X. DIE ZWEITE INTERNATIONALE UND DAS KRIEGSPROBLEM.

X. DIE ZWEITE INTERNATIONALE UND DAS KRIEGSPROBLEM.

Zwei Lebensperioden der II. Internationale -— Gegen den Zarismus Gegen den Imperialismus.

Die Vorbereitungsarbeiten zur Wiederaufrichtung der Internationale fallen in die zweite Hälfte der achtziger Jahre. Die Wiedergeburt der internationalen Arbeiterorganisation — nach dem Zusammenbruch der I. Internationale geht an der Grenze zweier Epochen vor sich. Denn die achtziger Jahre sind in vieler Beziehung die Zeit eines scharfen Umschwungs. In den achtziger Jahren beginnt die Ära des neuesten Imperialismus, der im ersten Jahrzehnt des XX. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht.

Die Geschichte der II. Internationale kann in zwei Perioden geteilt werden. Die erste reicht vom Pariser Kongress 1889 ungefähr bis zum Amsterdamer Kongress 1904, die zweite liegt zwischen den Kongressen in Stuttgart und Basel. Gegen den Zarismus — in diesem Zeichen steht die II. Internationale in der ersten Periode ihrer Entwicklung. Gegen den Imperialismus — das ist die wichtigste Parole der Internationale in ihrer zweiten Entwicklungsperiode.

Wer den Kampf der Richtungen und die Evolutionen der Ansichten der II. Internationale in der Frage des Krieges verstehen will, der muss sein Augenmerk vor allem auf den Züricher Kongress (1893), den Stuttgarter Kongress (1907), das Jahr des Balkankriegs (1912-1913) und den Basler Kongress (1912) richten. 1893, 1907 und 1912/1913 — das sind die Hauptdaten für das Urteil über die Entwicklung der Ansichten der II. Internationale. Zürich, Stuttgart, Basel — das sind Hauptmarksteine auf dem zurückgelegten Weg.

Warum stand 1893 die Frage des Krieges auf der Tagesordnung des Züricher Kongresses? Warum war der Züricher Kongress fast ganz dieser Frage gewidmet? Weil 1891/1892 das französisch-russische Bündnis, d. h. das Bündnis der französischen Oligarchie mit dem russischen Zarismus endgültig zustande gekommen war, und weil es schien, dass der europäische Krieg in unmittelbare Nähe gerückt sei. Man muss sich in jene Zustände zurückversetzen, um den Sinn der Ereignisse auf dem Züricher Kongress richtig zu verstehen. Der Beginn der neunziger Jahre war ein entscheidender Moment in der Geschichte der auswärtigen Politik der neuesten Zeit. Seit damals fuhren die imperialistischen “Großmächte” Europa mit Volldampf dem Weltkrieg entgegen.

Zurückblickend sehen wir, dass die Ära des modernen Imperialismus in den neunziger und sogar schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begonnen hat .Aber es darf nicht vergessen werden, dass unsere jetzige Ansicht auf retrospektiver Beurteilung beruht. Die Generation der Sozialisten, die in den achtziger und neunziger Jahren tätig waren, konnte die eben erst auftretende Erscheinung nicht in ihrem ganzen Umfange richtig einschätzen. Erst jetzt, nach dreieinhalb Jahrzehnten, sehen wir, dass schon die Entstehung der beiden Hauptgruppierungen — des Dreibunds und besonders des französisch-russischen Bündnisses, das späterhin zur Triple-Entente wurde — im Zeichen des Übergangs zum modernen Imperialismus vor sich ging. Das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich ist im Jahre 1878 geschlossen worden. Im Jahre 1882 wurde der Zweibund zum Dreibund. Italien schloss sich Deutsehland und Österreich an, wobei es sich durch rein imperialistische Erwägungen leiten ließ (Konkurrenzkampf zwischen den französischen und italienischen Imperialisten um Tunis). Aber im Moment der Ereignisse konnte der wahre Charakter dieser neuen Gruppierungen nicht klar sein, ebenso wenig die Notwendigkeit der Entstehung einer neuen imperialistischen Gegengruppierung der übrigen “Großmächte”. Marx starb 1883, also schon nach dem Zustandekommen des Dreibunds. Aber selbst dieser geniale Denker, der die besondere Gabe hatte, klar in die Zukunft zu schauen, konnte das Herannahen einer ganz neuen Ara in der Entwicklung des neuesten Kapitalismus nicht voraussehen, — jener Ära, die wir jetzt Imperialismus nennen. Selbst Engels, der 12 Jahre später als Marx starb, konnte den Imperialismus noch nicht als bestimmte Epoche, als ein ganzes Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus verstehen. Die achtziger und neunziger Jahre waren, wir wieder. holen es, Übergangsjahre. Erst mit dem Beginn der imperialistischen Kriege zeigte sich der Charakter der neuen Epoche mit aller Klarheit. Der erste große imperialistische Krieg der neuesten Zeit war der zwischen Japan und China 1894/1895. Engels aber starb im Jahre 1895.

Der Abschluss des französisch-russischen Bündnisses musste im Lager der revolutionären Sozialisten, besonders der revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands Alarmstimmung hervorrufen. Was bedeutete das französisch-russische Bündnis? Es bedeutete einerseits, dass es der französischen Plutokratie, der französischen nationalistischen Reaktion gelungen war, die Truppen des russischen Zaren zu dingen, um ihre Pläne in Europa — vor allem den Kampf gegen Deutschland — durchzuführen. Bismarck besiegte 1871 Napoleon III. und annektierte Elsass-Lothringen. Vorher aber hatten Frankreich und Russland viele Jahrzehnte hindurch Deutschland zu unterdrücken und seine nationale Einigung zu verhindern gesucht. Diese Unterdrückung hat in der Psychologie des deutschen Volkes eine unverwischbare Spur hinterlassen. Und es ist kein Wunder, dass die revolutionären Sozialisten Deutschlands damals (1891) ernstlich die Gefahr erwogen, die als Resultat des französisch-russischen Bündnisses für ihr Land entstehen konnte.

Einerseits dies. Andrerseits aber bedeutete das französisch-russische Bündnis gleichzeitig eine ungeheure Stärkung des Zarismus sowohl innerhalb Russlands als auch im internationalen Maßstabe. Der Zustrom französischer Milliarden half der Romanow-Monarchie die innere Krise lösen. Vor allem aber verlieh das französisch-russische Bündnis der auswärtigen Politik des Zarismus einen neuen Glanz. In gewissem Maße stellte es die französische Republik in den Dienst dieser Politik und brachte sie in Abhängigkeit vom “internationalen Gendarmen”.

Es entstand die Frage, wie die revolutionären Sozialisten auf all das reagieren sollten? Seit langer Zeit — seit 1848 — betrachtete Marx Russland als den Hauptfeind der internationalen Demokratie. Das alte Russland der Leibeigenschaft, Russland, das die ungarische Revolution im Keime erstickt, das den polnischen Aufstand im Blute ertränkt hatte, das reaktionäre Russland, das die Rolle des “Gefängnisses der Völker” spielte, war auch der Hauptfeind der Demokratie — bis zu der Zeit, da innerhalb Russlands eine revolutionäre Massenbewegung entstand. Aber zu der Zeit, da sich das französisch-russische Bündnis bildete, war in Russland eine Massenbewegung der Arbeiter erst in Entstehung begriffen. Die Reaktion herrschte unbeschränkt. Der Beginn der neunziger Jahre fällt zusammen mit den goldenen Tagen des Regimes Alexanders III. Die Romanow und Pobiedonoszew saßen fest auf dem Rücken Russlands und genossen die Kirchhofsruhe in vollen Zügen. Das ganze Land stöhnte unter dem Stiefel der Reaktion. In einer solchen Zeit musste das zaristische Russland im Bündnis mit den Geldkönigen der reichsten westeuropäischen “Demokratie” tatsächlich die größte Gefahr für den Sozialismus darstellen.

Die deutsche Sozialdemokratie war schon zu jener Zeit eine ziemlich starke Macht. Die Zahl ihrer Wähler überstieg eine Million. Welche Stellung musste der deutsche Sozialismus in Anbetracht der neuen Gefahr einnehmen, die das französisch-russische Bündnis darstellte, das eine ganz neue Lage in der internationalen Politik schuf? Diese Frage stand vor Friedrich Engels, stand vor allen revolutionären Sozialisten kurz vor dem Züricher Kongress der II. Internationale.

Zwei Arbeiten von Friedrich Engels, “Der Sozialismus in Deutschland” und “Die auswärtige Politik des russischen Zarentums”, sind ungefähr zu jener Zeit geschrieben und durch ihren Inhalt miteinander verbunden. Engels sieht im Zarismus die Hauptstütze der Konterrevolution, der europäischen Reaktion. Er glaubt an die Nähe großer revolutionärer Kämpfe im Westen, und er zweifelt nicht daran, dass sich alle europäischen Regierungen — Deutschland mit einbegriffen — in Anbetracht der Gefahr einer proletarischen Revolution in die Arme des Zarismus, des einzigen Retters der “Ordnung”, werfen werden. “Trotz aller Zänkereien mit dem Zaren wegen Konstantinopel usw. können Augenblicke kommen, wo sie ihm Konstantinopel, Bosporus, Dardanellen und alles, was er sonst noch verlangt, in den Schoß werfen, wenn er sie nur gegen die Revolution schützt.” — So schreibt Engels in seiner Abhandlung “Die auswärtige Politik des russischen Zarentums”.1

Was aber wird sein, wenn die europäische Revolution nicht kommt, sondern wenn anstatt dessen Russland im Bündnis mit Frankreich Deutschland überfällt? Welchen Einfluss wird das auf das Schicksal der deutschen sozialistischen Bewegung haben? “Soviel ist sicher,” bemerkt Engels hierzu, “weder der Zar noch die französischen Bourgeois-Republikaner noch die deutsche Regierung selbst würden eine so schöne Gelegenheit vorübergehen lassen zur Erdrückung der einzigen Partei, die für sie alle drei ‚der Feind‘ ist”, d. h. die Sozialdemokratie.2

Was soll aber dann das deutsche Proletariat, die deutsche Sozialdemokratie tun? Die preußischen Junker verteidigen, “ihre” Regierung unterstützen? Nein, das wäre unzulässig! Schweigend zusehen, wie die Truppen des russischen Zaren und der französischen Bourgeoisie in Deutschland einbrechen? Nein, für Sozialisten wäre auch das nicht denkbar. Engels schlägt etwas ganz anderes vor: das deutsche Proletariat muss seine Regierung stürzen, einen revolutionären Krieg gegen den Zarismus führen und sich mit den französischen Arbeitern zum gemeinsamen Kampf verbünden. “Ein Krieg, wo Russen und Franzosen in Deutschland einbrächen, wäre für dieses ein Kampf auf Tod und Leben, worin es seine nationale Existenz nur sichern könnte durch Anwendung der revolutionärsten Maßregeln … Wir haben eine starke Partei die Sozialdemokratische Partei. Und wir haben das großartige Beispiel nicht vergessen, das Frankreich uns 1793 gab. Das hundertjährige Jubiläum von 1793 naht heran! Die deutschen Sozialisten sind bereit, der Welt zu beweisen, dass die deutschen Proletarier von heute der französischen Sansculotten von vor 100 Jahren nicht unwürdig sind, und dass 1893 sich sehen lassen kann neben 1793.”3

Die deutschen Sozialchauvinisten berufen sich jetzt oft auf diese Worte von Friedrich Engels, und sie behaupten, 1914 geradeso gehandelt zu haben, wie Engels zu Beginn der neunziger Jahre geraten hatte. Aber das heißt nur Sand in die Augen streuen. Wir sprechen schon überhaupt nicht davon, dass der jetzige Krieg gar nicht der Krieg ist, den Engels damals im Auge hatte. Wir fragen nur: warum haben dann die deutschen Sozialchauvinisten ihre Regierung nicht gestürzt, warum haben sie nicht zu den revolutionärsten Maßnahmen gegriffen? Eine Kleinigkeit trennt sie von Engels. Er sprach vom revolutionären Krieg. Sie unterstützen den konterrevolutionären Krieg. Er sprach von der Methode der Sansculotten, d. h. der größten Revolutionäre ihrer Zeit. Sie handelten nach der Methode der Imperialisten, d. ha. der schlimmsten Reaktionäre ihrer Zeit.4

Gegenüber dem deutschen Kaisertum kann die französische Republik möglicherweise die bürgerliche Revolution repräsentieren. Aber gegenüber … der Republik im Dienste des russischen Zaren, repräsentiert der deutsche Sozialismus unbedingt die proletarische Revolution”5 — schrieb Engels.

Die Schlussfolgerung ist klar. Wenn das deutsche Proletariat die deutsche Regierung stürzt und selbst die Macht ergreift, dann wird es im Krieg gegen das reaktionäre französisch-russische Bündnis die proletarische Revolution darstellen. Es wird sowohl dem Zarismus als auch der französischen Republik — im Namen der proletarischen Revolution — den revolutionären Krieg erklären. Es wird, der Methode von 1793 folgend, auch nach Frankreich die revolutionäre Propaganda hineintragen. Es wird Deutschland vor der Verwüstung durch die Truppen des Zaren und der bürgerlichen Republik retten. Aber erst nachdem es sich selbst von den eigenen Junkern und der eigenen Bourgeoisie befreit, erst nachdem es zu den revolutionärsten Maßnahmen innerhalb des Landes gegriffen haben wird.

Wenn Engels so sprach, so setzte er zweifellos — in neuen Verhältnissen — die Tradition von Marx fort, die Tradition der “Neuen Rheinischen Zeitung”, die 1848 zum revolutionären Krieg gegen den Zarismus aufrief. Und die gleichen Ansichten teilten damals die besten Elemente der deutschen Sozialdemokratie, z. B. August Bebel und Wilhelm Liebknecht.

Es ist bekannt, dass der deutsche Opportunist v. Vollmar schon im Jahre 1891 mit einem ganz abgeschlossenen Programm des Sozialchauvinismus aufgetreten ist. Wir sprechen von seinen in München im Juni und Juli 1891 gehaltenen Reden, die viel Staub aufgewirbelt haben.6 In diesen Reden erklärte v. Vollmar offen, dass “wir” (die deutschen Sozialdemokraten) den Dreibund stützen müssten, dass im Falle eines Angriffs auf Deutschland es nur noch eine Partei geben würde und die Sozialdemokraten dann nicht als letzte ihre Pflicht erfüllen würden. Bebel und Liebknecht wandten sich sehr entschieden gegen v. Vollmar, und auf dem Erfurter Parteitag charakterisierten sie seine Politik als “nationalliberal”.7

Engels und Bebel wurden damals von Vollmar beschuldigt, dass sie zum Krieg aufforderten, den Krieg propagierten, ihn wünschten. “Wenn man unausgesetzt die Unabwendbarkeit eines Krieges predigt und jedes Mal hinzufügt, dass dieser Krieg auch der letzte Krieg auf Erden sein werde, dass in diesem Kriege die Befreiung von allen Lasten und Gebrechen der Menschheit vor sich gehen werde, dann muss man den Anschein erwecken, dass man ihn wünscht.”8 So interpretierte v. Vollmar die Idee des revolutionären Krieges gegen den Zarismus, die Engels und Bebel verteidigten.

Damit kommt man in den nationalliberalen Sozialismus hinein; das heißt die nationalliberale Taktik in die Sozialdemokratische Partei einführen” — antwortete Bebel. “Es ist nicht wahr, dass Liebknecht und ich einen gleichen Standpunkt eingenommen hatten wie Vollmar in der Dreibundfrage … Trotz der Verschiedenheit unseres Wesens und trotzdem er (Engels) mir an Wissen und Erfahrung weit überlegen ist, besteht zwischen uns, wie unser fleißiger Briefwechsel hierüber beweist, in Bezug auf die Auffassung der europäischen Lage eine fast wunderbare Übereinstimmung.”9

Das war die Stellungnahme nicht nur der revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands, sondern — was in diesem Fall besonders wichtig ist — auch der revolutionären Sozialdemokraten Russlands. Plechanow, der damalige Vertreter der russischen revolutionären Sozialdemokratie, trat auf dem Züricher Kongress als offizieller Referent auf. In seiner Rede sagte er wörtlich: “Wenn die deutschen Armeen über unsere Grenzen einziehen würden, so kämen sie als Befreier, wie die Franzosen des Nationalkonvents vor 100 Jahren nach Deutschland kamen, um als Sieger über die Fürsten dem Volke die Freiheit zu bringen … Bravo, meine Freunde! Schlagt ihn auf das Haupt, zieht ihn (den Zarismus) auf die Anklagebank, so oft ihr nur irgend könnt, greift ihn mit allen Mitteln an, die euch zu Gebote stehen.”10

Wir sehen, dass Plechanow 1893 die Frage ebenso stellte wie Engels, mit dem sich auch Bebel vollkommen solidarisierte. Plechanow sprach damals natürlich ebenfalls von einem revolutionären Krieg des revolutionären Deutschland gegen das zaristische Russland. Gegen den Zarismus! Das war die Losung, die die gesamte revolutionäre internationale Sozialdemokratie im Jahre 1893 vereinigte, nach diesem Kriterium orientierte sich damals die Internationale.

Wir haben die in ihrer Art “defätistischen” Erklärungen Plechanows auf dem Züricher Kongress nicht angeführt, um ihn vor seinen jetzigen Freunden, den Menschikow, Struve, Tichomirow, bloßzustellen. Wir haben sie auch nicht angeführt, um zu sagen, dass sie, wörtlich genommen, auch jetzt wahr seien. Im Jahre 1914 hätte kein revolutionärer Sozialist Russlands eine solche Aufforderung an die Deutschen richten können. Weder in Stuttgart (1907), noch in Basel (1912) hat sich irgendein russischer Sozialist mit ähnlichen Aufrufen an die Deutschen gewandt: Russland, das 1905 hinter sich hatte, war nicht mehr das Russland von 1893. Kurz vor 1914 sah Petersburg von neuem Barrikaden, die das revolutionäre Proletariat aufgebaut hatte. Andrerseits kann man im heutigen Deutschland nicht an das Jahr 1793 appellieren. Im Deutschland von heute muss man von einem neuen 1871 sprechen, von einem Aufstand in der Art der Pariser Kommune, von der proletarischen Revolution unter dem Banner der Niederwerfung der Bourgeoisie und der Errichtung des sozialistischen Regimes. Hätte das deutsche Proletariat 1914 das Junkertum und die Bourgeoisie gestürzt, hätte es auf revolutionärem Wege eine Reihe sozialistischer Maßnahmen durchgeführt — nur in diesem Falle hätte es die Freiheit und den Sozialismus “auf Bajonetten” in andere Länder tragen können. Die Regierung des deutschen Proletariats hätte dann den Regierungen der Ententeländer den sofortigen Frieden vorschlagen müssen. Und wäre dieser Frieden nicht angenommen worden, dann hätte die Arbeiterklasse Deutschlands einen Krieg gegen die herrschenden Klassen dieser Länder führen müssen, einen Krieg, der strategisch ein Angriffskrieg sein konnte, aber im historischen Sinn ein gerechter Verteidigungskrieg gewesen wäre. Nur dann könnten die russischen, französischen, englischen Proletarier, an die deutschen Proletarier gewandt, Plechanows Worte von 1893 wiederholen, dass die deutsche Armee (d. h. die revolutionäre deutsche Armee, die unter dem Banner Liebknechts und nicht der Hohenzollern kämpft) als Befreierin zu ihnen kommen werde, wenn sie die Grenze überschreite.

Der Umstand, dass Plechanow im Jahre 1893 auf dem Züricher Kongress unter allgemeiner Zustimmung der Sozialisten aller Länder eine solche Rede halten konnte, charakterisiert einen bestimmten Moment in der Geschichte des internationalen Sozialismus. Damals war der Zarismus der Hauptfeind. Damals konnte sich die ganze Internationale unter einer Losung vereinigen: gegen den Zarismus! 1907, 1912, 1914 war das nicht mehr möglich. Die Losung der Internationale hätte jetzt nicht nur sein müssen “gegen den Zarismus”, sondern vor allem “gegen den Imperialismus”.

