wie viel Arbeiter überhaupt an den Wahlen teilgenommen haben. Wenn z. B. in der Stadt X. sagen wir 10.000 Arbeiter an der Wahl teilgenommen haben, wobei aber in derselben Stadt 15.000 Stimmen für die Sozialdemokratie abgegeben worden sind, so geht daraus eines klar hervor: mindestens 5000 Stimmen haben in dieser Stadt Nichtarbeiter für die Sozialdemokratie abgegeben; nimmt man selbst an, dass alle 10.000 Arbeiter ohne Ausnahme für die Sozialdemokratie gestimmt haben, so müssen die übrig bleibenden 5000 Stimmen von Nichtproletariern abgegeben worden sein. Diese Schlussfolgerung kann nicht bestritten werden.

Nach dieser Methode hat der Verfasser eine Tabelle3 zusammengestellt, die die 28 wichtigsten Städte Deutschlands umfasst. Da sie von großer Wichtigkeit ist, so führen wir sie hier ganz an. Der Schwerpunkt der deutschen Sozialdemokratie wird in Übereinstimmung mit dem ganzen Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung immer mehr und mehr in die Stadt verlegt. Die Kräfte der deutschen Sozialdemokratie sind hauptsächlich in den Städten konzentriert. Die Wahlen 1912 haben das mit besonderer Anschaulichkeit gezeigt.4

Und was sehen wir? Bei den Wahlen 1903 erhält die deutsche Sozialdemokratie in solchen Städten wie Bremen 40 Prozent nichtproletarischer Stimmen, in Hamburg 41 Prozent, in Frankfurt a. M. 41 Prozent, in München 39 Prozent, in Leipzig 31 Prozent, in Dresden 41 Prozent usw. (siehe die Tabelle [links]).

Wir wollen aus der genannten Forschung keine Zahlen nehmen, die angefochten werden können. Aber die Zahlen sind im Allgemeinen nicht anfechtbar. Und sie bringen eine Tatsache von ungeheurer politischer Wichtigkeit zum Ausdruck. Selbst in den größten Städten Deutschlands, die die Hauptfesten der deutschen Sozialdemokratie sind, gehört über ein Drittel ihrer Wähler nicht zur Arbeiterklasse, sondern zur Bourgeoisie. Wenn auch zum größten Teil zum Kleinbürgertum, zu den Schichten, die sich auf dem Weg der Proletarisierung befinden und der Arbeiterbevölkerung nahe stehen, — aber auf jeden Fall zur Bourgeoisie.

Namen der Städte

Berechnete Zahl der Arbeiter im Wahlalter in den Berufsabteilungen A, B, C5

Berechnete Zahl der an der Wahl 1903 beteiligten Arbeiter


Zahl der sozialdemokratischen Wahlstimmen am 16. Juni 1903

Überschuss der sozialdem. Wahlstimmen (1903) in %

Königsberg

13.183

9.504

14.042

32

Danzig

10.480

6.686

6.567

-

Berlin

180.611

133.110

222.386

40

Charlottenburg

11.081

7.147

16.119

56

Stettin

14.043

10.968

20.807

48

Breslau

36.764

26.801

33.024

19

Magdeburg

21.970

18.257

20.871

13

Halle a. S.

11.111

9.022

13.392

33

Altona

15.193

12.033

22.032

45

Hannover

22.601

16.702

19.239

13

Dortmund

15.027

13.134

9.442

-

Frankfurt a. M.

23.722

13.498

22.809

41

Düsseldorf

20.824

13.244

15.018

12

Elberfeld

15.478

12.630

14.268

12

Barmen

15.594

12.874

13.178

-

Krefeld

10.108

7.490

5.884

-

Köln

35.338

23.782

22.403

-

Aachen

11.082

6.682

3.705

-

München

43.703

28.494

46.917

39

Nürnberg

18.750

14.906

27.924

47

Dresden

38.007

31.242

52.943

41

Leipzig

43.233

35.321

51.485

31

Chemnitz

18.664

15.528

24.095

36

Stuttgart

17.266

13.506

17.551

23

Braunschweig

12.710

9.901

13.435

26

Bremen

15.690

14.717

21.209

31

Hamburg

68.042

55.632

94.898

41

Straßburg i. E

12.221

9.740

12.110

20

Der Verfasser der genannten Abhandlung gelangt auf Grund einer Reihe von Berechnungen zum Ergebnis, dass schon im Jahre 1903 die für die deutsche Sozialdemokratie abgegebenen bürgerlichen Stimmen mindestens die Zahl von 750.000 erreicht hatten.6 Das entspricht der Stimmenzahl, die beide liberale Parteien der Bourgeoisie bei denselben Wahlen erzielt hatten: die “Nationalliberalen” und die “Freisinnige Volkspartei” (542.556). Die bürgerlichen Mitläufer der Sozialdemokratie sind so zahlreich, dass sie der Zahl der Wähler zweier großer bürgerlich-liberaler Parteien Deutschlands das Gegengewicht halten. Der Verfasser hält es für sehr wahrscheinlich, dass bei den Wahlen 1903 in den meisten großen Städten Deutschlands die bürgerlichen Elemente gegen ein Drittel alter sozialdemokratischen Wähler abgegeben haben, in manchen großen Städten vielleicht sogar die Hälfte.7

Die deutsche Sozialdemokratie findet jedoch ihre kleinbürgerlichen Mitläufer nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande. Bei den Wahlen 1903 verteilten sich die in landwirtschaftlichen Bezirken für die verschiedenen Parteien abgegebenen Stimmen folgendermaßen:

Zentrum

1.033.051

Sozialdemokratische Partei

735.093

Konservative

666.678

Nationalliberale Partei

546.216

Reichspartei

206.248

Freisinnige Volkspartei

174.122

Die Sozialdemokratie hat also bei den Wahlen 1903 ganze 735.093 Stimmen auf dem Lande gesammelt. Zweifellos gehörte der größte Teil dieser Stimmen Landarbeitern und Tagelöhnern. Aber ebenso kann nicht angezweifelt werden, dass sich darunter auch Stimmen der kleinen Landbourgeoisie befanden. Der Prozentsatz dieser letzteren ist in katholischen Bezirken besonders niedrig, aber auch in protestantischen ist er nicht hoch.

Im Großen und Ganzen bilden natürlich die Wähler aus bürgerlichen Kreisen innerhalb der Wählerschaft der deutschen Sozialdemokratie nur eine Minderheit. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Wähler besteht aus Arbeitern.8 Durch ihre Zahl könnten die Arbeiterelemente die nichtproletarischen Elemente majorisieren, ihnen ihren Willen aufzwingen. Aber in Wirklichkeit geschieht das natürlich nicht. Die Partei will möglichst viele Mitläufer haben. In der Praxis ist die Partei aus allen Kräften bestrebt, diese bürgerlichen Mitläufer an sich zu ziehen, nichts zu tun, was ihnen sehr missfallen könnte. Daher eine Reihe von Zugeständnissen an die kleinbürgerliche Psychologie, von Milderungen proletarischer Forderungen, daher der Weg zur opportunistischen Unklarheit.

Unmittelbar nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes verdoppelt die deutsche Sozialdemokratie die Zahl ihrer Stimmen. Die allgemeine Zahl der Wahlbeteiligten sank im Jahre 1890 um 312.400 Stimmen (1887: 7.540.900, 1890: 7.228.500). Die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen hingegen stieg um 664.200 Stimmen (1887: 763.100, 1890: 1.427.300). Wer das deutsche öffentliche Leben aufmerksam verfolgte, hat schon zu jener Zeit feststellen müssen, dass dieses Anwachsen der Stimmenzahl nicht nur dem Zustrom vieler Tausender von kleinbürgerlichen Mitläufern zu verdanken war. Man begann von einer gewissen Koalition der bürgerlichen Demokratie mit der Arbeiterpartei zu sprechen.

Als indirekte Bestätigung einer solchen Beurteilung der Ereignisse kann der folgende kleine, aber charakteristische Zwischenfall dienen. Im Jahre 1891 hält die deutsche Sozialdemokratie es für nötig, ihren Namen zu ändern. Sie hieß früher Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Jetzt nennt sie sich einfach Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Das Wort “Arbeiter” verschwindet aus ihrem Namen.

Selbstverständlich darf eine sozialdemokratische Arbeiterpartei Abkömmlingen andrer Klassen ihre Tür nicht verschließen. Eine sozialdemokratische Partei sammelt in ihren Reihen alle Elemente der Gesellschaft, die sich auf den Standpunkt der Arbeiterklasse stellen. Aber in ihrer Grundlage muss sie eine Arbeiterpartei bleiben. Man kann es kaum als einen einfachen Zufall ansehen, dass die deutsche Sozialdemokratie in den neunziger Jahren ihren Namen gerade in der genannten Richtung abzuändern für nötig hielt. Es muss eher angenommen werden, dass sich hier eine ganz bestimmte opportunistische Tendenz offenbarte. Im Lichte der Ereignisse 1914 sind wir natürlich geneigt, misstrauisch zu werden. Es entsteht sogar die Gefahr, zufällige und unwichtige Ereignisse hinterher als Erscheinungen des prinzipiellen Opportunismus zu erklären. Der angeführte Zwischenfall jedoch hat anscheinend — wir wiederholen es — keinen zufälligen Charakter getragen.

Aber kehren wir zur Abhandlung Dr. Blanks zurück. Diese Arbeit hat Eindruck gemacht. Niemand anders als August Bebel hat ihr in der “Neuen Zeit” einen großen Artikel gewidmet. Bebel bestritt die Schlussfolgerungen Blanks, der behauptete, dass die deutsche Sozialdemokratie infolge der sehr verschiedenartigen Zusammensetzung ihrer Wählerschaft keine Klassenpartei sei. Aber das Zahlenmaterial des Verfassers wird von Bebel als im Allgemeinen richtig anerkannt. Bebel schreibt: “Wir sind sogar geneigt, seine Zahlenresultate im ganzen als nicht unzutreffend anzusehen; anders aber ist es mit den Folgerungen, die er aus den Resultaten seiner Arbeit zieht.”9

Obgleich Bebel die statistischen Angaben des Verfassers als “ziemlich zutreffend” anerkennt, ist er trotzdem der Ansicht, dass die Zahl der sozialdemokratischen Wähler aus bürgerlichen Kreisen im Jahre 1903 nur 500.000 betragen habe, “dass ungefähr auf sechs Arbeiterwähler ein bürgerlicher Wähler käme”10 “Es sind Handwerker, kleine Kaufleute, Kleinbauern, kleine Beamte, Lehrer, Künstler, Angestellte in den verschiedensten Betrieben usw.”11 “Es gebe z. B. Zehntausende von Industriearbeitern, die besser bezahlt sind, mit denen man besser umgehe und die unabhängiger seien als Zehntausende von Kaufleuten und Büroangestellten. Daraus erkläre sich auch, dass bei den Wahlen zum Kaufmannsgericht in Berlin am 7. Mai 1905 die Sozialdemokratie 21 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten und sich als die zweitstärkste Partei erwiesen habe.12

Bebel bestreitet energisch die Behauptung, dass die Sozialdemokratie aus einer sozialistischen Partei in eine einfach demokratische umgewandelt werde. Die Änderung des Namens der Partei, die 1891 vorgenommen wurde, habe nicht die Bedeutung, die man ihr zuschreibe. “Da Schreiber dieses”, — sagt Bebel, — “den neuen Namen vorschlug, kann er wohl auch am besten Auskunft über die Motive zu diesem Vorschlag geben. Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes hatte sich allerlei “Sozialismus” herausgebildet: man sprach in dem bürgerlichen Lager von christlichem Sozialismus, von Regierungssozialismus — unter Hinweis auf die Versicherungsgesetzgebung —‚ von konservativem Sozialismus usw. Demgegenüber war eine klare Unterscheidung notwendig. Sozialdemokratisch wagte sich niemand zu nennen, so wurde der Name Sozialdemokratie, der sich der Kürze halber längst eingebürgert hatte, gewählt.”13

Das erklärt aber nicht, — wollen wir von uns aus bemerken, — warum man aus dem Namen das Wort “Arbeiterpartei” verschwinden lassen musste. Da ein solcher Beschluss nicht gefasst werden kann, ohne dass sein politischer Sinn genau erwogen wird, so muss angenommen werden, dass doch eine bestimmte politische Tendenz in diesem Beschluss vorhanden war. Es bleibt nun die Frage: welche Tendenz? Hierüber kann es nicht zwei Meinungen geben: wenn es eine gab, dann konnte es nur eine opportunistische sein.

Wir wiederholen, in dem Umstand, dass in die deutsche Sozialdemokratie eine große Zahl von “Mitläufern” eindringt, kann man in gewissem Sinne nicht nur eine schwache, sondern auch eine starke Seite sehen. Bebel hat natürlich recht, wenn er in seinem Artikel unterstreicht, dass in der Sozialdemokratie nicht nur Arbeiter, sondern alle Notleidenden und Bedürftigen überhaupt Unterkunft finden müssen. Das ist schon richtig, aber die Partei muss eine Arbeiterpartei bleiben. Und sie muss ihren proletarischen Charakter ständig unterstreichen.

Der Zersetzungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft”, — sagt Bebel, — “und die dadurch hervorgerufene, immer prekärer werdende Lage der mittel- und kleinbürgerlichen Schichten hat auch eine Veränderung in der politischen Struktur des Bürgertums hervorgerufen. Es sind neue politische Parteien entstanden, welche die Interessen der sozial gefährdeten bürgerlichen Schichten parlamentarisch wahrzunehmen suchen, z. B. die antisemitischen und Mittelstandsparteien, die im Reichstag als antisemitische Fraktion und Fraktion der Wirtschaftsreformen sich konstituierten. Das politische Parteileben des Bürgertums hat sicht also entsprechend seiner ökonomischen Entwicklung differenziert. In erster Linie zum Nachteil der liberalen Parteien, die dadurch am meisten an Anhang einbüßten. Aber zunächst auch nicht zum Vorteil der Sozialdemokratie. Diese hat dadurch ebenfalls eine Einbuße erlitten, wenn sich dieses auch nicht zahlenmäßig nachweisen lässt.”14

Das ist die eine Seite des Prozesses, auf den Bebel hinweist. Bestimmte Schichten der mittleren und Kleinbourgeoisie verlassen die Partei der Großbourgeoisie und bilden ihre eigenen Mittelparteien. Aber diese Zwischenparteien sind mehr oder weniger ephemerisch im Vergleich mit den neuen politischen Parteien.

Ein “neuer Realismus”, von dem seit 1910 die Marxisten des “Zentrums” träumten, entstand nicht. Ein demokratischer Liberalismus ist in einer Gesellschaft, die eine solche Reife der Klassenverhältnisse erreicht hat, unmöglich. Die letzten Jahre der gesellschaftlichen Entwicklung haben die Richtigkeit der Ansichten Rosa Luxemburgs und des ganzen linken Flügels des deutschen Marxismus bewiesen, der die Taktik der Vereinigung mit dem “neuen” Liberalismus bekämpfte.

Das Kapital demokratisiert sich nicht, sondern es wird immer plutokratischer, und der Liberalismus wird nicht demokratischer, sondern reaktionärer”, — schreibt Bebel ebendort.

Ein Teil der mittleren und Kleinbourgeoisie ist bestrebt, eigene parteimäßige Vereinigungen zu schaffen. Aber der andere — und sehr bedeutende — Teil schließt sich der Sozialdemokratie an und vergrößert so die Zahl ihrer Stimmen und Mandate, schwächt aber ihren sozialistischen Charakter.

Viele dieser Mitläufer sind nicht nur schlechte Sozialisten, sondern auch sehr inkonsequente Demokraten. Es sind unsichere Kantonisten, unzuverlässige Verbündete der Arbeiterklasse, selbst in rein parlamentarischen Kämpfen. Die bürgerliche Demagogie — besonders die Demagogie auf “patriotischer” Unterlage — kann immer auf einen gewissen Erfolg unter diesen angeblichen Anhängern der Sozialdemokratie rechnen. In dieser Beziehung hat die offizielle deutsche Sozialdemokratie bei den Wahlen 1907 eine gute Lehre bekommen.

Diese Wahlen, die in der politischen Geschichte unter dem Namen “Hottentottenwahlen” bekannt sind, gingen im Zeichen des “Patriotismus” vor sich. Unter der Losung der “Landesrettung”, der Stärkung der “militärischen Macht” Deutschlands, des Kampfes um die “rechtmäßigen Interessen der Nation” auf dem Gebiet der Kolonialpolitik gelang es dem Fürsten Bülow, alle bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie zu vereinigen. Und diesen Parteien ist es mit gemeinsamen Kräften gelungen, der deutschen Sozialdemokratie eine Wahlniederlage zu bereiten. Die deutsche Sozialdemokratie hat bei den Wahlen 1907 38 Abgeordnetensitze verloren. Allerdings war die absolute Zahl der für sie abgegebenen Stimmen um 248.000 gestiegen.15 Aber die allgemeine Zahl der an der Wahl beteiligten Wähler war um 2 Millionen gestiegen. Das bedeutet, dass die deutsche Sozialdemokratie bei diesen Wahlen verhältnismäßig auch an Stimmenzahl verloren hat.

Die kleinbürgerlichen Mitläufer der Sozialdemokratie waren auf den Leim des “Patriotismus” gegangen, und so war den Gegnern der Sozialdemokratie der Erfolg gesichert. Die Arbeiter hatten eine anschauliche Lehre erhalten. Die Abhängigkeit der offiziellen deutschen Sozialdemokratie von ihren Mitläufern war deutlich gezeigt worden.

Schon am Vorabend der Wahlen im Januar 1907 hatte Franz Mehring darauf hingewiesen, dass Bülow & Co. mit Hilfe von patriotischen Losungen der Sozialdemokratie ihre Mitläufer entreißen wollten, “Es ist gewiss nicht ohne pfiffige Berechnung, wenn sie meinen, verrostete Karabiner aus den Tagen des alten Fritz seien die geeignetsten Waffen für den Landsturm der Philister, mit dem sie das Heer der modernen Revolution noch einmal niederwerfen wollen”, — schreibt Mehring.16 Aber der “Landsturm der Philister” hat tatsächlich auf den Ausgang der Wahlen einen entscheidenden Einfluss ausgeübt.

Nicht nur Mehring, sondern auch andere deutsche Marxisten waren sich klar bewusst, dass die Abhängigkeit der Sozialdemokratie von den Mitläufern ihre Achillesferse darstelle. Und ebenso klar war man sich bewusst, dass man das Kleinbürgertum am leichtesten mit Hilfe von “nationalen” Fragen einfangen könne.

Im ersten Artikel, in dem das Fazit der “Hottentottenwahlen” gezogen wird, erklärte Kautsky die Niederlage der deutschen Sozialdemokratie aus dem Umstand, dass diese die Amiziehungskraft der Kolonialidee in bürgerlichen Kreisen nicht genügend eingeschatzt habe. Diese Niederlage hätten der Sozialdemokratie die Mittelschichten bereitet, von denen sie diesmal verlassen worden wäre.17 Kautsky spricht von dem Verlust von mehreren Hunderttausenden von Mitläufern ans den Zwischenschichten, aber er gibt der Hoffnung Ausdruck, dass sie bald wieder zur Sozialdemokratie zurückkehren werden. Im Jahre 1903 haben nach Kautsky viele Bauern für die Sozialdemokratie gestimmt. In der Partei habe es keinen Mangel an aus nichtproletarischen Schichten stammenden Elementen gegeben, erzählt Kautsky weiter, und er erklärt, dass er damit kleine Kaufleute, Handwerker, den kleinen Mittelstand, Staatsbeamte und Angestellte, Ärzte, Lehrer, Ingenieure usw. im Auge habe. Zum Schluss kommt Kautsky zu dem beruhigenden Resultat, dass die Mitläufer allmählich von der Sozialdemokratie assimiliert werden und dass die Sozialdemokratie die Partei aller Notleidenden sein muss. Auf dieses Argument sind wir schon weiter oben eingegangen. Hier ist es wichtig, festzustellen, dass auch Kautsky das Vorhandensein von vielen Hunderttausenden von sozialdemokratischen Wählern ans nichtproletarischen Bevölkerungskreisen zugibt.

Ungefähr ebenso wie der Theoretiker Kautsky erklärten den Ausgang der “Hottentottenwahlen” auch die hervorragenden Parlamentarier und Praktiker der deutschen Sozialdemokratie, die damals zum marxistischen Lager gehörten. “Der kleinbürgerliche Mitläufer hat uns einen Streich gespielt” — das ist der allgemeine Sinn ihrer Erklärung. Gleichzeitig machen sie Zahlenangaben, die beweisen, dass dieser Mitläufer bereits seit langem innerhalb der deutschen Sozialdemokratie ein mächtiger Faktor geworden ist.

