G. Sinowjew 19151011 Der Krieg und die revolutionäre Krise in Russland

G. Sinowjew: Der Krieg und die revolutionäre Krise in Russland

[„Sozialdemokrat", Nr. 45/46. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 272-277]

15 Monate Krieg! Wie im Kaleidoskop passieren vor uns die Geschehnisse in unserem Lande im Lauf dieser leidensreichen Monate.

Beginn des Krieges. Ausbruch des erzreaktionären Patriotismus. Die gesamte Bourgeoisie, einschließlich der ganz Liberalen, geht in das Lager der Lobsänger der Zarenbande über. Die Presse, die Dumatribüne, die Schule, die Kirchenkanzel – alles wird in Bewegung gesetzt, um in das tiefste Innere Russlands, in den entlegensten Winkel den Schwindel vom „Befreiungskrieg" des Zarismus zu tragen, um die Arbeiter, die Bauern, die Masse des werktätigen Mittelstandes in den Städten mit dem Chauvinismus zu verseuchen. Alles, was ehrlich ist, alles, was dem Banner der Revolution treu geblieben ist, wird an Händen und Füßen gebunden. Das Land ist geknebelt durch den Kriegszustand. Proteste gegen den Krieg werden nur in der Arbeiterklasse laut. Die kühne Avantgarde der Arbeiter – ihre Russische Sozialdemokratische Arbeiterfraktion – wird gepackt und in den Kerker geworfen.

Zweites Stadium. Siege der Zarenheere in Galizien. Noch größere Exzesse des Schwarzen-Hundert-Chauvinismus. Die Bande der Schwarzen Hundert feiert ihre Orgien nicht allein innerhalb Russlands, sie plündert, ruiniert, erdrosselt auch die Bevölkerung Galiziens. Die Bourgeoisie spitzt sich auf die Profite, die mit der Einnahme der Dardanellen in ihre Taschen fließen würden, eine Sache, die damals eine Frage der nächsten Zukunft zu sein schien. Der Liberalismus sinkt demonstrativ noch mehr zu Füßen des Zaren. Die Demokratie bleibt stumm. Die Konterrevolution tobt mit noch größerem Zynismus. Sie feiert Feste.

Aber bald verändert sich das Bild. Niederlage der Zarenarmee. Przemysl, Lemberg, Warschau, Nowogeorgiewsk, Kowno, Brest-Litowsk, Wilna. Fast ganz Polen, Litauen und Kurland sind in den Händen der Deutschen. Die Leiden der Bevölkerung jener Gegenden, die die Invasion erfahren, kennen keine Grenzen. Eine Millionenwelle von Flüchtlingen ergießt sich in das Innere des Landes. Es findet eine wahre Völkerwanderung statt. Hunderttausende von Söhnen Russlands kommen auf den Schlachtfeldern um. Millionen und Abermillionen werden ruiniert, verarmen, leiden und ertragen unmenschliche Qualen. Alles gerät in einen unsicheren Zustand. Niemand weiß, was uns der kommende Tag bringen wird.

Die Reaktion verliert den Kopf. Es beginnen Intrigen zwischen den einzelnen einflussreichen Cliquen der Militärpartei. „Das Vaterland ist in Gefahr." Es findet eine „Mobilmachung der Industrie" statt und eine Mobilmachung der „gesellschaftlichen Kräfte". In den Hauptstädten werden Reden geschwungen, wird Lärm geschlagen… Kongresse, Reden, Resolutionen, Depeschen, Komitees, Deputationen. Gutschkow1 ist fast „Diktator". Die Miljukow und Schingarew sind fast Minister. Die Duma greift die Zarenminister an – hauptsächlich diejenigen, die der Zar bereits nach Hause geschickt hat. Die Liberalen bilden zusammen mit den Oktobristen und den breiten Kreisen der nationalistischen Grundbesitzer den „Dumablock". Sie sind dabei, schier ein Komitee der öffentlichen Rettung … will sagen, ein Ministerium der nationalen Verteidigung zu schaffen. Aber zu dieser Zeit werden sie … ganz unerwartet nach Hause geschickt. Die Duma wird auseinandergejagt. Die Situation in den Spitzen wird noch verwirrter. Als Antwort auf die Auflösung der Duma rufen die Liberalen zur „Ruhe und Ordnung" auf. Der Pakt der Bourgeoisie mit der Monarchie zur „Rettung Russlands" kam nicht zustande. Die Zarenbande wird eher mit der deutschen Monarchie paktieren, als dass sie dem Liberalismus Zugeständnisse machte.