Sechs Jahrzehnte hindurch propagierten die besten Revolutionäre Deutschlands im deutschen Volk den gerechten Hass gegen den Zarismus. Seit der Zeit der Marxschen “Neuen Rheinischen Zeitung” hört der Ruf “gegen den Zarismus” nicht auf, den deutschen Arbeitern ins Ohr zu klingen. Jetzt aber, da der Weltkrieg ausgebrochen ist, haben die deutschen Sozialchauvinisten, die auf die Seite des Imperialismus übergegangen sind, diesen revolutionären Hass der deutschen Proletarier gegen den blutigen Zarismus bewusst ausgenützt. Zynisch gebrauchten sie die alte Losung “gegen den Zarismus”, um unter diesem Deckmantel die deutschen Arbeiter zu zwingen, ihr Blut für die Interessen des deutschen Imperialismus zu vergießen. Aus revolutionären Kämpfern gegen den Zarismus sind die deutschen Sozialdemokraten zu Verteidigern “ihres” Imperialismus entartet. Aber ihre Freund-Feinde aus dem russisch-englisch-französischen Lager standen ihnen nicht nach .Aus früheren revolutionären Kämpfern gegen den Zarismus sind sie zu reaktionären Verteidigern des Zarismus geworden. Und an ihrer Spitze steht derselbe Plechanow, der 1893 die Deutschen aufgefordert hat, die Freiheit auf ihren Bajonetten nach Russland zu tragen, der aber 1914 erklärte, dass der Zar einen “notwendigen, gerechten Krieg” führe, und dass “das, was Russland für Serbien verlangt hat, fast ganz (!) zusammenfiele mit den Forderungen der sozialdemokratischen Internationale!”11 Das ist der Weg, den ein bestimmter Teil der II. Internationale in 20 Jahren, von 1893 bis 1914, zurückgelegt hat.

Die revolutionäre Sozialdemokratie Russlands fordert die Deutschen jetzt nicht auf, uns auf deutschen Bajonetten die Freiheit zu bringen. Jetzt ist das revolutionäre Proletariat Russlands selbst ein sehr wichtiger Faktor der heranreifenden europäischen Revolution. Jetzt haben wir im Namen unserer Partei im Oktober 1915 folgende Worte geschrieben:

Auf die Frage, was die Partei des Proletariats tun würde, wenn die Revolution sie im gegenwärtigen Krieg an die Macht bringen sollte, antworten wir: wir würden allen Kriegführenden den Frieden anbieten unter der Bedingung, dass de Kolonien und alle abhängigen, unterdrückten und nicht gleichberechtigten Völker die Freiheit erhalten. Weder Deutschland noch England oder Frankreich würde unter ihren jetzigen Regierungen diese Bedingung annehmen. Dann müssten wir den revolutionären Krieg vorbereiten und führen, d. h. wir würden nicht nur die entschiedensten Mittel ergreifen, um unser ganzes Minimalprogramm durchführen, sondern auch alle … Kolonien und abhängigen Länder Asiens … systematisch zum Aufstand aufrütteln, und ebenso — ja in erster Linie —würden wir das sozialistische Proletariat Europas … zum Aufstand gegen seine Regierungen aufrufen.”12

So mussten mutatis mutandis auch die Sozialdemokraten Deutschlands zu Beginn des Krieges sprechen. Das war tatsächlich die Anwendung der Ansichten von Engels auf die veränderten Verhältnisse.

Der Vertreter der revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands, Genosse Junius, hat recht, wenn er sagt: “Engels hatte, als er das (die oben angeführten Zeilen) schrieb, eine ganz andere Situation im Sinn als die heutige. Er hatte noch das alte Zarenreich vor den Augen … Er dachte ferner an einen wirklichen nationalen Verteidigungskrieg des überfallenen Deutschlands gegen zwei gleichzeitige Angriffe. Er hat schließlich die Reife der Verhältnisse in Deutschland und die Aussichten auf die soziale Revolution überschätzt … Was aber bei alledem aus seinen Ausführungen mit aller Deutlichkeit hervorgeht, ist, dass Engels unter nationaler Verteidigung im Sinne der sozialdemokratischen Politik nicht die Unterstützung der preußisch-junkerlichen Militärregierung und ihres Generalstabs verstand, sondern eine revolutionäre Aktion nach dem Vorbilde der französischen Jakobiner.”13

Junius macht einen Fehler, wenn er weiter sagt, dass die deutschen Sozialdemokraten im Jahre 1914 als revolutionäres Kriegsprogramm das nationale Programm der Patrioten und Demokraten von 1848, das Programm von Marx, Engels, Lassalle, die Losung der einzigen großen deutschen Republik hätten aufstellen müssen. Das ist nicht richtig, denn — auf eine einzige Republik konnte man sich nicht mehr beschränken, sondern man musste offen auf sein Banner schreiben: Sozialismus, sozialistischer Umsturz. Junius missbraucht die Terminologie der Vergangenheit, wenn er sagt, dass “das die Fahne (war), die wahrhaft national gewesen wäre”.14 In dieser Terminologie von Junius hören wir noch einen schwachen Widerhall der Behandlung der Frage, die 1891-1893 verständlich war, die aber jetzt nicht einfach wiederholt werden kann.

Aber trotzdem sind es Junius, Liebknecht, Rosa Luxemburg, Borchardt, die Engels‘ Sache in Deutschland fortführen. Sie vertreten — in neuen Verhältnissen — dieselbe revolutionäre Taktik, die die orthodoxen Marxisten auf dem Züricher Kongress 1893 vertraten, ebenso wie — unter neuen Verhältnissen — unsere Partei diese Taktik auf russischem Boden verteidigt. Wer zu denken versteht, der wird einsehen, dass wir, wenn wir den Opportunismus der II. Internationale bekämpfen, ihre ganze Geschichte nicht einfach durchstreichen, ihre ganze 25-jährige Tätigkeit nicht einfach als Missverständnis erklären. Wir decken nur auf, dass es innerhalb der II. Internationale stets zwei Richtungen gegeben hat, dass schließlich der Opportunismus in ihr die Oberhand gewann, der eben zum Zusammenbruch der II. Internationale geführt hat. Und wir setzen die Arbeit ihres marxistischen Flügels fort, nur in neuen Verhältnissen.

Krieg und Generalstreik.

Die Frage des Kampfes gegen das neu gebildete französisch-russische Bündnis, die zaristische Gefahr, die Notwendigkeit des internationalen Widerstandes gegen den blutigen Zarismus bildeten einen Teil der Diskussion auf dem Züricher Kongress. Der andere Teil bestand in der Erörterung, wie der nahende Krieg zu bekämpfen sei. Und hier erstand vor allem die Frage des Generalstreiks, die Frage, ob die Arbeiterbewegung in den wichtigsten Ländern das Niveau erreicht hat, das den Sozialisten gestattete, den Krieg durch das Mittel des Generalstreiks zu verhindern.

Diese Frage wurde in Zürich eben von diesem rein praktischen Standpunkt aus behandelt. Es ist wichtig, dies festzustellen. Die prinzipiellen Vorurteile gegen den Generalstreik, hervorgerufen durch anarchistische Verdrehungen der Generalstreiksidee selber, kamen natürlich auch zum Vorschein. Aber wenn man von ihnen absiebt, wenn man die Beweisführungen der Hauptredner auf diesem Kongress aufmerksam liest, so muss man sich überzeugen, dass die Frage des revolutionären Massenstreiks für den besten Teil der Sozialisten schon im Jahre 1893 hauptsächlich eine Frage der Durchführbarkeit bei den gegebenen Kräfteverhältnissen der Arbeiterparteien war. Dieser Teil der Sozialisten erklärte den revolutionären Massenstreik nicht für “Anarchismus”, bekämpfte ihn nicht durch Hinweis auf die Notwendigkeit der “Vaterlandsverteidigung”. Diese Sozialdemokraten fragten sich nur: sind wir stark genug, um schon jetzt den revolutionären Massenkampf zu eröffnen?

Der Kommission des Züricher Kongresses lagen zwei Resolutionen vor. Eine hatten die Holländer mit dem bekannten Domela Nieuwenhuis an der Spitze vorgelegt, die andere die Deutschen mit Bebel und Wilhelm Liebknecht an der Spitze.

Der Entwurf der Holländer lautete in seiner endgültigen Abfassung: “In Erwägung, dass die nationalen Gegensätze keineswegs im Interesse des Proletariats, wohl aber in dem der Unterdrucker desselben liegen; in Erwägung, dass alle modernen Kriege ausschließlich durch die kapitalistische Klasse in deren Interesse hervorgerufen, in deren Hand ein Mittel sind, um die Macht der revolutionären Bewegung zu brechen und die Bourgeoisherrschaft durch die Fortdauer der schimpflichsten Ausbeutung zu befestigen; in Erwägung, dass keine Regierung sich entschuldigen kann, provoziert worden zu sein, da der Krieg das Ergebnis des internationalen Willens des Kapitalismus ist — erklärt der Internationale Sozialistische Arbeiterkongress in Zürich, dass die sozialistischen Arbeiter der in Betracht kommenden Länder eine Kriegserklärung seitens der Regierungen mit der Dienstverweigerung der Militärpflichtigen, der Reserve (Militärstreik), durch einen allgemeinen Streik, besonders in all den Industriezweigen, welche auf den Krieg Bezug haben, und durch einen Appell an die Frauen, ihre Männer und Söhne zurückzuhalten, beantworten sollen.”15

Der Entwurf der Deutschen war folgendermaßen formuliert “Die Stellung der Arbeiter zum Kriege ist durch den Beschluss des Brüsseler Kongresses über den Militarismus scharf bezeichnet. Die internationale revolutionäre Sozialdemokratie hat in allen Ländern mit Aufgebot aller Kräfte den chauvinistischen Gelüsten der herrschenden Klasse entgegenzutreten, das Band der Solidarität um die Arbeiter alter Länder immer fester zu schlingen und unablässig auf die Beseitigung des Kapitalismus hinzuwirken, der die Menschheit in zwei feindliche Heerlager geteilt und die Völker gegeneinander hetzt. Mit der Aufhebung der Klassenherrschaft verschwindet auch der Krieg. Der Sturz des Kapitalismus ist der Weltfriede.”16

Die ganze Diskussion auf dem Kongress drehte sich um die Resolution der Holländer. Die Deutschen hatten in ihrem Projekt allgemein anerkannte Wahrheiten niedergelegt. Neues dagegen schlugen die Holländer vor. In ihrer Art der Behandlung der Frage waren zweifellos viele Elemente des simplen Anarchismus enthalten. Leblos und abstrakt klang die Argumentation wenn die Holländer — wie später auch Hervé als er noch “Hervéist” war — behaupteten, dass es den Arbeitern gleichgültig sein könne, ob Frankreich zu Deutschland, oder Deutschland zu Frankreich gehören werde. Ein Teil ihrer praktischen Vorschläge hielt vom Standpunkt der bloßen Zweckmäßigkeit aus keiner Kritik stand. Für die Durchführung ihres eigenen Planes war es nicht vorteilhaft, dass die Reservisten sich weigerten, ihrer Militärpflicht nachzukommen, denn das hieß, die Armee ihrer klassenbewussten Elemente berauben, die energischsten Kämpfer unbewaffnet hassen. Über die sozialistische Revolution äußerte Nieuwenhuis naiv kindliche Ansichten.

Mit welchen Argumenten antworteten die Marxisten den Holländern auf dem Züricher Kongress? Haben sie die Notwendigkeit der “Vaterlandsverteidigung” in jedem Krieg vertreten — Wie es jetzt die Sozialchauvinisten tun? Oder die Politik des Burgfriedens während des Krieges? Haben sie (wie Kautsky 1915) gesagt, dass während des Krieges der Klassenkampf eingestellt werden müsse, und dass die Sozialdemokraten nach der Formel zu handeln hätten: “Kampf um den Frieden! Klassenkampf —. während des Friedens!”? Mit Nichten! Alle Marxisten antworteten, wie wir schon gesagt haben, hauptsächlich vom Standpunkt der praktischen Durchführbarkeit. Plechanow sprach als Referent der Kongresskommission. Er sagte: “Die Gründe, welche zur Verwerfung der holländischen Resolution führten, sind folgende: ein allgemeiner Streik ist nicht durchführbar auf dem Boden der heutigen Gesellschaft, denn das Proletariat besitzt eben die Mittel dazu nicht. Wären wir andrerseits in der Lage, einen Generalstreik durchzuführen, dann wäre die ökonomische Macht bereits in den Händen des Proletariats, und dann wäre der Generalstreik eine lächerliche Plattheit.”17

Aus dieser prinzipiellen Erklärung Plechanows — wie auch aus den weiteren Diskussionen — geht klar hervor, wie groß die Rolle war, die damals in den Diskussionen über den Kampf gegen den Krieg das Verhältnis zum Generalstreik überhaupt spielte. Bekanntlich hat das Verhältnis der II. Internationale zum Problem des Generalstreiks eine große Evolution durchgemacht. Es gab eine Zeit, da die II. Internationale ihn irrigerweise prinzipiell ablehnte, da fast die gesamte internationale Sozialdemokratie auf dein Standpunkt stand, der in dem berühmten Ausspruch des Opportunisten Auer zum Ausdruck kam: “Generalstreik ist Generalunsinn”. Die falsche Art der Fragestellung durch die Anarchisten, ihre leichtsinnige revolutionäre Phraseologie, ihre absolut falsche Gegenüberstellung von Generalstreik und politischem Kampf (darunter Parlamentarismus), ihre kindlichen Ansichten über den Generalstreik als über ein Universalrettungsmittel, das mit einem Schlag zum Sozialismus führe, all das stärkte nur die Vorurteile innerhalb der internationalen Sozialdemokratie in Bezug auf den Generalstreik. Aber die Hauptquelle des ablehnenden Verhaltens war doch die verhältnismäßig noch große Schwäche der Arbeiterbewegung in den Hauptländern. Eine Anzahl von Jahren war noch notwendig, damit sich die Lage bessere. Schon auf dem Amsterdamer Kongress (1904) macht sich ein anderes Verhalten der internationalen Sozialdemokratie zur Frage des General- (oder Massen-)streiks bemerkbar. Auf dem Stuttgarter Kongress (1907) tritt diese Wandlung noch klarer hervor. Zwischen den Kongressen von Amsterdam und Stuttgart liegt die russische Revolution. Im Jahre 1905 ist es der gesamten Sozialdemokratie der Welt in der Praxis gezeigt worden, wie man es macht. Im Jahre 1906 auf dem Parteitag in Jena trägt die Idee des politischen Massenstreiks einen großen Sieg davon. Nach dem Referat Bebels nimmt die deutsche Sozialdemokratie, die sich der Generalstreiksidee am meisten widersetzte, sie in ihr taktisches Arsenal auf.18

Die internationale Sozialdemokratie hat die Idee des Generalstreiks natürlich von ihren anarchistischen Verirrungen befreit. Sie nahm den Massenstreik als Werkzeug des politischen Kampfes auf und nicht als etwas, das die Politik ausschließt. Sie anerkannte ihn als eines der Mittel des proletarischen Kampfes —. neben schärferen (Aufstand) und weniger scharfen Mitteln (Stimmzettel). Aber jedenfalls — nahm sie ihn in ihr Programm auf. Und dieser Umstand musste der weiteren Beziehung der internationalen Sozialdemokratie zum Kampf gegen den Krieg einen neuen Stempel aufdrücken.

Die jetzigen Internationalisten — Karl Liebknecht in Deutschland, die Bolschewiki in Russland — werden zu polemischen Zwecken oft mit Nieuwenhuis und Hervé “alter Marke” verglichen. Eine schlechte polemische Methode! Selbst jede äußere Ähnlichkeit fehlt. Wie das Verhältnis der Internationale zum politischen Massenstreik nach der russischen Revolution dem altmodischen Verhältnis der Anarchisten zum Generalstreik nicht ähnlich sieht, ebenso wenig sieht die Stellungnahme der jetzigen Internationalisten der Stellungnahme der Nieuwenhuis‘ und Hervé ähnlich.

Aber kehren wir zu der uns interessierenden Diskussion auf dem Züricher Kongress zurück. Wir sagten, dass das Argument der Gegner Nieuwenhuis‘ nicht der Hinweis darauf war, dass jeder Sozialist immer und unter allen Umständen sein Vaterland verteidigen müsse, sondern der Hinweis auf die praktische Durchführbarkeit seines Planes in Anbetracht der noch ungenügend entfalteten Kraft der Arbeiterbewegung.

Der erste Redner nach Nieuwenhuis begann eben damit. “Der holländische Antrag lässt sich nicht durchführen, deshalb sind wir dagegen”, erklärt der ungarische Delegierte Zalkai. Und diese Note wiederholte sich in allen Reden. Wilhelm Liebknecht sagt in seiner Rede: “Bereits der ungarische Delegierte hat erklärt. er würde für den Antrag stimmen, wenn er durchführbar wäre … Wenn die sozialdemokratische Partei in Europa und in der ganzen Welt die Mächtigkeit besäße, diese Streiks durchzuführen, dann würden in Europa Zustände herrschen, die jeden Krieg unmöglich machen. Soweit sind wir noch nicht. Viel Schweiß ist schon geflossen, mancher ist gefallen, aber wir sind noch lange nicht am Ziel, die schwerste Aufgabe steht uns noch bevor.”19 Viktor Adler erklärt, die Vorschläge der Holländer seien nicht durchführbar, und “wir überschätzen nicht unsere Kraft, und unterschätzen nicht die Intelligenz unsrer Gegner”. Zu den Holländern gewandt, bemerkte er. “Mögen Sie uns als die schlechteren Revolutionäre ansehen; wenn es Zeit ist, wenn die Entscheidung kommt, wird es sich finden, wo die sind, die zu handeln wissen und stets zu handeln gewusst haben, und wo die sind, die zu reden wissen und zu reden gewusst haben … Vernichten kann uns niemand, nur wir selber.”20

Im Namen der Engländer sagt Aveling unter Beifall des Kongresses: “Mit dem Gedankengang des holländischen Antrags sind die Engländer einverstanden, sind wir alle hier einverstanden, aber es handelt sich um die Form der Durchführung.”21 Heritier erklärt im Namen der Schweizer: “Auch ich finde Gefallen an dem Geiste der holländischen Resolution, aber ebenso sehr erkenne ich die Undurchführbarkeit derselben.”22 Turati sagt im Namen der italienischen Sozialisten: “Die holländische Resolution sei gewiss edel gedacht, aber ihre Durchführung heute unmöglich; wir müssten sie verschieben bis zum Tag, wo wir die Macht hätten, und dann wäre sie unnötig. Jetzt würde ‚der allgemeine Streik … zur allgemeinen Füsilade‘ werden.”23

Das wichtigste Argument des Referenten Plechanow gegen den militärischen Streik war ebenfalls ein rein praktisches und durch den Stand der internationalen Arbeiterbewegung in jenem Moment bedingtes: “Der Militärstreik würde gerade in erster Linie die Kulturvölker entwaffnen und würde Westeuropa den russischen Kosaken preisgeben. Der russische Despotismus würde unsere ganze Kultur hinwegschwemmen und anstatt der Freiheit des Proletariats, für welche der Militärstreik ein glänzendes Zeichen sein sollte, würde die russische Knute herrschen.”24 Vor einem Vierteljahrhundert war die Lage so, dass ähnliche Erwägungen eine Bedeutung hatten. Zu verschieden war die Sachlage in den einzelnen Ländern. Zu verschieden war das Niveau der Arbeiterbewegung in den verschiedenen Staaten. In Russland hatte eine Arbeiterbewegung gerade erst begonnen. Damals konnten solche Motive angeführt werden.