Die nationale Frage, die wir für völlig abgebraucht hielten, übte eine überraschend starke Wirkung ans … Der Furor teutonicus … (erklärt) das raschere Fortschreiten unserer Gegner. Sicherlich haben (in Bayern) Zehntausende (Man beachte: Zehntausende! — d. Verf.), die im Jahre 1903 für uns gestimmt haben, am 25. Januar 1907 liberalen Kandidaten ihre Stimme geschenkt. Die Verminderung der Mitläufer ist für Bayern eine unzweifelbare Tatsache. Aber es hieße sich selbst täuschen, wollte man deshalb die 236.871 für unsre Kandidaten abgegebenen Stimmen uns als unbedingt zuverlässig annehmen.” So schreibt der damals schon sehr gemäßigte Adolf Braun.18

Mit den Industriearbeitern allein können wir nicht jenen Zuwachs an Stimmen und Mandaten bekommen, den unsre Partei zum siegreichen Vordringen braucht (?)”, schreibt in seinem Artikel “Lehren aus dem Wahlkampf” Heinrich Busold.19

Gerade im Königreich Sachsen hatten viele Vorkommnisse der letzten Jahre vor der Wahl von 1903 die Spießbürger verärgert, so dass sie unsre Mitläufer wurden. Solange wir allmählich wuchsen und uns hauptsächlich aus den Kreisen der Industriearbeiter rekrutierten, gelang es uns, durch unsre Presse wie durch Versammlungen aufklärend auf die neu gewonnenen Mitläufer zu wirken, sie zu Parteigenossen zu erziehen und wenigstens teilweise politisch zu organisieren. Nach 1903 gelang uns das aber nicht mehr. Wohl sind unsere Organisationen in noch nie vorher erlebter Weise gewachsen, unsere Zeitungen erzielten Abonnentenzahlen, an die sie wenige Jahre früher noch nicht gedacht hatten. Aber im Verhältnis zu unserer Stimmenzunahme wuchsen weder die Organisationen noch unsere Zeitungen”, so erklärt den Ausgang der Wahlen 1907 der bekannte Volkstribun und Abgeordnete Adolf Hoffmann.20

Mitläufer sind freilich überall und immer unter unseren Wählern gewesen und auch jetzt noch darunter. Aber noch nie waren sie in solchem Maße vorhanden wie 1903, wo sie uns in Massen zu getrieben wurden durch den Ärger des sächsischen Kleinbürgertums ‚ schreibt einer der hervorragendsten sozialdemokratischen Praktiker, Hans Block21 bei einer näheren Untersuchung der Ursachen der sozialdemokratischen Wahlniederlage in Sachsen im Jahre 1907.

Sachsen zeigt … zwar eine kräftige Entwicklung des Großbetriebs, aber auch in größerem Maße als irgendein anderes Gebiet Deutschlands die Fortdauer rückständiger Betriebsformen … Und so beantwortet sich die Frage, wieso die Schwankungen des Kleinbürgertums in dem hochindustriellen Lande auf die Gestaltung seiner politischen Geschichte einen so starken Einfluss haben können.”22

So sehen wir, dass die kleinbürgerlichen Mitläufer in gewissem Sinne die Wahlschicksale der deutschen Sozialdemokratie in ihren Händen halten. Trotzdem die Mitläufer im Jahre 1907 der Sozialdemokratie in Massen den Rücken kehrten, erhielt diese bei den Wahlen dreieinviertel Millionen Stimmen. Um für eine so zahlreiche Partei einen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Wahlkampagne ausüben zu können, mussten die Mitläufer in größerer Zahl vorhanden sein. Blank hatte, wie wir gesehen haben, berechnet, dass die Mitläufer der deutschen Sozialdemokratie 1903 750.000 Stimmen zählten. Bebel war der Ansicht gewesen, dass diese Zahl mehr oder weniger stimmte, aber eher etwas geringer war. Jedenfalls handelte es sich um sehr große Zahlen

Bei den Wahlen 1912 standen die Mitläufer wieder bei der Sozialdemokratie. Einerseits waren sie enttäuscht durch die Politik der Bourgeoisie: die versprochenen goldenen Berge blieben nichts als ein Versprechen. Die Lasten des Militarismus wuchsen. Die Steuern wurden immer größer. Die so genannte Finanzreform brachte eine Verschlechterung der Lage des Mittelstandes mit sich. Andrerseits wurde die offizielle deutsche Sozialdemokratie noch opportunistischer. Für die offiziellen Führer der Sozialdemokratischen Partei bestand die Hauptlehre der Wahlen darin, dass man sich den Mitläufern noch mehr anpassen müsse. Kommt der Berg nicht zu Mohammed, dann kommt Mohammed zum Berge … Als Resultat sehen wir im Jahre 1912 einen neuen starken Zustrom von kleinbürgerlichen Mitläufern zur deutschen Sozialdemokratie.

Wie stark war — in Zahlen ausgedrückt — dieser Zustrom im Jahre 1912? Akademikus, der Jahrzehnte hindurch in der “Neuen Zeit”, die Übersichten der Wahlkampagnen fabrizierte, erledigte diese Frage mit wenigen Worten. “Bestimmte statistische Ergebnisse über die Wählerstellung des neueren Mittelstandes werden sich vorläufig sehr schwer gewinnen lassen”, schreibt er.23 Aber Tatsache bleibt, dass wir in zahlreichen Kreisen mit vorherrschend ländlicher Bevölkerung erfreulich vorwärts gekommen sind.”24 Akademikus zählt 46 Landbezirke auf, in denen die Dorfbevölkerung stark vorwiegt und in denen die Sozialdemokratie bei den Wahlen von 1912 trotzdem so “erfreuliche” Erfolge erzielt hat. “Wir haben beinahe eine Million neuer Kämpfer hinzugewonnen: (Nicht so sehr Kämpfer als Wähler. — d. Verf.) zum größten Teil, dürfen wir hoffen, junge Leute, die schon vor Begierde brannten, in das aktive Heer unserer Wähler einzutreten, zum kleineren ‚Mitläufer‘, die uns die allgemeine Unzufriedenheit über die Politik unserer Regierenden zu getrieben hat.”25 Diese Schlussfolgerung von Akademikus ist zweifellos sehr “erfreulich‘ Es ist nur schade, dass der Verfasser sie nicht begründet, sondern sie einfach dekretiert.

Gegen 75 Prozent der Stimmen hat die deutsche Sozialdemokratie im Jahre 1912 in den Städten gesammelt. Das beweisen folgende Berechnungen A Kolbs.26 Im Jahre 1912: erhielt die deutsche Sozialdemokratie in 68 großstädtischen Wahlkreisen 2.128.210 Stimmen, das sind 43,1 Prozent aller sozialdemokratischen Wähler. In diesen 68 Kreisen ist die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen seit 1907 um 537 330 (33,8 Prozent) gestiegen. In 116 städtischen Wahlkreisen betrug die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen im Jahre 1912: 1.321.833, d. h. 30,8 Prozent aller sozialdemokratischen Wähler. Der Zuwachs im Vergleich zu 1907 ist 471.956 Stimmen (55,6 Prozent). In den gemischten Wahlkreisen betrug die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen 675.066, d. h. 18,8 Prozent aller sozialdemokratischen Wähler. In 70 ländlichen Wahlkreisen betrug die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen im Jahre 1912: 125.220, d. h. 7,7 Prozent aller sozialdemokratischen Wähler. Der Zuwachs im Vergleich zu 1907 betrug 24.355 Stimmen (24,2 Prozent)

So sind also 74 Prozent aller sozialdemokratischen Stimmen in den Städten — in den großen und kleinen — gesammelt worden. In rein ländlichen Wahlkreisen sind nur 7,7 Prozent, in den gemischten nur 18,8 Prozent gesammelt worden. Die deutsche Sozialdemokratie ist der Zusammensetzung ihrer Wähler nach — wir wiederholen es — eine städtische Partei. Aber wenn wir uns die oben angeführte, von Blank zusammengestellte und von Bebel im allgemeinen bestätigte Tabelle in Erinnerung rufen, so müssen wir anerkennen, dass dieser Umstand eine große Abhängigkeit der Sozialdemokratie von ihren Mitläufern nicht ausschließt, sondern voraussetzt. Wenn im Jahre 1903 in solchen Städten, wie Berlin, Hamburg, Frankfurt a. M., Leipzig, die Zahl der Mitläufer 40 Prozent (und sogar mehr!) aller sozialdemokratischen Wähler betrug, so ist es sehr möglich, dass dieser Prozentsatz auch im Jahre 1912 in den großen und mittleren Stadtwahlkreisen nicht niedriger war. Das aber würde bedeuten, dass, wenn man die Mitläufer der ländlichen Bevölkerung nicht mitrechnet, die Armee der sozialdemokratischen Mitläufer bloß in den städtischen (und gemischten) Wahlkreisen im Jahre 1912 über 1,5 Millionen Wähler zählte.

Der sozial-liberale Professor Schmoller beurteilt die Lage folgendermaßen: “Von 3 bis 4,5 Millionen Stimmen der Partei bei den letzten Reichstagswahlen werden nicht ganz eine Million der Partei, 1,5 den Gewerkschaften, der Rest den so genannten Mitläufern angehören. Die letzteren bestehen aus kleinen, armen Handwerkern, Heimarbeitern, Krämern, unorganisierten Arbeitern, unzufriedenen kleinen Beamten des Staates und der großen Unternehmungen.”

Dieser Beurteilung zufolge ergibt sich, dass die Zahl der sozialdemokratischen Mitläufer im Jahre 1912 gegen 2 Millionen betrug. Wahrscheinlich ist diese Zahl übertrieben. Aber dass sie bei den letzten Wahlen (1912) zwischen einer und anderthalb Millionen schwankte, das kann man behaupten, ohne Gefahr zu laufen, sich zu irren.

*

Die Führer der deutschen lmperialisten wissen genau, in welcher Abhängigkeit von den kleinbürgerlichen Mitläufern sich die deutsche Sozialdemokratie befindet. Und sie verstehen es sehr gut, auf den Saiten des “Patriotismus” zu spielen.

Vor allem möchten die Herren Imperialisten natürlich die Arbeiter, diese Hauptstütze der deutschen Sozialdemokratie, demoralisiert wissen. In einem kurz vor Kriegsausbruch erschienenen Buch bringt der bekannte deutsche Imperialist Ruedorffer (der aktive deutsche Diplomat Ritzner) folgende nüchterne Ansicht zum Ausdruck: “Gelingt es dem internationalen Sozialismus, den Arbeiter innerlich ganz aus dem Gefüge der Nation zu lösen und zu einem bloßen Glied der Klasse zu machen, so hat er gesiegt, denn die Mittel der reinen Gewalt, mit denen der Nationalstaat dann noch versuchen kann, den Arbeiter an sich gefesselt zu halten, müssen für sich allein auf die Dauer unhaltbar sein. Gelingt dies indes dem internationalen Sozialismus nicht, bleiben, wenn auch nur unbewusst, innere Bande bestehen, die den Arbeiter an den Organismus knüpfen, der Nation heißt, so bleibt der Sieg des internationalen Sozialismus solange fraglich, als diese Bande bestehen, und wird zur Niederlage, wenn sich herausstellen sollte, dass diese Bande letzten Endes die stärkeren sind.”27

So stehe es mit den Arbeitern. Was die kleinbürgerlichen Mitläufer anbetrifft, ist Herr Ruedorffer vollkommen beruhigt. “Als im Jahre 1907 die Regierung des Fürsten Bülow um einer kolonialpolitischen Frage willen den Reichstag auflöste und an das Volk appellierte, hielten Wahltechniker, die an den Erfahrungen früherer Zeiten klebten, die Wahlparole für unpopulär und eine Niederlage für unvermeidlich. Das Gegenteil trat ein. Die ältere Generation der Politiker stand erstaunt vor der elementaren Kraft des weltpolitischen Geltungswillens der Nation”, erzählt Ruedorffer-Ritzner. In der Tat: die patriotische Propaganda Bülows und seiner Freunde hat zu den günstigsten Resultaten geführt. Das demagogische Geschrei über “Vaterlandsverteidigung”, über “nationale Interessen” usw. hat einen großen Einfluss auf weite Kreise der Bevölkerung ausgeübt. “Keine bürgerliche Partei”, schreibt Ruedorffer, “kann sich in solchen Fragen eine Politik der Negation gestatten; auch die Sozialdemokratie muss bei ihrem parlamentarischen Verhalten und ihrer Agitation im Volke dem nationalen Argument von Jahr zu Jahr mehr Rechnung tragen.” Und einige Seiten weiter sagt derselbe Verfasser: “Selbst die Sozialdemokratie, welche, durch ihr Programm gefesselt, natürlich Gegner bleibt, muss in der Bekämpfung solcher Forderungen eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung üben und leugnet nicht, dass sie, wenn es über einer solchen Frage zu Neuwahlen kommt, einer empfindlichen Niederlage sicher ist.”28

Ruedorffer hat die Tatsachen sehr richtig beobachtet: aus Angst, ihre Mitläufer zu verlieren, hat die offizielle deutsche Sozialdemokratie stets große Konzessionen an den kleinbürgerlichen “Patriotismus” gemacht. “Die Wahlkämpfe der letzten Jahrzehnte” — setzt derselbe Autor fort — “haben immer deutlicher gezeigt, dass jede Betonung der nationalen Fragen durch die Gegner die Zugkraft der sozialdemokratischen Bewegung mindert und die sozialistische Agitation selbst gezwungen ist, vor den Wählern die internationale Seite des Programms zu verdecken oder abzuschwächen … Die Partei war überall gezwungen, ihren Internationalismus praktisch einzuschränken und zu verklausulieren. Sie hat bei keiner der großen Rüstungsvorlagen des letzten Jahrzehnts eine heftige Agitation zu entfalten gewagt und die Opposition, zu der sie theoretisch verpflichtet ist, mit einer gewissen Vorsicht betrieben. Sie hat die Behauptung der Gegner, die Sozialdemokratie werde im Falle eines Krieges die von ihr abhängigen Arbeitermassen veranlassen, ihre Waffen gegen ihre Führer zu kehren, und gemeinsam mit den französischen Sozialisten auf diese Weise einen Krieg zu verhindern versuchen, mit Entrüstung zurückgewiesen, ja behandelt sogar den Vorwurf mangelnden Patriotismus als Beleidigung.”29

Die Tatsachen sind wiederum richtig geschildert. Die offizielle deutsche Sozialdemokratie ging einem offenen Kampf gegen den bürgerlichen “Patriotismus” tatsächlich aus dem Wege. Sie nahm den Kampf gegen die Bourgeoisie auf deren Boden auf. Die offizielle Opposition der deutschen Sozialdemokratie in dieser Frage erschöpfte sich in der These: “Wir sind ja selber Patrioten, wir sind bessere Patrioten als ihr.” An Stelle eines Kampfes zweier Prinzipien — des Internationalismus und Nationalismus — trat ein prinzipienloses Rivalisieren um die Frage, wer der größere “Patriot” sei. Und es besteht kein Zweifel: diese Stellungnahme der offiziellen deutschen Sozialdemokratie wurde in sehr bedeutendem Maße bestimmt durch opportunistische Erwägungen, wie die Mitläufer der Partei zu erhalten wären. Es genügt, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie im Jahre 1911 Molkenbuhr (eine der Säulen des Parteivorstands und offiziell “Marxist” und nicht Opportunist) vorschlug, das Internationale Sozialistische Büro nicht einzuberufen und aus Anlass des Marokko-Konflikts keinen Alarm zu schlagen, was er damit begründete, dass in Deutschland Reichstagswahlen bevorständen und dass es für die Sozialdemokratie nicht günstig wäre, wenn in jeder Wahlversammlung und in jedem Dorf an Stelle der Fragen der inneren Politik die internationale Politik erörtert werden müsste.

Der unmittelbare Erfolg bei den Wahlen, selbst wenn er mit dem Preise von Zugeständnissen an nationalistische Vorurteile bezahlt werden müsste, das war stets das Ziel des opportunistischen Flügels der deutschen Sozialdemokratie. Möglichst viele Abgeordnetensitze — das ist das Alpha und Omega der Politik des Opportunismus.

Die alten Führer der Sozialdemokratie versuchten gegen die immer mehr die Oberhand gewinnende Richtung anzukämpfen. Aber — nicht immer mit Erfolg. Am Vorabend der Wahlen 1912 hielt Bebel in Hamburg eine Rede, in der er folgende These aufstellte: lieber 50 Mandate und 4 Millionen Stimmen als 100 Mandate und 3 Millionen Stimmen. Mit anderen Worten: für uns ist nicht die Zahl der Abgeordnetensitze von Wichtigkeit, sondern die Zahl der mit uns sympathisierenden Bevölkerung. Hierin lag ein schwacher Versuch, in einen Kampf gegen die Politik der Anpassung an die Mitläufer einzutreten. Nur ein schwacher Versuch: Denn um klarer zu sprechen, hätte man sagen müssen: lieber 2 Millionen Stimmen überzeugter Sozialisten als 4 Millionen Stimmen, die erkauft sind um den Preis der Verwässerung des Sozialismus; lieber 20 Abgeordnete, die wirklich Sozialisten sind, als 100 Abgeordnete, von denen die Hälfte noch tief im Kleinbürgertum steckt. Aber auch für diesen seinen schwachen Versuch wurde Bebel von den Opportunisten stark angegriffen. Und man muss die Wahrheit feststellen: tatsächlich gingen die Wahlen 1912 viel mehr unter dem Banner Südekums vor sich als unter dem des alten Bebel.

Die Opportunisten verlangten immer offener, dass die Linie der Sozialdemokratie nicht von der Partei, nicht von der Summe der Parteiorganisationen bestimmt werde, sondern von allen Wählern. Zähle doch die Partei im Ganzen vielleicht eine Million Mitglieder, Wähler aber habe sie volle 4½ Millionen. “Wir fühlen unsere Verantwortung breiteren Massen gegenüber”, sagten die Opportunisten.

Im Jahre 1912 zählte die deutsche Sozialdemokratische Partei 4827 Ortsvereine und über eine Million Mitglieder — 970.112 Männer und 130.371 Frauen. Auf 100 Wähler kamen nur 22,8 Parteimitglieder. “Wir”, sagten die Opportunisten, “wollen nicht nur diesen 22, sondern auch den übrigen 78 gegenüber verantwortlich sein.” In Wirklichkeit bedeutete dies, dass sie sich von jeder Verantwortung, von jeder Disziplin gegenüber den organisierten sozialistischen Arbeitern freimachen wollten. In Wirklichkeit bedeutete dies, dass sie sich als politische Vertreter nicht einer revolutionären Klasse, nicht einer revolutionären Partei, sondern einer zufälligen Masse von kleinbürgerlichen Mitläufern fühlten, von Mitläufern, die heute radikal sind, um sich morgen in die Arme des Nationalismus und der Reaktion zu werfen, die heute für die Sozialdemokratie stimmen und morgen dem räuberischen Imperialismus als Werkzeug dienen.

Wir wollen natürlich nicht die Behauptung aufstellen, dass der Opportunismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie nur und ausschließlich dank den Mitläufern entstanden sei. Nein, der Opportunismus ist das Produkt einer ganzen Reihe von Tatsachen. Aber die Mitläufer stellen einen der Kanäle dar, durch die der Opportunismus in die Arbeiterpartei eindringt.

Die Opportunisten haben den Sieg über die Marxisten in der deutschen, und nicht nur in der deutschen Sozialdemokratie davongetragen. Das bedeutet unter anderem, dass die Politik der Anpassung an die kleinbürgerlichen Mitläufer über die andere Politik gesiegt hat. Die offizielle deutsche Sozialdemokratie ist selber zu einem Mitläufer, einem Agenten, einem Werkzeug des Imperialismus geworden.

Die Arbeiterbürokratie.

Der Ausdruck “Arbeiterbürokratie” hat sich seit langem in der wissenschaftlichen und politischen Literatur das Bürgerrecht erworben. Als wir vor dem Kriege von Arbeiterbürokratie sprachen, da meinten wir damit fast ausschließlich die englischen Trade-Unions. Wir dachten an die fundamentalen Arbeiten der Eheleute Webb, des Kastengeistes, der reaktionären Rolle der Bürokratie im alten englischen Trade-Unionismus, und wir sagten uns: wie gut, dass wir nicht nach diesem Vorbild geschaffen sind, wie gut, dass dieser Kelch an unsrer Arbeiterbewegung auf dem Kontinent vorübergegangen ist!

Aber wir trinken schon seit langem aus demselben Kelch. In der Arbeiterbewegung Deutschlands — einer Bewegung, die vor dem Kriege den Sozialisten aller Länder als Muster diente, — ist eine ebenso zahlreiche und ebenso reaktionäre Kaste von Arbeiterbürokraten entstanden. Die gegenwärtige Krise hat diese Tatsache mit schonungsloser Klarheit enthüllt.

Von der zahlenmäßigen Zusammensetzung der Arbeiterbürokratie, von ihrem Einfluss, ihrem Einkommen, ihrer korporativen Organisiertheit war bisher wenig bekannt. Wie im Kreise der Führer der kapitalistischen Trusts vieles sich dem Auge der Welt verbirgt, vieles im Geheimen getan wird, so geschieht es auch in jener in sich geschlossenen Kaste der Arbeiterbürokratie, die einen eigenartigen Beamtentrust darstellt, der in allen Ländern mit entwickelter Arbeiterbewegung die Millionen-Organisationen der Arbeiter leitet. Ein charakteristisches Merkmal jeder Kaste ist ihre Abgeschlossenheit von der ganzen äußeren Welt, ihre Zugänglichkeit nur für Eingeweihte. Darum kann man tatsächliche Angaben über die Rolle der Arbeiterbürokratie nur mit großer Mühe erhalten.

Wenden wir uns in erster Linie der Arbeiterbewegung Deutschlands zu. Wie stark ist hier die Arbeiterbürokratie?