In den Hauptstädten herrscht Lärm, es toben Redeschlachten… Aber welches Glück, dass wir nicht mehr zu schweigen brauchen. Nur dort, im Innern Russlands herrscht Grabesstille … Nein, die Friedhofsruhe gehört der Vergangenheit an. Es erdröhnen Proteste, der Kampf reift. Die Zarenbande bringt dem Volk „Defätismus" bei.

Als Erste erheben ihre Stimme wiederum die Arbeiter. Sie werden in Kostroma dutzendweise erschossen. Sie werden in Iwanowo-Wosnessensk zu Hunderten niedergemacht, sie werden zu Tausenden verhaftet und in die Verbannung geschickt. Aber sie streiken dennoch zu Zehntausenden, sie haben es schon bis zum Generalstreik in Moskau gebracht, bis zum Streik von 150.000 Proletariern in Petersburg, ihre Bewegung hat bereits beide Hauptstädte erfasst, ist auf die Wolgagegend und auf den Süden übergesprungen und breitet sich über das ganze Land aus.

Auf dem flachen Lande ist es auch „unsicher". Die Zeitungen brachten bereits – einstweilen nur vereinzelte – Fälle von Rebellionen unter der weiblichen Bevölkerung der Dörfer. Die Männer sind in den Krieg geschickt worden, aber die Abgaben und Unterdrückungen sind nicht geringer geworden, die Not drückt, der Gutsbesitzer presst Der gottgerechte Bischof Nikon bezeugt, dass in den Dörfern „tödliche" Reden gegen den Krieg gehalten werden. Dasselbe wird auch von den liberalen Kennern des ländlichen Lebens bekundet. Auf die ländliche Bevölkerung fällt der Krieg am schwersten zurück. Zu Hunderttausenden werden aus dem russischen „Hungersdorf" und „Brandhof" die Bauern zur Schlachtbank geführt: die russische Armee ist eine Bauernarmee. Und zu Hause herrschen – Not, Hunger, Prügel, Wachleute, Pfaffen, Landräte…

Die Unzufriedenheit macht sich auch unter den breiten Massen des städtischen Mittelstandes bemerkbar – die Fronde der Liberalen spiegelt nur in schwachem Maße diese Unzufriedenheit wider. Wozu dieser Krieg, wozu diese Meere von Tränen, diese Seen von Blut, die Tausende und Abertausende von Ermordeten ? Wozu dieser Ruin des Landes, dieser Abgrund von Leiden? Diese Fragen tragen jetzt Tausende und Zehntausende Bürger Russlands auf den Lippen, bald werden sie Millionen auf den Lippen haben.

Und die Folge ist, dass die revolutionäre Krise wächst. Noch weiß niemand, mit welcher Schnelligkeit sich die revolutionären Ereignisse entfalten werden. Doch wird sich niemand wundern, wenn die Ereignisse einen ebenso schnellen Verlauf nehmen, wie nach dem Fall von Port Arthur, nach Mukden und Tsushima. Der militärische Zusammenbruch, die Niederlage der Zarenarmeen weckt die Unbeteiligtesten zur Aktivität, die Nachricht vom Krach dringt in die entlegensten Orte. An die Spitze der revolutionären Bewegung wird sich von Neuem das Proletariat stellen, das mit früherem Heroismus für die demokratische Republik, den Achtstundentag und die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes kämpfen wird. Die Zeit wird kommen – und wir werden wieder die revolutionäre Bewegung im Bauerntum wahrnehmen, das durch die Lehren des Krieges geschult sein wird. Die kleinbürgerlichen Revolutionäre werden schwanken, die Liberalen werden mit dem Absolutismus feilschen und das Volk verraten. Auf die revolutionären Sozialdemokraten werden historische Aufgaben von allergrößter Wichtigkeit fallen.