Ebenso stellte die Frage Jules Guesde, der zu dieser Zeit zweifellos ein revolutionärer Marxist war, der Propagandist der Idee des Marxismus auf französischem Boden. Schon unmittelbar nach dem Brüsseler Kongress, der dem Züricher voranging und auf dem die Holländer den gleichen Antrag gestellt hatten, schrieb Guesde: “Der Generalstreik, den die Holländer vorgeschlagen haben (dieselben Holländer, die bekannt haben, dass sie selbst nicht einmal einen Teilstreik am 1. Mai durchzuführen imstande waren), würde — wäre er durchführbar — ein großes Verbrechen gegen den Sozialismus sein. Denn dieser Streik, von dem nur Länder mit starken sozialistischen Parteien ergriffen worden wären, würde sie mit Haut und Haar solchen Ländern wie Russland ausliefern, wo eine sozialistische Partei erst geschaffen werden muss, und wo folglich kein Streik die militärische Mobilisierung und die Offensivaktion der zaristischen Armee verhindern könnte. Den sozialistischen Westen der asiatischen Barbarei gegenüber entwaffnen — das wäre das unvermeidliche Resultat der anarchischen Taktik der Holländer. Darum — und ausschließlich darum — wurde diese Taktik abgelehnt.”25

Auch aus diesen Worten Guesdes sehen wir klar, dass die Losung “gegen den Zarismus” zu jener Zeit die ganze internationale Taktik der revolutionären Marxisten bestimmte. “Ausschließlich darum” —- das ist ein wörtlicher Ausdruck von Guesde. Der revolutionäre Marxismus hat die anarchistischen Dummheiten der Holländer abgelehnt. Aber nicht aus den Motiven heraus, die jetzt Plechanow ihm zu unterschieben sucht. Auch damals haben die revolutionären Marxisten für keinen Augenblick die Idee des Bürgerkrieges — als Antwort auf den verbrecherischen Krieg, der von den bürgerlichen Regierungen entfesselt wird — abgelehnt.

Der Krieg” — schrieb Guesde im Jahre 1891 — “ist im kapitalistischen Regime ebenso wenig zu vermeiden, wie die Cholera an der Mündung des Ganges … Entweder die soziale Revolution oder der Krieg … Den dauernden Frieden, die Produktionsmittel können wir nicht erobern, indem wir die Flinten fortwerfen, die eine unvernünftige Regierung und die Kapitalisten uns in die Hände geben. Nein, wir müssen diese Flinten laden, sie fest in die Hand nehmen und erst dann wird die Klasse der Unterdrückten … (die angeführten Ziele erreichen). Überall wo die Sozialisten hierzu die Kraft haben werden, werden sie etwas ganz anderes zu tun haben, als die Hände in den Schoß zu legen. Dank dem beginnenden Krieg werden die Werkstätten leer werden, der Krieg wird Tausende und Abertausende von Proletariern auf die Beine bringen, die nun bewaffnet und Herren der Lage sein werden. Darum haben die revolutionären Sozialisten, im Bewusstsein dessen, dass diese ganz andere Aufgabe ihnen zufallen wird, beschlossen — nach dem Ausdruck Vaillants — in der Erfüllung ihrer Pflicht bis zum Ende zu gehen26 und es den Kindern (d. h. den holländischen Anarchisten; Anm. D. Verf.) zu überlassen, sich an großen Worten zu berauschen.”27

Gegen den Anarchismus der Holländer, aber auch gegen die bürgerlich-opportunistischen Ideen, die uns Herr Plechanow jetzt als~ “Marxismus” verabreicht, traten 1891-1893 alle revolutionären Marxisten der II. Internationale auf. Sie lehnten den Bürgerkrieg nicht ab, sie predigten ihn.

Der Kampf der Richtungen auf dem Stuttgarter Kongress.

Unter anderen Verhältnissen diskutierte man 1½ Jahrzehnte später die Frage des Krieges auf dem internationalen Kongress in Stuttgart.

Die Revolution von 1905 war nicht siegreich gewesen, aber sie hatte gezeigt, wie stark die revolutionären Kräfte waren, die Russland in sich barg. Andrerseits hatten die Ereignisse des Jahres 1905 die tiefreaktionäre Rolle der westeuropäischen “Demokratien” gezeigt, die — wie es das imperialistische Frankreich getan hat — einem Häuflein von Kapitalmagnaten zuliebe bereit waren, die Räubermonarchie der Romanows zu retten; sie hatten gezeigt, dass die Schicksale der russischen bürgerlich-demokratischen Revolution aufs innigste verknüpft waren mit dem Kampf des westeuropäischen Proletariats um die sozialistische Umwälzung. Die Revolution von 1905 hatte nicht gesiegt: aber sie hatte die Völker Asiens geweckt und auch nach Europa einen frischeren freieren Windzug gebracht.

Gleichzeitig gingen auf der Arena der internationalen Politik entscheidende Ereignisse vor sich. Die Kriege 1894/95 (zwischen Japan und China), 1898 (Amerika und Spanien), 1900-1902 (Engländer und Buren, Europa gegen China) trugen einen ausgeprägt imperialistischen Charakter und knüpften neue imperialistische Knoten. Eine ganze Epoche rein imperialistischer Kriege nahte heran. Das französisch-russische Bündnis wurde zur Triple-Entente. Das von den lmperialisten Englands und Frankreichs bestochene Italien rückte immer mehr vom Dreibund ab, wobei es auf Tripolis abzielte: Marokko für Ägypten, Marokko für Tripolis — auf diesen Grundlagen ging die Annäherung der Imperialisten vor sich. Die englischen und russischen lmperialisten, alte traditionelle Gegner, verteilten jetzt “friedlich” untereinander Persien, das sie gemeinsam auszurauben beschlossen hatten. Um den “Einfluss” in Marokko hätten es die Imperialisten Deutschlands und Frankreichs schon beinahe einmal zum Weltkrieg gebracht. Der europäische Frieden lag auf des Messers Schneide. Der imperialistische Konflikt zwischen England und Deutschland reifte vor allen Augen heran. Die Rüstungen zu Lande und zur See nahmen einen immer wahnsinnigeren Umfang an. Der Imperialismus nahte dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Die Umrisse des heraufziehenden europäischen Krieges, in dem zwei imperialistische Trusts im Namen ihrer Sklavenhalterinteressen das Leben von Millionen und Abermillionen von Menschen auf eine Karte zu setzen bereit waren — die Umrisse dieses Krieges traten immer klarer hervor. Die imperialistische Reaktion wurde von Tag zu Tag frecher. Man konnte bereits voraussehen, dass der bevorstehende Krieg die II. Internationale vor die Frage von Leben und Tod stellen werde.

Das waren — in allgemeinen Zügen — die Zustände zu der Zeit, da sich der Stuttgarter Kongress versammelte. Weiche Stellung nahm die II. Internationale dieser Sachlage gegenüber ein? Von der Schwäche der Bewegung zu sprechen, alles auf den Mangel an Kräften abzuwälzen, das war nicht mehr möglich. Die Zahl der sozialistischen Wähler, die Zahl der Mitglieder der sozialistischen Gewerkschaften hatte fast 10 Millionen erreicht. Dafür aber gewann zu der Zeit in der Internationale schon der Opportunismus die Oberhand. Der Umstand, dass hinter dem Sozialismus bereits eine an Zahl so große Armee stand, begeisterte die Staatsmänner des Opportunismus immer mehr zu “positiver”, “organischer” Arbeit im Rahmen des Kapitalismus und in “Arbeitsgemeinschaft” mit der Bourgeoisie.

Es genügt, in Erinnerung zu rufen, dass auf dem Stuttgarter Kongress beinahe die Opportunisten gesiegt hätten, die die “Anerkennung” der Kolonialpolitik durch die Sozialisten verlangten. Das bedeutete nichts anderes, als dass schon damals fast die Mehrheit der “europäischen” Sozialisten zum Sozialchauvinismus neigte. Dieser Umstand muss bei der Beurteilung des Stuttgarter Kongresses stets im Auge behalten werden. Dann werden wir verstehen, warum das, was er 1907 vom Kampf gegen den Krieg sagte, sich 1914 als Worte und nichts als Worte erwies…

Die Hauptdiskussion über die Frage des Militarismus und des Kampfes gegen den Krieg fand in der Kongresskommission und nicht auf dem Kongress selber statt. Aber in der Kommission waren Hunderte von Delegierten anwesend. Alle Parteien hatten in diese Kommission ihre besten Kräfte entsandt. Denn alle waren sich bewusst, dass hier eine Frage von größter Wichtigkeit, die Frage von Sein oder Nichtsein der Internationale entschieden wurde. Zum Vorsitzenden der Kommission wurde auf Antrag Vanderveldes … Südekum gewählt. Rückblickend kann man darin einen bösen Scherz, ein Symbol sehen. Südekum in der Rolle des Vorsitzenden jener internationalen Versammlung, die entscheiden sollte, wie die sozialistischen Arbeiter aller Länder mit gemeinsamen Kräften den Imperialismus und den Krieg zu bekämpfen haben! Ist dies nicht eine Versinnbildlichung der ganzen II. Internationale zu Beginn ihres Niedergangs?

Die Rolle Nieuwenhuis‘ spielte in Stuttgart Gustave Hervé. Seine Programmrede enthielt auch einige gute Gedanken. Er hatte Recht, als er gegen die schablonenmäßige Auffassung der Defensiv- und Offensivkriege auftrat. “Ja, wenn das kleine Marokko verschleißt wird, gibt man einen Angriffskrieg mit aller Brutalität und Offenheit zu. Wenn aber einmal zwischen Großmächten ein Krieg ausbrechen wird, dann entfacht die übermäßige kapitalistische Presse einen solchen Sturm des Nationalismus, dass wir nicht Kräfte genug haben, dem entgegenzutreten. Dann ist es zu spät mit einer ganzen feinen Unterscheidung.” Er hatte recht, als er sagte, die sozialchauvinistische Taktik bedeute in eine einfache Sprache übersetzt: “Proletarier aller Länder mordet euch!” Aber er sprach Unsinn, als er aus dem Satz: "Jedes Vaterland ist nur die milchende Kuh für die Kapitalisten” die Schlussfolgerung ableitete: “ Ob deutsche Monarchie oder französische Republik — ist für den Sozialisten ganz gleich.”28 Als Hervé in der dem Kongresse vorgelegten Resolution erklärte, es sei den Proletariat ganz gleichgültig, unter der Macht welcher nationalen Bourgeoisie sich sein Land befinde, vertrat er eine ganz unsinnige These, schlimmer als Nieuwenhuis. Es ist dem Proletariat gar nicht gleichgültig, ob es frei in seiner Muttersprache sprechen kann, oder ob zum Klassenjoch auch noch das nationale Joch hinzukommt. Anstatt aus den für den Sozialismus reif gewordenen Vorbedingungen die Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Proletariat die einzige Klasse ist, die unter anderem auch gegen jede nationale Unterdrückung, für volle nationale Gleichberechtigung, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, bis zuletzt kämpfen wird — anstatt dessen erklärte Hervé, dass die nationale Unterjochung das Proletariat nicht interessiere, dass es die nationale Frage überhaupt ignoriere. Durch diese Art der Behandlung der Frage nützten natürlich die Hervéisten nur den äußerst rechts stehenden Revisionisten.

Eine andere unsinnige These vertraten die Guesdisten, die zu jener Zeit teils zu den Opportunisten übergegangen, teils zu einer lächerlichen Sekte entartet waren. Ihr Standpunkt bestand darin, dass sich jeder spezielle Kampf gegen den Militarismus erübrige (siehe den Entwurf ihrer Resolution S. 86-87), denn — “der Militarismus ist das natürliche und unvermeidliche Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsordnung”. Nachdem die Resolution der Guesdisten eine Anzahl banaler Wahrheiten verzapft hat, schließt sie: “Wenn ein Krieg droht, dann muss sich das Internationale Sozialistische Büro seinen Statuten gemäß versammeln und die notwendigen Maßnahmen treffen.” Einfach und klar! Wenn ein Krieg drohen wird, dann wird sich das Büro versammeln und beraten. Wozu sich also jetzt den Kopf zerbrechen. Man muss nur für sozialistische Propaganda und Agitation sorgen.

Das ist ein Standpunkt, dem jedes innere Leben fehlt. Wir haben schon an anderer Stelle gesehen, wie Guesde während der Dreyfus-Affäre den französischen Sozialisten vorschlug, sich nicht in diese Angelegenheit zu mischen, die Millionen von Menschen in große Erregung versetzt hatte, sondern einfach gegen den Kapitalismus im allgemeinen Propaganda zu machen, denn solche Angelegenheiten wie die Dreyfus-Affäre wären eben ein natürliches und unvermeidliches Produkt des Kapitalismus. Jede Wahrheit kann durch Übertreibung zu einem lächerlichen Sophismus werden. So haben es die Guesdisten auch oft getan. In ihrem gesunden Hall gegen den Reformismus, den Tagesereignisse oft den Sozialismus vergessen ließen, verfielen die Guesdisten selber oft in eine Art sozialistischer Einsiedelei. Wo man in der Masse aufgehen, sich kopfüber in den Strom des Lebens stürzen musste — predigten sie sozialistische “Moral”, verließen sie das Kampffeld, begnügten sie sich mit leblosen scholastischen Formeln. Diese schwache Seite des Guesdismus kam mit den Jahren immer mehr zum Vorschein. Und sie war es, die, nebenbei gesagt, den französischen Reformisten am meisten half, die französischen Marxisten zu besiegen.

In der Resolution der Guesdisten auf dem Stuttgarter Kongress sehen wir dasselbe Gemisch von Marxismus und lebloser Scholastik. Da Kriege das Produkt des Kapitalismus sind, ist es unnötig, einen besonderen Kampf gegen sie zu führen! Diese Resolution diente in Wirklichkeit nur den Opportunisten. Niemand auf dem Kongress nahm sie ernst. Sie wurde einfach beiseite geschoben. Es wurde ihr keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Der Hauptkampf war zwischen der deutschen und der französischen Mehrheit entbrannt: auf der einen Seite Bebel und v. Vollmar, auf der anderen ‚Jaurès und Vaillant.

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen diesen beiden Lagern waren in Wirklichkeit viel geringer, als es den Anschein hatte. Bebel, Jaurès, Branting, Vandervelde, v. Vollmar, Vaillant sprachen auf diesem Kongress von der “Nation” und vom “Vaterland” mit Ausdrücken, die von den Sozialpatrioten aller Länder zur Rechtfertigung der “neuen” Taktik jetzt leicht ausgenutzt werden können. Sowohl Bebel als Jaurès sprachen einfach von der “Vaterlandsverteidigung” ohne einen klaren Unterschied zu machen zwischen der wirklichen Vaterlandsverteidigung in den früheren nationalen Kriegen und dem betrügerischen Charakter dieser Losung in den jetzigen imperialistischen Kriegen.

Während Bebel an den Opportunismus Zugeständnisse machte, verleugnete er auf dem Stuttgarter Kongress z. B. auch den Grundsatz des “Kommunistischen Manifests”, der besagt, “die Proletarier haben kein Vaterland” (dasselbe hatten früher Eduard Bernstein, Jaurès und andere getan). Bebel erklärte: “Hervé sagt: das Vaterland ist das Vaterland der herrschenden Klassen, das ginge das Proletariat nichts an. Ein ähnlicher Gedanke ist im Kommunistischen Manifest ausgesprochen, wo es heißt: der Proletarier hat kein Vaterland. Aber einmal haben Marx‘ und Engels‘ Schüler erklärt, dass sie (?) nicht mehr die Anschauungen des Manifestes teilten (?)29 und zweitens haben sie (wohl Marx und Engels, aus dem Text geht das nicht klar hervor. D. Verf.) im Laufe der Jahrzehnte zu den europäischen und auch deutschen nationalen Fragen sehr klar und keineswegs negativ Stellung genommen.” Das ist nicht sehr klar ausgedrückt, aber die Tendenz ist ersichtlich: der Grundsatz “die Proletarier haben kein Vaterland” soll als veraltet anerkannt werden. Das verpflichtete natürlich zu einer ganzen Reihe weiterer Zugeständnisse an den Opportunismus.

Bebel besteht weiter darauf, dass das Kriterium des Defensiv- und Offensivkrieges auch in Bezug auf den nahenden Krieg in Kraft bleiben muss: “Die Behauptung, was ein Angriffs-, was ein Verteidigungskrieg sei, wäre im gegebenen Fall schwer zu sagen, bestreite ich … So liegen heute die Dinge nicht mehr, dass die Fäden zu kriegerischen Katastrophen für den unterrichteten und beobachtenden Politiker unsichtbar blieben. Kabinettspolitik hat aufgehört zu sein.”30 Diese Worte beweisen nur, dass auch die klarsten Geister sich irren können — aus Anhänglichkeit für eine alte, in neuen Verhältnissen nicht anwendbare Formel.

Bebel behauptete weiter, dass das regierende Deutschland den Krieg gar nicht wolle. “In den maßgebenden Kreisen Deutschlands will niemand den Krieg, zum guten Teil mit Rücksicht auf die Existenz der sozialistischen Bewegung. Hat doch Fürst Bülow mir selbst gegenüber zugegeben, die Regierungen wüssten, was in einem großen europäischen Kriege für Staat und Gesellschaft auf dem Spiele steht, und deshalb werde man ihn nach Möglichkeit vermeiden.”31

Nachdem Bebel sich auf den Boden des Verteidigungskrieges gestellt hat, fährt er fort: “Wenn auch wir als Sozialdemokraten militärische Rüstungen nicht gänzlich entbehren können, solange die Verhältnisse der einzelnen Staaten zueinander sich nicht von Grund aus geändert haben, so nur im Sinne der reinen Verteidigung und auf breitester demokratischer Grundlage, die einen Missbrauch der militärischen Kräfte verhindert.”32 Aus diesen Worten ergibt sich, dass wir die Volksmiliz nur zum Schutz des bestehenden europäischen Status quo brauchen. Nicht mehr und nicht weniger! Die Anwendung des Kriteriums des Verteidigungskrieges in der gegenwärtigen Epoche führt entweder zur jetzigen Taktik der Scheidemann und Sembat oder im besten Fall zur einfachen Beibehaltung des Status quo und zu Versicherungen, dass “unsere” Regierung den Krieg gar nicht wolle.

Die Vorschläge Bebels (und der deutschen Sozialdemokraten überhaupt) waren zunächst darauf gerichtet, alles beim Alten zu lassen, die alten Beschlüsse noch einmal zu bestätigen. Vor allem aber — nicht klar zu sagen, dass die Sozialdemokratie im Kriegsfalle zu bestimmten revolutionären Maßnahmen greifen müsse. Wir werden tun, was wir zu tun imstande sind, aber — stellt uns jetzt nicht in eine unmögliche Lage, bringt es nicht so weit, dass die Staatsanwaltschaft Waffen gegen unsere legale Partei in die Hände bekommt. Das war der Sinn der Rede Bebels und seiner Gesinnungsgenossen in Stuttgart.

Und der Standpunkt Jaurès und der französischen Minderheit? Ihre Resolution sprach geradezu aus, dass es zur Vermeidung des Krieges notwendig sei, zu allen Mitteln “bis zum Massenstreik und zum Aufstand” zu greifen. Das waren heilige Worte; bedeutete es aber, dass Jaurès und die Jaurèsisten bessere Revolutionäre waren als Bebel und seine Anhänger? Keineswegs. Der Schlüssel zum Standpunkt von Jaurès muss in anderer Richtung gesucht werden. Ebenso wie Bebel zog er keinen klaren und scharfen Trennungsstrich zwischen der Vaterlandsverteidigung in nationalen Kriegen und der “Vaterlandsverteidigung” in imperialistischen Kriegen. Auch er anerkannte die Vaterlandsverteidigung im Defensivkrieg. Aber er wusste und fühlte, dass sein französisches Vaterland schwächer war als das deutsche. Er war sich bewusst, dass zur Verteidigung vor allem Frankreich gezwungen sein werde, sein Vaterland, die “Heimat der Revolution”, die “Beschützerin der Kultur” usw. Daher sein Bestreben, sich das Versprechen der Sozialisten anderer Länder — in erster Linie der deutschen Sozialisten — zu sichern, dass sie Frankreich m Falle eines gerechten Krieges beistehen würden. Daher sein Bestreben, durch die direkte Verpflichtung zu binden, dass sie nicht nur zu platonischem Protest, sondern zum Streik und Aufstand greifen würden.

Hierin lag keine bewusste oder gar niedrige Berechnung. Aber das war unserer Ansicht nach die Quelle des .‚revolutionären” Geistes der Jaurèsisten in dieser Frage. In Wirklichkeit war es gar kein revolutionärer Geist, sondern ein eigenartig zum Ausdruck kommender Opportunismus.

In derselben Resolution der Jaurèsisten, in der von Streik und Aufstand die Rede ist, ist folgender sehr wichtiger Grundsatz enthalten: “Die bedrohte Nation und Arbeiterklasse haben die gebieterische Pflicht, ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegen … Angriffe zu wahren, und sie haben ein Anrecht auf den Beistand der Arbeiterklasse der ganzen Welt.33 Diese Politik nennen sowohl Jaurès als auch Bebel in derselben Resolution einige Zeiten weiter unten “Defensivpolitik”.