Wie groß ist der Einfluss der “Führer” auf die Massenbewegung? Verweilen wir zunächst bei der quantitativen Seite der Sache. Einige äußerst interessante Mitteilungen über die Rolle der Arbeiterbürokratie, d. h. über die Rolle der Beamten in der Sozialdemokratischen Partei und in den freien Gewerkschaften kann man im “Handbuch des Vereins Arbeiterpresse” finden. Dieses Handbuch erscheint erst seit drei Jahren und ist nur den Beamten der Arbeiterbewegung zugänglich. Im Buchhandel ist es nicht zu haben. Mit großer Mühe haben wir für unsere Arbeit ein Exemplar erstanden.30

Am Ende des Buches befindet sich ein alphabetisches Verzeichnis aller bezahlten Beamten, die im Dienste der Partei und der freien Gewerkschaften stehen. Dieses Namenregister nimmt allein 26 Seiten zu je drei Spalten in kleinstem Petitdruck ein. Nach unserer Rechnung beträgt die Gesamtzahl der bei der Partei und in den Gewerkschaften angestellten Beamten im Jahre 1914: 4010.31 In Groß-Berlin allein sind es 751, in Hamburg 390.32 Die große Mehrheit dieser “oberen” Vier- bis Fünftausend33 sind der Herkunft nach Arbeiter. Wir haben für mehrere Städte die Angaben genau durchgearbeitet und dabei folgendes Resultat erhalten:

Berlin. Auf jedes volle Hundert von Beamten, die Arbeiter waren, kommen von Nicht-Arbeitern: 17 Kontoristen, Verkäufer und Angestellte, 2 Rechtsanwälte, 4 Literaten, 1 Apotheker, 1 Kellner, 2 Kutscher, 1 Kaufmann.

Berlin und Provinz (ohne großstädtische Zentren). Auf 2 volle Hundert von Arbeiter-Beamten kommen: 27 Kontoristen, Verkäufer und Angestellte, 5 Maler und Musiker, 10 Journalisten, 3 Rechtsanwälte und Ärzte, 3 Kellner, 2 Kutscher.

Hamburg. Auf 1 volles Hundert von Arbeiter-Beamten kommen: 4 Kontoristen und Verkäufer, 3 Matrosen, 3 Kutscher, 2 Lehrer, 2 Kellner, 1 Literat, 1 Richter, 1 Ladenbesitzer.

München. Hier sind im ganzen 129 Partei- und Gewerkschaftsbeamte angestellt, davon: 85 Arbeiter, 13 Kontoristen und Verkäufer, 9 Journalisten, 4 Kaufleute, 3 Beamte, 3 Kellner, 1 Photograph, 1 Kutscher.

Frankfurt a. M. Im ganzen 103 Partei- und Gewerkschaftsbeamte, davon: 85 Arbeiter, 4 Literaten, 4 Verkäufer, 3 Kaufleute, 4 Beamte, 1 Friseur, 1 Kellner, 1 Kutscher.

Dresden. 153 Beamte, davon: 115 Arbeiter, 5 Literaten, 4 Beamte, 2 Kaufleute, 2 Verkäufer, 1 Maler, 1 Kellner, 1 Friseur.

Stuttgart. Im ganzen 134 Beamte, davon: 116 Arbeiter, 8 Kontoristen und Verkäufer, 4 Literaten, 4 Kaufleute, 1 Beamter, 1 Lehrerin.

Karlsruhe. Im ganzen 34, davon: 28 Arbeiter, 4 Angestellte, 1 Kaufmann, 1 Chemiker.

Im Allgemeinen ist das Bild überall ein und dasselbe; die große, die drückende Mehrheit der Beamten bilden Arbeiter. Das rein bürgerliche Element (Kaufleute, Akademiker, Literaten usw.) ist im opportunistischen Zentrum München, z. T. auch in Frankfurt und Stuttgart etwas stärker vertreten. Im Allgemeinen kann man jedoch sagen, dass unter den “oberen” 4000 Beamten der deutschen Arbeiterbewegung die Arbeiter das absolut überwiegende Element sind. Diese Tatsache kann nicht angezweifelt werden, und in dieser Beziehung treffen unsere Angaben mit allen übrigen Angaben zusammen.

Aber der Begriff “Arbeiter” an und für sich darf in diesem Fall nur mit größter Vorsicht angewandt werden. Besser wäre es, in diesem Falle nicht “Arbeiter” zu sagen, sondern “Arbeiter der Herkunft nach”. Denn solche Parteiführer wie Scheidemann, Ebert, Kolb, Legien, Pfannkuch u. a. gehören auch in die Rubrik der Arbeiter-Beamten. Scheidemann ist Setzer, Ebert Sattler, Legien Drechsler, Pfannkuch Tischler, Molkenbuhr Tabakarbeiter. In Wirklichkeit sind diese Leute bereits seit Jahrzehnten nicht mehr Arbeiter, sie haben ein Einkommen, das größer ist als das eines mittleren Bourgeois, und ihren Arbeiterberuf haben sie längst aufgegeben. Sie sind ebenso Arbeiter, wie die bekannten “Arbeiter”-Minister John Burns, Henderson, Fisher u. a. Und das bezieht sich nicht nur auf die Leute im Mittelpunkte, die auf der höchsten Stufe der bürokratischen Leiter stehen und alle Geschäfte leiten, wie Legien, Scheidemann usw. Das bezieht sich auf die große Mehrheit aller 4000 Beamten der deutschen Arbeiterbewegung. In der Provinz ist das Bild dasselbe. Die Beamten haben ihre eigentlichen Berufe längst aufgegeben. Sie sind nur noch dem Namen nach Arbeiter. In Wirklichkeit sind sie Bürokraten, die eine Lebensweise führen, die von der Lebensweise des mittleren Arbeiters sehr verschieden ist.

Die Arbeiterbeamten kommen sehr oft aus dem Kreis der Arbeiteraristokratie. Die Arbeiter-Bürokratie und die Arbeiter-Aristokratie sind zwei leibliche Schwestern. Die Gruppeninteressen der einen und der anderen fallen oft zusammen. Aber trotzdem sind Arbeiter-Bürokratie und Arbeiter-Aristokratie zwei verschiedene Kategorien.34

Die 4000 Beamten bilden eine besondere eigenartige Korporation, die eine Reihe von eigenen, rein beruflichen Interessen hat. Zum Schutz ihrer korporativen Interessen haben sie ihren besonderen Berufsverband der Partei- und Gewerkschaftsbeamten gegründet. Dieser Verband zählte 1913 3617 Mitglieder und hatte ein Einkommen von 252.372 Mark aus Mitgliedsbeiträgen. Die Zinsen vom Kapital (und andere Einkünfte) brachten ihm im Jahre 1913 47.352 Mark ein.35 Außerdem gründen die Beamten einzelner Zweige der Arbeiterbewegung noch besondere Unterstützungsvereine usw. So der Verband der in der Genossenschaftsbewegung angestellten Beamten. 1912 zählte dieser Verband 7.194 Mitglieder, sein Kapital betrug 2.919.191,20 Mark.36

Die Mitarbeiter der Arbeiterpresse, Redakteure, Korrespondenten, Berichterstatter usw., bildeten eine zahlreiche Gruppe für sich. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die freien Gewerkschaften allein im Jahre 1912 2.604.411 Mark für ihre Verbandsorgane ausgegeben haben.37 Fügt man 70 sozialdemokratische Zeitungen, alle möglichen sozialdemokratischen Zeitschriften und Wochenschriften hinzu, so beträgt die Summe der Honorare aller Mitarbeiter dieser Blätter viele Millionen Mark im Jahr. Man kann sich leicht vorstellen, welch eine stattliche Reihe von Journalisten, Sekretären usw. von diesen Millionen leben. Die an der Arbeiterpresse Beteiligten haben ihren besonderen Berufsverband, den Verein Arbeiterpresse, der schon über ein Jahrzehnt besteht. Dieser Verband hat eine ganze Honorarskala für Redakteure und Mitarbeiter ausgearbeitet. Das Honorar eines Redakteurs muss mindestens 2200 Mark betragen — bei einer zweijährlichen Gehaltserhöhung von 300 Mark — bis zu 4200 Mark jährlich.38 In Wirklichkeit wird erheblich mehr gezahlt. Es ist ein ständiger Mangel an Redakteuren. Oft kann man in der Parteipresse Annoncen sehen: Für die und die Zeitung wird ein Redakteur gesucht usw.

4000 Beamte sind nach unserer Berechnung in mindestens 12.000 — wenn nicht mehr — wichtigen Partei- und Gewerkschaftsämtern tätig. Jeder, mehr oder weniger tüchtige Beamte versorgt meist gleichzeitig zwei bis drei, oft noch mehr Ämter. Er ist zu gleicher Zeit Abgeordneter und Redakteur, Mitglied des Landtages und Parteisekretär, Vorsitzender einer Gewerkschaft, Redakteur und Abgeordneter, Vorsitzender eines Wahlkreises, Redakteur, Genossenschaftler, Stadtverordneter usw. So kumuliert sich die Macht in der Partei und in den Gewerkschaften in Händen dieser oberen 4000.39 Von ihnen hängt der ganze Betrieb ab. Sie halten den ganzen mächtigen Apparat der Presse, der Organisation, der Hilfskassen, den ganzen Wahlapparat usw. in ihren Händen.

Im Moment, in dem wir diese Zahlen schreiben, kommt die Nachricht von dem

Jahre

Gesamtzahl der Komitees

Komitee auf der Grundlage der Gleichberechtigung

Gleiche Zahl v. Jugendlichen und “Erwachsenen”

Nur “Erwachsene”

Mehr als 2/3 “Erwachsene”

Mehr als 1/3 “Erwachsene”

Bildungsausschüsse (Erwachsene), die als Jugendorganisationsausschüsse fungieren

Nur Jugendliche

1909-1910

360

-

-

-

-

-

-

-

1910-1911

454

-

-

-

-

-

-

-

1911-1912

574

132

53

89

11

66

62

-

1912-1913

655

125

75

119

13

82

76

2

1913-1914

837

117

32

104

37

70

112

3

Tode des hervorragenden Hamburger Sozialdemokraten Adolf v. Elm. In dem Nachrufen werden alle Ämter aufgezählt, die von Elm in den letzten Jahren seines Lebens inne hatte. Wir haben 1½ Dutzend solcher Ämter in Gewerkschafts- und Genossenschaftsorganisationen gezählt. Reichstagsabgeordneter, Vorsitzender der Pressekommission, Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion des Stadtparlaments, Vorsitzender der Ortsleitung der En-gros-Einkaufsgesellschaft usw. usw., das sind seine Ämter. Und von Elm ist absolut keine Ausnahme.

Über die Zahl der beamteten Personen und der “Vertreter” in den einzelnen Provinzial-Organisationen der Sozialdemokratischen Partei gibt es in der Presse nur wenig Material. Aber einzelne Beispiele sind bemerkenswert. So hatte die badische sozialdemokratische Bezirksorganisation im Jahre 1905 im Ganzen 7332 Mitglieder, die Zahl der sozialdemokratischen Gemeindevertreter aber betrug über 1000.40 In Baden war also jedes siebente Parteimitglied in gewissem Sinne Parteibeamter.

Aber die wirkliche Macht in der Partei hält nicht die verhältnismäßig breite Schicht von “Vertretern” in Händen, Sie liegt in Händen der viel kleineren Schicht von Parteibeamten, der höheren Bürokratie. Mehr als tausend von kleinen Beamten, Kontoristen, Expedienten usw. befindet sich in direkter wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Partei- und Gewerkschaftsführern. Schon 1904 waren allein in den Druckereien der sozialdemokratischen Parteien 1476 Mann beschäftigt (die Zahl der Redakteure betrug 329). Im Jahre 1908 arbeiteten nur in der Vorwärtsdruckerei 298 Mann. All diese Menschen befinden sich in ebensolcher wirtschaftlichen Abhängigkeit von den höheren Parteibürokraten wie die Arbeiter von einem beliebigen Privatunternehmer.

Der Umsatz des “Vorwärts” allein erreicht 1914/15 (vom 1. April 1914 bis 31. März 1915) 1.904.659,99 Mark, d. h. gegen 2 Millionen Mark. Das Honorar der Redaktionsmitglieder dieser Zeitung betrug im selben Jahr 94.005,08 Mark. Für Redakteure und Mitarbeiter sind im Laufe des Jahres 239.754,70 Mark ausgegeben worden. Im Jahre 1915/16 (vom 1. April 1915 bis 31. März 1916) war der Umsatz in Anbetracht des Krieges auf 1.406.726,67 Mark gesunken. Die Ausgaben für Honorare blieben ungefähr die gleichen.41 Im Berichtsjahr 1915 betrugen die Ausgaben für den Druck des “Vorwärts” 997.573,35 Mark, also fast eine Million. Die Verwaltung der Zeitungsexpedition kostete in jenem Jahr 33.914,91 Mark, die Gesamtausgaben der Expedition betrugen 419.773,74 Mark.42 Schon der “Vorwärts” allein ist ein großes Unternehmen, das mehrere hundert Parteibeamte und Angestellte ernährt. Und auf diese Beamten stützte sich vor allem der Parteivorstand (Scheidemann & Co.), als er Ende 1916 mit Hilfe der Behörden vom “Vorwärts” Besitz ergriff und den rechtmäßigen Anspruch der Berliner oppositionellen Organisation verletzte. Auf diese Beamten stützte sich auch die Parteileitung in Bremen, Stuttgart und in einer Reihe anderer Städte, als sie mit Methoden brutaler Gewalt der oppositionellen Mehrheit die Ortszeitung, den Bücherverlag, die Kasse usw. entriss. Als juristischer Eigentümer des Parteibesitzes tritt meistenteils dieser oder jener Parteibeamte auf. Spricht sich die Mehrheit der Arbeiter an einem Ort gegen die Parteileitung aus, so appelliert der juristische Eigentümer mit Scheidemanns Segen an das “Gesetz”. Die Redakteure, die die Ansichten der Opposition zum Ausdruck bringen, werden entlassen, nachdem man ihnen das Gehalt für 6 Wochen im voraus gezahlt hat, und plötzlich wird die Zeitung “patriotisch” … Die Offenheit, mit der in solchen Fällen die reaktionäre Rolle der Arbeiterbürokratie an den Tag tritt, lässt nichts zu wünschen übrig.

Einen frischeren Zug brachten die Jugendorganisationen hinein. Hier gab es keine geisttötende Routine. Diese Organisationen besaßen eine Selbstverwaltung auf wirklich demokratischer Grundlage. In ihnen herrschte ein Geist von Gleichheit und Brüderlichkeit, jeder Bürokratismus war verpönt. Und was geschah? Es waren kaum zehn Jahre vergangen, als die offizielle Partei (der “Erwachsenen‘‘) es fertig gebracht hatte, auch in die Jugendkomitees ihre Bürokraten hineinzusetzen. Folgende Tabelle illustriert diesen Prozess der Verdrängung der demokratischen Selbstverwaltung durch den Bürokratismus von oben:

Die Organisationsausschüsse der Jugend43

Selbstverständlich haben die Jugendorganisationen nie daran gedacht, eine gutwillige Hilfe von Seiten “erwachsener” Marxisten abzulehnen. Im Gegenteil, sie schätzten sie sehr hoch ein. Aber die “Parteispitzen” begnügten sich damit nicht. Sie wollten den ganzen Organisationsapparat der Jugendorganisationen in ihre Hände bekommen. Denn bekanntlich sind ja die Jugendlichen ein “unzuverlässiges” Volk von Schwärmern. Und durch systematische Bemühungen ist es der “älteren” Generation der Opportunisten absolut gelungen, ihr Ziel zu erreichen. Innerhalb der sensiblen, in ständiger Gärung befindlichen sozialdemokratischen Jugend Deutschlands herrscht fast ungeteilt eine Opposition gegen den offiziellen Kurs. Aber das offizielle Jugendblatt, die offiziellen Jugendausschüsse stehen voll und ganz hinter Scheidemann und Genossen. Die “erwachsenen” Bürokraten haben ihre “Pflicht” gegenüber der “Partei” erfüllt. Wo aber die Jugend während des Krieges versuchte, die Selbständigkeit ihrer Organisation zu verteidigen, dort wurde ihr die Existenzmöglichkeit genommen, wurden ihr die Parteiunterstützungen entzogen, wurde sie aus den Volkshäusern, in denen sie ihren Sitz hatte, hinausgeworfen. Schließlich wurden die widerspenstigen Organisationen ganz aufgelöst. So geschah es vor kurzem erst in Hamburg, einem der größten Zentren der deutschen Arbeiterbewegung.

Die Gewerkschaften bringen in ihrer Literatur ausführliche Angaben über die Geldsummen, mit denen der Unterhalt der Bürokratie in der Gewerkschaftsbewegung bestritten wird. Im Jahre 1914 allein betrugen die Verwaltungskosten in den freien Gewerkschaften Deutschlands die runde Summe von 12.877.090 Mark.44 Die Verwaltungskosten sind zum größten Teil Ausgaben für den Unterhalt der Beamten. Denn alle anderen Rubriken der Ausgaben für Agitation, Bildungszwecke usw. sind besonders verzeichnet. So ergibt es sich, dass die Ausgaben für den Unterhalt der Gewerkschaftsbürokratie und einige andere Ausgaben der Verwaltung zusammen 13 Millionen Mark jährlich, also über 1 Million monatlich ausmachen. Dass der Löwenanteil dieser Summen unmittelbar für die Gehälter der Gewerkschaftsbeamten verbraucht wird, das geht aus den Zahlen der Ausgaben der Zentralverwaltung der freien Gewerkschaften hervor. Hier werden die Ausgaben für Gehälter getrennt aufgeführt. Von 2.009.834 Mark der Verwaltungskosten betragen die Gehälter, die persönlichen Verwaltungskosten, 1.266.615 Mark.45

Die Gesamtsumme aller Ausgaben der freien Gewerkschaften im Jahre 1914 beträgt 79.547.272 Mark. Von diesen fast 80 Millionen sind 12 Millionen Mark innerhalb eines Jahres (1914) für Agitation, Aufrechterhaltung der Verbindungen usw. und 2.598.476 Mark für Bildungszwecke ausgegeben worden. Das sind wiederum 1212 Millionen Mark, von denen ein guter Teil ebenfalls für persönliche Honorare der Referenten, Journalisten usw. ausgegeben wurde. Diese 25 Millionen, die jährlich für Verwaltung, Agitation usw. verausgabt werden, sammeln selbstverständlich mehr als ein Tausend von Gewerkschaftsbeamten um sich, die eine geschlossene Kaste bilden.

Wir lassen hier die neuesten Angaben über die Zahl der Beamten in den freien Gewerkschaften Deutschlands folgen; diese Angaben sind im Oktober 1916 veröffentlicht worden. In 46 Gewerkschaften — es handelt sich stets nur um die freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften — waren 1914 vor Kriegsbeginn Beamte angestellt:

In den

Zentralstellen

407

Gauleitungen

429

Zweigvereinen

1956

Redaktionen der Gewerkschaftsblätter

75

Insgesamt

286746

Gegen Ende 1914 sank diese Zahl auf 2287 herab, gegen Ende 1915 auf 1477. Der Krieg hat die Zahl der Beamten um die Hälfte verringert. Aber als normale Zahl muss natürlich diejenige betrachtet werden, die vor dem Kriege bestand. So sind in den deutschen freien Gewerkschaften fast 3000 bezahlte Angestellte — Sekretäre, Vorsitzende, Redakteure usw. — beschäftigt.

Im Jahre 1915 — also bereits im Kriege — betrugen die Kosten der Hauptverwaltung der deutschen freien Gewerkschaften 1.718.820 Mark. Die Ausgaben sind in zwei Rubriken geteilt: in Materialausgaben und Personalausgaben Jene betrugen 1915 488.389 Mark, diese, d. h. vor allem die Beamtenhonorare, 1.230.431 Mark. Und das nur in der Hauptverwaltung! Zusammen mit den Ausgaben der Ortsabteilungen betrugen die Verwaltungskosten im Jahre 1915 9.721.190 Mark, d. h. fast 10 Millionen. Die Herausgabe der Gewerkschaftsorgane — eine besondere Rubrik — kostete 1914 2.079.049 Mark (Auflage 2.610.695), 1915 1.225.165 Mark (Auflage 1.328.218).47 Selbstverständlich wird ein guter Teil von diesen Summen für Gehälter an Gewerkschaftsbeamte, Redakteure, Redaktionssekretäre, ständige Mitarbeiter usw. verausgabt.

Diese Summen sind unerhört hoch!

Sowohl in der Sozialdemokratischen Partei als auch in den freien Gewerkschaften sehen wir eine sehr starke Spezialisierung der Funktionen — ein für die Arbeiterbürokratie äußerst günstiger Umstand. Hunderte von Arbeiterbürokraten spezialisieren sich für Kommunalpolitik, für Versicherungsfragen, für Genossenschaftswesen usw. In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hat die Einteilung der Redner nach ihren Fachkenntnissen äußerste Grenzen angenommen. Ebenso sieht es in der Gewerkschaftsbewegung aus. Eine ganze bürokratische Wissenschaft — wenn man so sagen darf — ist entstanden. Die Statuten des deutschen Metallarbeiterverbandes z. B. enthalten 47 Druckseiten mit 39 Paragraphen, von denen wiederum viele in 10—12 Punkte untergeteilt sind. Das ist eine ganze bürokratische Enzyklopädie. Der Nichteingeweihte muss sich da unweigerlich verirren. Nur ein Fachmann, ein Beamter, der Jahre hindurch damit zu tun hatte, kann sich darin zurechtfinden.