Die Lage der russischen Sozialpatrioten wird immer zweideutiger, und immer klarer tritt ihre konterrevolutionäre Rolle hervor. Einzelne Vertreter des echt-russischen Sozialpatriotismus haben die Losung aufgestellt: „Revolution für den Sieg" (über die Deutschen). Doch die Logik der Ereignisse treibt die Herren Sozialpatrioten dazu, dass sie in Wirklichkeit die Losung verfechten: „Konterrevolution für den Sieg", d. h. Verzicht auf jedweden Kampf gegen den Zarismus – im Namen des „Sieges". Und das ist auch begreiflich. Revolution für den Sieg? Versucht's doch einmal, Ihr Herren! Fangt mit der Revolution an, beginnt mit dem Sturz Eures „gerechten" Zaren (sei es auch nur dem „Sieg" über die Deutschen zuliebe), und wir werden sehen, was dann von Eurem „Burgfrieden", von Eurem „Nichtwiderstand dem Kriege" usw. übrigbleiben wird. Das ist die Antwort, die den „Patrioten" von der revolutionären Sozialdemokratie gegeben wurde.

Revolution für den Sieg – sagen als Schlagwort die Kerenski und Plechanow, indem sie sich in die Toga der revolutionären Jakobiner hüllen und leichtsinnigerweise die Schatten der großen Männer aus der Zeit der revolutionären Kriege aufscheuchen. In Wirklichkeit sind sie – Sklaven der Zarenmonarchie.

Die in Russland stattfindende Konferenz der Sozialrevolutionäre, der Trudowiki, und der sogenannten Volkssozialisten nimmt eine Resolution an, in der sie „die Beteiligung an der Landesverteidigung gegen den äußeren Feind für unvermeidlich" hält und als notwendig anerkennt, „die Staatsduma, ja sogar in ihrer jetzigen Zusammensetzung, für die Sache des Volkes zu gewinnen". Ist das nicht Konterrevolution „für den Sieg" ?

Der Herr Plechanow und Frau Ida Axelrod, Alexinski, Frau Deutsch und ein paar patriotische Sozialrevolutionäre bringen eine lachhafte „Konferenz" zusammen und veröffentlichen in ihrem Namen ein pompöses Manifest „an die zielbewusste werktätige Bevölkerung Russlands" (mit seinen sozialdemokratischen Überzeugungen hat Plechanow zugleich auch das Gefühl für das Lächerliche verloren). In diesem à la „Nowoje Wremja" gehaltenen Manifest wenden sich die genannten Herren gegen die Arbeiterstreiks – just in dem Moment, wo der Massenstreik sich über ganz Russland auszudehnen beginnt. In diesem Manifest wird als „tief irrtümlich" die Auffassung gestempelt, dass solange die zaristische Regierung besteht, nicht einmal die ominöse „Vaterlandsverteidigung" gelingen könne. Die Plechanow und Konsorten haben nicht einmal auf ihrer Position: „Revolution für den Sieg" beharren können. Sie rutschten zur Position herab: „Frieden mit der Konterrevolution – für den Sieg", sie sind absolut reif dafür, ein Bestandteil des Kadetten-Oktobristen-Nationalisten-Blocks zu bilden.

Mit einem programmatischen Schreiben an die Genossen tritt das ausländische Sekretariat der Organisations-Kommission hervor, – diese Verbündeten und Gefangenen der sozialpatriotischen „Nascha Sarja". Diese Leute, die den „defätistischen" Ideen Tribut zahlen und sogar die Losung des Bürgerkrieges (Aufstände im Hinterland) einstweilen nur für Deutschland anerkennen, – sie proklamieren für Russland die Losung der Konstituierenden Versammlung.

Für die Anhänger der Organisations-Kommission ist dies ein kleiner Schritt vorwärts. Doch die revolutionären Sozialdemokraten können nicht umhin, anzuerkennen, dass die Leute von der Organisations-Kommission im Fahrwasser der liberalen Ideen verbleiben. Sie wählen vorsätzlich Formeln, die weniger klar sind, die für die Liberalen annehmbarer sind. Die revolutionären Proletarier in Petersburg stellen in ihren Proklamationen ebenfalls die Forderung der konstituierenden Versammlung auf. Doch sie ergänzen stets diese Forderung mit den drei wichtigen Kampfparolen der Zeit: Demokratische Republik, Achtstundentag, Beschlagnahme des Großgrundbesitzes. Die blanke Losung: „Konstituierende Versammlung" kann auch auf liberale Art gedeutet werden, als Konstituierende Versammlung zur Errichtung einer konstitutionellen Monarchie, zur „Einigung zwischen dem Volk und der Krone". Das war der Grund, warum 1905 auch die russischen Liberalen die Losung der Konstituierenden Versammlung akzeptierten, doch niemals die Losung der demokratischen Republik und der Beschlagnahme des Großgrundbesitzes akzeptiert hätten. Bis 1905 konnte man sich auf die „volkstümliche Redensart" – „Nieder mit der Selbstherrschaft" beschränken. Jetzt schleudern wir in die Massen: Nieder mit der Monarchie. Vor 1905 konnten die Sozialdemokraten mit der Losung der Konstituierenden Versammlung marschieren, jetzt müssen wir in die Massen gehen mit der Propagierung der Republik und der Beschlagnahme des Großgrundbesitzes.