Sowohl die französische als auch die deutsche Mehrheit stehen auf ein und demselben prinzipiellen Standpunkt. Der Unterschied hatte seine Ursache darin, dass die einen zu einem militärisch stärkeren, die anderen zu einem militärisch schwächeren Lande gehörten. Die Psychologie der einen war hauptsächlich dadurch bedingt, dass 1870/71 ihr Vaterland besiegt worden war, und dass man ihnen zwei Provinzen abgenommen hatte. Die Psychologie der anderen war eine entgegengesetzte. Aber weder diese noch jene haben es verstanden, die neue imperialistische Epoche richtig einzuschätzen, in der das Prinzip der Vaterlandsverteidigung und des Defensivkriegs seine frühere Bedeutung verloren hat. Trotz des äußeren Anscheins haben in Stuttgart die Franzosen den Deutschen keine besondere Taktik entgegengesetzt. Sie standen auf demselben Boden, auf dem die Deutschen standen. Der Unterschied zwischen Jaurès und v. Vollmar ist kein prinzipieller.

Die Reden von Vaillant und Jaurès enthielten öfters Hinweise auf die Gefahr, die dem Proletariat von Seiten der imperialistischen Reaktion drohte, “Es besteht die Gefahr, dass die Bourgeoisie einen Weltkrieg nur entfesselt, um die proletarische Bewegung zu schädigen” — sagte Vaillant.34 Aber er überlegte nicht, wie in diesem Falle die Theorie des Verteidigungskriegs anzuwenden sei; von welcher Vaterlandsverteidigung in einem solchen Krieg die Rede sein könne.

Jaurès sagte: “Meine Resolution ist nicht zufällig, als Hirngespinst einiger Träumer entstanden, sondern mit Notwendigkeit herausgewachsen aus den großen Krisen nach Faschoda und der Marokkogefahr, die wir durchgemacht haben. Da musste sich das Proletariat fragen: Sollen wir diese Verbrechen gegen die Humanität, die zugunsten einiger Kapitalisten gemacht werden sollen, dulden? Sollen wir sie nicht bekämpfen durch die große Allianz der gewaltigen organisierten Arbeitermassen?”35 Und weiter: “Einst mochten nationale Vorurteile den Krieg unvermeidlich machen, als Italien sich von Österreichs Fremdherrschaft befreite und Deutschland sich nur durch Blut und Eisen einigen konnte, aber jetzt sind diese nationalen Vorwände verschwunden und so kam es, dass in der Marokkokrise der erste Gedanke der französischen und deutschen Proletarier war, sich zu einigen.”36 Das ist alles gut gesagt. Aber — die Schlussfolgerung? Wo sind die Schlussfolgerungen von Jaurès? Wie kann das in Einklang gebracht werden mit dem allgemeinen Grundgedanken seiner Resolution, die von Vaterlandsverteidigung und gerechten Kriegen spricht, dem allgemeinen Grundgedanken, der eben der alten Epoche entnommen ist, in der Italien für die Befreiung vom österreichischen Joch kämpfte, in der Deutschland sich ohne Blut und Eisen nicht zu einem einheitlichen Staat zusammenschließen konnte usw.?

Jaurès fühlt, dass hier die schwache Seite seines Standpunkts liegt. Und er geht darum herum wie die Katze um den heißen Brei .”Aber wenn eine Regierung” — sagt er — “nicht direkt gegen die Sozialdemokratie zu Felde zieht, sondern, erschreckt durch das Wachstum des Sozialismus, eine Diversion nach außen versucht, wenn auf diese Weise ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland entsteht, dürfte es dann erlaubt sein, dass das französische und deutsche Proletariat sich im Auftrage und zum Nutzen der Kapitalisten morden, ohne dass die Sozialdemokratie eine äußerste Kraftanstrengung versucht hätte? Wenn wir dies nicht versuchten, dann wären wir entehrt.” (Stürmischer Beifall.)

Das ist wiederum sehr schön gesagt. Was aber soll in diesem Fall aus dem Universalprinzip der .‚Vaterlandsverteidigung” werden? Welche Regierung ist unter diesen Umständen die angreifende, welche die verteidigende? Ist es nicht absolut klar, dass das Prinzip der Defensive und der Offensive als solches in einem solchen Krieg absolut nicht anzuwenden ist?

Deshalb” — fährt Jaurès fort, als wolle er sich selbst diese Frage beantworten — “sollten wir offen genug sein, zu sagen, dass wir zwar die Unverletzlichkeit eines jeden Landes anerkennen und es nicht der Ausbeutung und Unterdrückung von Fremden preisgeben werden, dass wir aber keineswegs zugeben werden. das internationale Proletariat hinschlachten zu lassen.”37

Wir anerkennen zwar, aber wir geben doch nicht zu! Dieser wörtlich zitierte Satz ist unklar, unlogisch, unverständlich. In ihm kommt all das Widerspruchsvolle des Standpunkts von Jaurès und den übrigen Vertretern der II. Internationale krass zum Ausdruck. Er fühlt instinktiv, dass ihre Art, die Fragen der “Vaterlandsverteidigung” und des “Verteidigungskriegs” zu behandeln, von ihren Feinden ausgenutzt wird, um “das internationale Proletariat hinschlachten zu lassen”. Sie wollen das natürlich nicht, denn sie sind aufrichtige Arbeiterfreunde. Aber sie können sich von der alten Ideologie nicht trennen, sich zu neuen Anschauungen im Zusammenhang mit neuen Aufgaben nicht aufraffen. Ihnen bleibt nur das quälende Bewusstsein der Ausweglosigkeit, und so appellieren sie bald an pazifistische Utopien von Abrüstung und Schiedsgerichten, bald an das Allheilmittel des militärischen Streiks.

Dass es keinen prinzipiellen Unterschied gab zwischen dem Standpunkt der französischen und deutschen Mehrheit, geht aus den Reden so typischer Vertreter des “Zentrums” der II. Internationale hervor, wie Vandervelde einer war. In seinen Reden auf dem Kongress und besonders in der Kommission kann man radikale Erklärungen finden. Wir müssen arbeiten, um die Köpfe der Soldaten zu erobern. Wir brauchen den Antimilitarismus nicht am zweiten Tag nach der sozialen Revolution, sondern sofort …”Mein Herz gehört der Resolution Vaillant” (Streik und Aufstand) — erklärt Vandervelde in der Kommission38 “Im kapitalistischen Militarismus ist die Pflicht, das Vaterland zu verteidigen, weniger wichtig für den Soldaten, als die, auf Vater und Mutter zu schießen”, sagt Vandervelde in der Plenarversammlung des Kongresses.39 Mit seinem Herzen ist Vandervelde auf der Seite von Jaurès und Vaillant, mit seinem Kopf auf der Seite von Bebel. Das war möglich, weil es zwischen dem französischen und deutschen Standpunkt keinen prinzipiellen Unterschied gab.

Von diesen beiden Standpunkten unterschied sich prinzipiell nur eine in Stuttgart gehaltene Rede, die — Rosa Luxemburgs. Diese Rede gab, wenn auch noch nicht in ganz abgeschlossener Form, eine Begründung für den revolutionär-marxistischen Standpunkt. Sie kam am nächsten an die Auffassung heran, die jetzt die Grundlage der Stellungnahme der Internationalisten bildet.

Rosa Luxemburg sprach “im Namen der russischen und polnischen Delegationen”. In der Unterkommission des Kongresses, die den Text der Stuttgarter Resolution ausarbeitete, vertrat Rosa Luxemburg die russischen Bolschewiki. Sie führte folgendes aus: “Auf dem letzten Kongress 1904 in Amsterdam wurde die Frage des Massenstreiks erörtert. Es wurde ein Beschluss gefasst, der uns als unreif und unvorbereitet für den Massenstreik erklärte. Aber die materialistische Dialektik … hat sofort verwirklicht, was wir für unmöglich erklärt haben. Ich muss mich gegen Vollmar (Vollmar hatte eine offene patriotische Rede gehalten. D. Verf.) und leider auch gegen Bebel wenden, die sagten, wir wären nicht in der Lage, mehr als bisher zu tun. Aber die russische Revolution ist nicht nur aus dem Krieg entsprungen, sondern sie hat auch dazu gedient, den Krieg zu unterbrechen… Die geschichtliche Dialektik gilt für uns nicht in dem Sinne, dass wir mit verschränkten Armen zusehen, bis sie uns reife Früchte bringt. Ich bin eine überzeugte Anhängerin des Marxismus und betrachte es gerade darum als eine große Gefahr, der marxistischen Auffassung jene starre, fatalistische Form zu geben, die nur dazu führt, solche Exzesse wie den Hervéismus als Reaktion hervorzurufen … Es ist eine Tatsache, dass die große Masse des deutschen Proletariats die Anschauungen Vollmars desavouiert hat. Es war auf dem Parteitag in Jena … In dieser (der Jenaer) Resolution erklärte sie (die deutsche Sozialdemokratie) den Generalstreik, den sie jahrelang als anarchistisch verworfen hatte, für ein Mittel, das unter Umständen angewendet werden kann. Es war aber nicht der Geist Domela Nieuwenhuis‘, sondern das rote Gespenst der russischen Revolution, das über den Verhandlungen in Jena schwebte. Allerdings haben wir damals nicht den Massenstreik gegen den Krieg, sondern den für das Wahlrecht im Auge gehabt. Wir können jedoch gewiss nicht schwören, dass wir einen Massenstreik machen werden, wenn man uns das Wahlrecht nimmt. Aber, ebenso wenig können wir schwören, dass wir ihn nur für das Wahlrecht machen werden. Nach der Rede Vollmars und zum Teil Bebels halten wir (die russische und polnische Sozialdemokratie) es für notwendig, die Bebelsche Resolution zu verschärfen, und wir haben ein Amendement ausgearbeitet, das wir noch vorlegen werden … Ich muss noch hinzufügen, dass wir in unserem Amendement zum Teil noch weiter gehen als die Genossen Jaurès und Vaillant, indem wir die Agitation im Kriegsfalle nicht bloß auf die Beendigung des Krieges gerichtet wissen wollen, sondern auch auf die Ausnutzung des Krieges zur Beschleunigung des Sturzes der Klassenherrschaft überhaupt.” (Beifall.)40

Wir sehen: die Rednerin der Linken lässt keinerlei “Vaterlandsverteidigung” zu in Kriegen wie dem jetzigen. In ihrer Rede ist eine entschiedene Kritik jener Sozialisten enthalten, die von dieser Verteidigung sprechen, eine Kritik, die sich nicht nur gegen Vollmar, sondern auch gegen Bebel richtet. Die Worte gegen den “marxistischen Fatalismus” — können voll und ganz auch auf die jetzigen Kautskyanhänger bezogen werden. Damals waren sie gegen Adler und zum Teil gegen Bebel gerichtet, die beruhigend darauf hinwiesen, dass der Militarismus, der der Bevölkerung zur Last fällt, selbst nach und nach eine Lage schafft, in der sein weiteres Bestehen unmöglich wird. Die Rednerin der Linken zieht einen Trennungsstrich zwischen sich und den hervéistischen Phrasenhelden. Aber den Massenstreik lehnten sie nicht ab, und schließlich ist es die Rednerin der Linken, die als Zusatzantrag den wichtigsten Grundgedanken der Stuttgarter Resolution hineinträgt, welcher lautet: im Falle des Krieges muss man für seine schleunigste Beendigung kämpfen und gleichzeitig “mit allen Kräften dahin streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttlung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunützen”.41

Dieser Zusatzantrag war von N. Lenin, R. Luxemburg u. a. unterzeichnet.42 Der Kongress nahm ihn an, und er wurde zum Zentralpunkt der Stuttgarter Resolution. Er wird jetzt am meisten zitiert, denn nur er bringt die marxistischen Ansichten klar zum Ausdruck.

Das Widerspruchsvolle des Standpunkts der offiziellen Führer der II. Internationale.

Bei der Ausarbeitung der Resolution selber entstand eine außerordentlich eigenartige Lage. Beide Hauptlager — sowohl die deutsche als die französische Mehrheit — traten im Prinzip für die “Vaterlandsverteidigung” ein. Eine erdrückende Mehrheit war ihnen auf dein Kongress gesichert. Und trotzdem bekennt sich die Kongressresolution mit keinem Wort zur “Vatertandsverteidigung”. Das oben angeführte Grundprinzip der Jaurèsisten, das den Verteidigungskrieg und die Vaterlandsverteidigung anerkennt, und das auch die Deutschen vollkommen teilten, — ist in die Kongressresolution nicht aufgenommen worden.

Es fragt sich nun warum? Wie ist das gekommen? Wie erklärt sich dies? Das ist eine sehr wichtige Frage. Auf den ersten Blick erscheint die Tatsache ganz unerklärlich. Aber gerade sie gibt uns den Schlüssel zur Stellungnahme der II. Internationale in dieses Frage.

Diese Stellungnahme war eine zwiespältige und widerspruchsvolle. Die Opportunisten, die in den “oberen” Parteischichten überall in Europa eine Mehrheit bildeten, vereinigten vollkommen bewusst ihren Reformismus mit “Patriotismus”. Sie hatten recht, als sie auf den Vorwurf der Bourgeoisie, die sie des Mangels au “Patriotismus” bezichtigte, antworteten, dass die Sozialreformisten in dieser Beziehung noch die Bourgeoisie belehren könnten. Die Opportunisten führten die II. Internationale mit vollem Bewusstsein zum Sozialchauvinismus.

Nicht so einfach stand es mit dem anderen Teil der Internationale. Das marxistische Zentrum in Deutschland, die alten Revolutionäre Frankreichs (deren typischster Vertreter Vaillant war) konnten sich von der alten Ideologie, die in der Epoche der nationalen Kriege entstanden war, nicht freimachen. Andrerseits sahen sie als genügend erfahrene Politiker, dass der nahende europäische Krieg von ganz andrer Art sein werde, dass hier zwei Gruppen imperialistischer Räuber aufeinander stoßen werden, wobei es schwer werden musste zu unterscheiden, wer der Angreifer und wer der Angegriffene sei; in einem solchen Krieg würde man von Gerechtigkeit, von Recht und Moral nur mit Hohn sprechen können.

In einem gleich nach dem Stuttgarter Kongress geschriebenen Artikel schrieb Kautsky: “In der gegebenen weltpolitischen Situation (ist) an einen Krieg, bei dem ein proletarisches oder demokratisches Interesse zur Verteidigung oder zum Angriff in Frage kommen könnte, gar nicht zu denken … Die einzige Kriegsgefahr droht heute von der überseeischen Weltpolitik, der das Proletariat von vornherein grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen muss.”43 Mit diesen Worten hat Kautsky zweifellos die damalige Überzeugung (oder Stimmung) einer ganzen Anzahl von alten Führern der II. Internationale, vielleicht auch der besten von den Opportunisten zum Ausdruck gebracht. Der nächste Krieg, zu dem die Bourgeoisie der “Großmächte” Europa unweigerlich führt, wird ein imperialistischer Raubkrieg sein, ein Krieg, bei dem vom Standpunkt des Proletariats und der Demokratie von Verteidigung und Angriff keine Rede sein kann! Dieser Gedanke musste an die Tür der II. Internationale klopfen! Dieser Gedanke musste sich jenen Führern der II. Internationale ins Gehirn bohren, für die das Blut der Arbeiter kein Wasser, das proletarische Interesse kein leeres Wort war. Aus diesem Bewusstsein heraus entstand die Stuttgarter Resolution, in der von der “Vaterlandsverteidigung” kein Wort gesagt wird, die dafür aber den Hannibalschwur enthält, den kommenden Krieg auszunutzen, um den Volksaufstand zu organisieren und den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung zu beschleunigen.

Hier lag der Grund, warum der Stuttgarter Kongress in seiner Resolution die “Vaterlandsverteidigung” im bevorstehenden Krieg nicht empfohlen und kein Wort von der Unterscheidung der gegenwärtigen Kriege in defensive und offensive gesagt hat. Wir sehen nun auch, woraus sich die Tatsache erklärt, dass weder Jaurès noch Bebel forderten, dass die Anerkennung der “Vaterlandsverteidigung” in die Resolution aufgenommen werde. Sie erklärt sich daraus, dass die alte Art der Behandlung der Frage der Vaterlandsverteidigung und des Verteidigungskriegs in der modernen imperialistischen Epoche unhaltbar ist. Stellt man sich auf diesen Standpunkt, so kann man die frühere Unterscheidung nicht mehr machen, das fühlten die Verfasser der Resolution sehr genau. Wollten sie in der Resolution halbwegs klar und konkret auseinandersetzen, welcher Krieg zwischen den heutigen “Großmächten” im jetzigen Entwicklungsstadium als gerechter Defensivkrieg anerkannt werden muss, bei welchen militärischen Zusammenstößen in Europa die Sozialisten in dieser Epoche ihr Vaterland zu verteidigen haben, — so konnten sie erstens nie zu einem Einvernehmen gelangen, und zweitens — und das ist das Wichtigste — mussten sie sofort in eine dumme, lächerliche, ausweglose Lage gelangen. Alle politisch denkenden Menschen wussten, dass der Krieg, der nahte, ein grandioser imperialistischer Weltkrieg zwischen zwei Koalitionen sein würde. Alle wussten, dass auch die bevorstehenden Einzelkonflikte einen scharf zum Ausdruck kommenden imperialistischen Charakter tragen würden wie z. B. der Krieg zwischen Italien und der Türkei um Tripolis, die Konflikte wegen Marokkos usw. Das ist der Typus der jetzigen Kriege, der Kriege um die Kolonialbeute, der Kriege zweier imperialistischer Riesentrusts um die endgültige Aufteilung und Neueinteilung der Welt. Es fragte sich: was konnten in Anbetracht dieser Sachlage die Anhänger der “Vaterlandsverteidigung” in der Resolution sagen? Wer verteidigt sich? Wer führt einen gerechten Krieg? Wessen Politik ist eine defensive, wessen — eine offensive?

Sobald man diese Fragen stellt, wird es klar: im Jahre 1907 im Namen des internationalen Kongresses eine Resolution schreiben, die offen die “Vaterlandsverteidigung” vertrat, war politisch einfach undenkbar. Man stelle sich für einen Moment die Dinge konkret vor. Jaurès, Bebel, Vaillant, Vollmar, Vandervelde, Branting haben in gleicher Weise das Prinzip der Vaterlandsverteidigung im “Verteidigungskrieg” gutgeheißen. Nun hatten sie sich als Mitglieder der Kommission an einen Tisch gesetzt, um — im Jahre 1907 — eine gemeinsame Resolution auszuarbeiten. Wollte man nicht in den Wolken schweben, so musste man vom Kampf zwischen dem Dreibund und der Triple-Entente sprechen, von den realen Konflikten, die schon seit einer Reihe von Jahren in Europa im Vordergrund des politischen Lebens standen, von dem Wettstreit zweier imperialistischer Trusts, der den Krieg in sich barg. Es fragte sich nun: was konnten die genannten Führer der Internationale sagen, wenn sie sich auf diesen einzig realen Boden gestellt hatten? Welche Partei sollte als die die “Kultur” verteidigende anerkannt werden: der Dreibund oder die Triple-Entente?

Als der Krieg 1914 begann, da waren Vernunftgründe bereits überflüssig. Als im Krieg die Leidenschaften entbrannt waren, da konnte man die Arbeiter voll pfropfen mit Phrasen über den “Kampf gegen den Zarismus”, über die Niederwerfung des “preußischen Militarismus”, über die Grundregeln der Moral und des Rechts, die Zar Nikolaus II. verteidigte, und über die “deutsche Menschlichkeit”, deren Beschützer Wilhelm II. sei. Aber 1907 war das unmöglich. Kein ehrlicher Sozialist konnte damals für eine der Koalitionen Partei ergreifen. Jeder musste zugeben, dass beide Gruppierungen im Zeichen des reaktionären Imperialismus standen.