Die guten deutschen Sozialreformatoren sind sehr besorgt, dass die Sozialdemokratie “genügend vorbereitete” Führer habe, dass die Beamten der Arbeiterbewegung sich auf der “notwendigen Höhe” befinden. Der bürgerliche Professor, Ferdinand Tönnies (jetzt offener Imperialist) schlägt vor, dass die sozialdemokratische Partei reguläre Prüfungen einführe. Bevor ein Parteimitglied als Kandidat für die Wahlen oder für einen Sekretärposten aufgestellt wird, soll er eine Prüfung ablegen.48 Der bekannte Professor Heinrich Herkner geht noch weiter. Er stellt die Frage, ob sich die großen Gewerkschaftsverbände überhaupt mit Führern begnügen könnten, die aus Arbeiterkreisen stammen. Er sieht voraus, dass die Gewerkschaften bald gezwungen sein werden auf ausschließlich proletarische Elemente zu verzichten und als Leiter Personen vorzuziehen, die nationalökonomische, juristische und Handelsschulbildung besitzen.49 Das bedeutet nichts anderes, als dass den Arbeitern vorgeschlagen wird, sich gebildete bürgerliche Führer zu wählen, sich ihre Beamten in den Reihen der “über den Parteien stehenden” bürgerlichen Intelligenz zu suchen. Und dieser Vorschlag kommt gar nicht so unerwartet, wenn man sich der Gebräuche erinnert, die in der Arbeiterbewegung anderer fortgeschrittener Länder üblich sind. In England z. B. suchte sich noch vor ganz kurzem die von den Trade-Unions gegründete sozialistische Zeitung “Daily Citizen” ihre Redakteure unter den Mitarbeitern der bürgerlichen “Daily Mail”. Unter den sozialistischen Schriftstellern konnte oder wollte die “Daily Citizen” keine genügend erfahrenen Journalisten finden. Die Zeitung wurde nach dem Muster der “großen” europäischen Zeitungen organisiert, innerhalb kurzer Zeit fraß sie eine Million auf und ging ein. Das ist jedenfalls ein sehr charakteristisches Sittenbild…

Die reaktionäre Rolle der Gewerkschaftsbürokratie bestätigen selbst so gemäßigte Leute wie die Historiker der englischen Gewerkschaftsbewegung, die Eheleute Webb. Aber auf diese Rolle der Arbeiterbürokratie in England (die Zahl der höheren Beamten in den englischen Trade-Unions betrug 1905 1000; spätere Angaben haben wir leider nicht finden können) können wir hier nicht näher eingehen. Das würde uns zu weit führen.

Im Land der “unbeschränkten Möglichkeiten”, in Amerika, verkaufen sich die Führer der Arbeiterverbände ganz offen der Bourgeoisie. Dort wird die materielle Abhängigkeit der Führer von der Bourgeoisie nicht einmal besonders geheim gehalten. Dort ist es vollkommen Sitte, dass die Kapitalisten nach Abschluss eines Tarifvertrages mit den Gewerkschaften den Arbeiterführern und ihren Frauen wertvolle “Geschenke” machen. Das ist natürlich ganz gewöhnliche Bestechung. Die Arbeiterführer sind dort oft einfache Handlanger der Bourgeoisie, “labour lieutenant of the capitalist dass” wie man in Amerika sagt. Das sind nicht mehr kleinbürgerliche Überlieferungen, nicht mehr Gruppeninteressen der Arbeiteraristokratie, das ist ganz einfach Käuflichkeit. Hier handeln vor den Präsidentenwahlen die Trade Unions en gros und en detail mit Arbeiterstimmen. Die Vorsitzenden der Arbeiterverbände sind hier gleichzeitig in den Kapitalistenverbänden hervorragend tätig.

Ein Beispiel: der berühmte Samuel Gompers. Er ist gleichzeitig Präsident der Federation of Labor, also des Gewerkschaftsbundes der Arbeiter, und erster Vizepräsident der Civic Federation, der wichtigsten Kapitalistenorganisation zur Bekämpfung des Sozialismus. Als Gompers im Jahre 1909 nach Europa kam, begrüßte ihn K. Kautsky höhnisch: “Willkommen Kollege — Vorsitzender der amerikanischen Arbeitergewerkschaften, machen Sie, dass Sie fortkommen, Herr Vizepräsident des ‚Reichsverbandes‘ der amerikanischen Kapitalisten.”50

Aber nirgends vielleicht tritt die reaktionäre Rolle der “sozialistischen Bürokratie” mit solcher Anschaulichkeit hervor wie in Australien, diesem gelobten Land des Sozial-Reformismus. Das erste “Arbeiterministerium” in Australien wurde in Queensland im Dezember 1899 gebildet. Und seitdem ist die australische Arbeiterbewegung fast unausgesetzt eine Beute der nach Karriere strebenden Führer gewesen. Auf dem Rücken der Arbeitermassen erheben sich, eines nach dem anderen, kleine Häuflein von Aristokraten der Arbeit, aus deren Mitte die zukünftigen Arbeiterminister hervortreten, die der Bourgeoisie treue Dienste leisten. Alle diese Hollman, Cook, Fisher waren früher Arbeiter. Sie treten auch jetzt als Arbeiter auf. Aber in Wirklichkeit sind es nur Agenten der Finanzplutokratie im Lager der Arbeiter. Die Kaste der “Führer” tritt hier ganz offen als eigenartiger Beamtentrust auf. Die Arbeiterpartei als solche erscheint nur während der Parlamentswahlen auf der Bildfläche. Sind die Wahlen zu Ende, dann verschwindet die Partei wieder für drei Jahre. Die Parteikongresse sind nur Kongresse von Parteibeamten. Von wirklichen Vertretern der Arbeitermasse kann dort gar keine Rede sein. Der Parteiführer (Leader) wird in der Konferenz gewählt und fungiert als solcher bis zu den Neuwahlen in der nächsten Konferenz. Wird er ins Parlament gewählt, so ist er auch Leader der Parlamentsfraktion. Hat die Partei im Parlament die Mehrheit, so wird ihr Führer Premierminister und bildet ein “Arbeiterministerium”. Die Macht dieses Leader ist fast unbegrenzt. Es ist soweit gekommen, dass der “Arbeiter”-Minister von Neusüdwales, Hollman (ein früherer Zimmermann), in der Parteikonferenz 1915 den Antrag stellte, dass der Leader nach eigenem Ermessen das Programm der Partei ändern könne, wenn dies für ihre “Rettung” notwendig sei.51 Mit welchen Mitteln die Fisher, Hollman & Co. die Arbeiterpartei “retten”, haben wir jetzt genügend anschaulich gesehen. Diese “Leader” haben sich als schlimmste Chauvinisten erwiesen. Die Mehrheit der Arbeiter hat sich gegen die Einführung der Militärpflicht in Australien ausgesprochen. Aber Fisher und seine Freunde vertreten weiter den Standpunkt der Bourgeoisie.

Als vor noch nicht allzu langer Zeit der dänische Sozialist Stauning Minister wurde, da beglückwünschte ihn Huysmans zu seinem Erfolg, und er stellte freudig fest, dass Stauning der zehnte sozialistische Minister sei. Es wäre interessant zu wissen, ob Huysmans zu den zehn Ministern auch Fisher zählt

Eine Beruhigung aber bleibt den Gegnern Fishers: selbst im entfernten Australien kommt es zu einem offnen Bruch zwischen Fisher und den wirklichen Arbeiterorganisationen. Es gibt nichts Böses, das nicht auch gute Seiten hätte. Die jetzige Krise hat die Lage ungeheuer verschärft, und sie wird zu einer guten, gesunden “Reinigung” der demokratischen Reihen führen.

*

Die weitsichtigsten der deutschen Reaktionäre haben schon lange vor dem Krieg gewusst, dass die offizielle Organisation der deutschen Sozialdemokratie durch und durch “verbürgerlicht” ist. Und sie sagten ganz offen, dass sie im kritischen Moment an die Führer, an die Spitzen der offiziellen Sozialdemokratischen Partei gegen die Arbeitermasse appellieren werden. In dieser Beziehung liefert uns der bekannte konservative Politiker und Historiker Hans Delbrück, der Herausgeber der einflussreichen “Preußischen Jahrbücher”, ein krasses Beispiel an Aufrichtigkeit. Er ist einer der gebildetsten und klügsten Politiker des regierenden Deutschland. Mit ungeschwächter Aufmerksamkeit verfolgt er seit Jahrzehnten die Evolution der deutschen Sozialdemokratie. Und gerade nach dem größten Wahlsieg der deutschen Sozialdemokratie im Jahre 1912 kommt dieser weitsichtigste aller konservativen Politiker zu den für die Bourgeoisie und das Junkertum erfreulichsten Resultaten.

Delbrück tritt mit einem öffentlichen Vortrag über das Thema “Geist und Masse in der Geschichte” auf. In dieser Rede “beweist” der ehrenwerte Historiker, dass die “Masse” als solche zu handeln nicht fähig sei, und dass nur die Organisation, d. h. der Geist die Masse zur Aktion fähig mache.52 In eine einfache Sprache übersetzt bedeutet das: Wir brauchen den Viermillionensieg der Sozialdemokratie nicht zu fürchten; sind doch “Organisation” und “Geist” der deutschen Sozialdemokratie von Bürgerlichkeit durchtränkt, im entscheidenden Moment werden die Führer mit uns sein und die Massen hinter unserem Triumphwagen einher führen.

Franz Mehring hatte damals sofort (in einer Rezension der im Druck erschienenen Rede Delbrücks) den wahren Sinn dieser Rede aufgedeckt. Delbrück antwortet: “Indem ich dargelegt habe.., wie kraftlos die Massen an sich seien, meint Mehring, hätte ich zu verstehen geben wollen, dass wir uns nicht vor ihnen zu fürchten brauchten. Denn mit der Organisation könne man sich einmal auseinander setzen; mit den Führern ließe sich auf diese oder jene Weise irgendein Abkommen treffen. Ich habe diese Schlüsse nicht gezogen, kannte auch damals das Buch von Michels noch nicht (es handelt sich um das Buch ‚Zur Soziologie des Parteiwesens‘ von Michels, das sich mit der deutschen Sozialdemokratie befasst. Anmerkung d. Verf.), aber in der Tat, Mehring hatte nicht schlecht in meiner Seele gelesen.53

‚‚Was wurden die Patrioten alle blass, als im Februar 1912 dieses Wahlresultat bekannt wurde. Ich darf wohl sagen, dass ich mich nicht so habe täuschen lassen. Wer will, mag es nachlesen in den ‚Preußischen Jahrbüchern‘, wo ich damals schon geschrieben habe, der neue Reichstag habe eine so günstige Zusammensetzung, wie wir sie noch gar nicht erlebt hätten.”54 Kann man eine größere Offenheit verlangen? Und kann man etwa leugnen, dass Delbrück recht gehabt hat, als er die offiziellen Führer der deutschen Sozialdemokratie als seine Leute betrachtete, als er die offizielle Organisation der deutschen Sozialdemokratie als gegenrevolutionären, arbeiterfeindlichen Faktor einschätzte?

Ein anderes Beispiel! In einem im April 1915 geschriebenen Artikel sagt Professor Schmoller:55 Seit 1890 hätten die gebildeten, geistig hoch stehenden Führer der Sozialdemokratie die wichtigsten Glieder des marxistischen Glaubensbekenntnisses eins nach dem andern aufgegeben, drei Viertel der Gesamtzahl der sozialdemokratischen Wähler seien keine Sozialdemokraten. Die Zahl der Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei übersteige um ein Geringes 1 Million, die freien Gewerkschaften hätten 3 Millionen Mitglieder. Das Jahreseinkommen der Sozialdemokratischen Partei betrage 1 Million Mark. Das Jahreseinkommen der freien Gewerkschaften 80-90 Millionen Mark. In der politischen Organisation habe sich eine Aristokratie und Bürokratie von 5.000 bis 10.000 gut bezahlten Führern gebildet, die, ohne es zu wollen und zu wissen, das ultra-demokratische Prinzip in der Partei ad absurdum geführt hätten. Die normale Entwicklung der Genossenschaften lasse ihre Mitglieder ebenfalls nach und nach das Ideal des Klassenkampfes vergessen. Kurz, die marxistische Arbeiterpartei in Deutschland befände sich im Prozess bürgerlicher Wandlung — wie sehr sie selbst diese Tatsache auch leugnen möge.

Schmoller fährt fort: “Die Parteibeamten, die ihrem allgemeinen Unterstützungsverband beigetreten sind, nahmen von 1902 bis 1911 von 433 auf 2.948 zu; darunter sind auch manche Gewerkschaftsbeamte, aber die Mehrzahl dieser ist hier nicht beigetreten. Der Kern der Partei ist so in gewissem Sinne eine einheitliche Beamtenmaschine geworden. Ihre Führer sind die, welche durch Wahl und Leistungen in der Partei an die Spitze kommen, wachsende Gehälter von 2500-8000 Mark erhalten (und) teilweise auch wohlhabende, ja reiche Leute wurden.

Fast höher als Parteiführer stehen im ganzen die Führer und höheren Beamten der Gewerkschaften, zumal die Leiter der größeren Verbände, wie Schlicke an der Spitze des riesenhaften Metallarbeiterverbandes und Leipart an der der Holzarbeiter; sie verwalten Vermögen von mehreren Dutzend Millionen Mark, haben eine drittel bis eine halbe Million Arbeiter hinter sich; sie stehen an Organisationstalent, Macht und Einfluss fast schon ebenbürtig neben unseren großen Kartellhäuptlingen.”56

So urteilten — und von ihrem Standpunkt aus ganz richtig — die Ideologen der Bourgeoisie

Die reaktionäre Rolle der Arbeiterbürokratie sahen seit langem natürlich auch die Sozialisten, aber noch nicht so klar wie nach der anschaulichen Lehre des 4. August 1914. Einer der Führer der deutschen Gewerkschaftsbewegung, der Vorsitzende des Buchbinderverbandes, erklärte einmal in einer Konferenz der Gewerkschaftsleitung ganz offen und ehrlich, er sage es nicht aus Vorwurf, aber es sei doch ganz selbstverständlich, dass sie alle, als sie noch an der Weltbank standen, und sich mit geringen Löhnen begnügen mussten, persönlich mehr daran interessiert gewesen seien, dass bald eine neue Gesellschaftsordnung einträte, als jetzt. Das Protokoll vermerkt, dass der Redner an dieser Stelle von zahlreichen Zurufen, die sich gegen die von ihm geäußerte Meinung richteten, unterbrochen wurde. Aber irgend jemand machte von seinem Platz aus den Zwischenruf: “In Bezug auf die Parteibeamten stimmt das noch mehr”.

Wilhelm Liebknecht war sich vollkommen bewusst, dass unter den Parteiführern die Arbeiteraristokratie vorherrschte. “Sie, die Sie hier sitzen”, — wandte er sich einmal an die Mitglieder eines Parteitags, — “sind ja zum größten Teil auch gewissermaßen Aristokraten unter den Arbeitern — ich meine in Bezug auf die Einnahme. Die arbeitende Bevölkerung im sächsischen Erzgebirge, die Weber in Schlesien würden das, was Sie verdienen, für ein Krösuseinkommen ansehen”.57 August Bebel hat oft unterstrichen, wie sich die Stimmung der Führer ändert, sobald sie das Lebensniveau der Bürokratie, des Beamtentums, der Aristokraten der Arbeit, erreicht haben. Auf dem Dresdener Parteitag sagte Bebel, dass die Mehrheit der Parteibeamten Leute seien, die in ihrer nun erreichten Stellung einen gewissen Abschluss ihrer Karriere sähen.

Die Gefahr, die dem orthodoxen Sozialismus von dieser Seite aus drohte, stellten auch die ehrlichen Revisionisten offen fest. Kein anderer als Wolfgang Heine schrieb in Bezug auf den Fall des Pastors Göhre: “Hier zeigt sich der Anfang einer Gefahr, die in volkstümlichen Verwaltungen leider nahe liegt, dass nämlich sich an Stelle wahrer Volksherrschaft die Allmacht der Ausschüsse entwickelt.”58 Tatsächlich tritt in Deutschland schon seit langem die Erscheinung auf, dass eine immer größere Zahl von Funktionen, die früher von den Wahlvereinen, d. h. von größeren Organisationszellen, erfüllt wurden, immer mehr in die Hände von engeren Ausschüssen übergeht. Für die Führer aber ist selbst das noch zu demokratisch. Sogar einige Führer des “radikalen” Flügels der deutschen Sozialdemokratie vertraten vor dem Kriege auch oft den Standpunkt, dass man den Demokratismus nicht zu weit treiben dürfe.59

Im Jahre 1911 veröffentlichte Robert Michels, ein früheres Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, jetzt “sozialistischer” Professor in Turin, ein Buch unter dem Titel “Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie”. Die Forschung beruht hauptsächlich auf Tatsachen aus dem Leben der deutschen Sozialdemokratie. Der Verfasser hat keinen eigenen einheitlichen Standpunkt. Er schwankt zwischen vulgärem Reformismus und quasi-revolutionärem Syndikalismus hin und her. Die Verallgemeinerungen ‚ die er macht, sind oft sehr übereilt und halten nicht einmal einer schwachen Kritik stand. So z. B. neigt der Verfasser zu der absolut falschen Auffassung, dass die angefaulte bürokratische Oberschicht eine in jeder Demokratie unvermeidliche Erscheinung sei: der Verfasser meint fatalistisch, diese Erscheinung sei an das Wesen der Demokratie selber gebunden. Aber die Beobachtungen und das Material, das der Verfasser gesammelt hat, sind von großem Interesse.

Die Herrschaft der bürokratischen Oberschicht über die ganze Masse der Mitglieder und Anhänger der deutschen Sozialdemokratie hat Michels graphisch folgendermaßen dargestellt [siehe unten]:

Die Basis der Pyramide bildet die Viermillionenmasse der sozialdemokratischen Wähler. Dann folgt die noch immer sehr zahlreiche Schicht der Parteimitglieder, die gegen eine Million ausmacht. Weiter folgen die Besucher der Mitgliederversammlungen, die schon an Zahl bedeutend geringer sind. Über ihnen steht die kleine Gruppe der Parteibeamten, und die Spitze der Pyramide schließlich bildet die kleine Kaste der wichtigsten Parteibeamten — die Ausschüsse.60 So gerät der mächtige Apparat, der einen ungeheuren Einfluss auf den Lauf der Dinge in der deutschen Sozialdemokratie ausübt, in die Hände der Ausschüsse, d.h. in die unkontrollierbare Verfügung einer oligarchischen Gruppe von ein paar tausend Beamten.

*

Der bekannte holländische Marxist Anton Pannekoek, der viele Jahre hindurch in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie tätig gewesen ist, charakterisiert die jetzige Lage in der Partei folgendermaßen. “Die deutsche Sozialdemokratie … ist eine fest gefügte Riesenorganisation, die fast wie ein Staat im Staate lebt, mit eigenen Beamten, eigenen Finanzen, eigener Presse, mit einer eigenen geistigen Welt, einer eigenen Ideologie … Der ganze Charakter dieser Organisation ist der ruhigen vorimperialistischen Zeit angepasst; und die Träger dieses Charakters sind die Beamten, die Sekretäre, die Agitatoren, die Parlamentarier, die Theoretiker und Schriftsteller, die mit ihrer mehrere Tausende umfassenden Anzahl schon eine eigene Kaste, eine Gruppe mit eigenen Interessen bilden und dabei die Organisation völlig beherrschen, geistig und materiell. Es ist kein Zufall, dass sie alle, mit Kautsky an der Spitze, von einem wirklichen scharfen Kampf gegen den Imperialismus nichts wissen wollen. Ihr ganzes Lebensinteresse widersetzt sich der neuen Taktik, die ihre Existenz als Beamten gefährdet. Ihre ruhige Arbeit in Büros und Redaktionen, in Konferenzen und Ausschusssitzungen. in dem Schreiben gelehrter und nicht gelehrter Artikel gegen die Bourgeoisie und gegeneinander — dieses ganze friedlich-geschäftige Treiben wird durch die Stürme des imperialistischen Zeitalters bedroht… Dieser ganze bürokratisch-gelehrte Apparat … ist nur dadurch zu retten, indem er außerhalb des wüsten Lärms, außerhalb des revolutionären Kampfes, also außerhalb des wirklichen großen Lebens (Und damit in den Dienst der ‚eigenen‘ Bourgeoisie. — d. Verf.) gestellt wird. Befolgte die Partei und die Leitung die Taktik der Massenaktionen, so würde die Staatsgewalt sofort die Organisationen — die Grundlage ihrer ganzen Existenz und Lebenstätigkeit — angreifen und vielleicht zerstören, die Kassen konfiszieren, die Führer verhaften. Natürlich wäre es eine Illusion, wenn sie glaubte, damit die Kraft des Proletariats gebrochen zu haben: die Organisationsmacht der Arbeiter besteht nicht in der äußeren Form der Verbandskörper, sondern in dem Geist des Zusammenhaltens, der Disziplin, der Einheit; und damit würden die Arbeiter neue bessere Formen der Organisation schaffen. Aber für die Beamten wäre es das Ende, denn jene Organisationsform ist für sie ihre ganze Welt, ohne die sie nicht bestehen und wirken können. Der Selbsterhaltungstrieb, das Gruppeninteresse ihrer Zunft muss sie daher zu der Taktik zwingen, dem Imperialismus auszuweichen und ihm nachzugehen.”61

All das darf natürlich nicht zu sehr vereinfacht aufgefasst werden. Objektiv hat die Arbeiterbürokratie — die so genannten Führer — am 4. August in Deutschland, und nicht nur dort, einen Verrat an der Sache der Arbeiter begangen. Aber das soll nicht heißen, dass jeder dieser Führer sich im entscheidenden Moment sagte: ich werde mal lieber auf die Seite der Bourgeoisie gehen, sonst verliere ich meinen Verdienst, meine öffentliche Stellung. Keineswegs! Viele Mitglieder dieser Kaste sind auch jetzt subjektiv überzeugt, dass sie ausschließlich im Interesse der Arbeiterklasse gehandelt haben, dass ihr Verhalten von den besser verstandenen proletarischen Interessen diktiert war. Wenn wir vom “Verrat der Führer” sprechen, so wollen wir absolut nicht sagen, dass es sich um ein abgekartetes Spiel, um einen mit vollem Bewusstsein unternommenen Verkauf der Arbeiterinteressen handelt. Das zu behaupten liegt uns fern. Aber das Bewusstsein wird durch das Sein bestimmt, und nicht umgekehrt. Das ganze soziale Wesen dieser Kaste der Arbeiterbürokratie führte beim alten Tempo der Bewegung, in der “friedlichen” Vorkriegsepoche, unvermeidlich zu einer vollkommenen Verbürgerlichung ihres “Bewusstseins”. Die ganze Lage dieser zahlreichen Führerkaste, die auf dem Rücken der Arbeiterklasse emporgeklommen ist, hat aus ihr eine soziale Gruppe gemacht, die objektiv als Agentur der imperialistischen Bourgeoisie betrachtet werden muss.