Im Lager der platonischen Internationalisten („Nasche Slowo") halten die Schwankungen auch angesichts der eintretenden entscheidenden Ereignisse an. Zur Liquidierung der revolutionären Taktik in Russland gelangt „Nasche Slowo" vom anderen Ende. Aus der richtigen und wichtigen These, dass die Geschicke der russischen Revolution jetzt noch enger verknüpft sind mit dem Schicksal der Weltrevolution des Proletariats, ziehen sie den absolut irrigen Schluss, dass die Aufgabe der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland unzeitgemäß sei. In Russland sei keine bürgerliche Demokratie vorhanden, das Bauerntum könne keine revolutionäre Rolle spielen, das russische Proletariat müsse abwarten, bis es zusammen mit dem Proletariat anderer Länder imstande sein werde, die Revolution im internationalen Maßstab zu erringen. („Nasche Slowo" 181/182, Artikelserie der Redaktion „Die Kriegskrise".) Das alte trotzkistische Liedlein mit neuer Variation! Eine absolut schädliche Liquidatorenidee! Allein die Liquidatoren – Potressow selbst und Larin selbst – werden aus einer solchen Fragestellung gewinnen, die in Wirklichkeit zu einem Verzicht auf den Kampf um die neue Revolution in Russland führt, zu dem Verzicht auf die Aufgabe des Proletariats, die Massen des Kleinbürgertums in Stadt und Land zum Kampfe für die Republik und für die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes aufzurütteln. Das ist eben die geistige Nabelschnur, die Trotzki mit den Liquidatoren verbindet.

Nein, die revolutionäre Sozialdemokratie kämpft nach wie vor für die demokratische Revolution in Russland. Der imperialistische Weltkrieg hat die revolutionäre Krise in unserem Lande mit der wachsenden proletarischen, sozialistischen Revolution im Westen unzertrennlich verbunden. Schon vor 10 Jahren dachte sich die revolutionäre russische Sozialdemokratie die demokratische Revolution in Russland als Auftakt zur sozialistischen Revolution im Westen. Die Entwicklung hat einen mächtigen Schritt vorwärts getan. Der Prolog rückt zeitlich dem Epilog näher. Noch enger wurde der Zusammenhang zwischen der demokratischen Revolution in Russland und der sozialistischen Umwälzung in Westeuropa. Aber daraus ergibt sich noch nicht ein Verzicht auf die Grundforderungen, nicht die Verzichtleistung auf die Losung der demokratischen Revolution in Russland, sondern ein noch viel energischerer Kampf für diese Revolution. Die Interessen der vielen Millionen Kleinbürger und Halbproletarier Russlands vertragen sich weder mit der Monarchie, noch mit den Gutsbesitzern aus der Leibeigenschaftszeit. Der Konflikt dieser Interessen ist nun einmal da. Die Schwankungen der Kleinbourgeoisie waren und werden da sein; gestern folgte sie im allgemeinen den Liberalen, heute geht sie mit den patriotischen Bourgeois. Die Aufgabe des Proletariats ist nicht, die demokratischen Interessen der Massen aufzugeben, sondern die Massen vom Einfluss der Bourgeoisie zu befreien und die Lehren des Lebens auszunutzen zur Bloßstellung der gestern noch liberalen und heute patriotischen Illusionen.

Es lebe die zweite, demokratische Revolution in Russland, die das Zeitalter der proletarischen Weltrevolution eröffnet! Es lebe der Sieg über die Zarenmonarchie, nicht zum „Siege" über Deutschland, sondern zur Fortführung der proletarischen, sozialistischen Revolution im Westen! Das ist die Standarte der revolutionären Sozialdemokratie in Russland.

11. Oktober 1915.

G. Sinowjew

1 Kadett, war in der ersten Provisorischen Regierung Minister.

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