Darum dürfen die einzelnen Erklärungen selbst der einflussreichsten Führer der II. Internationale nicht verwechselt werden mit dem offiziellen Standpunkt dieser Internationale. In einer Rede oder in einem Artikel konnte man sagen “Ich bin für die Vaterlandsverteidigung”, “Ich bin der beste deutsche (oder französische) Patriot”, “Ich trete für den Verteidigungskrieg ein”. Aber auf der internationalen Arena. im Namen der Arbeiter aller Länder war es schon unmöglich, systematisch einen solchen Standpunkt durchzuführen. Der konnte weder begründet noch verteidigt werden. Damit konnte man nicht zu den Arbeitern kommen, wenigstens nicht gleichzeitig zu den Arbeitern aller Länder. Das hätte unvermeidlich zu einem nationalen und nicht internationalen “Sozialismus” führen müssen, das hätte unweigerlich den Zusammenbruch der II. Internationale selber zur Folge gehabt — wie es jetzt auch gekommen ist.

Die Führer der II. Internationale waren in einer widerspruchsvollen Lage. Darum konnte die kleine Gruppe der Linken einen so großen Einfluss auf die angenommene Resolution ausüben. Darum enthielt die Resolution anstatt der .‚Vaterlandsverteidigung” die Anpreisung der Kampfmittel gegen den Krieg, die die russischen Arbeiter in den Jahren 1904/1905 angewandt hatten. Die revolutionären Marxisten, als deren Vertreterin Rosa Luxemburg auftrat, waren in Stuttgart nur in einer kleinen Minderheit. Die Opportunisten und das “Zentrum” stellten zweifellos die erdrückende Mehrheit dar. Aber die Logik der Lage stand auf Seiten der revolutionären Marxisten. Sie allein verteidigten konsequent die Interessen von Millionen von Arbeitern aller Länder. Und die Arbeitermassen, die unsichtbar diesem Kongress beiwohnten, haben die offiziellen Führer der II. Internationale gezwungen, vieles von dem anzunehmen, was die revolutionären Marxisten durch den Mund Rosa Luxemburgs vorschlugen.

Allerdings glaubte die Mehrheit der Opportunisten nicht an die groß klingenden Worte von Revolution, vom Kampf ‚‚mit allen Mitteln”, von “Erhebung der Massen” usw., und sie nahm diese Verpflichtungen nicht ernst. Einige opportunistische Führer erklärten sogar offen, dass sie, wenn sie auf die Formel “mit allen Mitteln gegen den Krieg kämpfen” eingingen, in Wirklichkeit nur den friedlichen parlamentarischen Protest im Auge hätten. So sagte Ruffle-Smart im Namen der englischen Unabhängigen Arbeiterpartei: “Die englische Sozialdemokratie kann … im Kampfe gegen den Krieg unter keinen Umständen über die friedliche Aktion im Parlament und die friedliche Aktion in den Versammlungen und auf der Straße hinausgehen.”44

Außerdem glaubten viele opportunistische Führer nicht an die Nähe des Weltkriegs. Noch im Juni 1914, einige Tage vor Kriegsausbruch, sagte Viktor Adler in einer Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel, dass er an Wunder nicht glaube und darum auch an einen europäischen Krieg nicht glauben könne. Viele Opportunisten sahen das rasche Heranreifen der Krise nicht, die aus dem imperialistischen Wettkampf unvermeidlich entstehen musste, Sie waren bis über die Ohren in ihren sozialpazifistischen Vorstellungen vergraben. Aus all dem erklärt sich auch, dass sie in Resolutionen verhältnismäßig leicht auf Zugeständnisse an die Linken eingingen. “Die Reden Bebels und Vollmars in der Kommission waren schwarz, die Kongressresolution aber ist weiß!” -— rief Hervé bei der Abstimmung über den Kommissionsentwurf aus. Dasselbe konnte von den Reden Jaurès‘ und Vaillants gesagt werden. Wo war ihre “Vaterlandsverteidigung”, wo ihr “Verteidigungskrieg” geblieben?

Kommentare von Bebel und Jaurès zum Stuttgarter Beschluss.

Wie standen die Vertreter der Stuttgarter Mehrheit zu der angenommenen Resolution?

Vier Jahre später sprach Bebel (auf dein Jenaer Parteitag 1911) von dem Kampf in Stuttgart mit folgenden Worten: “Wir (Deutschen) haben ausführlich nachgewiesen, warum es unmöglich sei, einer derartigen Resolution unsere Zustimmung zu geben. Und als man schließlich um jeden Preis einen solchen Beschluss durchsetzen wollte, habe ich namens unsrer Delegation erklärt: Gut, es ist eure Sache, zu beschließen, beschließt was euch gut dünkt, aber wir Deutschen machen nicht mit! (Bravo!) Darauf hieß es: Ja, wenn ihr Deutschen in dieser Weise auftretet, dann geht es eben nicht, denn mit euch müssen wir uns schließlich doch verständigen. Und so wurden wir drei (Bebel, Haase, Vollmar) beauftragt, eine Resolution auszuarbeiten.”45 Nach Zitierung der Hauptstellen der Stuttgarter Resolution fährt Bebel fort: “Der Inhalt dieser Resolution besagt also nicht, dass wir in allen Ländern in gleicher Weise vorgehen sollen, … das ist der Unterschied zwischen uns und der Forderung der Franzosen und Engländer.”46

Aus dieser Darstellung Bebels ergibt sich, dass der Unterschied zwischen Franzosen und Deutschen nicht darin bestand, dass die einen entschlossenere Handlungen verlangten (Streiks), die anderen sie aber ablehnten. Bebel meint: “Vielleicht werden wir zu Streiks und zu noch schärferen Mitteln greifen … Man darf nur nicht denken, dass es möglich sei, ein Allheilmittel zu erfinden, das in allen Ländern und unter allen Bedingungen angewandt werden kann. Eine absolute Einheitlichkeit für alle Länder ist unmöglich. Man muss den Sozialisten eines jeden Landes eine gewisse Freiheit in der Wahl der Mittel überlassen — in Abhängigkeit von der Gesamtheit der konkreten Verhältnisse.” Verschiedene Mittel, aber — gegen den Krieg. “Schon 1904 habe ich dem Reichskanzler Fürst Bülow gesagt, wenn der große Krieg kommt, steht die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Spiele.”47

So sprach Bebel. Er versuchte nicht — wenigstens öffentlich nicht — die Stuttgarter Resolution mit dem Standpunkt der “Vaterlandsverteidigung” und des “Verteidigungskriegs” in Einklang zu bringen.

Anders Jaurès, Für ihn als Franzosen war es — aus Gründen, von denen wir schon oben sprachen — notwendig, die Stuttgarter Resolution unbedingt mit der “Vaterlandsverteidigung” zu verknüpfen. Und er versucht, in diese Resolution das hinein zu interpretieren, was in ihr nicht vorhanden ist. Er gibt ihr mit Gewalt die Auslegung, die er für seine Zwecke braucht.

Am 7. September 1907 erstattete Jaurès der Versammlung der fortgeschrittensten Pariser Arbeiter Bericht über den Stuttgarter Kongress. In dieser wichtigen Versammlung in Tivoli-aux-Halles sagte Jaurès: “Man muss Missverständnissen aus dem Wege gehen. In Stuttgart hat sich die Internationale gegen den Krieg und für die Unabhängigkeit der Nationen, gegen blutige Konflikte und verräterische Überfälle der Despoten und Kapitalisten, aber für die nationale Verteidigung ausgesprochen … Die Parole der Internationale in Stuttgart war: gegen den Verrat am Sozialismus und an der Arbeiterklasse, aber auch gegen den Verrat am Vaterland! Der Krieg dem Kriege — mit allen legalen und revolutionären Mitteln — das ist ebenso Pflicht der Sozialisten wie der Krieg für den Schutz der nationalen Unabhängigkeit.”48

Jaurès zufolge hat der Stuttgarter Kongress das Grundprinzip der französischen Resolution (von Limoges) über die “Vaterlandsverteidigung” angenommen. Wir wissen, dass der Kongress das nicht getan hat, und es — aus Gründen, die wir angegeben haben — nicht tun konnte.

Die Stuttgarter Resolution ist sehr nahe an den Gedanken herangekommen, dass die “Vaterlandsverteidigung” im imperialistischen Krieg nur Volksbetrug ist. Diese wichtige Errungenschaft des Stuttgarter Kongresses wird von Jaurès durch seine Phrasen einfach ausgelöscht.

Natürlich anerkannte der Stuttgarter Kongress, wie alle Sozialisten, die wahrhafte Vaterlandsverteidigung in einem gerechten, nationalen Kriege. Darüber kann nicht gestritten werden. Aber die ganze Bedeutung der Stuttgarter Resolution lag doch darin, dass in ihr — wenn auch inkonsequent und ohne genügende Klarheit — die Aufmerksamkeit des internationalen Proletariats auf den Umstand gelenkt wurde, dass die herannahenden Kriege keine nationalen, keine gerechten, sondern imperialistische Kriege sein würden, dass die ganze nächste Epoche eine Reihe solcher reaktionärer Kriege mit sich bringen musste. Von dieser Unterscheidung ist in den Kommentaren von Jaurès keine Spur zu finden. Er zieht es vor, vom “Verrat am Vaterland” im Allgemeinen zu sprechen.

Übrigens hat Jaurès durch solche Kommentare zum Stuttgarter Kongress den Renaudel und Sembat von heute die Tore weit geöffnet. Es bleibt ihnen nur übrig zu “beweisen”, dass “wir” für die nationale Unabhängigkeit kämpfen, während “sie” angreifen; sie brauchen sich nur auf die Worte von Jaurès gegen den “Vaterlandsverrat” zu berufen, um von diesem Standpunkt aus gewonnenes Spiel zu haben. In der Tat widerspricht der ganze Geist der Stuttgarter Resolution den Grundsätzen, die Jaurès post festum in sie hineininterpretieren wollte.

In demselben Bericht sagte Jaurès: “Als Bebel sagte, dass, wenn irgendeine Nation unter beliebigen Umständen im voraus ablehnte, sich zu verteidigen — sie dadurch den Regierungen der Gewalttat, der Barbarei, der Reaktion in die Hand spielen würde, — als Vandervelde und Bebel das sagten, da wiederholten sie nur, was Limoges und vorher Nancy (d. h. die französischen Parteitage in Limoges und Nancy) bereits gesagt hatten, d. h. das, was ich selbst während der Parteidiskussionen mehrfach Gustave Hervé entgegengehalten habe.”49

Jaurès hat Recht, sowohl er als auch Bebel haben öfter solche Erklärungen abgegeben. Wenn wir von vornherein auf die “nationale” Verteidigung verzichten, so bedeutet das, dass die Militärpartei in Preußen außerordentlich gefördert wird, — meinte Jaurès. Wenn wir von vornherein auf die “Vaterlandsverteidigung” verzichten, so bedeutet das, dass wir die Chauvinisten in England und Frankreich fördern, meinte Bebel. Aber es gab noch eine dritte Meinung: in imperialistischen Kriegen müssen gleichzeitig die Sozialisten aller Länder, muss die gesamte Internationale auf die “Vaterlandsverteidigung” verzichten. Dann fällt die Befürchtung der Förderung der Chauvinisten des anderen Landes weg, dann wird niemand den Regierungen der Gewalttat, der Barbarei, der Reaktion in die Hand spielen.

Dies war der Standpunkt der revolutionären Marxisten auf dem Stuttgarter Kongress. Und er fand — wenn auch nicht vollständig — seinen Ausdruck in der Resolution des Kongresses. Jaurès hat die Dinge von Grund aus falsch dargestellt.

Der Antrag Keir Hardie - Vaillant vom Gesichtswinkel des Verteidigungskriegs. Plechanow gegen Jaurès und für den bewaffneten Aufstand.

1910 sehen wir in Kopenhagen die Wiederholung von Stuttgart im verkleinerten Maßstab. Den formellen Sieg haben wiederum die Deutschen davongetragen. Aber auch die Deutschen sind nicht mit aller Offenheit aufgetreten und haben nicht ausgesprochen, was ist. In ihrem Namen sprachen nicht Vollmar, nicht Legien und nicht David, deren opportunistische Ansichten in der deutschen Sozialdemokratischen Partei vorherrschend waren; in ihrem Namen — und im Namen der Kongresskommission — sprach der Kautskyanhänger Ledebour. Er hat viele pazifistische Phrasen über “Abrüstung” und “Schiedsgerichte” gemacht (obgleich er sofort bekannte, dass auch alle bürgerlichen und selbst monarchistische und aristokratische Parteien für Schiedsgerichte eintreten). Aber gleichzeitig äußerte er eine Reihe sehr gesunder Gedanken über die Kriege der gegenwärtigen Epoche. “Wer zettelt denn heute die Kriege an? Doch die herrschenden Klassen, die Kapitalisten, die ein Interesse an den Kriegslieferungen haben, die Krupp und Tippelskirch, die Armstrong oder wie sie sonst in England heißen … Die Sucht, fremde Völker zu unterjochen und auszubeuten ist die ökonomische Ursache, aus der die modernen Kriege entstehen.”50 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigend, sprach Ledebour davon, dass Deutschland nicht nur die Polen und Dänen unterdrücke, sondern auch die französische Bevölkerung Elsass-Lothringens “Deshalb fordern wir — erklärte er — die freie Selbstregierung für die Völker nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und Afrika.”51

Die heftigsten Debatten spielten sich um den bekannten Antrag Keir Hardies und Vaillants ab. Dieser Antrag lautete: “Unter allen Mitteln, welche angewendet werden sollen, um Kriegen vorzubeugen und sie zu verhindern, hält der Kongress als besonders zweckmäßig den allgemeinen Streik der Arbeiter hauptsächlich in den Industrien, welche für den Krieg die Materialien liefern (Waffen, Munition, Transport usw.), ebenso eine Agitation und Aktion im Volke, und zwar mit den kräftigsten Mitteln.”52

Der Antrag Vaillant-Keir Hardie wirft wiederum ein grelles Licht auf das Widerspruchsvolle des Standpunkts der alten Führer der II. Internationale, die jetzt auf sozialchauvinistischem Boden stehen. Man betrachte diesen Antrag vom Gesichtspunkt des Verteidigungskriegs und der Vaterlandsverteidigung! Konnten Leute, die auch in der heutigen Zeit konsequent die Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung im Verteidigungskrieg vertreten, einen solchen Antrag stellen, wie ihn Vaillant und Keir Hardie gestellt haben? Wären sie konsequent gewesen in ihrer Anhänglichkeit für die Theorie des Verteidigungskriegs, so mussten sie sagen: wir schlagen vor, dass die Arbeiter, um gegen den Krieg zu kämpfen, in den Streik treten, — aber nur in den Ländern, die angreifen oder sich zum Angriff vorbereiten, nur in den Staaten, die die angreifende Partei sind. In den “sich verteidigenden” Ländern müssen die Arbeiter ihr Vaterland verteidigen und nicht Streiks organisieren.

Warum aber haben Vaillant und Keir Hardie das nicht gesagt? Weil auch sie sich mehr oder weniger klar darüber waren, dass eine solche Unterscheidung im bevorstehenden imperialistischen Kriege nicht gemacht werden könne. Weil auch sie das Empfinden hatten, dass die kommenden Kriege keine gerechten, sondern ehrlose Kriege sein werden. Und das war auch die Stimmung der Kongressmehrheit. Weder die Gegner noch die Anhänger des Antrags Vaillant-Hardie sagten auch nur ein Wort davon, dass dieser Antrag sich mit der Theorie des Verteidigungskriegs nicht vertrage.

Die Deutschen — darunter auch Ledebour — bekämpften den Antrag. Die Argumente waren im Grunde genommen dieselben, die Bebel gegen Jaurès und Vaillant im Jahre 1907 ins Feld geführt hatte. Ledebour bestritt das moralische Recht der Engländer, solche Anträge zu stellen, solange wie die englischen Sozialisten für die Kriegskredite stimmen. Und er hatte in Bezug auf die englischen Opportunisten Recht. Keir Hardie antwortete hierauf mit opportunistischen Argumenten: seiner Meinung nach war die Frage der Budgetbewilligung keine prinzipielle, sondern eine rein praktische und taktische Frage.53 (An dieser Stelle der Rede unterbrachen die damalige deutsche Minderheit, d. h. die offenen Anhänger der Budgetbewilligung, zusammen mit den französischen und englischen Opportunisten Keir Hardie durch laute Beifallskundgebungen.) Die chauvinistischen Ansichten Hyndmans und Blatchfords erklärte Keir Hardie für vereinzelt und einflusslos unter den englischen Sozialisten.

Im Namen der englischen Sozialdemokratischen Partei (der jetzigen “Britischen Sozialistischen Partei”) erklärte Jones, dass die britische Sektion den Antrag Vaillant-Keir Hardie unterstütze. “In England” — sagte dieser Redner — “müssen nicht so sehr die Arbeiter wie manche Führer der Arbeiterklasse zum Kampf gegen den Krieg erzogen werden. Hat doch der sechste Teil aller Abgeordneten der Labour Party für die Erweiterung des Marinebudgets gestimmt.”

Renner wiederholte im Namen der österreichischen Sozialdemokratie die Argumente der Deutschen, doch verwässerte er sie mit einer gehörigen Dosis von Opportunismus. Die französische Mehrheit unterstützte den Antrag Vaillant-Keir Hardie sehr energisch. Schließlich wurde der Antrag vom Kongress nicht angenommen, aber auch nicht abgelehnt. Beide Parteien kamen überein, ihn dem Internationalen Sozialistischen Büro zur Erörterung zu überweisen, um dann die Frage auf die Tagesordnung des nächsten internationalen Kongresses zu setzen.

Die marxistischen Elemente der anderen Nationen (z. B. die russischen Sozialdemokraten) waren zwar im Prinzip für die revolutionäre Aktion, aber sie unterstützten den Antrag Vaillant-Keir Hardie nicht. Sie legten in die Worte “mit allen Mitteln” einen revolutionären Sinn hinein. Sie waren der Ansicht, dass zu diesen Mitteln nicht nur der Streik, sondern auch stärkere Maßnahmen gehörten … Sie glaubten, dass auch die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie auf demselben Standpunkt stand.