In der Diskussion mit dem Führer der Opportunisten, v. Vollmar, wies Bebel wiederholt darauf hin, dass die gesellschaftliche Stellung v. Vollmars (v. Vollmar gehört den oberen Schichten an und ist sehr reich) ihn verhindere, die Leiden der Arbeiterklasse zu verstehen und ihn dadurch zum Opportunisten mache, der zur nationalliberalen Politik neigt. Wenn das in Bezug auf einen einzelnen Menschen nicht immer richtig ist (der einzelne Mensch kann sich über das Niveau seiner Klasse, über seine gesellschaftliche Gruppe erheben) ‚ so ist es in Bezug auf die ganze soziale Schicht der Arbeiterbürokratie unbedingt richtig.

Die Entstehung einer ganzen zahlreichen Schicht von Arbeiterbürokraten — ebenso wie der Massenzustrom von Wahlmitläufern — ist gleichzeitig ein Symptom der Stärke und der Schwäche der Arbeiterbewegung. Der Stärke — weil sie von ungeheurem zahlenmäßigen Wachstum der Bewegung zeugt. Wenn eine Organisation nur ein paar tausend Mitglieder zählt, dann kann sie ohne bezahlte Beamte auskommen. Wenn sie aber Hunderttausende und Millionen von Mitgliedern zählt, so braucht sie unbedingt einen großen und komplizierten Organisationsapparat. Aber die Entstehung dieser Schicht wird zu einem Merkmal der Schwäche der Bewegung, wenn die Führer der Arbeiterorganisationen zu Beamten im schlimmen Sinne dieses Wortes ausarten, wenn sie davon zeugt, dass die Bewegung versumpft, dass es ihr im gegebenen Entwicklungsstadium an einem breiten proletarischen Schwung mangelt. Jedes Volk, heißt es, habe die Regierung, die es verdient. Schließlich muss man hinzufügen, dass auch jede Arbeiterbewegung die Führer hat, die sie verdient.

Die Arbeiterbürokratie hat zur Zeit der Krise bei Kriegsausbruch die Rolle eines reaktionären Faktors gespielt. Das ist zweifellos richtig. Aber das bedeutet nicht, dass die Arbeiterbewegung in Zukunft ohne einen großen Organisationsapparat, ohne eine ganze Schicht von Menschen, die speziell im Dienst der proletarischen Organisation stehen, auskommen kann. Nicht zurück zu jener Zeit wollen wir, da die Arbeiterbewegung so schwach war, dass sie auf eigene Angestellte und Beamte verzichten konnte, sondern vorwärts zu der Zeit, in der die Arbeiterbewegung selber eine andere sein wird, in der die stürmische Massenbewegung des Proletariats sich diese Beamtenschicht unterordnet, die Routine zerstört, den bürokratischen Rost fortwischt, neue Menschen an die Oberfläche bringt, ihnen Kampfesmut einflößt, sie mit neuem Geist erfüllt.

Die Korporation der “Führer” hat der Sache der Arbeiter einen schweren Schaden zugefügt. Kompromittiert sind nicht nur die Arbeiterführer, die aus der Bourgeoisie hervorgegangen sind, sondern auch die, die aus Arbeiterkreisen stammen, die von Arbeitern gewählt sind, die der Arbeiterdemokratie ihre Stellung verdanken. Das ist zweifellos wahr. Aber das bedeutet nicht, dass die Idee der Demokratie einen Zusammenbruch erlitten hat — Wie es der deutsche Konservative Delbrück nachzuweisen sucht, der überzeugt ist, dass die Rettung von allen Übeln im preußisch-monarchischen Prinzip liege; das bedeutet nicht, dass das Hin- und Herschwanken des Halbreformisten und Halbsyndikalisten Robert Michels zu rechtfertigen ist, der auch dazu neigt, den ganzen Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie Ursachen zuzuschreiben, die jeder auf demokratischer Grundlage aufgebauten Organisation innewohnen. Die giftige Pflanze der Arbeiterbürokratie ist auf dem Boden der “friedlichen” Epoche nicht dank, sondern trotz der demokratischen Organisation gewachsen. Bankrott hat nur der Opportunismus gemacht — der adäquate Ausdruck dieser Epoche — und nicht das demokratische Prinzip der Organisation. Es werden neue Zeiten kommen, und wir werden neue Lieder hören. Dem unkontrollierbaren Wirtschaften der Arbeiterbürokratie wird ein Ende gesetzt sein, sobald die Massen selber die historische Szene betreten. Die kommende neue Epoche wird eine neue Führergeneration hervorbringen und neue Formen der Kontrolle von Seiten der Arbeitermassen selber über ihre Abgeordneten und Bevollmächtigten schaffen.

Wir wollen absolut nicht behaupten, dass der Verrat der Führer die ganze Krise erklärt. Der Verrat der Führer selbst erklärt sich aus tieferen Ursachen, die in der Epoche liegen. Aber nicht alles kann auf die Epoche abgewälzt werden. Die Tatsache des Verrats der Führer darf nicht vertuscht werden. Der Verrat ist begangen worden. Die Dinge müssen bei ihrem Namen genannt werden. Unsre Sache ist — nicht nur den Ursprung des Opportunismus zu erklären, sondern auch den Opportunismus zu bekämpfen. Es ist nicht nur unsere Aufgabe, den “Verrat” auf seine Ursachen zurückzuführen, sondern auch die Verräter zu entlarven und sie unschädlich zu machen.

Der Verrat der offiziellen Führer der deutschen Sozialdemokratie, die konterrevolutionäre Rolle der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie im Kriege waren so himmelschreiend, dass man in der Zeitschrift der Leute vom sozialdemokratischen “Zentrum”, in der “Neuen Zeit” im Jahre 1916 folgende Zeilen lesen konnte, die aus der Feder des Gesinnungsgenossen Kautskys, des vor kurzem verstorbenen Gustav Eckstein. stammten “Die Führer‘‘, schrieb Eckstein, ‚‚sahen sich genötigt, in Worten radikal zu bleiben, um die Massen hinter sich zu behalten, tatsächlich aber sich zunächst nur der Erlangung kleiner Reformen zu begnügen, die eben ohne große Kämpfe erreichbar waren.” “Aus Gewohnheit” sagt Eckstein, “entstand bei den Führern ein ‚Augurenlächeln‘. Die Organisation wurde immer mehr Selbstzweck, der den Gedanken an die Erreichung des Endziels immer mehr aus den Köpfen und Herzen verdrängte.”62 Nach zwei Jahren Krieg mussten auch die ehrlichen Vertreter des “Zentrums” zugeben, dass die jetzige offizielle Organisation der deutschen Sozialdemokratie ein konterrevolutionärer Faktor ist, dass die Führer zu “Auguren” geworden sind. Das ist gerade das, was Rosa Luxemburg in der Polemik gegen Kautsky schon 1912 behauptet hat.

Robespierre versuchte seinerzeit einen Unterschied zu machen zwischen dem Vertreter des Volkes (répresentant du peuple) und dem Bevollmächtigten des Volkes (mandataire du peuple). Eine Vertretung des Volkes ist nach seiner Meinung nicht zu verwirklichen: “der Wille kann nicht vertreten werden” (“la volonté ne peut se représenter”). Robespierre anerkennt nur Volks-Bevollmächtigte. Der Bevollmächtigte des Volkes führt das aus, was ihm das Volk aufgetragen hat.

Die Kaste der opportunistischen Führer der Arbeiterbewegung ist — leider! — auch heute noch die formell anerkannte “Vertretung” der Arbeiterklasse. Aber ihrem Wesen nach ist diese Kaste das Werkzeug einer feindlichen Klasse. Die Mitglieder dieser Kaste, die formell die Vollmacht der Arbeiterklasse besitzen, sind in Wirklichkeit die Emissäre der bürgerlichen Gesellschaft im Lager des Proletariats.

Der Opportunismus und die Arbeiteraristokratie

Bis vor kurzem wurde die Frage der Arbeiteraristokratie und ihrer konservativen Rolle in der Arbeiterbewegung von den Theoretikern des Sozialismus fast ausschließlich als eine Frage der englischen Arbeiterbewegung behandelt. Die Epoche des neuesten Imperialismus, die Ereignisse in der Arbeiterbewegung der ganzen Welt im Zusammenhang nut dem Weltkrieg haben diese Frage in viel breiteren) Maßstab gestellt. Sie ist jetzt zu einer der Kernfragen der Arbeiterbewegung überhaupt geworden. Der Sieg des Opportunismus und des Sozialchauvinismus in Deutschland — und nicht in Deutschland allein — ist aufs engste verknüpft mit dem Sieg der eng-korporativen Interessen der verhältnismäßig kleinen Gruppe der Arbeiteraristokratie über die wirklichen Interessen der viele Millionen zählenden Arbeitermasse, die die Arbeiterklasse darstellt.

Lange Jahre hindurch war England das gelobte Land des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat und folglich — das gelobte Land des Opportunismus. Es ist in der sozialistischen Literatur zum Gemeinplatz geworden, dass dieser Umstand durch die monopole Lage Englands auf dem Weltmarkt bedingt sei. Die Mehrprofite, die die englische Bourgeoisie dank dieser monopolen Lage erhielt, gaben ihr die Möglichkeit, “ihre” Arbeiter zu bestechen und sie dadurch von der sozialistischen Bewegung loszureißen. Doch es wäre falsch zu glauben, dass die Freigebigkeit der englischen Kapitalisten sich gleichmäßig auf die ganze englische Arbeiterklasse erstreckte. Nein, durch ihre Almosen kauften sie hauptsächlich die Oberschicht der Arbeiterklasse — die Arbeiter-Aristokratie. Das genügte, um — unter für die Bourgeoisie sonst günstigen Bedingungen — die englische Arbeiterbewegung zu demoralisieren.

Unter den großen Massen des ungelernten Proletariats herrschte auch in England unbeschreibliche Not. Ihre Lage war nicht viel besser als die Lage ihrer Brüder in anderen Ländern. Selbst in der Blütezeit des englischen Kapitalismus gab es in England bedeutende Schichten ungelernter Arbeiter, die nicht in viel besseren Verhältnissen lebten, als sie von Friedrich Engels in seiner “Lage der arbeitenden Klasse in England” geschildert worden sind.

In einer bekannten Arbeit,63 die 1902 erschienen ist, beschäftigt sich Kautsky mit der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse in England in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Er macht eine klare Unterscheidung zwischen der Minderheit, den Qualifizierten, und der Mehrheit, den nicht qualifizierten Arbeitern. Kautsky analysiert die Tabelle, die der bürgerliche Nationalökonom A. L. Bowley zusammengestellt hat, der behauptet, dass in den dreißig Jahren von 1860 bis 1891 der Arbeitslohn der englischen Arbeiter um 40 Prozent gestiegen sei (es handelt sich um den nominellen Arbeitslohn) und er kommt zum Resultat, dass die Erhöhung des Arbeitslohns um 40 Prozent in der Zeit von 1860 bis 1891, die Bowley für die gesamte Arbeiterklasse Englands annimmt, nicht einmal für alle Schichten der Arbeiteraristokratie gilt. Kautsky behauptet, der Verfasser habe einfach angenommen, dass die allgemeine Lage der Arbeiterklasse sich im Durchschnitt ebenso gebessert habe wie die Lage der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter; diese machen aber auch in England nicht mehr als ein Fünftel aller Arbeiter aus. Kautsky beweist, dass die Zahlen Bowleys stark übertrieben sind, dass selbst der Arbeitslohn der ausgezeichnet organisierten Arbeiter der Eisenindustrie in England in der genannten Zeitperiode nur um 25 Prozent gestiegen ist.

Und so ist es zweifellos gewesen. Die große Masse der ungelernten Arbeiter führte eine klägliche Existenz. Aber die Minderheit der “Aristokraten” der Arbeit war durch kleine Almosen bestochen. So hatte die Bourgeoisie die Bewegung des englischen Proletariats sozusagen enthauptet. In England waren lange Zeit hindurch der organisierte Arbeiter und der qualifizierte Arbeiter Synonyme. In der Epoche des alten Trade-Unionismus bildeten die besser gestellten qualifizierten Arbeiter die Hauptmasse der Gewerkschaftsmitglieder. Auch in der Epoche des neuen Trade-Unionismus ist die Sachlage im Ganzen die gleiche geblieben. Die englischen Gewerkschaften umfassen auch heute noch kaum den fünften Teil aller Arbeiter. Viele Millionen von Arbeiterinnen und von den am schlechtesten bezahlten ungelernten Arbeitern sind auch jetzt nicht organisiert, stehen auch jetzt außerhalb der Trade-Unions.

Im Jahre 1902 schreibt Kautsky in der Charakteristik der “oberen Schichten der englischen Arbeiterklasse” (d. h. der Arbeiteraristokratie), dass diese Arbeiter heute kaum noch etwas anderes seien als kleine Bourgeois, die sich von den anderen nur durch etwas größere Unkultur unterscheiden und deren erhabenstes Ideal darin bestehe, ihre Herren nachzuäffen; ihre heuchlerische Respektabilität nachzuahmen, ihre Bewunderung für den Reichtum, wie immer er erworben sein mag, ihre geistlose Manier, die freie Zeit totzuschlagen. Die Emanzipation ihrer Klasse erscheine ihnen als ein törichter Traum, dagegen seien Fußball, Boxen, Pferderennen, Wetten Angelegenheiten, die sie aufs tiefste erregen, ihre ganze freie Zeit, ihre Geisteskraft, ihre materiellen Mittel in Anspruch nehmen.64

Die “kleinen Bourgeois” — die Arbeiteraristokratie — waren für die Großbourgeoisie die besten Mittel, um die bürgerlichen Ideen in die Arbeitermasse zu leiten. Indem die Großbourgeoisie diesen “kleinen Bourgeois” die Brocken vom überfüllten imperialistischen Tisch verabreichte, machte sie sie zu treuen Hunden der kapitalistischen Ordnung. Mit Hilfe eines dünnen goldenen Fädchens band sie sie an den Triumphwagen des Imperialismus fest, machte sie sie zu Agenten der Bourgeoisie, die dazu bestimmt waren, die Arbeiterbewegung systematisch zu demoralisieren, ihr das Gift des Opportunismus einzuimpfen. Die “kleinen Bourgeois” wurden zum zuverlässigsten Vorposten der imperialistischen Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse.

Wenn Kautsky in den genannten Ausdrücken von der bürgerlichen “Respektabilität” der englischen “kleinen Bourgeois” spricht, setzt er nur die Tradition von Marx und Engels fort. Die beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, die lange in England gelebt haben und daher die Möglichkeiten hatten, die reaktionäre Rolle der Aristokraten der Arbeit genau kennen zu lernen, predigten ihren Schülern beständig gerade eine solche Einschätzung der “kleinen Bourgeois”, wie wir sie bei Kautsky gesehen haben “Das Widerwärtigste hier (in England) ist die den Arbeitern tief ins Fleisch gewachsene bürgerliche ‚respectability‘. Sozial ist die Gliederung der Gesellschaft in zahllose unbestritten anerkannte Abstufungen, von denen jede ihren eignen Stolz, aber auch ihren angeborenen Respekt vor ihren ‚betters‘ und ‚superiors‘ hat, so alt und fest gegründet, dass die Bourgeois noch immer das Ködern ziemlich leicht haben. Ich bin keineswegs sicher, z. B. dass John Burns nicht auf seine Popularität bei Kardinal Manning, den Lord Mayor und den Bourgeois überhaupt im Stillen stolzer ist als auf die bei seiner Klasse. Und Champion — Exleutnant — hat vor Jahren mit bürgerlichen, namentlich konservativen Elementen gemogelt, auf dem pfäffischen Church Congress Sozialismus gepredigt usw. Und selbst Tom Mann, den ich für den Bravsten halte, spricht gern davon, dass er mit dem Lord Mayor lunchen wird.” So schrieb Friedrich Engels im Jahre 1889.65

Noch früher, im Jahre 1882, schrieb Engels in einem Brief an Kautsky, der speziell der Frage des Verhältnisses der englischen Arbeiter zur Kolonialpolitik gewidmet ist: “Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken. Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei. Es gibt nur Konservative und liberale Radikale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands.”66 Hier sehen wir einen direkten Hinweis auf die Tatsache, dass die Bourgeoisie die Arbeiter besticht, indem sie ihnen ein kleines Teilchen von den Gütern überlässt, die ihr das englische Monopol auf dem Weltmarkt und in den Kolonien einzuheimsen gestattet. Im Jahre 1877 schreibt Marx von dem “shameful Trades Union-Kongress zu Leicester, …wo die Bourgeois die Patrone spielten, unter anderem Herr Th. Brassey, großer [Schwindler] und Millionär und Sohn des berüchtigten Eisenbahn-Brassey, der Europa und Asien ‚unternommen‘ hatte.”67

Im Jahre 1893 geißelt Engels die “sozialistischen” Fabianer mit folgenden Worten: “Die Fabians sind hier in London eine Bande von Strebern, die Verstand genug haben, die Unvermeidlichkeit der sozialen Umwälzung einzusehen, die aber dem rohen Proletariat unmöglich diese Riesenarbeit allein anvertrauen und deshalb die Gewogenheit haben, sich an die Spitze zu stellen, Angst vor der Revolution ist ihr Grundprinzip, … ihre Taktik, die Liberalen nicht als Gegner entschieden zu bekämpfen, sondern sie zu sozialistischen Konsequenzen fortzutreiben, ergo mit ihnen zu mogeln, to permeate Liberalism with Socialism … Die Leute haben natürlich viel bürgerlichen Anhang und daher Geld … Es ist ein kritischer Punkt für die hiesige Bewegung … Sie war einen Augenblick nahe daran, unter Champions … Fittiche zu geraten, … der bewusst oder unbewusst ebenso für die Tories arbeitet wie die Fabians für die Liberalen. Aber … der Sozialismus ist in den Industriebezirken in den letzten Jahren enorm in die Massen gedrungen, und auf diese Massen rechne ich, dass sie die Führer schon in Ordnung halten werden.”68

Das waren die Ansichten von Marx und Engels über die “kleinen Bourgeois”, die Arbeiteraristokratie. Schonungslos brandmarkten sie die antirevolutionäre Einstellung dieser Schichten, ob sie in der Politik des Trade-Unionismus zum Ausdruck kam, oder in der sozialistischen Organisation der Fabier. Aus jedem Wort, das Marx und Engels in der Frage geäußert haben, geht klar hervor, wie verhängnisvoll für die Arbeitersache, wie schädlich für den sozialistischen Kampf des Proletariats die spezifische Stellungnahme der Arbeiteraristokratie in ihren Augen war.

Ihre Verallgemeinerungen in Bezug auf die Rolle der Arbeiteraristokratie leiteten Marx und Engels hauptsächlich aus ihren Beobachtungen über den Entwicklungsprozess der Arbeiterklasse in England ab. In England studierte Marx die allgemeine Entwicklung des Kapitalismus überhaupt. Auch im “Kapital” schöpft Marx vor allem aus den Erfahrungen des englischen Kapitalismus. Aber seither ist viel Wasser ins Meer gelaufen. Die konservative Rolle der Arbeiteraristokratie kann man jetzt nicht nur in England, sondern auch in einer ganzen Reihe anderer Länder beobachten. Man betrachte z. B. Holland. Das ist ein kleines Land, das jetzt von keiner Herrschaft auf dem Weltmarkt träumt. Aber in diesem Land gibt es eine steinreiche Bourgeoisie, der die kleinen Reste der früheren kolonialen Größe jährlich einen Goldregen an unsinnigen Profiten zuspielen. Von diesen unerhörten Profiten der holländischen imperialistischen Bourgeoisie fällt nur für die “oberen Schichten” der Arbeiter etwas ab, die so zu einer Arbeiteraristokratie und zu einem konservativen, konterrevolutionären Element werden.

Und in Amerika? Sehen wir dort nicht, wie sich auf dem Rücken einer Millionenmasse von unterdrückten Arbeitern — besonders von Einwanderern und Negern —- eine kleine Gruppe von Arbeiteraristokraten erhebt, die von der Finanzoligarchie gekauft und ernährt wird? Sind Gompers und Genossen nicht Agenten der Bourgeoisie im Kreise der “Aristokraten der Arbeit”, die wiederum nur Agenten des Gompers im Lager der Arbeiterklasse sind? Auf einer Seite werden Arbeiter wegen einfacher wirtschaftlicher Streiks niedergeschossen, auf der anderen Seite werden die Gompers und anderen “Ritter der Arbeit” durch immer größere Ehrungen, fast durch Ministertitel, ausgezeichnet.

Oder in Australien. Die Sozialliberalen preisen Australien als das gelobte Land, in dem ein Kohlenarbeiter Minister werden könne. Was aber hat sich in Wirklichkeit erwiesen? Dass sich auch hier auf den Schultern der unterdrückten Masse der ungelernten Arbeiter eine kleine parasitische Bande von Arbeiterführern erhob — die Herren Fisher, Hughes und Genossen —‚ die ein kleiner Kreis von Arbeiteraristokraten an die Oberfläche gebracht hatte und die mit einem in der Geschichte noch nicht dagewesenen Zynismus die Interessen der Arbeiterklasse verriet. Die Krise, die der Ausbruch des Weltkriegs schuf, hat diesen niederträchtigen Verrat der “Arbeiterführer” besonders leuchtend hervorgehoben.