Diese Ansichten der russischen (und nicht nur der russischen) Marxisten hat nach dem Kopenhagener Kongress Plechanow eingehend auseinandergesetzt, der damals noch nicht der Verbündete Peter Struves war. Dieser Artikel Plechanows ist jetzt in Vergessenheit geraten. Darum wollen wir hier einige wichtige Stellen aus ihm zitieren. “Keir Hardie — schrieb im Jahre 1910 Plechanow — ist zweifellos eine sehr ehrbare Persönlichkeit. Aber diese zweifellos sehr ehrbare Persönlichkeit steht an der Spitze einer der opportunistischsten Parteien, die es jetzt in der sozialistischen Welt überhaupt gibt. Ebenso ist Vaillant — ein außerordentlich ehrenwerter Mann, aber dieser außerordentlich ehrenwerte Mann gehört zur opportunistischen Mehrheit der französischen Sozialistischen Partei. Führer dieser Mehrheit ist derselbe Jaurès. Und was ist Ledebour? Einer der hervorragendsten Vertreter des revolutionären Marxismus in Deutschland. Wenn wir also naiven Leuten glauben, so stellt es sich heraus, dass der deutsche Marxismus in Kopenhagen aufgehört hat, revolutionär zu sein, während die englischen und französischen Opportunisten zu Verteidigern der revolutionären Tradition geworden sind. Ist das möglich? Nein, es ist ganz unmöglich. Wie liegen also die Dinge? … Hätte der Kopenhagener Kongress beschlossen — wie Keir Hardie und Vaillant es wünschten —‚ dass das Proletariat eine Kriegserklärung mit dem Streik beantworten werde, so würde dieser Beschluss für England nur die Bedeutung eines guten Rates haben, den die Gewerkschaften befolgen, aber auch nicht befolgen konnten. Das gleiche muss von Frankreich gesagt werden, wo der Einfluss des Sozialismus … auch schwach ist. … Es ist wahr, die französischen Syndikalisten haben den Antrag Vaillant-Keir Hardie mit großer Sympathie aufgenommen. Aber wer weiß nicht, dass die von den französischen Syndikalisten dekretierten ‚Generalstreiks‘ nie mehr Angst einjagen als ein kleiner Sturm in einem kleinen Glase Wasser? Darum würde auch für Frankreich der Beschluss des Kopenhagener Kongresses nichts sein als ein guter Ratschlag. Wer in Frankreich und England diesen Ratschlag wiederholen wollte, würde seiner Partei dadurch keine praktischen Schwierigkeiten bereiten, ihr aber gleichzeitig einen guten Wahlerfolg sichern. Der französische Wähler fürchtet die ‚Preußen‘ sehr, und diejenige Partei, die ihm erklärte, dass dank ihrer Arbeit die ‚Preußen‘ nicht wagen wurden, Krieg zu führen, würde mit offenen Armen empfangen werden. Darum verlangt die von Jaurès geführte opportunistische Mehrheit der französischen Sozialistischen Partei von den internationalen Sozialistenkongressen ‚praktische‘, ‚konkrete‘ Beschlüsse in der Frage des Krieges … Und Deutschland? — Auf das deutsche Proletariat übt der Sozialismus bereits einen großen Einfluss aus. Und wenn die deutsche Sozialdemokratische Partei sagte: ‚Der Krieg muss mit dem Streik beantwortet werden‘, so würde das bedeuten, dass sie eine bestimmte praktische Verpflichtung übernimmt und nicht nur einen guten Rat erteilt, von dem man noch absolut nicht weiß, ob die Arbeiterklasse ihn annehmen will … Kein Wunder, dass unsre deutschen Genossen, die den Streikbeschluss nicht als guten Ratschlag, sondern als ernste praktische Verpflichtung betrachten, sich, bevor sie für diesen Antrag stimmen, die Frage stellen: kann man im voraus überzeugt sein, dass im Falle einer Kriegserklärung alle für den Streik notwendigen konkreten Bedingungen vorhanden sein werden? Darüber müssen ernste Menschen tatsächlich nachdenken. Aber wenn ernste Menschen darüber nachzudenken beginnen, dann werden ihnen von leeren Schreiern wie Gustave Hervé sofort Unentschlossenheit, Feigheit. Mangel an revolutionärem Geist, Chauvinismus usw. vorgeworfen (siehe ‚La Guerre Sociale‘, Nr. 7, 13. September 1910, Artikel ‚Les socialistes allemands au pied du mur‘). Gegen den Krieg kämpfen muss man nicht mit Worten, sondern mit Taten. Was aber die Taten anbetrifft, vor allem auf dein Gebiet der Organisation der Massen und der Entwicklung ihres Selbstbewusstseins, so sind unsre deutschen Genossen allen anderen voran. Und man kann, ohne einen Irrtum zu riskieren, behaupten, dass eben das deutsche klassenbewusste Proletariat es am besten verstehen würde, im Interesse der Revolution die Lage auszunutzen, die durch einen Krieg z. B. zwischen Deutschland und England geschaffen worden wäre … Genosse Ledebour, der in dieser Frage als Referent auftrat, hatte recht, als er sagte, der Kongress könne sich mit der Stuttgarter Resolution begnügen, denn sie besagt, dass die sozialistischen Parteien, wenn es notwendig ist, verpflichtet sind, alle Mittel zu ergreifen, die ihnen für die Verhinderung des Krieges am passendsten erscheinen. Diese algebraische Formel verallgemeinert alle Möglichkeiten, also unter anderem auch die Möglichkeit nicht nur des Generalstreiks, sondern auch des bewaffneten Aufstands. Und das genügt.”54

Der Leser verzeihe das lange Zitat. Es ist aber außerordentlich lehrreich Die Plechanowsche Auslegung der Motive Vaillants und Jaurès‘ erscheint uns etwas zu grob. Es handelte sich doch wohl nicht um eine einfache Jagd nach Stimmen bei den Wahlen. Die Erklärung, die wir einige Seiten weiter oben dem Standpunkt der französischen Mehrheit gegeben haben, erscheint uns richtiger. Aber Plechanow hatte im Jahre 1910 doch recht, als er die Stellungnahme der Jaurès und Vaillant nicht aus einem Überfluss an revolutionärem Geist, sondern ans einem Überfluss an Opportunismus erklärte.

Und der Standpunkt der Deutschen? Die Meinung, die Plechanow (und nicht nur Plechanow) von ihm hatten, war, wie wir gesehen haben, für die deutsche Sozialdemokratie sehr günstig. Aber leider haben wir uns davon überzeugen können, dass dieser, die “algebraische Formel” wählend, sich von ganz anderen Erwägungen leiten ließ … Natürlich haben viele deutsche Sozialdemokraten damals die besten Absichten gehabt. Ledebour z. B. und mit ihm viele andere hielten sich wohl damals an die Ansichten, die Plechanow ihnen im oben zitierten Artikel zuschrieb.

Aber schon damals waren die Opportunisten (d. h. die zukünftigen Sozialpatrioten) innerhalb der Sozialdemokratie die Mehrheit. Das zeigt die Lage, die im Zusammenhang mit der Frage der Kolonialpolitik entstand. In der deutschen Sozialdemokratie waren schon damals, wir wiederholen es, nicht Ledebour und auch nicht Bebel die wirklichen Führer, — sondern Legien, Südekum und David. Die Plechanowsche Auslegung der algebraischen Formel “und allen Mitteln” in dem Sinne, dass sie mehr als nur Streik bedeute — war unter den Verehrern der deutschen Sozialdemokratie sehr verbreitet. Es war die beste Interpretation, die man ihr vom revolutionären Standpunkt aus gehen konnte.

Natürlich hätte sich an den Dingen nichts Wesentliches geändert, wenn der Kongress nicht diese algebraische Formel der deutschen Opportunisten angenommen hätte, sondern die arithmetische Formel der französischen Opportunisten. Die Sozialchauvinisten wären doch Sozialchauvinisten geblieben. Aber — der Fehler muss zugegeben werden. Wir hatten die Lage so eingeschätzt, dass die deutsche Sozialdemokratie mit allen Mitteln gegen den Krieg kämpfen werde in Wirklichkeit sah es ein klein wenig anders aus. Die offizielle deutsche Sozialdemokratie hat, als der Krieg 1914 ausbrach, “mit allen Mitteln” für den Krieg gekämpft, “mit allen Mitteln” (und mit noch mehr) den Imperialisten ihres “Vaterlandes” gedient…

Was wäre aus dem Antrag Vaillant-Keir Hardie geworden, wenn der Krieg nicht ausgebrochen und die II. Internationale nicht auseinander gefallen wäre? Wahrscheinlich wäre er, ausgestattet mit einigen diplomatischen Redewendungen auf dem Kongress, der 1914 in Wien stattfinden sollte, angenommen worden. Dafür spricht besonders die Kopenhagener Rede Vanderveldes, des Vorsitzenden der II. Internationale, des typischen Vertreters ihrer Mehrheit und einer ihrer Hauptdiplomaten. Für den Stuttgarter Beschluss und den Antrag Vaillant-Hardie eintretend, sagte er, dass die Sozialdemokratie schon oft in seinem Sinne gehandelt habe. “So protestierten die englischen Kameraden gegen den Krieg in Südafrika, so schritt die russische Sozialdemokratie, als der Krieg mit Japan ausbrach, nicht bloß zum Generalstreik, sondern zur Revolution, und ein noch näher liegendes Beispiel lieferten die spanischen Brüder, die vor kurzer Zeit, als ihre Regierung einen Seeräuber- und Banditenzug unternahm, heldenmütigen Widerstand leisteten, obwohl sie einer der schwächsten Zweige der Internationale sind. Ich habe die Zuversicht, dass das, was die Engländer, die Russen, die Spanier getan haben, auch die anderen großen Nationen tun werden Jedenfalls bitte ich Sie — so schließt Vandervelde —‚ das Amendement (Vaillant-Hardie) für das wir alle sind, nicht abzulehnen. Ich ersuche Sie, es dem nächsten internationalen Kongress zu überweisen, nicht weil ich es für verfrüht oder verkehrt halte, sondern weil ich der Zuversicht bin, dass es dann einstimmig angenommen werden wird.”55

Der Antrag wäre angenommen worden. Und doch wäre alles ebenso gekommen. Bei Ausbruch des ersten europäischen imperialistischen Krieges wäre das gleiche Bild entstanden wie im Jahre 1914. Waren nicht schon ohne diesen Antrag genügend viele laut klingende Worte gesprochen worden? Waren nicht genug Versprechungen und Hannibalschwüre geleistet worden?

Die Internationale im Jahre des Balkankrieges. “Le grand pardon de Bâle”.

Der beste Beweis dafür, dass die II. Internationale — trotz aller ihrer großen Zugeständnisse an den Opportunismus offiziell den Standpunkt der “Vaterlandsverteidigung” und des “Verteidigungskrieges” nicht vertreten konnte, ist ihr Verhältnis zu den Balkankriegen 1912-1913. In diesen Kriegen spielte das nationale Element eine große Rolle. Aber es wurde übertönt durch imperialistische Motive. Die kleinen Völker waren nur ein Spielzeug in den Händen der imperialistischen Cliquen.

Und niemandem in der Internationale kam der Gedanke, diese Konflikte vom Gesichtswinkel des “Verteidigungskriegs” und der “Vaterlandsverteidigung” zu betrachten. Die Sozialisten des Balkans stimmten geschlossen gegen die Kredite und bekämpften den Krieg. Alle europäischen Sozialisten klatschten ihnen aus diesem Anlass Beifall und niemand dachte daran, sie zu erinnern, dass sie verpflichtet seien ihr Vaterland zu verteidigen. Warum? Weil alle verstanden hatten, dass die Schuld am Kriege beim Imperialismus zu suchen sei.

Wir haben die 1907 ausgesprochene Meinung Kautskys zitiert. Wir wollen jetzt die Ansicht eines anderen hervorragenden Vertreters des marxistischen “Zentrums”, Otto Bauers, anführen. In seiner in vieler Beziehung ausgezeichneten Arbeit “Der Balkankrieg und die deutsche Weltpolitik” schrieb er Ende 1912: “Gegen den Imperialismus! Das ist die Losung des Tages. Das Proletariat Serbiens muss sich dem serbischen Anschlag auf Albanien, das Proletariat Österreichs und Ungarns dem Anschlag der Donaumonarchie auf Serbien, das Proletariat Russlands der Hetze gegen Österreich-Ungarn widersetzen Die Arbeiterklasse Deutschlands und Italiens, Frankreichs und Englands aber muss sich mit aller Kraft gegen die Zumutung wehren, Gut und Blut zu opfern wegen des serbisch-österreichischen Konfliktes! Gegen den Imperialismus! Das wird die Losung des internationalen Proletariats bleiben … Hände weg von Asien! — das muss nun die Losung der deutschen Arbeiterklasse sein.56

Während des Balkankrieges haben also auch die Marxisten des “Zentrums” verstanden, dass es sich nicht um das Kriterium der “Defensive” und nicht um die “Vaterlandsverteidigung”, sondern um den Imperialismus handelte. Nicht “Vaterlandsverteidigung”, sondern — gegen den Imperialismus — war damals ihre Parole. Der 1914 ausgebrochene Weltkrieg trägt aber zweifellos einen noch stärker ausgeprägten imperialistischen Charakter, und das nationale Element spielt in ihm nur noch eine ganz geringe Rolle. Was also hat sich geändert? Nur das, dass 1912-1913 “sie” Krieg führten, 1914 aber “wir”, unsere “Vaterländer”, Krieg führen …

In dem gemeinsamen Manifest, das die Sozialisten des Balkans und der Türkei 1912 erließen, sprachen sie nicht von “Vaterlandsverteidigung” sondern vom Kampf gegen die imperialistischen Großmächte.

La guerre des Balkans (1912) porte en elle un danger imminent pour la paix génerale. En réveillant tous les appétits capitalistes des grands Etats, en donnant la prépondérance dans la vie politique aux éléments impérialistes, avides de conquêtes, elle peut provoquer non seulement le conflit entre nations, mais encore la guerre civile.”57 So schrieben die Sozialisten der Türkei und des Balkans in ihrem Manifest, das im Bulletin des Internationalen Sozialistischen Büros veröffentlicht wurde (IX, 4) Und die ganze Internationale war mit ihnen vollkommen solidarisch. Im Artikel über den Baseler Kongress erzählt Kautsky, dass der Hauptbeweggrund zur Einberufung dieses Kongresses der Wunsch gewesen sei, den Sozialisten der Türkei und des Balkens die Sympathie auszusprechen, ihnen eine moralische Stütze zu geben. Vom Standpunkt der “Vaterlandsverteidigung” und des “Verteidigungskrieges” aber gesehen, hätte jedenfalls eine der Parteien —- entweder die türkischen oder die Balkansozialisten —— keine Unterstützung verdient, sondern den schärfsten Vorwurf, einen Vorwurf, wie ihn jetzt z. B. Plechanow gegen unsere serbischen Genossen richtet.

Die meisten europäischen sozialdemokratischen Parteien haben 1914 das Banner der Internationale verraten, aber die Balkansozialisten sind ihm auch jetzt treu geblieben. Die serbischen Sozialdemokraten haben gegen die Kredite gestimmt, gegen den Krieg gekämpft. Österreich hat die nationale Revolution der Südslawen abgewürgt Wenn man noch irgendwo in einem gewissen Sinn vom Schutz der national-freiheitlichen Interessen sprechen konnte, so vielleicht nur in Serbien. “Wenn die Sozialdemokraten überhaupt irgendwo das Recht hatten, für den Krieg zu stimmen, dann in erster Linie in Serbien” — schreibt der serbische Sozialist Duschan-Popowitsch. — “Aber” — fährt er fort — “für uns war der Umstand entscheidend, dass der österreichisch-serbische Krieg nur ein kleiner Teil, nur die Ouvertüre zum Weltkrieg war, der unserer Überzeugung nach ein ausgesprochen imperialistischer Krieg ist.” “Wir haben nachzuweisen gesucht” — schreibt ein anderer Vertreter der serbischen Sozialdemokratie, Genosse Kazlerowitsch —‚ “dass Serbien mit seinen nationalen Bestrebungen und seinem Territorium bei der Abrechnung unter den europäischen imperialistischen Mächten nur als Tauschgeld dienen wird … Wir haben nachzuweisen gesucht, dass die serbische Bourgeoisie in diesem Krieg ein “Großserbien”, einen großen “jugoslawischen Staat” verwirklichen will, und dass sie darum nicht einen nationalen, sondern einen Eroberungskrieg führe” …

Die kleine serbische Sozialdemokratische Partei hat die großen führenden europäischen sozialdemokratischen Parteien nur an die elementaren Wahrheiten erinnert, die diese Parteien selber oft genug ausgesprochen hatten. Auf die einfachen und klaren Beweisführungen der serbischen Sozialdemokraten konnten die “europäischen” Sozialchauvinisten absolut nichts antworten.

Noch bezeichnender als die Erklärungen einzelner autoritärer Führer und einzelner sozialdemokratischer Parteien sind die offiziellen Kundgebungen der II. Internationale als Ganzes, die im Zusammenhang mit den Balkankriegen 1912-1913 erfolgten. Wo findet man in ihnen auch nur ein Wort im Sinne der “Vaterlandsverteidigung” oder des “Verteidigungskrieges”? Ein Dokument von besonderer Autorität ist natürlich die einstimmig angenommene Resolution des außerordentlichen internationalen Kongresses in Basel. Das Baseler Manifest ist eben in Erwartung des europäischen Krieges geschrieben, der jetzt zum Ausbruch gekommen ist. Das Manifest ging davon aus, dass es ein imperialistischer Krieg sein werde, den Konflikte unter den verschiedenen Cliquen des europäischen Finanzkapitals hervorrufen werden. Das Manifest analysiert eingehend die Lage der Sozialisten in jedem Land. Es gibt ein Aktionsprogramm für die Sozialisten aller Länder: Dass die Sozialisten irgendeines Landes, die in den Krieg hineingezogen sein werden, die Pflicht hätten, ihr Vaterland zu verteidigen, das Kriterium des Verteidigungskrieges anzuwenden, davon steht im Manifest kein Wort, kein Ton! Man findet in diesem Dokument wohl die Aufforderung zur Organisierung des Bürgerkriegs, Hinweise auf die Pariser Kommune, auf die Revolution 1905 usw. Aber man findet darin nicht die leiseste Anspielung auf einen “Verteidigungskrieg”. Ja, am Vorabend des imperialistischen Krieges, wir wiederholen es, konnte es auch nicht anders sein — solange die europäischen “Sozialisten” nicht offen zum Standpunkt des Nationalliberalismus übergegangen waren.

Auf eine nähere Analyse der Baseler Resolution können wir verzichten — sie ist genügend gut bekannt. Nicht nur die Resolution, sondern auch die auf diesem Kongress gehaltenen Reden sind überzeugende Anklagen gegen den “neuen Kurs” der jetzigen Sozialchauvinisten. Dass das Proletariat den Krieg mit einer Revolution beantworten werde — damit drohten der europäischen Bourgeoisie in ihren Reden auf dem Kongress nicht nur Jaurès, Haase, Keir Hardie, Zetkin, Vaillant. Selbst der äußerst vorsichtige und äußerst gemäßigte Viktor Adler stellte in seiner Rede die Frage: “Sind die Proletarier wirklich heute noch Schafe, dass sie stumm zur Schlachtbank geführt werden können?” Und er fügt hinzu: “Die Stunde kommt, wo das Proletariat seine Sprache benutzen wird, um anzuklagen, und die Stunde kommt, wo das Proletariat auch das Schwert haben wird, um den Richtspruch zu vollziehen.”58 Der bloße Abdruck dieser Reden, die die Führer der II. Internationale gehalten haben, würde in grellstem Licht den ungeheuren Verrat zeigen, den die Mehrheit dieser Führer jetzt begeht …

Der Stuttgarter Kongress hat eines der Grundprinzipien der revolutionären Marxisten angenommen, das jetzt den größten Parteien der II. Internationale wie ein stummer Vorwurf vor Augen stehen muss. In Kopenhagen haben wir ein neues Schwanken nach der Seite des Opportunismus gesehen. Der Kongress hat Formulierungen angenommen, die jetzt von den Sozialchauvinisten zur Rechtfertigung des “neuen Kurses” ausgenutzt werden. Das Baseler Manifest kam zustande, als der europäische imperialistische Krieg schon nahe bevorstand. Der Baseler Beschluss war nicht schlechter, sondern besser als der Stuttgarter. Jedes seiner Worte ist eine Ohrfeige für die jetzige Taktik der führenden Parteien der II. Internationale.

Und trotzdem ist der Kelch des 4. August nicht an uns vorübergegangen. Die II. Internationale, so wie sie war, war eine hoffnungslose Institution — wie gute Resolutionen sie auch annehmen mochte. Das bedeutet aber absolut nicht, dass diese Resolutionen gar keine Bedeutung hatten. Das bedeutet nicht, dass die Internationalisten in ihrem jetzigen Kampf gegen die Sozialchauvinisten diesen die angenommenen Resolutionen “verzeihen” müssten, dass sie auf sie nicht hinweisen und die Leute nicht zur Verantwortung ziehen dürfen, die diese Resolution beschworen und sie jetzt zynisch verraten haben.

In seinem ausgezeichneten Buch “Der Imperialismus. der Weltkrieg und die Sozialdemokratie” sagt der holländische Marxist Hermann Gorter: “Der Kenner der Internationalen Sozialdemokratie hatte dies (die Krise, die Politik des 4. August. D. Verf.) aber schon seit langem kommen sehen. Der Kongress in Stuttgart war der letzte, wo wirklich ernsthaft Stellung genommen wurde gegen den Imperialismus. Aber in Kopenhagen schon kam man ins Wanken, und in Basel ergriff man die Flucht. Es war, als würde man um so furchtsamer, je mehr der Imperialismus erstarkte, je größer die Kriegsgefahr wurde, je näher sie kam. In Basel erscholl allein noch eine Fanfare, aber aus den hohlen Phrasen Jaurès, den leeren Drohungen Keir Hardies, dem feigen Geschluchze Viktor Adlers über den Untergang der Kultur, und den schlaffen, nichts sagenden Worten Haases, aus dem eitlen Geprahle des Kongresses selber erklang schon der Widerwille, die Abneigung, die Ohnmacht zu irgendwelcher Tat … Die Bourgeoisie, die, durch ihre eigene Verwesung, für moralische Fäulnis einen sehr feinen Geruch hat, witterte augenblicklich die Faulheit dieses Kongresses und der Internationale, Sie ahnte, dass von diesem Kongress nichts zu befürchten war.”59

In diesen Worten des holländischen Marxisten liegt viel Wahres. Die Bourgeoisie hat tatsächlich die Schwäche der II. Internationale gefühlt, und sie wusste, dass ihr von Seiten der ihr treu ergebenen opportunistischen Mehrheit keinerlei Gefahr drohte. Der jetzige Minister Sembat erzählt in seinem Buch “Faites un roi”, das sofort nach dem Baseler Kongress erschienen ist, mit welcher Ironie die französischen Bourgeois vom Baseler Kongress sprachen, den sie “le grand pardon de Bâle” nannten. “Etwas ist faul im Staate Dänemark” — dieses Gefühl hatten auch viele Sozialisten. Aber wir wollen nicht hinterher die Schlauen sein. Bekennen wir offen: niemandem von uns kam es in den Sinn, dass etwas möglich sei, auch nur entfernt ähnlich dem, was wir dann am 4. August 1914 gesehen haben. Es ist nicht wahr, dass man schon in Basel die Flucht ergriffen hatte. Die offiziellen sozialdemokratischen Parteien Europas haben erst am 4. August 1914 die Flucht ergriffen. In Basel hat man den Arbeitermassen kein Wort von der “Vaterlandsverteidigung” im bevorstehenden Krieg gesagt. Im Gegenteil, in Basel sprach man den Proletariern der ganzen Welt vom Beispiel der Kommune, der russischen Revolution 1905. Man sagte ihnen, dass es ein Verbrechen sei, aufeinander zu schießen, dass der nahende Krieg ein Krieg um die Interessen eines Häufleins von Kapitalisten sei.