Dieselbe Bestechung der “oberen Schichten” der Arbeiter ging auch in Deutschland vor sich. Unter anderen Bedingungen, in anderer Form vollzog sie sich im Land der “klassischen Sozialdemokratie”. Aber der historische Sinn des Umschwungs, den die Spitzen der deutschen Arbeiterklasse in der Person der Führer ihrer Gewerkschaften und ihrer so genannten Sozialdemokratischen Partei vollbracht haben, ist der gleiche. Es gibt keinen ernsten Unterschied zwischen Legien, Gompers, Fisher, Henderson. Legien ist noch nicht Minister, aber aus Gründen, die von ihm unabhängig sind. In nächster Zeit wird er vielleicht auch nicht weiterkommen als bis zum Vorzimmer des Ministers. Die preußischen Junker werden ihm auch weiter nur zwei Finger reichen. Aber trotzdem ist er nur der “labour lieutenant of the capitalist dass”, der Arbeiter-Leutnant der Kapitalistenklasse”. Und nicht nur Legien, sondern natürlich auch Scheidemann und Südekum (wie auch ihre Doppelgänger, die eine andere Sprache sprechen)…

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Der Prozess des Übergangs der deutschen Arbeiteraristokratie auf die Seite der Bourgeoisie hat natürlich nicht erst gestern begonnen. Zusammen mit dem Betreten der Weltarena durch den deutschen Imperialismus begann auch die Bestechung der Arbeiteraristokratie. Die weitsichtigeren von den Ideologen der deutschen Bourgeoisie gaben (und geben) sich ausgezeichnet Rechenschaft von dieser für die Bourgeoisie so wichtigen sozialen Erscheinung. Professor Schmoller erzählt, dass die deutsche Bourgeoisie schon seit Beginn der neunziger Jahre der “vaterländischen Arbeiterbewegung” die Friedenshand gereicht habe. Die Sozialdemokratie sei ihr aber nicht gleich entgegengekommen. “Nur ein so kluger Politiker wie Herr v. Vollmar wollte schon jetzt einlenken und gab so den Anstoß zum Revisionismus:”69

Nicht nur die Sozialdemokraten waren es, die zunächst keinen Frieden wollten. Auch die Scharfmacher der herrschenden Klassen, das Junkertum, die äußersten Reaktionäre wehrten sich, die in der deutschen Sozialdemokratie eine revolutionäre Gefahr sahen und mehr auf die Ausrottung mit Hilfe von Repressalien vertrauten. Die Stimmen der vernünftigeren Bourgeois wurden durch das reaktionäre Geheul übertönt. “Die Stimmen der Unparteiischen, die … die angebliche Revolutionsgefahr … leugneten wurden nicht gehört”, wirft jetzt Professor Schmoller den Unversöhnlichen vor.

Immerhin, jetzt ist dieser Streit innerhalb der herrschenden Klassen geregelt. Es gibt in Deutschland heute keinen einzigen Purischkewitsch (Russischer reaktionärer Duma-Abgeordneter. — Anmerkung d. Übers.) der nicht einverstanden wäre, gutgesinnten Arbeitern gewisse “Zugeständnisse” zu machen. Die Gefahr der Revolution hat sich als “angeblich” erwiesen. Das System der “Bestechung” hat sich glänzend bewährt.

Rückblickend schreibt der bürgerliche Professor Herkner, der bekannte Verfasser der “Arbeiterfrage”: Erst im Laufe der letzten 10 bis 15 Jahre sind allmählich namentlich in den Spalten der revisionistischen “Sozialistischen Monatshefte” Ansichten vertreten worden, welche eine gewisse Rückkehr zu den kräftigeren national-politischen Ideen bekunden… Erhebliche Schichten der Arbeiterschaft erzielten eine so bemerkenswerte Verbesserung ihrer sozialen Lage und empfanden die Vorteile, welche der mächtige Aufschwung des deutschen Wirtschaftslebens auch ihnen brachte, so unmittelbar, dass sie an diesem Aufschwunge selbst das stärkste Interesse nahmen. Die alten Schlagworte des Internationalismus: die Arbeiter hätten kein Vaterland, sie hätten nichts zu verlieren als ihre Ketten, konnten auch von den rabiatesten Genossen nicht mehr ernst genommen werden.70

Aber nicht nur jetzt, nach 1914, sondern schon lange vor dem Kriege wurde diese Frage von den einflussreichsten Vertretern des deutschen Imperialismus in gleicher Weise behandelt. In der sehr gelehrten Arbeit des hochgestellten deutschen Konservativen, des Freiherrn v. Waltershausen, die der Frage der Kapitalausfuhr ins Ausland gewidmet ist, beschäftigen sich eine Anzahl von Seiten speziell mit der Frage, wie sehr ein Teil der Arbeiter am Imperialismus seines Landes “interessiert” sei. “An der territorialen und maritimen Wehr”, schreibt dieser gelehrte Freiherr, “ist Kapital und Arbeit in gleicher Weise interessiert … Die Arbeiterschaft ist ferner unmittelbar an den einkommenden Renten beteiligt. Soweit dieselben zum Konsum der Bezieher dienen, werden sie zu einer wirksamen Nachfrage auf dem inneren Markt nach Waren und Leistungen, erhöhen also den Lohn von Arbeitern und Dienstboten. Strömen die Renten den heimischen Gewerben als Kapitalvermehrung zu, so wächst auch in diesen das Bedürfnis, mehr Arbeitskräfte zu beschäftigen.”71 In diesen wenigen Worten ist die ganze Theorie des Sozialchauvinismus — wenn auch mit anderen Worten ausgedrückt — enthalten.

Über die Lage in England schreibt Sartorius v. Waltershausen: “Der ungeheure Reichtum des Landes, der in den letzten hundert Jahren in England angesammelt worden ist, ist, obgleich die Industrie rückgängig geworden ist, ein Beschützer der Klasse der gelernten Arbeiter geworden.” Und er zitiert zustimmend Schulze-Gaevernitz: “Die gelernte und hoch entlohnte Arbeiterschaft der englischen Großindustrie hat heute begriffen, dass die schwer errungene Höhe ihrer Lebenshaltung mit der politischen Macht Englands steht und fällt.”

Das ist eine klare Sprache. Die englischen Imperialisten bestechen einen Teil ihrer Arbeiteraristokratie. Auch wir, die deutschen Imperialisten, müssen “unsere” Arbeiteraristokratie zu kaufen suchen. Der gelehrte Vertreter des deutschen Junkertums sieht den Zusammenhang zwischen “Arbeiter”-Opportunismus und -Imperialismus, zwischen den imperialistischen Siegen und dem Übergang der Arbeiteraristokratie auf die Seite der Bourgeoisie ganz genau. Von England behauptet er, dass dort keine Sozialdemokratie entstehen könne, solange die englischen Imperialisten ihre Arbeiter bestechen. Das Beispiel Deutschlands zeigt aber, dass das nicht ganz richtig ist: eine Sozialdemokratie kann auch unter solchen Bedingungen bestehen, aber keine revolutionäre, sondern eine konterrevolutionäre, eine Südekum-Sozialdemokratie. Noch ein anderes hat Herr Sartorius v. Waltershausen vergessen, dass eine wirkliche Sozialdemokratie gar nicht die Partei der Arbeiteraristokratie, sondern die Partei der gesamten Arbeiterklasse sein will. Er hat vergessen, dass die gelernten und besser gestellten Arbeiter nur eine Minderheit in der Arbeiterklasse bilden — eine Minderheit, die, wenn sie im kritischen Moment auf die Seite der Imperialisten übergeht, der sozialistischen Bewegung wohl einen Schlag versetzen, sie aber auf keinen Fall an der Wurzel treffen kann.

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Wir haben schon gesagt, dass in den angeführten Äußerungen des Freiherrn Sartorius v. Waltershausen und des Professors Schmoller im Wesentlichen die ganze Theorie des modernen Sozialchauvinismus enthalten ist. Aus dieser imperialistischen Quelle schöpfen jetzt die “Theoretiker” des Sozialchauvinismus. “Wahrheiten”, die Imperialisten wie Waltershausen seit langem propagieren, werden von ihnen für den Arbeitergebrauch etwas umgearbeitet und mit marxistischem Anstrich versehen. Was die Herren Sozialchauvinisten jetzt den Arbeitermassen als Sozialismus vorsetzen, ist in Wirklichkeit die vollendete Theorie der Interessengemeinschaft zwischen der imperialistischen Bourgeoisie und den “kleinen Bourgeois”, den Arbeiter-Aristokraten.

Tatsächlich, was ist die Grundthese der Cunow, Legien, Winnig, Lensch, Scheidemann und ihrer Doppelgänger? Wir, sagen sie, unterstützen “unsere” Regierung und “unsere” Bourgeoisie gar nicht um ihrer schönen Augen willen, nein, das Interesse der deutschen Arbeiterklasse verlangt es, dass “unser” vaterländischer Kapitalismus sich immer stärker entfalte, dass die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes möglichst rasch und frei vor sich gehe, dass “wir” genügend viel Absatzmärkte, Rohstoffquellen, Anlagesphären für “unser” Kapital usw. finden. Nur dann wird die Nachfrage nach Arbeitskräften genügend groß sein, nur dann wird das Lebensniveau der Arbeiter sich heben. Wenn unsere Kapitalisten mehr Profite haben werden, dann wird etwas davon auch für die Arbeiter abfallen.

Aber dasselbe Bild ist auch auf der Gegenseite. Nicht nur “wir” sind interessiert an den Profiten “unserer” Bourgeoisie, auch die Arbeiter anderer Länder, die mit “uns” konkurrieren, haben dasselbe Interesse bezüglich “ihrer” Bourgeois. Sobald der Wettstreit um die Kolonien, die “Freiheit der Meere” sich bis zu seinem Höhepunkt verschärft hat, dann bricht der Krieg aus. Was tun? Es ist eine traurige Notwendigkeit. Die Arbeiter möchten natürlich derlei Fragen lieber friedlich und im Guten entscheiden, aber das ist nicht immer möglich. Der Krieg ist zur Tatsache geworden. Was sollen die deutschen Arbeiter tun? Sollen sie ihre Regierung und ihre Bourgeoisie nicht unterstützen? Aber dann wird Deutschland eine Niederlage erleiden. Und das wird bedeuten, dass die Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland sich verzögert, dass die Nachfrage nach Arbeitskraft sinkt, dass die deutschen Arbeiter gezwungen sein werden, auszuwandern, sich ihr Brot in fernen Ländern zu suchen, sich mit niedrigen Arbeitslöhnen zu begnügen. Was bleibt den deutschen Arbeitern zu tun übrig, wenn sie all dieses Unglück vermeiden wollen? Nur eines: “ihre” Regierung, “ihren” Imperialismus zu unterstützen. Wir wissen, sagen die Legien, Lensch und Winnig, dass der Imperialismus seine schlechten Seiten hat, dass er mit Kriegen verbunden ist usw. Aber diese schlechten Seiten werden von den guten überwogen: dank dem Imperialismus wird das Lebensniveau unsrer Arbeiterklasse gehoben. Wir wissen, sagen diese Führer der offiziellen deutschen Sozialdemokratie, dass wir, wenn wir unseren Imperialismus unterstützen, damit den Kampf gegen die Arbeiter anderer Länder aufnehmen. Das ist sicherlich äußerst traurig, aber wir haben keine Wahl. Eine traurige Notwendigkeit ist immerhin eine Notwendigkeit.

Und was beweist eigentlich diese traurige Notwendigkeit? Nur, dass in der Praxis, in der lebendigen Wirklichkeit die realen Interessen der Arbeiter der verschiedenen Länder gar nicht miteinander übereinstimmen. Oft treten die Interessen der Arbeiter eines Landes in einen unversöhnlichen Konflikt mit den Interessen der Arbeiter eines anderen Landes. “Proletarier aller Länder, vereinigt euch”, das klingt sehr schön, aber was soll man tun, wenn die wirtschaftlichen Interessen in der Praxis die Proletarier der verschiedenen Länder nicht vereinigen, sondern auseinander bringen?

Wir sind nunmehr in der Lage”, schreibt Lensch, “auch die historischen Gründe zu erkennen, die zum Zusammenbruch der Internationale führten. Die Interessen des Proletariats der großen Industrieländer waren wohl in der Theorie, aber noch nicht in der Praxis solidarisch In der Sozialdemokratie galt nur das Schlagwort von der internationalen Solidarität des Proletariats. Aber diese Solidarität — und das ist eine große, neue Erkenntnis, die uns der Krieg gebracht hat — ist keineswegs von vornherein gegeben … Sie setzt ein gewisses Gleichgewicht der Mächte voraus. Solange ein Reich dem anderen derartig überlegen ist, dass man von einer Weltherrschaft reden kann, überträgt sich der Gegensatz, indem die übrigen Reiche gegen das eine Weltreich stehen, auch auf die Arbeiterklassen. Der Krieg aber öffnete der deutschen Sozialdemokratie die Augen über die Tatsache, dass es historisch gesehen noch zu früh sei, von einer internationalen Solidarität der Arbeiterklasse zu sprechen.”72

Der Standpunkt des konsequenten Sozialchauvinismus ist hier so klar formuliert, wie man es nur wünschen kann. Die internationale Solidarität, das ist ein großes Ideal. Aber in der Praxis verlangen die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse in den einzelnen Ländern “vorläufig” noch die Solidarität mit “ihrer” Bourgeoisie, mit “ihrem” Imperialismus.

Nur eine Kleinigkeit muss noch untersucht werden: ist es richtig, dass, wie die Sozialchauvinisten behaupten, es der gesamten Arbeiterklasse gut geht, ihre Löhne steigen, ihr wirtschaftliches Lebensniveau gehoben wird, wenn der heimatliche Imperialismus in Blüte steht? Oder haben vielleicht Legien, Lensch (wie auch ihre Doppelgänger) die Arbeiterklasse mit der Arbeiteraristokratie verwechselt? Und haben sie nicht vielleicht auch bei der letzteren einen vorübergehenden materiellen Vorteil verwechselt mit tiefer gehenden dauernden Interessen?

Vor allem die Frage: haben sich die Marxisten vor dem Kriege mit diesen Problemen befasst und welche Antwort haben sie damals gegeben? Wenn wir uns diese Frage stellen, so müssen wir sagen: ja natürlich, mit diesen Problemen beschäftigte man sich auch vor dem Kriege, man konnte sie schon deswegen nicht umgehen, weil all diese “Beweise” der Sozialchauvinisten für die Notwendigkeit der Unterstützung des Imperialismus damals schon von der Bourgeoisie eifrig verteidigt wurden, weil die Politiker und Ideologen des Imperialismus sie predigten. Und was man jetzt den Lensch‘ aller Länder antworten muss, wurde vor dem Kriege oft gegen die Waltershausen aller Sprachen ins Feld geführt. Hören wir, was diesbezüglich z. B. Otto Bauer sagt — wir wollen absichtlich keinen Theoretiker der marxistischen Linken zitieren, sondern einen Vertreter des gemäßigten “marxistischen Zentrums”.

Der Kampf um die Absatzmärkte dient diesem Zwecke ebenso wie der Kampf um Anlagesphären. Verminderung des tot gelegten Kapitals, Beschleunigung des Abflusses in die Produktionssphäre, Ausdehnung der Produktionszeit innerhalb der Umschlagszeit erscheinen aber als gemeinsame Interessen aller Klassen. Auch die Arbeiterklasse erscheint daran interessiert: wird die Menge des im gegebenen Augenblick aus dem Kreislauf des Kapitals herausgetretenen Geldkapitals verringert, so wächst die Nachfrage nach Arbeitskräften, es wächst also auch die Machtstellung der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt, es steigen die Löhne. Darum meint man, dass das ‚Produzenteninteresse‘ der Arbeiter für Schutzzölle und Expansionspolitik spricht.”73

Otto Bauer analysiert eingehend diese ganze Kette von Syllogismen der bürgerlichen politischen Ökonomie74 und kommt zu folgendem Ergebnis: “Die bürgerliche Ökonomie hat beobachtet, dass die moderne Zollpolitik und Kolonialpolitik die Zirkulation des Kapitals verändert und dass diese Veränderungen die Tendenz zur Steigerung der Preise, Profite und Löhne hervorbringen. Daher scheint ihr die kapitalistische Expansionspolitik den Interessen der Arbeiter ebenso förderlich wie den Interessen der Kapitalistenklasse.”75

Aber das ist nicht so, sagt Bauer. “Der Schutzzoll zwingt die Gesellschaft, auch diejenigen Güter zu erzeugen, bei denen die Bedingungen der Produktion im Inland minder günstig sind. Dadurch verringert der Zoll die Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit. Dies tritt im hohen Preise der Waren in Erscheinung. Dadurch wird die Kaufkraft des Geldlohnes verringert, die Arbeiterklasse also geschädigt … Höhere Warenpreise, geringere Kaufkraft gleicher Geldlöhne sind die erste Wirkung der kapitalistischen Zollpolitik für die Arbeiterklasse.”76

Vergleichen wir die Verteilung des produktiven Kapitals unter dem Einfluss des Schutzzolles mit der Verteilung, die das produktive Kapital beim Freihandel angenommen hätte, so sehen wir einen größeren Teil des gesellschaftlichen Kapitals in Produktionszweigen, die bei gleichem Kapitalaufwand weniger Arbeitskräfte beschäftigen als die anderen Industrien. Der Schutzzoll verringert also die Nachfrage nach Arbeitskräften, verschlechtert die Lage der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt. Noch mehr! Die durch den Kartellschutzzoll geförderten Industrien sind solche, in denen das Kapital die höchste Stufe der Konzentration erreicht hat, die Freizügigkeit für die Arbeiter fast aufgehoben, der gewerkschaftliche Kampf außerordentlich erschwert ist … Der Schutzzoll verschiebt, indem er die “schweren” Industrien fördert, die Eisen verarbeitenden Industrien schädigt, das Kapital in Produktionszweige, die dem gewerkschaftlichen Kampfe minder günstige Bedingungen bieten.”77

Weiter verlange der Imperialismus “ungeheure militärische Machtmittel”. Gewaltige Wertsummen werden dem Militarismus und Marinismus geopfert. Nun wird der nüchterne Beobachter die imperialistische Politik nur dann rechtfertigen können, wenn ihr wirtschaftliches Erträgnis größer ist als diese wirtschaftlichen Opfer. Auch diese Frage steht nun für die Arbeiterklasse ganz anders als für die Bourgeoisie. Denn überall wird vom Arbeitslohn ein viel größerer Teil dem Militarismus geopfert als vom Mehrwert … Die kapitalistischen Staaten sind … bestrebt, die Kosten der militärischen Rüstungen der Arbeiterklasse aufzuerlegen. Dadurch wird das Sinken der Akkumulationsrate verhindert, da vom Arbeitslohn ein viel geringerer Teil akkumuliert wird als vom Mehrwert. Wenn der Arbeiter einen beträchtlichen Teil seines Arbeitslohnes als Steuer an den Staat abtreten muss, so tritt an die Stelle des individuellen Konsums des Arbeiters der staatliche Konsum in Gestalt der Ausgaben für den Militarismus … Schon die Rücksicht auf die Höhe der Akkumulationsrate veranlasst alle kapitalistischen Staaten das Erfordernis für Kriegsheer und Flotte durch indirekte Steuern und Finanzzölle aufzubringen, die die Arbeiterklasse verhältnismäßig viel schwerer belasten als die besitzenden Klassen”.78

Der Kapitalexport”, fährt Bauer fort, “bewirkt, dass die Nachfrage auf dem europäischen Arbeitsmarkte sinkt … Verringerung der Arbeitslust einer Nation bedeutet aber in der kapitalistischen Gesellschaft Verminderung der Nachfrage nach ihren Arbeitskräften, Verschlechterung der Lage der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt. Soweit der Imperialismus die Auswanderung des europäischen Kapitals in fremde Erdteile fördert, bedroht er also ganz unmittelbar das ‚Produzenteninteresse‘ der Arbeiter. Indem der Imperialismus den Spielraum zur Ausgleichung der Profitraten auf die ganze Erde erweitert, strebt er die Ersetzung der europäischen Arbeiter durch die billigeren Arbeitskräfte der minder entwickelten Nationen an, bedeutet er also der Tendenz nach — wie Kurt Eisner einmal sagte — eine Generalaussperrung der europäischen Arbeiterschaft … Ist es nicht ein überraschendes Beispiel der internationalen Solidarität der Arbeiterinteressen, dass die Ausbeutung des elendesten und meist verachteten Arbeiters der Welt, des chinesischen Kuli, hier ganz unmittelbar die Arbeiter aller Länder geschädigt hat?”79

Der Imperialismus verkleinert also den Anteil der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum, er verschiebt das Verhältnis der Wertsummen, die den besitzenden Klassen zufallen, zu den Wertsummen, die die Arbeiterklasse sich aneignet, zum Nachteile des Proletariats, er steigert also die Ausbeutung der Arbeiter.”80 Zu diesem Ergebnis kommt Otto Bauer. Die Ansichten Schippels, die jetzt die ganze sozialchauvinistische Gesellschaft von Lensch bis Maslow vertritt, nennt Bauer bürgerliche Ansichten. Schippel mache “nicht proletarische, sondern kapitalistische, nicht sozialdemokratische, sondern nationalliberale Politik.”81

Von einem wirtschaftlichen Nutzen für das Proletariat könne keine Rede sein. Dafür aber “stellt er (den Imperialismus) immer größere Massen bewaffneter Männer als willenloses Instrument den Herrschenden zur Verfügung. Dadurch wird er zur Gefahr für die Demokratie … Die Jugend der Arbeiterschaft bildet den Kern der modernen Volksheere; wie könnten die Arbeiter nur die Frage vergessen, ob denn die Mehrung der Profite wirklich ein so kostbares Gut ist, dass sie erkauft werden dürfte mit dem Tode von Tausenden und aber Tausenden (heute muss man sagen: Millionen. — d. Verf.) hoffnungsvoller junger Menschen?”82

All das war vor dem Kriege eine von allen Anhängern der Arbeiterbewegung anerkannte Wahrheit, von allen — bis auf das Häuflein jener Herren, die schon damals offen der Bourgeoisie dienten, wie Schippel und Genossen. Und jetzt? Was können die Herren Sozialchauvinisten auf die Beweisführungen Otto Bauers antworten? Absolut nichts! Sie versuchen nicht einmal, diese Beweise zu widerlegen, die früher gegen die Bourgeoisie ins Feld geführt wurden und die jetzt auf die offizielle “Theorie” der modernen Auch-Sozialisten passen.

Von irgendwelchen wirtschaftlichen Vorteilen, die für die gesamte Arbeiterklasse als Resultat des Imperialismus entstehen, kann gar keine Rede sein. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass für eine bestimmte Minderheit der qualifizierten Arbeiter, für die Arbeiteraristokratie, einige Krümel vom imperialistischen Tisch abfallen können. Bauer ist ganz nahe an diese Schlussfolgerung herangekommen, als er schrieb: “Nun ist es gewiss, dass der Schutzzoll die Wirkung hat, einen größeren Teil des Kapitals den Produktionszweigen mit hoher organischer Zusammensetzung, also mit geringerem Arbeitsfassungsvermögen zuzutreiben, als ohne ihn in diesen Gewerbszweigen Raum gefunden hätte. Die Produktionszweige, die viel konstantes, wenig variables Kapital (d. h. wenig Arbeiter. — d. Verf.) brauchen, sind nämlich für Kartellierung am ehesten fortgeschritten. Durch die auf die Schutzzölle gestützte Ausfuhrpraxis dieser Kartelle werden nun die ausländischen Produktionszweige mit niedriger organischer Zusammensetzung (d. h. relativ hoher Arbeiterzahl. — d. Verf.) geschädigt.”83

Eine kleine Minderheit von qualifizierten Arbeitern, die in dem von Bauer aufgezählten (und noch einigen anderen) Industriezweigen beschäftigt sind, werden tatsächlich vom Imperialismus mit ernährt. Aber das ist nur eine verschwindende Minderheit der Arbeiterklasse. Die Erfahrung des Weltkrieges hat das mit besonderer Anschaulichkeit gezeigt. Die Lage der großen Masse der Arbeiter ist — infolge der furchtbaren Teuerung, der Aufhebung der Arbeiterschutzgesetze usw. — bedeutend schlechter geworden. Millionen von Frauen und Kindern, die für einen Hungerlohn arbeiten, sind in die Produktion hineingezogen worden. Die wirtschaftliche Lage der ganzen großen Masse, z. B. des englischen Proletariats, ist in diesen zwei Kriegsjahren absolut schlechter geworden. Nur einer kleinen Minderheit — etwa zwei Millionen Arbeiter — ist es gelungen, ihren früheren realen Arbeitslohn (d. h. eine Erhöhung des Arbeitslohnes entsprechend dem Steigen der Preise für die notwendigsten Bedarfsgegenstände) beizubehalten; nur in wenigen Fällen übersteigt der jetzige Lohn den der Vorkriegszeit.

Doch es unterliegt keinem Zweifel, dass es eine kleine Schicht von Arbeiteraristokraten gibt, für die von den Kriegsprofiten der Kanonen- und Munitionskönige etwas abfällt. Diese geringe Minderheit hat auch schon vorher einen guten Verdienst gehabt, der aber während des Krieges noch gestiegen ist; Dieser Minderheit sind auch früher verschiedene Privilegien eingeräumt worden. Während des Krieges haben diese Privilegien für die Aristokraten der Arbeit einen noch größeren Wert bekommen. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass diese Arbeiteraristokratie in den meisten Fällen nicht an die Front geschickt wird. Die Industriellen brauchen sie im Land, sie sind unabkömmlich als Element, unter dessen Leitung die einfachen Arbeiter, die Frauen, Jugendlichen und Kinder in den Fabriken und Betrieben ihre Arbeit leisten.

Die engkorporativen Interessen dieser Minderheit privilegierter Arbeiteraristokraten sind es, die von den Sozialchauvinisten mit den Interessen der Arbeiterklasse verwechselt werden. Diese Verwechslung wird übrigens verständlich aus dem Umstand, dass die Führer der Gewerkschaften und der offiziellen Sozialdemokratischen Partei meist selber aus dem Kreise der Arbeiteraristokratie hervorgehen. Die Arbeiteraristokratie und die Arbeiterbürokratie sind zwei leibliche Schwestern. Wenn die Sozialchauvinisten von den Interessen der Arbeiterklasse sprechen, so haben sie — oft ganz unbewusst — die Interessen der Arbeiteraristokratie im Auge. Aber auch hier geht es in Wirklichkeit nicht so sehr um wahrhafte Interessen im weiteren Sinne des Wortes wie um den unmittelbaren materiellen Vorteil. Das ist absolut nicht ein und dasselbe. Die Marxisten haben nie die Auffassung gehabt, dass Wahrnehmung der Arbeiterinteressen bedeutet: steck möglichst viel in die Tasche. Vom Standpunkt der tiefer aufgefassten Interessen übt die Arbeiteraristokratie, wenn sie auf die Seite der Bourgeoisie übergeht, Verrat an sich selber … Bleiben doch auch die “Aristokraten der Arbeit” immerhin Lohnarbeiter. Sie erhalten zwar vorübergehend einen winzigen Vorteil, untergraben aber dadurch ihre eigene Position und verletzen die Einheit der Arbeiterklasse, verkaufen ihre Erstgehurt für ein Linsengericht. Sie verzögern die Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung, die sie selber, die “Aristokraten”, von der Lohnsklaverei befreien würde; sie werden zu einem Werkzeug der Reaktion.

Man betrachte die Bourgeoisie. Wir sind zu denken gewohnt, dass ihr Grundprinzip das unmittelbare Interesse ihrer Tasche sei. Aber sie versteht es, dieses ‚‚Prinzip” ihren allgemeinen Klasseninteressen unterzuordnen. Man könnte ihr z. B. klar auseinandersetzen, dass eine Volksmiliz, die bedeutend weniger kosten würde als ein stehendes Heer, vom Standpunkt des unmittelbaren Interesses vorteilhafter sei. Aber sie wird trotzdem als Regel die teurere ständige Armee vorziehen. Und sie wird hierbei vom wichtigeren Klasseninteresse der Bourgeoisie ausgehen.

Die Spaltung zwischen den einzelnen Schichten der Arbeiterklasse unterstützen, die Konkurrenz unter ihnen schüren, die Oberschicht absondern, indem man sie besticht und sie zur Trägerin der bürgerlichen “Respektabilität” macht, darin liegt das direkte Interesse der Bourgeoisie. Die Sozialchauvinisten sind einfache Agenten der Bourgeoisie. Selbst wenn man von den politischen Interessen der Arbeiterklasse absieht, sind die Sozialchauvinisten Verräter an der Arbeitersache. Denn auch auf dem Gebiet des Schutzes der wirtschaftlichen Interessen sehen sie nicht weiter, als ihre Nase reicht. Sie identifizieren das wirtschaftliche Interesse mit dem vorübergehenden Vorteil von ein paar Groschen. Sie spalten die Arbeiterklasse innerhalb eines jeden Landes und dadurch vertiefen und festigen sie die Spaltung zwischen den Arbeiterklassen der verschiedenen Länder. Dank den gemeinsamen Bemühungen der Bourgeoisie und der Sozialchauvinisten wird das Weltproletariat gleichzeitig, wenn man so sagen kann, horizontal und vertikal gespalten.

*

Wir haben gesagt, dass die “europäischen” offiziellen Arbeiterorganisationen — besonders ihre führenden Schichten — sich vor allem aus den besser gestellten Arbeitern, aus der Arbeiteraristokratie rekrutieren. Ist das richtig? Gibt es genügend viele objektive und begründete Beweise, um das behaupten zu können? Zweifellos, es gibt diese Beweise.

Wir wollen uns wiederum der deutschen Arbeiterbewegung zuwenden als der klassischen Bewegung der letzten Epoche. Die Zusammensetzung der deutschen Sozialdemokratischen Partei und der deutschen Gewerkschaften ist sicherlich mehr proletarisch als in irgendeiner anderen “europäischen” Partei. Und was sehen wir? Die deutsche Sozialdemokratie besitzt keine ausführliche Statistik über die soziale Zusammensetzung ihrer ganzen Parteiorganisation. Aber eine solche Statistik besteht für die Stadt Berlin, und sie kann in gewissem Maße als für die ganze Partei bezeichnend gelten.

Vor uns liegt die ausgezeichnete statistische Untersuchung der Zusammensetzung der Berliner sozialdemokratischen Organisation, die allerdings schon vor 8 bis 9 Jahren vorgenommen wurde, aber auch heute noch als charakteristisch gelten kann.84 Berlin ist das größte Arbeiterzentrum und die stärkste Stütze der deutschen Sozialdemokratie. Die Angaben beziehen sich auf 1906 bis 1907, sie umfassen 53.106 organisierte Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei (81 Prozent aller damals organisierten Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei in Berlin). Zwei wichtige Umstände lenken gleich bei der ersten Durchsicht dieser äußerst interessanten statistischen Forschung die Aufmerksamkeit auf sich: erstens das Vorhandensein einer zahlreichen Gruppe von Nichtarbeitern in der sozialdemokratischen Organisation, die als “Selbständige” verzeichnet sind, und zweitens der verhältnismäßig schwache Prozentsatz von Parteimitgliedern, die sich aus ungelernten Arbeitern rekrutieren. Die Gruppe der “Selbständigen”, d. h. der Leute, die nicht vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, ist 5.228 Mann stark (von 53.106), d. h. sie macht 9,8 Prozent aller in die Enquête aufgenommenen Parteimitglieder aus. Gegen 10 Prozent aller organisierten Sozialdemokraten der Stadt Berlin und ihrer Umgebung sind somit keine Arbeiter. Von den 5.228 “Selbständigen” sind gegen die Hälfte Gastwirte. Sie machen in dieser Gruppe 2.528 Mann aus. Dann folgen 452 selbständige Friseure, 310 Kaufleute und Händler und 74 Fabrikbesitzer. Die übrigen “Selbständigen” rekrutieren sich aus Besitzern von Druckereien und kleinen Werkstätten, aus Kommissionären, Künstlern usw. So kommt auf je 10 Mitglieder der sozialdemokratischen Berliner Organisation mindestens ein Mitglied, das zum Kleinbürgertum gehört. Die der Sozialdemokratischen Partei angehörenden Besitzer von Gasthäusern, Friseurläden usw. sind meist mit der Arbeiterbevölkerung aufs innigste verknüpft. Die Arbeiter sind die Hauptkunden dieser Handelsunternehmungen. Aber trotzdem gehen oft die Interessen der Arbeiter und die Interessen dieser Gruppen auseinander.

Zweifellos, dass durch diese Schicht der so genannten “Selbständigen” eine bestimmte kleinbürgerliche Strömung in die Sozialdemokratische Partei gelangt. Tausende von Gastwirten, Hunderte von kleinen Fabrikbesitzern, Kaufleuten und selbständigen Händlern — das sind nicht einzelne Personen, die den Standpunkt des Proletariats zu den ihren gemacht haben. Das ist eine ganz bestimmte Schicht, der ihre eigenen Interessen, die eigene Psychologie, die eigene Denkungsart geblieben sind.

Andrerseits ist in der Berliner Statistik folgendes bemerkenswert. Die Verfasser der Statistik haben die ungelernten Arbeiter in eine besondere Rubrik gebracht unter dem Titel: “Arbeiter” — ohne weitere Bezeichnungen. Und was ergibt sich? Die ungelernten Arbeiter machten im ganzen 14,9 Prozent aller in die Enquete aufgenommenen Mitglieder der Berliner sozialdemokratischen Organisation aus. Im ersten Wahlkreis Berlins betragen sie 2,5 Prozent aller Organisierten, im dritten Kreis 5,6 Prozent, im fünften Kreis 7,9 Prozent, im zweiten Kreis 9 Prozent. So ergibt sich, dass die Hauptmasse der Mitglieder der Berliner sozialdemokratischen Organisation zu den gelernten, qualifizierten Arbeitern gehört. Mit anderen Worten, die Hauptmasse der Mitglieder der sozialdemokratischen Organisation besteht aus besser bezahlten Arbeiterschichten, aus den Schichten, aus denen sich der größte Teil der Arbeiteraristokratie rekrutiert.

Dieses Ergebnis wird auch bestätigt von der Gewerkschaftsstatistik, die in der von uns genannten Untersuchung besonders eingehend bearbeitet ist. Welche Branchen weisen den höchsten Prozentsatz gewerkschaftlich Organisierter auf? Von den Buchdruckern sind 90,6 Prozent organisiert (von 10.876 in Berlin beschäftigten Buchdruckern sind 9.850 Mitglieder der freien Gewerkschaften). Von den Lithographen sind 90,5 Prozent organisiert, von den Graveuren 75,6 Prozent, von den Metallarbeitern 68,7 Prozent. In der Textilindustrie hingegen machen die Organisierten nur 21,4 Prozent aus. Von den Schneidern sind 10 Prozent organisiert, von den Transportarbeitern 25,3 Prozent, von den Tabakarbeitern 34,3 Prozent, von Bäckergesellen 34,1 Prozent, von Schustergesellen 34,7 Prozent. Das Bild ist das gleiche. Wie zahlreich die Mitgliedschaft der freien Gewerkschaften auch ist (vor Kriegsausbruch umfassten sie über 3 Millionen Organisierte), — die große Masse der ungelernten Arbeiter vereinigen sie in ihren Reihen nicht. Den freien Gewerkschaften ist es nur gelungen, eine kleine Minderheit (ein Fünftel) der Arbeiter zu organisieren. Die Hauptmasse ihrer Mitglieder rekrutiert sich ebenfalls aus qualifizierten, besser gestellten Arbeitern.

Zur Statistik der Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Groß-Berlins zurückkehrend, können wir folgendes Fazit ziehen. Die große Masse der ungelernten Arbeiter, der am meisten ausgebeutete und unterdrückte Teil des Proletariats, ist in der deutschen Sozialdemokratischen Partei nur sehr schwach vertreten. Er macht dort eine Gruppe von vielleicht 15 Prozent aus. Dieser Gruppe steht am entgegengesetzten Pol eine fast ebenso zahlreiche (10 Prozent) Gruppe von Nichtarbeitern gegenüber, und zwar Gastwirte, Friseure, Kaufleute usw. Diese Gruppe ist an Zahl geringer als die der ungelernten Arbeiter. Aber ihr Einfluss in der Parteiorganisation ist — das kann man a priori sagen — unvergleichlich viel größer. Die “selbständigen” Elemente sind beweglicher und von physischer Arbeit weniger in Anspruch genommen, sie verfügen über freie Zeit, sie sind in der Lage, der Partei materielle Dienste zu erweisen, ihre soziale Lage ist eine höhere, sie werden öfter als Wahlkandidaten der Partei aufgestellt usw. Zwischen diesen beiden Gruppen, die zwei entgegengesetzte Pole darstellen, stehen die besser gestellten. qualifizierten Arbeiter, die wirkliche Stütze der sozialdemokratischen Parteiorganisation. Der Körper, der Organismus der Partei wird eben von diesen Schichten der gelernten Arbeiter gebildet.

Im vorhergehenden Unterkapiteln haben wir die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft der deutschen Sozialdemokratie kennen gelernt und das Vorhandensein einer großen Gruppe von Klein-Bourgeois festgestellt. Dasselbe — wenn vielleicht auch in anderem Zahlenverhältnis — muss bezüglich der Zusammensetzung der Parteiorganisation konstatiert werden.

Unter den kleinbürgerlichen Elementen der deutschen sozialdemokratischen Parteiorganisation sind es die Gastwirte, die eine bedeutende Rolle spielen. Wir haben schon gesehen, wie zahlreich sie in der Berliner Parteiorganisation vertreten sind. In Leipzig-Provinz betrug im Jahre 1900 die Zahl der “organisierten” sozialdemokratischen Gastwirte 84 (1,7 Prozent aller Mitglieder der Ortsorganisation); in Leipzig-Stadt im Jahre 1905 63 (3,4 Prozent aller Mitglieder); in Offenbach 1905 76 (4,6 Prozent); in München 39 (5,5 Prozent); in Frankfurt a. M. 25 (1 Prozent); in Reinickendorf (bei Berlin) 18 (5,9 Prozent). Nach der Berechnung von Michels kommen an verschiedenen Orten auf je 20 Parteimitglieder 1 “sozialdemokratischer” Gastwirt. In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion saßen 1892 4 Gastwirte (von 35 Abgeordneten); 1903 5 Gastwirte (von 58); 1905 6 (von 81). In Berlin besteht ein besonderer — und sehr starker — Verband Berliner sozialdemokratischer Gastwirte. Die Arbeiter bilden die große Masse ihrer Kunden, und das zieht die Besitzer von Wirtshäusern und Restaurants näher an die Arbeiter heran. Andrerseits haben die Arbeiter einen Bedarf an Versammlungslokalen. Die billigen Restaurants in den Arbeitervierteln, die Wirtshäuser, dienen daher den organisierten Arbeitern als Stätten für ihre Zusammenkünfte. Ihrer ganzen wirtschaftlichen Lage nach stehen jedoch viele Gastwirte der Klein- und Mittel-Bourgeoisie näher als dem Proletariat. Oft beuten sie selbst Lohnarbeiter aus. Ihre Interessen sind oft den Interessen der organisierten Arbeiter entgegengesetzt, und es kommt zwischen ihnen zu feindlichen Zusammenstößen, — wie es z. B. der Fall war, wenn Bierbrauereien von den Arbeitern boykottiert wurden oder wenn die Arbeiter gegen den Alkohol Propaganda machten.

Der Einfluss dieser ganzen Mitgliedergruppe der Sozialdemokratischen Partei ist oft ziemlich groß. Besonders in kleineren Stadtzentren hängt von ihr in der sozialdemokratischen Organisation sehr viel, wenn nicht alles, ab. Professor Schmoller behauptet, ein Drittel bis zur Hälfte des Bestandes der Sozialdemokratischen Partei seien keine Arbeiter. Es seien radikale Kleinbürger. Die Partei sei daher immer mehr zu einer radikal-demokratischen Koalitionspartei geworden. Professor Schmoller trägt, was die quantitative Seite der Dinge anbetrifft, die Farben zu stark auf. Aber die qualitative Seite schätzt er richtig ein. Die offizielle deutsche Sozialdemokratie ist tatsächlich immer mehr zu einer radikal-demokratischen Koalitionspartei geworden. Die Opportunisten wünschten es so und haben mit vollem Bewusstsein die Partei auf diesen Weg geführt. Bernstein hatte von seinem Standpunkt aus recht, als er zu Beginn seines Feldzugs gegen den Marxismus erklärte: wir wollen keine Furcht haben zu sagen, was ist — dass wir einfach eine Partei der demokratischen Reformen sind.

Die kleinbürgerlichen Elemente, die sich in den Reihen der offiziellen Sozialdemokratie häuslich niedergelassen haben, — das ist eine der Quellen des Opportunismus. Die Arbeiteraristokratie — das ist die zweite Quelle, der zweite Kanal, durch den die Ansteckungsgefahr des Opportunismus in die Partei eindringt. Manchmal fällt es direkt ins Auge, wie sehr die Arbeiteraristokratie dazu neigt, den Weg des Opportunismus zu gehen. Man nehme z. B. die Buchdrucker. Es ist bemerkenswert dass sowohl in Deutschland — als auch in Frankreich, Italien, Holland, der Schweiz usw. die Buchdruckerverbände weit mehr rechts stehen als das mittlere Niveau der ohnehin genügend gemäßigten Gewerkschaftsbewegung in den betreffenden Ländern. In Deutschland steht an der Spitze der Buchdrucker der Opportunist Rexhäuser, in Frankreich der Opportunist Keufer. In Belgien und Holland bilden die Arbeiter, die mit der Bearbeitung von Edelsteinen beschäftigt sind, die Stütze des Opportunismus Und diese Beispiele stehen nicht vereinzelt da…

Die bürgerlichen Gegner des Sozialismus wissen das auch sehr genau. “Je mehr der Arbeiter Bedeutung hat, um so realistischer ist er gestimmt, legt einen Lorbeerkranz um den unvergesslichen Marmorkopf von Karl Marx und zahlt höhere Mitgliedsbeiträge in die Gewerkschaftskasse” — schreibt nicht ohne Ironie Pastor Naumann in seinem Artikel “Schicksale des Marxismus”. Ebendort schreibt dieser Naumann, einer der ideologischen Führer des deutschen Imperialismus: “Die Worte: Proletarier aller Länder vereinigt euch! — haben ihre Wirkung gehabt. Wir haben es jetzt mit Zahlen von Organisierten zu tun, an die früher nie jemand gedacht hat. In den Kassen ist Geld — wie viel man will … Gibt es denn immer noch nicht genügend Organisierte? Warum ist dann alles rings umher so still? Wo bleibt der gleichmäßige Schritt eherner Sandalen?” (Aus dem Russischen rückübersetzt. — d. Übers.)

Im selben Sinne verhöhnten die deutsche Sozialdemokratie Maximilian Harden, Ludwig Stein, Werner Sombart. Im Laufe der Entwicklung verliert die deutsche Sozialdemokratie immer mehr an revolutionärem Gift. Ihr Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung wird immer größer. Sie wird eine konservative Partei.