Man missverstehe uns nicht. Wir leugnen absolut nicht die Richtigkeit der Gorterschen strengen Charakteristik der Führer, die auf dem Baseler Kongress tonangebend waren. Wir wissen, dass die Opportunisten aller Länder an die Revolution nicht glaubten. Wir können uns gut vorstellen, wie es in der diplomatischen Küche der II. Internationale zuging, in der die Baseler Resolution zubereitet wurde. Wir wissen auch ebenso gut wie Genosse Gorter, dass die daran Beteiligten wenig an das glaubten, was sie in ihrem Manifest sagten. Auch wir hatten Gelegenheit, diese Herren zu sehen, und wir wissen gut, wie solche Dinge zustande kommen. All das ist wahr. Aber — eine ernste Frage ist die: was hat der Baseler Kongress den Arbeitermassen der ganzen Welt gesagt? Denn die sozialistischen Arbeiter glaubten ja damals aufrichtig jedem Wort der Internationale. Sie haben das Baseler Manifest für bare Münze genommen. Und eine weitere Frage besteht darin: warum mussten selbst die Diplomaten des Opportunismus den Massen gerade das und nichts anderes sagen — nicht das, absolut nicht das, was sie ihnen jetzt sagen?

Wir sagen das nicht zur Rechtfertigung der Adler und Vandervelde, der Scheidemann und Renaudel. Im Gegenteil! Um so größer ihre Schuld, um so tiefer ihr Fall, um so schmachvoller ihr Verrat.

Die II. Internationale 48 Stunden vor Ausbruch des Weltkrieges. Hervé, Jaurès. Die französischen Syndikalisten.

Nichts entlarvt so sehr das jetzige schmachvolle Verhalten der Sozialchauvinisten aller Länder wie die Erklärungen, die sie selbst im Laufe der letzten Tage vor der offiziellen Kriegserklärung 1914 abgegeben haben. Die Quantität war noch nicht in Qualität umgeschlagen. Aus Trägheit fuhren sogar die jetzigen Führer der Sozialchauvinisten noch fort, die Lage zu schildern wie sie war. Wovon sprachen also damals die wichtigsten Organe des europäischen Sozialismus, die sozialdemokratischen Abgeordneten, die Zentralkomitees, die Gewerkschaften? Jedenfalls nicht von der “Vaterlandsverteidigung”! Sie sprachen davon, dass es ein imperialistischer Eroberungskrieg sein werde, dass er gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet sei, und dass das Blut von Millionen von Arbeitern für eine fremde Sache in ihm vergossen werden solle …

Plechanow und die übrigen Ententechauvinisten lieben es sehr, zum Beweise der Richtigkeit ihres Standpunkts die Erklärung der deutschen Sozialdemokraten am Vorabend des Krieges zu zitieren, die Erklärungen des “Vorwärts”, dass das österreichische Ultimatum an Serbien bewusst den Krieg provoziere, die Erklärungen der Parteileitung, dass die deutschen Imperialisten den Krieg brauchten. Selbstverständlich: an diese Erklärungen müssen die Arbeiter öfters erinnert werden. Aber ebenso oft müssen sie erinnert werden an die Erklärungen, die in jenen Tagen die offiziellen französischen Sozialisten abgaben.

Hervé, derselbe Hervé, der jetzt trunken ist von Chauvinismus, der Artikel unter dem Titel “Es lebe der Zar” druckt, dieser selbe Hervé schrieb am 28. Juli 1914: “Ein Krieg zum Schutze einer kleinen Nation, die von einer Großmacht unterdrückt wird? Das wäre zu gut! Aber schon lange gibt es in Europa … keine Großmacht, die ihre Hände nicht im Blute hätte. Nein, nicht ein Krieg zum Schutze des kleinen serbischen Volkes, sondern — ein Krieg zur Verteidigung des Prestiges unseres Verbündeten, des Zaren. Die Ehre unseres Verbündeten! Die Ehre der russischen Regierung! Bei diesem Wort allein werden sich Rabelais, Voltaire, Victor Hugo im Grabe umdrehen … Die russische Regierung war in Bezug auf ihre Ehre nicht so sensibel, als sie Finnland und Polen würgte, als sie ihre Schwarzen Hundert auf die jüdische Bevölkerung von Kiew und Odessa losließ. Sich im Namen des Prestiges des Zaren schlagen! Welch ausgezeichnete Motive für ein Volk, dessen Vorfahren die große Revolution gemacht haben! Welche Freude, für eine so edle Sache zu sterben!”60

Drei Tage vor Kriegsbeginn wusste selbst Hervé noch, dass die französischen Arbeiter sich nicht für die “Demokratie”, nicht für das “revolutionäre Frankreich”, sondern vor allem für den Blutzaren schlagen sollten.

Am selben Tage sagte der Generalrat der französischen Sozialistischen Partei in einem von Jaurès, Guesde, Vaillant, Sembat, Renaudel, Hervé und anderen unterzeichneten Manifest den Arbeitern, dass der nahende Krieg von der imperialistischen Raubpolitik hervorgerufen sei “Der koloniale Wettkampf, die Intrigen und Gewalttaten des Imperialismus, die Raubpolitik bei den einen, die Politik der Ambitionen und der Erhaltung des Prestiges bei den anderen — all das hat schon seit 10 Jahren in ganz Europa eine Spannung geschaffen, eine dauernde und stets wachsende Kriegsgefahr”61

Das Zentralorgan der Syndikalisten schrieb am 29. Juli 1914:

Arbeiter! Wenn ihr keine Feiglinge seid, wenn ihr nicht wollt, dass in einigen Stunden euer Land in das schlimmste Abenteuer gestürzt werde, das man sich überhaupt vorstellen kann — protestiert!”62

Jaurès aber hat noch vier Tage vor seinem Tode in einer öffentlichen Versammlung in Vaise (bei Lyon) am Vorabend des Weltkrieges erklärt, dies sei ein imperialistischer Krieg. Als ehrlicher Demokrat schonte er auch seine eigene Regierung nicht. Er sagte offen, dass die Kolonialpolitik Frankreichs und die lichtscheue auswärtige Politik des Zarismus diesen Krieg verschuldet hätten.63 Wir wissen natürlich nicht, was Jaurès nach Kriegsbeginn gesagt hätte. Einen revolutionär-marxistischen Standpunkt hat er nie eingenommen. Aber wir wissen, dass er ebenso wie alle Führer der französischen Sozialisten und Syndikalisten noch zwei bis drei Tage vor Kriegsbeginn die französischen Imperialisten und den russischen Zaren als die am Kriege Schuldigen brandmarkte. Selbst die krassesten Opportunisten waren zu der Zeit noch nicht gewissenlos genug, uni diesen Krieg als einen gerechten Verteidigungskrieg zu proklamieren

Nicht “Vaterlandsverteidigung” war die Losung der deutschen und französischen Sozialisten, sondern — “gegen den Imperialismus!” Noch wenige Tage vor dem 4. August, als das ganze Bild schon ganz klar war, sprachen die offiziellen sozialistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands nicht von “Vaterlandsverteidigung”, sondern von der Verteidigung der Arbeiterleben vor den imperialistischen Räubern beider Koalitionen. Das war der letzte Tribut dieser Parteien an die Internationale. Und das ist nur ein übriger Beweis dafür, dass die offiziellen “Sozialisten” Deutschlands und Frankreichs sich nur auf ihren jetzigen Standpunkt stellen konnten, nachdem sie an allen Beschlüssen der Internationale Verrat geübt hatten.

Die Ansicht der Internationalisten über die Vaterlandsverteidigung. Unsere Aufgaben.

Welche propagandistische Aufgabe müssen wir uns jetzt stellen?

Vor allem müssen die Anhänger der III. Internationale mit besonderer Klarheit die Frage der Vaterlandsverteidigung behandeln. Die kleinste Unklarheit in dieser Frage kann unserer Propaganda einen großen Schaden zufügen.

Ein Sozialist ist verpflichtet, sein Vaterland in jedem Kriege zu verteidigen — das ist das Grundprinzip des Sozialchauvinismus. Die offenherzigen Sozialchauvinisten stellen diesen Grundsatz ohne jede Vertuschung auf, “Mag unsere Regierung im Unrecht sein, mag sie es sein, die den Krieg begonnen bat, mag ihre ganze auswärtige Politik vor dem Kriege falsch, mehr als das — verbrecherisch gewesen sein. Aber — für die Fehler oder sogar Verbrechen der Regierung darf doch das Volk nicht bestraft werden. Sobald der Krieg zur Tatsache geworden ist, sobald unserem Land ein feindlicher Einfall droht, müssen wir uns verteidigen. Und das unabhängig vom Inhalt, den Zielen, dem Sinn des Krieges. Die Niederlage meines Vaterlandes — ist das größte Übel, das man sich ausdenken kann. Darum: ob mein Vaterland im Recht oder im Unrecht ist — es ist mein Vaterland!”

Welches die Ursachen des Krieges auch sein mögen, wie wir die Geschichte der Vorbereitung des Krieges auch beurteilen, … an einem kann kein Zweifel bestehen, unsere höchste Pflicht besteht im Durchhalten” So sprach in einer Parteikonferenz der hervorragendste Diplomat des internationalen Sozialchauvinismus, Viktor Adler.64

Nicht alle Sozialchauvinisten drucken ihre Gedanken so offen aus. Die Mehrheit zieht es vor, vom Schutze der “Kultur”, der “Freiheit”, vom Kampf gegen den Militarismus usw. zu sprechen. Aber sie handeln alle nach demselben Prinzip.

Das ist der Standpunkt des Sozialchauvinismus.

Wie antworten darauf die Internationalisten?

Wir lehnen die Vaterlandsverteidigung nicht prinzipiell ab. Wir lehnen die so genannte “Vaterlandsverteidigung” in imperialistischen, d. h. reaktionär-kapitalistischen Kriegen ab. Aber wir beschränken uns nicht auf den bloßen Hinweis auf die unumstößlich feststehende Tatsache, dass dieser Krieg, der 1914 ausgebrochene Weltkrieg, ein imperialistischer Krieg ist. Wir stellen das Grundprinzip auf, dass in der jetzigen imperialistischen Epoche Kriege zwischen Großmächten auch in der Regel keinen anderen Charakter tragen können.

In unserem Artikel in Nr. 1/2 des “Kommunist” schrieben wir: “Konnte es in der Epoche der nationalen Kriege ‚gerechte‘ Kriege gehen? Ja, das konnte es. Die Kriege der großen französischen Revolution waren zum großen Teil ‚gerechte‘ Kriege, die italienischen nationalen Kriege waren ‚gerechte‘ Kriege. Kann es auch jetzt, in der imperialistischen Epoche, ‚gerechte‘ Kriege geben? Ja, das kann es. Aber — nur in zwei Fällen. Erstens — der Krieg des in irgendeinem Lande siegreichen Proletariats, das die errungene sozialistische Gesellschaftsordnung gegen andere Staaten verteidigt, die das kapitalistische Regime schützen. Zweitens — der Krieg Chinas, Persiens und ähnlicher Länder, die Ausbeutungsobjekte des Imperialismus sind und die ihre Unabhängigkeit gegen die europäischen imperialistischen Regierungen verteidigen.65

Ein ‚gerechter‘ Krieg zwischen imperialistischen europäischen Regierungen ist unmöglich, ebenso wie es unmöglich ist, sich einen ‚gerechten‘ — vom Standpunkt ehrlicher Leute, nicht der Räuber selber — Kampf zwischen mehreren Räubern um die Aufteilung der geraubten Beute vorzustellen. Jeder andere Krieg, der nicht zu den beiden von uns geschilderten Fällen gerechnet werden kann, muss in unserer Zeit unbedingt ein ungerechter, ehrloser Krieg sein, ein Krieg der Imperialisten untereinander, ein Krieg der finanz-plutokratischen und dynastischen Cliquen, ein der Arbeiterklasse aller Länder stets feindlicher Krieg.

Konnte in den ‚gerechten‘ nationalen Kriegen die Rede sein von einem Kampf der Bourgeoisie gegen das Proletariat, das die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung stellt? Nein, davon konnte keine Rede sein! Jetzt aber in den imperialistischen Kriegen, besonders im Weltkrieg, ist dies eine der Hauptaufgaben der internationalen Bourgeoisie.

In zwei Fällen sind auch jetzt ‚gerechte‘ Kriege möglich. Aber 1914 hatte man es weder mit dem einen noch mit dem anderen Fall zu tun.”

So anerkennen wir also das Recht der Verteidigung für diejenigen “Vaterländer”, die von imperialistischen Mächten unterdrückt werden. Das Bestreben der Kolonien und der Halbkolonien, sich von der Unterjochung durch die Großmächte zu befreien, verdient die unbedingte Unterstützung von Seiten der Sozialdemokratie.

Den Unterschied zwischen dieser wirklichen Verteidigung seines Vaterlandes und der “Vaterlandsverteidigung”, die den Zweck hat, der imperialistischen Bourgeoisie zu helfen, neue Völker unter ihr Joch zu zwingen und die Unterjochung der alten zu festigen — diesen Unterschied nicht verstehen kann nur derjenige, der ihn nicht verstehen will.

Der Sozialchauvinist französischer Marke, wenn auch deutschen Ursprungs, Herr Grumbach, zitiert in seinem vor kurzem erschienenen Büchlein “Der Irrtum von Zimmerwald-Kienthal” folgende Zeilen aus der Broschüre von Lenin und Sinowjew “Sozialismus und Krieg”: “Wenn morgen zum Beispiel Marokko in den Krieg gegen Frankreich, Indien gegen England, Persien und China gegen Russland eintritt, so wären es gerechte Verteidigungskriege unabhängig davon, wer den Krieg angefangen hat.”66 Es heißt dort weiter: “Und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen Staaten über die großen Unterdrücker und Ausbeuter sympathisieren.”67

Und mit erkünstelter Empörung antwortet Grumbach: “Kolonien dürfen selbst Offensivkriege führen … Wenn aber die größte Republik Europas (Frankreich) … sich gegen die einbrechenden Heere der feudalen deutschen Monarchie … zur Wehr setzt unter Mithilfe der Sozialisten, dann heißt es: Verräter am Sozialismus.”68

Ein “Sozialist” der so spricht, stellt sich entweder bewusst so an, als verstünde er nicht den Unterschied zwischen der Lage einer Kolonie, die gegen ihre Unterdrücker kämpft, und der Lage einer “Großmacht”, die selbst andere Völker unterdruckt. Oder — die Sozialchauvinisten sind in der bürgerlichen Ideologie so sehr versumpft, dass bei ihnen jedes sozialistische Gefühl erstorben ist, dass sie den Unterschied zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, Sklavenhaltern und ihren Opfern, Kapitalisten und Arbeitern, Ausbeutern und Ausgebeuteten, Aussperrung und Streik, revolutionären Aufstand und konterrevolutionärer Niederwerfung des Aufstands nicht mehr sehen.

Die mächtigste Republik Europas” besitzt auf je 100 qkm ihrer eigenen Metropole 1135 qkm von ihr unterjochter Kolonien, denen die Finanzoligarchie Frankreichs ihr Blut und ihren Lebenssaft aussaugt. Für die Festigung ihrer Herrschaft über diese Kolonien führt die “mächtigste Republik Europas” eben jetzt Krieg. Die Lakaien der Imperialisten aber verstehen nicht, worin der Unterschied zwischen den Kolonien und ihren Sklavenhaltern besteht!

Es ist überflüssig, sich zu entrüsten. Die Sozialchauvinisten und wir sprechen zwei verschiedene Sprachen. Sie verteidigen die Interessen der Bourgeoisie, wir verteidigen die Interessen des Proletariats. Aber das “Argument” des Herrn Grumbach zeigt ein übriges Mal, wie notwendig absolute Klarheit in der Frage der Vatertandsverteidigung ist. Es beweist, dass es ebenso verhängnisvoll wäre, das sozialchauvinistische Spiel um den Begriff “Vaterlandsverteidigung” auch nur im geringsten schonend zu behandeln, wie es unzulässig ist, den Verzicht auf die Vaterlandsverteidigung überhaupt für alle Zeiten, unabhängig vom Charakter des bestimmten militärischen Konflikts zu predigen.

Die Schwäche der II. Internationale besteht darin, dass sie das Prinzip der Vaterlandsverteidigung im Allgemeinen anerkannte. Für die nationalen Kriege war dieses Prinzip richtig. Für eventuelle Kriege, von denen wir oben sprachen, ist dieses Prinzip auch jetzt noch richtig.

Die Schwäche der II. Internationale besteht darin, dass sie nicht klar und deutlich gesagt hat: in der Epoche der nationalen Kriege ist die Verteidigung des Vaterlandes richtig und notwendig; in der Epoche der imperialistischen Kriege — ist der Begriff der Vaterlandsverteidigung auf imperialistische Kriege unanwendbar.

Und das Übel, das Unglück, der volle Zusammenbruch der II. Internationale bestehen darin, dass der Opportunismus aus Gründen, von denen hier nicht gesprochen zu werden braucht, in ihr Oberhand gewann und objektiv die größten Parteien der II. Internationale der Politik der Bourgeoisie unterordnete, die selbst daran interessiert ist, dass die ehrlosen, imperialistischen Kriege den Arbeitern als gerechte und fortschrittliche Kriege dargestellt werden …

Verzichten wir voll und ganz auf die Erbschaft der II. Internationale, wenn wir die Notwendigkeit verkünden, die III. Internationale ins Leben zu rufen?

Die Aufgabe der revolutionären Marxisten besteht darin, dass sie nachweisen, wie im Verlaufe des 25-jährigen Bestehens der II. Internationale in ihr mit wechselndem Erfolg zwei grundlegende Richtungen gegeneinander kämpften: die marxistische und die opportunistische. Wir wollen nicht die ganze Geschichte der II. Internationale ausstreichen. Wir lehnen nicht ab, was in ihr marxistisch war.

Eine Reihe von Theoretikern und “Führern” hat den revolutionären Marxismus verlassen, die Kautskyaner aller Länder haben dem revolutionären Marxismus den Rücken gekehrt. Die Opportunisten und das “Zentrum” haben in den letzten Jahren des Bestehens der II. Internationale den numerischen Sieg über die Marxisten davongetragen. Aber trotz allem hat es innerhalb der II. Internationale stets eine revolutionär-marxistische Richtung gegeben. Und auf ihre Erbschaft verzichten wir für keinen Augenblick.

Während des Weltkriegs haben einerseits der Opportunismus anderseits der Anarchismus und Syndikalismus einen vollkommenen Zusammenbruch erlitten. Der Krieg war ein schwerer Schlag für den Sozialismus. Aber seine positive Seite für die Arbeiterbewegung wird darin bestehen, dass er helfen wird, diese beiden kleinbürgerlichen Entartungen des Sozialismus ein für allemal zu begraben.

Unser Kampf gegen den Anarchismus und den Syndikalismus muss nicht weniger scharf sein als der Kampf gegen den Opportunismus. Die propagandistische Aufgabe unserer Tage besteht nicht darin, dass im Syndikalismus der “Kern der Wahrheit” oder der “gesunde Kern” gesucht werde. Die Aufgabe besteht im Nachweis, dass der offizielle Syndikalismus ebenso zum Verrat an der Arbeitersache, zum Übertritt in den Dienst der Bourgeoisie gelangt ist wie der Opportunismus. Mehr als das. Die Schuld des Anarchismus und des Syndikalismus ist noch größer. Der konsequente Opportunismus ist sich wenigstens treu geblieben. Viele von den Opportunisten haben lange vor dem Kriege dasselbe gesagt, was sie jetzt sagen. Die Syndikalisten und Anarchisten haben die Arbeiterbewegung in Frankreich, in Italien gespalten, — angeblich im Namen des unversöhnlichen Kampfes gegen die Bourgeoisie, gegen den Militarismus, gegen den Krieg —- um jetzt ebenso verräterisch zu handeln wie die schlimmsten der Opportunisten. Die Anarchisten und Syndikalisten haben alles Menschenmögliche auf dem Gebiet der revolutionären Phrase getan und dadurch die revolutionären Losungen, die revolutionären Aufrufe in den Augen der Arbeiter noch mehr kompromittiert.

Gegen den Opportunismus und gegen den Anarchismus!

Und gegen das “marxistische Zentrum” — in erster Linie. Das “Zentrum” hat in der II. Internationale dem Opportunismus stets beigestanden. Das “Zentrum” hilft jetzt dem Sozialchauvinismus. Welch reaktionäre Rolle das Kautskyanertum spielt, hat jetzt der “Longuetismus” — diese Kautsky-Richtung auf französischem Boden, die den schlimmsten Opportunisten hilfreich zur Seite steht — besonders klar gezeigt.

Zurück zu Marx!

Und in diesem Sinne — die III. Internationale!69

1 “Neue Zeit”, 8. Jahrgang (1890), S. 203. [Marx Engels Werke Band 22, a.a.O., S. 47]

2 Friedrich Engels, “Der Sozialismus in Deutschland”, “Neue Zeit”, 10. Jahrgang, 1891/92, I. Bd., S. 585. [a.a.O., S. 254f.]

3 a.a.O., S. 586 [a.a.O., S. 255f.]

4 Dasselbe muss von den Alliierten der französischen Sozialchauvinisten gesagt werden. Guesde, Sembat, Hervé sind nicht abgeneigt, die Dinge so darzustellen, als handelten sie im Geiste des Jahres 1793. Aber eine solche Behauptung ist eine zynische Verhöhnung der Wahrheit. Die blutbefleckte Hand Nikolaus II. lecken (der Besuch von Albert Thomas!), als Geiseln im Ministerium der französischen Plutokratie sitzen, das bedeutet nicht, im Sinne von 1793 handeln. Der französische Imperialist Graf de Fels hatte sehr recht, als er die Methode der französischen Imperialisten, die die “Opposition” (Guesde, Sembat u. a.) zwangen, ins Ministerium einzutreten und die Verantwortung für den jetzigen Krieg mit zu tragen, — ein Chef d‘oeuvre der bürgerlichen Politik nannte…

5 Friedrich Engels, “Der Sozialismus in Deutschland”, “Neue Zeit”, X. Jahrgang, 1891/92, I. Bd., S. 586. [a.a.O., S. 255]

6 Georg v. Vollmar, “Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie”, zwei Reden, gehalten am 1. Juni und 6. Juli 1891 im “Eldorado” zu München”, München 1891, M. Ernst.

7 Siehe das Protokoll des Erfurter Parteitags, 1891, S. 173, 207, 210.

8 a.a.O., S. 187

9 a.a.O., S. 275, 283f.

10 Protokoll des Züricher internationalen Kongresses, 1893, deutsche Ausgabe, S. 30.

11 Almanach “Wojna”, “Der Krieg”, S. 19, 25, 32.

12 “Sozialdemokrat” Nr. 74, “Einige Thesen” (s. “Gegen den Strom”, Hamburg, 1921, S. 292. D. Ü. [Lenin Werke, Band 21, S. 408-411, hier S. 410f.])

13 “Die Krise der Sozialdemokratie” von Junius, 1916, Zürich, S. 87f. (Junius war ein Pseudonym Rosa Luxemburgs).

15 Protokoll usw. S. 25.

16 a.a.O., S. 20

17 Protokoll des Züricher internationalen Kongresses 1893, S. 20.

18 Was — wollen wir hier gleich bemerken — die deutschen Sozialdemokraten nicht verhinderte, ihren Beschluss sehr bald vollkommen wertlos zu machen — hauptsächlich unter dem Druck der opportunistischen Gewerkschaftsführer.

19 Protokoll usw. S. 24.

20 a.a.O., S. 25f. Die letzten Worte Adlers können in gewissem Sinne als prophetisch gelten. Tatsächlich: die Sozialisten können durch niemanden vernichtet werden als durch sich selber. Im Jahre 1893 fürchtete Adler, dass eine zu vorzeitige Aktion der Sozialisten zu ihrer Selbstvernichtung führen könne. Ein Vierteljahrhundert ist vergangen. Die Sozialdemokratie ist zu einer Partei von Millionenmassen geworden. Der “entscheidende Moment” kam und es erwies sich, dass im Gegenteil der Verzicht auf jede Aktion der II. Internationale verhängnisvoll geworden ist … Den Sozialismus vernichten oder für lange schwächen, das kann die Bourgeoisie nicht und das können die Regierungen nicht, — das konnten nur die Scheidemann, Südekum, Vandervelde, Renaudel, Hyndman, Legien, Plechanow vollbringen.

21 a.a.O., S. 21

22 a.a.O., S. 27

23 a.a.O., S. 28

24 a.a.O., S. 21

25 “Le Socialiste”, 26. August 1891. Nachgedruckt in “En Garde”, Paris, 1911, S. 99

26 Sie haben beschlossen, bis zu Ende zu gehen — “aller jusqu‘au bout”. Damals verstand man darunter mit der Waffe in der Hand gegen die eigne Bourgeoisie in den Bürgerkrieg zu ziehen. Jetzt haben diese Worte im Munde Guesdes und seiner Genossen eine ganz andere Bedeutung. Neue Zeiten, neue Lieder…

27 “Le Socialiste”, 2. September 1891, “En Garde!”, S. 103.

28 Protokoll des Internationalen Sozialisten-Kongresses zu Stuttgart, 1907, S. 81f.

29 Bebel hat Unrecht. Der “Schüler” Plechanow verteidigte noch 1905 aufs entschiedenste die These: die Proletarier haben kein Vaterland. D. Verf.

30 a.a.O., S. 82.

31 a.a.O., S. 83.

32 a.a.O., S. 81f.

33 a.a.O., S. 86.

34 a.a.O., S. 88.

35 a.a.O., S. 89.

36 a.a.O., S. 89.

37 Beide Zitate a.a.O., S. 90.

38 Protokoll des Stuttgarter Kongresses, S. 94.

39 a.a.O., S. 67

40 a.a.O., S. 97f.

41 a.a.O., S. 102

42 Anmerkung N. Lenins: Ich erinnere mich genau, dass der endgültigen Abfassung dieses Zusatzantrags langwierige unmittelbare Besprechungen mit Bebel vorangingen. Die erste Abfassung sprach viel direkter von der revolutionären Propaganda und der revolutionären Aktion. Wir zeigten sie Bebel, er antwortete: Das kann ich nicht unterschreiben, denn die Staatsgewalt wird dann unsere Parteiorganisation auflösen, das aber wollen wir umgehen, solange noch nichts Ernstes vorhanden ist. Nach Beratungen mit Juristen und vielfacher Umarbeitung des Textes, um denselben Gedanken legal auszudrücken, wurde eine endgültige Formulierung gefunden, deren Unterschrift Bebel zusagte.

43 “Neue Zeit”, 25. Jahrgang, 1906/7, II. Band, S. 855. Noch schärfer sprach Kautsky diesen Gedanken im Jahre 1909 aus im Artikel “Österreich und die Mächte”, “Neue Zeit”, 27. Jahrgang, 1908/9, I. Bd. S. 949; ferner im Artikel “Sozialistische Kolonialpolitik”, 27. Jahrgang, 1908/9, II. Bd., S. 42, und im Jahre 1910: “Neue Zeit”, 1910, II. Bd., S. 76f.

44 Protokoll des Stuttgarter Kongresses, S. 98.

45 Protokoll des Jenaer Parteitags 1911, S. 345.

46 a.a.O., S. 346

47 a.a.O., S. 347

48 Siehe das Buch von Charles Rappoport, “Jean Jaurès”, Paris, 1915, S. 266, 276. Dieses Buch ist übrigens eine Lobhymne nicht nur auf Jaurès, sondern auf den Jaurèsismus. Der Verfasser scheint nie etwas davon gehört zu haben, dass der Jaurèsismus nichts anderes ist als der Opportunismus auf französischem Boden.

49 “Jean Jaurès”, von Charles Rappoport, S. 266.

50 Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Kopenhagen, 1910, S. 29.

51 a.a.O., S. 31

52 a.a.O., S. 32

53 a.a.O., S. 37

54 “Der Sozialdemokrat”, Nr. 17, Oktober 1910, Artikel: “Der internationale Sozialistenkongress in Kopenhagen”.

55 Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses zu Kopenhagen, S. 41.

56 Otto Bauer, “Der Balkankrieg und die deutsche Weltpolitik”, Berlin, 1912, S. 49.

57 “Die Internationale und der Weltkrieg”, Materialien gesammelt von Karl Grünberg, I. Abt. (Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 1914, II. Heft), S. 389. Zu deutsch: “Der Balkankrieg tragt eine ungeheure Gefahr für den allgemeinen Frieden in sich. Er weckt alle die kapitalistischen Begierden der Großstaaten, er gibt das Übergewicht im politischen Leben den imperialistischen Elementen, die eroberungssüchtig sind, er beschwört nicht nur einen Zusammenstoß der Nationen herauf, sondern auch den Bürgerkrieg.”

58 Protokoll des außerordentlichen internationalen Sozialistenkongresses zu Basel (1912), S. 18f.

59 Herman Gorter, “Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie”, Amsterdam, 1915, deutsche Übersetzung 1917. S. 21.

60 “la Guerre Sociale”, 28. VII. 1914.

61 “l‘Humanité”, den 28. VII. 1914.

62 “La Bataille Syndicaliste”, 29. VII. 1914.

63 Seine Rede siehe Kapitel 7.

64 “Arbeiterzeitung”, Wien, Nr. 318. 16. November 1916.

65 Die letzte These bedarf vielleicht nur einiger Beschränkung: Zum Beispiel: Persien während des imperialistischen Weltkriegs.

Bekanntlich haben die deutschen lmperialisten im Jahre 1915, auf das Gefühl des gerechten Hasses der Perser gegen ihre russisch-englischen Unterdrücker bauend, Persien beinahe in den Krieg hineingezogen. Die liberale Zeitung “Russkie Wjedomosti” schildert die Ereignisse folgendermaßen: “Im September und Oktober 1915 hat die Persische Regierung scheinbar sehr ernst die Frage erörtert, ob man sich nicht vom englisch-russischen Einfluss (!) mittels eines Bündnisses mit Deutschland und der Türkei befreien sollte. Der Schah und seine Minister hatten bereits die Absicht, die zu nahe an der russischen Grenze gelegene Stadt Teheran zu verlassen. Aber die energischen Vorstellungen der englisch-russischen Diplomatie — Vorstellungen, die bekräftigt (!) wurden durch das Erscheinen russischer Truppen in der Nähe von Teheran ‚— haben dem schwankenden Verhalten des Schah ein rasches Ende bereitet. In Persien brach eine Revolution aus. Im Zentrum und im Süden wurden revolutionäre Komitees gebildet … Dieser revolutionären Bewegung bereiteten jedoch russische Truppen im Laufe des Winters und Frühjahrs 1916 ein Ende.” (Russkie Wjedomosti”, 28. Juni 1916.)

Wie soll man sich zu dieser Lage der Dinge in Persien verhalten? Die Sozialisten treten natürlich voll und ganz für die revolutionäre Bewegung in Persien ein, die gegen die russisch-englischen Imperialisten gerichtet ist. Aber hätte Persien am Weltkrieg teilgenommen und sich auf die Seite der deutschen Koalition gestellt, so würde der persische Krieg nur eine unbedeutende Episode im imperialistischen Eroberungskrieg gewesen sein. Objektiv würde sich die Rolle Persiens von der Rolle der Türkei im Weltkrieg nicht wesentlich unterscheiden.

66 Grumbach, “Der Irrtum von Zimmerwald-Kienthal”, S. 77.

67 G. Sinowjew u. N. Lenin, “Sozialismus und Krieg”, S. 4. [Lenin Werke Band 21, S. 295-341, hier S. 301]

68 Grumbach, a.a.O.

69 Die II. Internationale und das Kriegsproblem.

Zehn Jahre nach dem Ausbruch des Weltkrieges ist die Zweite Internationale mehr als je davon entfernt, die Kriegsfrage in ihrer ganzen Bedeutung erkannt zu haben. Die Zusammenfassung der gegen den Krieg protestierenden Elemente der Zweiten Internationale auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal zeigte bereits die Trennung der revolutionären Elemente von den Pazifisten, von denen man überzeugt sein konnte, dass sie nach Beendigung des Krieges wiederum die Illusionen, die in der Zweiten Internationale ihre reinste Verkörperung in Jaurès gefunden hatten, aufnehmen und durch sie die Politik der regierenden Sozialisten decken würden.

Die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie und das Fernbleiben zahlreicher sozialdemokratischer Parteien von dem internationalen Sozialistenkongress in Luzern (August 1919), die sich an der Wiederbelebung des Kadavers der Zweiten Internationale nicht beteiligen wollten, andererseits aber auch nicht revolutionär und infolgedessen gegen die Dritte Internationale waren, bildeten die Voraussetzungen zur Schaffung einer Internationale, die zunächst die Zusammenfassung der selbständigen, dann aber den Versuch der Vereinigung beider Internationalen bedeuten sollte.

Die 2½ Internationale war die Internationale des Sozialpazifismus. Die Versuche der Kommunistischen Internationale, sie von den wortreichen Deklamationen zu wirklichem Handeln im Interesse des Friedens zu veranlassen, scheiterten daran, dass die Sozialpatrioten sich stets weigerten, mitzutun, und die 2½ Internationale ohne diese nicht vorgehen wollte.

Der Versailler Vertrag, der die Unterschriften mehrerer reformistischer Führer trägt, und der Völkerbund, der die Sicherung der imperialistischen Vorherrschaft Englands und Frankreichs sein soll, waren gewissermaßen die Grundlagen, auf denen die Propaganda der 2½. Internationale sich aufbaute.

Die Zuspitzung der Lage durch die Unmöglichkeit für Deutschland, als bürgerlicher Staat die Reparationsforderungen zu erfüllen, der schwere Druck, der auf dem deutschen Proletariat lastete, andererseits der Sieg des Faschismus in Italien und der Vormarsch der Reaktion auf der ganzen Welt, waren für die unentwegten Pazifisten nur Beweise dafür, dass sie in ihren Behauptungen recht behalten haben und dass nur eine Propaganda des Friedens dem Proletariat Ruhe verschaffen könne.

Es ist bezeichnend für die Entwicklung der Sozialdemokratie und der so genannten zentristischen Parteien, dass gerade in dem Augenblick, in dem die Ruhrkrisis eine neue Kriegsgefahr heraufbeschwor, sich die Pazifisten mit den Patrioten vereinigten. Zu Pfingsten 1923 fand der Vereinigungskongress der Zweiten und der 2½ Internationale statt, auf dem die Pazifisten aber auch alles von ihren Anschauungen preisgeben mussten. Die “Vernunftehe” von Hamburg ist nichts anderes als die Billigung der Politik der patriotischen Parteien, die patriotisch geblieben waren auch nach dem Kriege und die ihren Nationalismus gerade in der Ruhrfrage von neuem bewiesen.

Allerdings hat es diese neue Internationale gemeinsam mit den Gewerkschaften nicht an schönen Worten fehlen lassen, sie sind sogar soweit gegangen, sich zu Demonstrationen gegen die Kriegsgefahr am 10. Jahrestag des Ausbruchs des Weltkrieges zu vereinigen. Aber diese Demonstrationen diese hohlen und leeren Kundgebungen werden bezeichnenderweise nicht am 4. August, sondern am Todestag von Jaurès stattfinden, da man einerseits sich zu Unrecht auf den großen Idealisten berufen will, andererseits aber die peinliche Erinnerung an den “Tag der deutschen Nation” gern vermeiden möchte.

Immerhin lässt sich nicht bestreiten, dass die Amsterdamer und Hamburger in ihren Äußerungen einen beneidenswerten Optimismus an den Tag legen. Dies zeigte sich neuerlich in den Äußerungen zahlreicher Amsterdamer auf dem Kongress der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale in Wien zu Pfingsten 1924, wo der Versuch gemacht wurde, die Erfolge der “linken” Parteien in Frankreich, England und Dänemark als Zeichen dafür zu buchen, dass nunmehr eine pazifistische Welle durch die ganze Welt gehe.

Noch mehr: man glaubt, dass die Erfahrungen des Weltkrieges dazu dienen, den Imperialisten aller Länder eine Warnung zu sein vor neuen Kriegen, dass die Angst vor der Revolutionierung der breiten Massen durch einen neuen Krieg größer sei als der Wunsch, die Macht des Imperialismus durch Waffengewalt geltend zu machen. Auch Edo Fimmen in seinem Buche “Vereinigte Staaten Europas” oder “Europa A.-G.” stellt sich auf diesen Standpunkt.

Dieses Argument fällt beinahe zusammen mit der Auffassung von Norman Angell, die auch von Sozialisten wieder belebt worden ist, dass ein Krieg mit Rücksicht auf die weltwirtschaftliche Verflechtung der kapitalistischen Interessen unmöglich sei.

Dieses Argument hat bereits Genosse Sinowjew oben zurückgewiesen. Was die Angst vor der Revolution betrifft, so übersehen die Pazifisten, die derartig argumentieren, dass es sich nicht darum handelt, dass der Imperialismus im Kampfe um seine Existenz verschiedene Mittel zur Verfügung hätte, zwischen denen er wählen könnte. Wenn die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Mächten zum Kriege treiben, dann nützt auch der beste Wille der Individuen nichts. Die Konflikte müssen ausgetragen werden, da sie Lebensfragen des Kapitalismus sind, und aus diesem Grunde kann die Angst vor der Revolution den Imperialisten nicht schrecken: er weiß, dass er um die Existenz seines Staates zu kämpfen hat, um die Erweiterung der Absatzgebiete und die Sicherung von Rohstoffquellen. Mit der Revolution als einer Möglichkeit der Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung rechnet kein Kapitalist und kein kapitalistischer Politiker. Für ihn kann es nur eine größere oder geringere Beunruhigung geben, die aber, wie den Kapitalisten ja die deutsche Revolution bewiesen hat, letzten Endes ein gutes Geschäft ist.

Die Hamburger und die Amsterdamer Internationale sind zum Pazifismus zurückgekehrt, um im Augenblick eines Krieges sofort wieder in die Reihen der Bourgeoisie ihres Landes zu treten, ihr Vaterland zu verteidigen Während aber die Sozialdemokratie vor 1914 noch einen Funken von Berechtigung hatte, das pazifistische Gestammel als ihre ehrliche Überzeugung auszugeben, kann sie es heute nicht mehr. Sie weiß, dass sie keinen Krieg verhindern wird, und noch mehr, dass sie nicht den Versuch dazu machen wird. Sie versucht vergeblich von der einen Seite der Bourgeoisie zur andern zu lavieren und aus dem Widerstreit der imperialistischen Mächte zu folgern, dass ihm die Rolle eines Vermittlers zwischen den Mächten zukommt. Aber das, was 1919 und vorher noch ernst genommen werden konnte, ist heute Verlogenheit, und wenn die Sozialdemokratie, wenn die Internationale nach all diesen Erfahrungen von neuem den Pazifismus predigt, dann beweist sie nur, dass sie versuchen will, von neuem den Imperialismus damit zu unterstützen, dass sie die pazifistischen Illusionen im Proletariat stärkt.

Eugen Varga

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