Die weitsichtigeren Bourgeois haben diesen Prozess seit langem bemerkt. In “ihrer” Sozialdemokratie kennen sie sich immer gut aus. Einer der sozialliberalen deutschen Professoren, Max Weber, ein Kollege Professor Sombarts, wandte sich einst mit einem Ratschlag an die deutschen Fürsten: wenn sie sich von ihrer Angst vor der Sozialdemokratie radikal kurieren wollten, dann sollten sie einmal einem sozialdemokratischen Parteitag beiwohnen. Von der Tribüne der Zuschauer aus sollten sie sich die Delegierten der Parteikongresse ansehen, und sie würden sich überzeugen, dass unter diesen Revolutionären, diesen Staatsumwälzern die Physiognomien gutmütiger Gastwirte und typischer Kleinbürger vorwiegen. Sie würden sich überzeugen, dass von revolutionärem Enthusiasmus keine Rede sein kann.85

Der sozialliberale Professor hat leider Recht behalten. Die Krise des Weltkriegs hat gezeigt, dass die offizielle deutsche Sozialdemokratie nicht nur nicht revolutionär, sondern direkt konterrevolutionär ist. Nur gegen diese offizielle Sozialdemokratie, nur im Kampf gegen die spezifischen “Interessen” der Arbeiteraristokratie bahnt sich die wahrhaft sozialistische Bewegung sowohl in Deutschland als auch in den anderen Ländern ihren Weg …86

1 H. Michels, “Zur Soziologie des Parteiwesens in der deutschen Demokratie”, Leipzig, 1911,S. 279 u. a. Wir sprechen von Gasthausbesitzern, Restaurateuren usw.

2 “Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik”, 1905, S. 509. Abhandlung von Dr. Blank.

3 “Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik”, 20. Bd., Heft 3., S. 529.

4 Selbst in Österreich, wo die Industrie bedeutend schwächer entwickelt ist als in Deutschland, erhielt die Sozialdemokratie hei den Wahlen 1911 in den Städten 36,2 % von der allgemeinen Zahl der abgegebenen Stimmen, auf dem Lande nur 17 %.

5 A — Landwirtschaft, Gärtnerei, Forstwirtschaft, Tierzucht, Fischerei; B — Bergbau, Hüttenwesen, Bauwesen; C — Handel, Verkehr, Beherbergung, Erquickung.

6 a.a.O., S. 520

7 a.a.O., S. 527

8 Unter diesen letzteren spielen die besser gestellten Arbeiter, die so genannte “Arbeiteraristokratie” eine große Rolle.

9 A. Bebel, “Die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands”. “Neue Zeit”, 23. Jahrg., 1904/5, II., S. 332.

10 a.a.O., S. 335.

11 a.a.O., S. 337.

12 a.a.O., S. 335.

13 a.a.O., S. 339.

14 a.a.O., S. 335

15 a.a.O., S. 335-336.

16 “Neue Zeit”, 25. Jahrg. (1906/7), I., S. 523.

17 K. Kautsky, “Der 25. Januar”, a.a.O., S. 589.

18 Adolf Braun, “Die Wahlen in Bayern”, “Neue Zeit”, 25. Jahrg., 1906/7, I, S. 678, 679, 680.

19 a.a.O., S. 706.

20 a.a.O., S. 639, Adolf Hoffmann “Ursachen und Wirkungen”.

21 Hans Block, “Das Wahlergebnis in Sachsen”, “Neue Zeit”, 1906/7, I, S. 668.

22 a.a.O., S. 672.

23 Akademikus, “Statistische Nachklänge zu den Reichstagswahlen”, “Neue Zeit”, 1912, II., S. 882.

24 a.a.O., S. 824.

25 a.a.O., S.873.

26 A. Kolb, “Die Sozialdemokratie in Stadt und Land”, ‚Neue Zeit”, 1912, II, S. 61.

27 Ruedorffer, “Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart”, 1914 (erschienen vor Kriegsausbruch), S. 173.

28 a.a.O., S. 103, 110.

29 a.a.O., S. 176. All das, man beachte es, ist vor dem Kriege geschrieben.

30 Das seltene Material über die Lage der deutschen Sozialdemokratie haben wir dank der liebenswürdigen Hilfe des Kollegen Julian Borchardt erhalten, dem wir hier unsern Dank aussprechen.

31 “Handbuch des Vereins Arbeiterpresse”, 1914, S. 534-589.

32 a.a.O., S. 252-299 und 392-415.

33 Die Gewerkschaftsbeamten sind in dieser Liste nur z. T. aufgezählt. In Wirklichkeit ist die Zahl der in der deutschen Arbeiterbewegung beschäftigten Beamten bedeutend höher als 4000. Wir werden weiter unten sehen, dass allein in den freien Gewerkschaften vor dem Kriege gegen 3000 Beamte angestellt waren.

34 Der Rolle der letzteren widmen wir ein besonderes Unterkapitel.

35 “Handbuch des Vereins Arbeiterpresse”, S. 60.

36 a.a.O., S. 73

37 a.a.O., S. 81

38 a.a.O., S. 1

39 Es kumulieren sich auch die Honorare. Viele der Beamten der Arbeiterbewegung verdienen 10.000 M. und mehr jährlich.

40 Protokoll des Jenaer Parteitags, 1905, S. 16.

41 Verband der Sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Jahresbericht 1914—1916, S. 104. (Das Buch ist nur für Parteimitglieder bestimmt.)

42 a.a.O.

43 Wir entnehmen diese Angaben der interessanten Arbeit Alfred Nußbaums “Bürokratie und Selbstverwaltung”, veröffentlicht in der Zeitschrift “Die internationale Jugend”, Nr. 5, Dezember 1916.

44 Die Summe ist von uns auf Grund von Tabellen berechnet worden, die im Jubiläumsbuch des Sekretärs der Generalkommission der Gewerkschaften, P. Umbreit, “25 Jahre deutscher Gewerkschaftsbewegung, 1890 bis 1915”, angeführt werden. 1915, S. 164-169.)

45 a.a.O., S. 169

46 “Korrespondenzblatt der Gewerkschaften Deutschlands”, Statistische Beilage Nr. 4, vom 21. Oktober 1916, S. 74.

47 a.a.O.

48 Prof. Ferdinand Tönnies, “Politik und Moral”, Frankfurt, 1901, Neuer Frankfurter Verlag, S. 46.

49 Heinrich Herkner, “Die Arbeiterfrage”, V. Auflage, 5. 116-127.

50 “Neue Zeit”, 27. Jhrg., 1908/9, II. Bd., S. 677ff.

51 Siehe die interessanten Briefe P. Utins, “Die Australische Arbeiterpartei”, (“Australian Labour Party”). Der Verfasser hat in der Australischen Arbeiterbewegung mitgearbeitet.

52 Hans Delbrück, “Regierung und Volkswille”, Berlin, 1914, S. 80.

53 a.a.O., S. 81.

54 a.a.O., S. 145.

55 “Der Weltkrieg und die deutsche Sozialdemokratie”, Schmollers Jahrbuch, 39. Jhrg., III. Heft 5. 7ff.

56 “Der Weltkrieg und die deutsche Sozialdemokratie”, Schmollers Jahrbuch, 39. Jhrg., 1915, III. Heft, S. 7ff.

57 “Protokoll des Berliner Parteitags 1892”, S. 122.

58 Wolfgang Heine, “Demokratische Randbemerkungen zum Fall Göhre”, “Sozialistische Monatshefte”, VIII. Jahrg., 1904, I. Bd., S. 284.

59 Siehe z. B. den Artikel von Hans Block “Überspannung der Demokratie”, “Neue Zeit”, XXVI., Nr. 8, S. 264. Über die Rolle der Bürokratie in der deutschen Arbeiterbewegung siehe auch: Ed. Bernstein, “Die Demokratie in der Sozialdemokratie”, “Sozialistische Monatshefte”, 1908, 18/19, 1909.

60 “Die Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die obligatorischen Tendenzen des Gruppenlebens”, von Robert Michels, Leipzig, 1911, S. 53 u. a.

61 Anton Pannekoek, “Der Imperialismus und die Aufgaben des Proletariats” in “Vorbote. Internat. Marxist. Rundschau”, Januar 1916.

62 G. Eckstein, “Bürokratie und Politik”, “Neue Zeit”, 1916, S. 483f.

63 “Die soziale Revolution” und “Am Tage nach der sozialen Revolution”

64 Kautsky, “Die soziale Revolution”, Berlin, 1907, S. 63 f.

65 “Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge u. a., S. 324. [Marx Engels Werke, Band 37, S. 321]

66 [zitiert] K. Kautsky, “Sozialismus und Kolonialpolitik”, 1907, S. 79. [Marx Engels Werke, Band 35, S. 457]

67 “Briefe an Sorge”, S. 156. [Marx Engels Werke, Band 34, S. 295]

68 a.a.O., S. 390. [Marx Engels Werke, Band 39, S. 8]

69 “Schmollers Jahrbuch”, 1915, III. Heft, “Der Weltkrieg und die deutsche Sozialdemokratie”, von G. Schmoller.

70 Dr. Heinrich Herkner, “Sozialdemokratie und Auslandspolitik”, “Preußische Jahrbücher”, September 1915, S. 397

71 A. Sartorius, Freiherr v. Waltershausen, “Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande”, S. 439f.

72 Paul Lensch, “Die Sozialdemokratie, ihr Glück und ihr Ende”, S. 115ff.

73 Otto Bauer, “Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie” (Marxstudien, II. Bd.), Wien, 1907, S. 476.

74 Wir wissen, dass alle offiziellen “Sozialisten” sich jetzt diese bürgerliche politische Ökonomie zu Eigen gemacht haben.

75 a.a.O., S. 477.

76 a.a.O., S. 477f.

77 a.a.O., S. 479.

78 a.a.O., S. 480f.

79 a.a.O., S. 481f., 485.

80 a.a.O., S. 487.

81 a.a.O., S. 491, Anm.

82 a.a.O., S. 489 f.

83 a.a.O., S. 478.

84 “Statistische Erhebungen über die Parteiorganisation Groß-Berlins”, Berlin, 1907, S. 135 u. a, Die Gesamtsumme der Gastwirte usw. haben wir auf Grund der Tabellen der einzelnen Kreise berechnet.

85 Aus einer Rede von Max Weber auf dem Magdeburger Kongress des Vereins für Sozialpolitik, 1907.

86 Die Schlussfolgerungen über die sozialen Wurzeln des Opportunismus speziell in der deutschen Sozialdemokratie, die im VIII. Kapitel enthalten sind, wurden durch die weitere Entwicklung vollauf bestätigt.

Die Steigerung der Zahl der bürgerlichen Mitläufer der Sozialdemokratie und die Umwandlung dieser Partei in eine Koalitionspartei, die mit der Bourgeoisie durch dick und dünn geht, ist nach der Revolution 1918 mit Riesenschritten vorwärts gegangen.

In der ersten Revolutionsperiode sah das Kleinbürgertum, dass die Arbeiterschaft zum entscheidenden Faktor geworden war. Gleichzeitig war es durch die militärische Niederlage tief von der Monarchie und den bürgerlichen Parteien enttäuscht. Es hatte Hoffnungen, dass die große sozialdemokratische “Volkspartei” den Willen und die Kraft haben werde, sein Los zu bessern. Es fühlte teils bewusst, teils unbewusst, dass es eventuell nützlich sein könne, an die Spitze eines geschlagenen, entwaffneten Deutschland eine pazifistische Partei zu stellen, die vielleicht besser als die alten annexionistischen Parteien in der Lage sein würden, die Sieger zu besänftigen.

Eine große Rolle spielte dabei der Umstand, dass die Sozialdemokratie sich sofort nach Ausbruch der Revolution mit allen Mitteln, bis zu den militärischen (Noske), gegen das Vorwärtstreiben der Revolution zur proletarischen Revolution wandte und sich somit als die wirksamste Stütze der bürgerlichen Ordnung erwies.

Die Folge dieser politischen Voraussetzung war es, die der SPD bei den Wahlen zur Nationalversammlung und den Reichstagswahlen von 1920 Millionen neuer kleinbürgerlicher Mitläufer brachte.

Bei den Reichstagswahlen 1920 erhielt die SPD 6.616.000 Stimmen und 113 Mandate, die USP 4.896.000 Stimmen und 81 Mandate. Insgesamt erhielten also die beiden sozialdemokratischen Parteien über 11 Millionen Stimmen.

Das Ergebnis der Reichstagswahlen von 1924 zeigt mit verhältnismäßig großer Genauigkeit, wie groß die Zahl der kleinbürgerlichen Mitläufer der Sozialdemokratie bei den ersten Reichstagswahlen gewesen ist.

Die sozialdemokratischen Wähler von 1920 wanderten bei den Wahlen von 1924 in drei Richtungen ab: die klassenbewussten Arbeiter wählten kommunistisch, die verärgerten blieben der Wahlurne fern, die von der Sozialdemokratie enttäuschten Kleinbürger gaben ihre Stimme den Faschisten.

Die KPD hat seit 1920 rund 3.186.000 Stimmen gewonnen. Die vereinigte Sozialdemokratie hat aber über 5 Millionen Stimmen verloren. Ca. 2 Millionen ehemaliger sozialdemokratischer Wähler haben sich also zum kleinen Teil der Stimme enthalten und haben in ihrer Mehrzahl bürgerlich gewählt. Die Völkischen, die 1920 keine eigene Liste hatten, haben bei den Wahlen 1924 rund 1.924.000 Stimmen bekommen Da andere bürgerliche Parteien, wie z. B. die Deutschnationalen die Zahl ihrer Wähler gesteigert haben, oder wie die Deutsche Volkspartei und die Demokraten nur wenig eingebüßt haben, können die faschistischen Stimmen in ihrer überwiegenden Mehrzahl nur aus dem Lager der ehemaligen sozialdemokratischen Wähler kommen.

Die Wahlergebnisse in den Industriebezirken und den proletarischen Vierteln der Großstädte zeigen aber klar, dass die Völkischen fast gar keinen Einfluss unter dem städtischen Proletariat haben. Die Sozialdemokratie hat also bei den Reichstagswahlen 1924 ihre kleinbürgerlichen Wählermassen in ihrer überwiegenden Mehrheit an die Faschisten verloren.

Das Verhältnis des Kleinbürgertums zur Sozialdemokratie das “Mitläuferproblem”, hat also nach der Revolution folgende Entwicklung genommen. In der ersten Periode, bis zur offenen Wiedererstarkung der Macht der deutschen Bourgeoisie, ein riesiges Anschwellen des kleinbürgerlichen Anhangs. Die Sozialdemokratie aber nützt die Unterstützung einer Arbeiterpartei durch das Kleinbürgertum nicht aus, um das Proletariat, gestutzt auf das zum größten Teil sympathisierende zum Teil neutrale Kleinbürgertum, zum Kampf gegen die Herrschaft der Großbourgeoisie zu fuhren.

Sie missbraucht ihren Einfluss auf die Arbeiterschaft und ihre Positionen im Staat, um die proletarische Avantgarde niederzuschlagen und Schritt für Schritt die Macht der Großbourgeoisie zu festigen. Die Großbourgeoisie ihrerseits nützt ihren wachsenden Einfluss aus, um die ganzen Lasten des Versailler Vertrages auf das Proletariat und das Kleinbürgertum abzuwälzen. Von Mitte 1922 bis Ende 1924 führt die Großbourgeoisie mit Hilfe der Geldentwertung eine fast vollständige Enteignung des deutschen Kleinbürgertums durch. Gleichzeitig finanziert und organisiert sie die faschistische Bewegung, und diese entreißt der offensichtlich bankrotten Sozialdemokratie ihre kleinbürgerlichen Mitläufer. Mitte 1924 ist die Sozialdemokratie in Bezug auf die soziale Lage ihrer Mitglieder und Wähler wieder eine fast ausschließlich proletarische Partei geworden. Aber es wäre grundfalsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass die VSPD nunmehr an Stelle bürgerlicher proletarische Politik machen wird. In der Periode der proletarischen Revolution hat sich die SPD den Kampf gegen diese Revolution zur Hauptaufgabe gemacht und ist daher nicht nur eine Vertreterin der kleinbürgerlichen Politik, sondern, wie die Aufrichtung der bürgerlichen Diktatur im Herbst 1923 mit Hilfe der VSPD es zeigt, zur direkten, bewussten Helferin des Faschismus geworden.

Die weitere Entwicklung der SPD kann daher nur darin bestehen, dass sie, nachdem sie das Kleinbürgertum und einen großen Teil ihrer proletarischen Anhänger und Mitglieder verloren hat, auch den Rest ihres Einflusses auf das Proletariat verliert.

Um aber diesen Prozess zu beschleunigen und den wichtigsten Hemmschuh der proletarischen Revolution in Deutschland — die SPD als Massenpartei zu beseitigen, ist, wie die Reichstagswahlen 1924 es für jeden einzelnen Ort mit aller Genauigkeit zeigen, noch eine große Arbeit der KPD innerhalb der Arbeiterschaft erforderlich.

Der Zusammenbruch der VSPD wird durch die zum großen Teil bereits vollzogene Vernichtung der Arbeiteraristokratie seitens des Unternehmertums beschleunigt.

Die Rolle der Arbeiteraristokratie als einer Stütze und Quelle des Opportunismus innerhalb der Sozialdemokratie der Vorkriegszeit wurde nach der Revolution ebenfalls durch die historische Erfahrung bestätigt.

Nachdem das Unternehmertum seit dem Jahre 1921 zur Offensive gegen das Proletariat übergegangen ist, hat es speziell in den Zeiten der rapiden Geldentwertung systematisch das Lebensniveau der bestqualifizierten Arbeiter heruntergedrückt.

Zum Herbst 1923 verdienten auch die best bezahltesten Arbeiter kaum ihren Lebensunterhalt.

Betriebe, die vor der Revolution vorwiegend aus der Arbeiteraristokratie bestanden (Kruppwerke in Essen, Zeiß in Jena usw.) und niemals seit ihres Bestehens streikten, die politisch Hochburgen, der SPD waren, traten 1922 und 1923 öfter in Streiks, und ein Teil von ihnen wurde zu kommunistischen Hochburgen (Zeiß in Jena, Continental in Hannover, viele Werften an der Wasserkante usw.). Ja, die ehemaligen “Arbeiteraristokraten” wurden oft in den letzten Jahren zu den allerbesten Kommunisten, weil sie früher Mittel und Zeit gehabt haben, sich nicht nur praktisch an der Arbeiterbewegung zu beteiligen, sondern sie auch theoretisch zu studieren, und weil sie gerade dank ihrer früheren gehobenen Stellung gewohnt waren, unabhängig und mutig aufzutreten.

Nach der Markstabilisierung versuchen freilich die Unternehmer erneut, eine Spaltung in die Arbeitermassen zu tragen und eine kleine Schicht auf Kosten der angelernten und ungelernten Arbeiter, Arbeiterinnen und Jugendlichen besser zu entlohnen. Diese Politik fängt bereits an, sich hier und da als Hemmschuh der Revolutionierung der Arbeiterschaft auszuwirken.

Aber dieser Prozess hat erst im Winter 1923 begonnen und hat bis heute der ehemaligen Arbeiteraristokratie nur einen kleinen Teil ihrer in den letzten Jahren verlorenen Positionen wiedergegeben. Die deutsche Bourgeoisie ist gegenwärtig in der Zeit ihrer Offensive gegen das Proletariat nicht geneigt und auch nicht fähig, irgendwelche wesentlichen Konzessionen an die qualifizierten Schichten der Arbeiterschaft zu machen. Man kann also feststellen, dass die Arbeiteraristokratie im Großen und Ganzen als Hemmschuh der revolutionären Bewegung und Quelle des Opportunismus ganz bedeutend geschwächt ist.

Die Analyse des Wesens und der Rolle der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie der SPD wurde ebenfalls nach dem Sturze der Monarchie vollauf bestätigt.

Der soziale und politische Typ eines Gewerkschafts- und Parteibeamten, der im Buch gezeichnet ist, besaß bereits alle nötigen Eigenschaften, um sozialdemokratischer Minister, Landrat, Polizeipräsident, Spitzel zu werden.

Die Novemberrevolution hat die sozialdemokratischen Bonzen zur Futterkrippe des bürgerlichen Staates gebracht. Ihre Zahl ist dadurch um Tausende gestiegen. Ihre Abhängigkeit von der Bourgeoisie und ihre Loslösung von der Arbeiterschaft ist gewachsen. Die ehemaligen Arbeiter sind als leitende Staatsbeamte die brutalsten und gerissensten Feinde der Arbeiterschaft geworden.

Gleichzeitig erklärt die große Zahl der sozialdemokratischen Regierungsleute, warum die SPD trotz allen Verrats noch einen Teil der Arbeitermassen gefangen hält. Die Rolle des Parteiapparates, auf die das Buch hinweist, ist, nachdem die Parteifunktionäre in bezahlte Staatsämter gelangten, ganz gehörig gewachsen. Bei allen Wahlkampagnen überschwemmt die SPD das Land mit Ministern, Ministern a. D., Landräten, Reichskanzlern a. D. u. dgl. größeren und kleineren Größen. Als Teilnehmer an der Staatsgewalt üben diese Leute eine verhältnismäßig große Wirkung, vor allem freilich auf rückständige Arbeitermassen, aus.

Aber die große Teilnahme der SPD an dem Staatsapparat der Geldsack-Republik, ihre ganze Tätigkeit als Verfechter der bürgerlichen Ordnung öffnet gleichzeitig den Massen immer mehr die Augen über das wahre Wesen der SPD.

Der Apparat der SPD ist also in den letzten Jahren gewachsen, und er verlangsamt künstlich ihren politischen Zusammenbruch. Aber er kann diesen Zusammenbruch nicht abwehren. Durch sein Hinauszögern können ihn die Bonzen nur stürmischer und radikaler machen.

Eugen Varga

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