G. Sinowjew 19141205 Der Krieg und die russische Sozialdemokratische Arbeiterfraktion

G. Sinowjew: Der Krieg und die russische Sozialdemokratische Arbeiterfraktion

(Auf Kampfesposten.)

[„Sozialdemokrat", Nr. 34. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 7-10]

Die Regierung Nikolai Romanows beschloss das Verbrechen zu wiederholen, das sie 1907 gegenüber der S.-D. Fraktion der 2. Duma begangen hat. Aus Anlass des „Befreiungskrieges" findet es die Zarenbande für gelegen, die Vertreter der Arbeiterklasse in der Duma los zu werden.

Die Petersburger Telegrafenagentur bringt in einer Spezialdepesche folgende Regierungsmeldung:

Von Anbeginn des Krieges an half das russische Volk, vereint im Bewusstsein, die Würde und die Integrität der Heimat zu verteidigen, einmütig und mit patriotischem Elan der Staatsgewalt, die ihr durch die militärischen Operationen aufgelegten Aufgaben zu verwirklichen.

Eine ganz besondere Stellung nahmen in dieser Hinsicht gewisse Mitglieder der sozialdemokratischen Gesellschaften ein, die sich zum Ziel stellten, die kriegerische Macht Russlands durch eine Antikriegsagitation, durch illegale Aufrufe und mündliche Propaganda zu erschweren. Im Oktober ging der Regierung die Nachricht zu, dass von Vertretern der sozialdemokratischen Organisationen die Einberufung einer Geheimkonferenz geplant sei, zur Beratung über die Maßnahmen, die auf die Zerstörung des russischen Staatswesens und die baldmöglichste Verwirklichung aufrührerischer sozialistischer Aufgaben gerichtet seien.

Am 4. November stellte die Polizei fest, dass die Tagung der erwähnten Konferenz in einem Hause auf der Wyborger Chaussee, 12 Werst von Petrograd stattfand. Die eingetroffene Polizeiabordnung traf dort 11 Personen, unter denen, wie es sich später herausstellte, die Mitglieder der Staatsduma Petrowski, Badajew, Muranow, Samojlow und Schagow waren. Da die staatsfeindliche Bedeutung der Konferenz außer Zweifel ist, so wurden die Teilnehmer der in flagrant erwischten Versammlung nach vorgenommener Perlustrierung festgenommen, und die Mitglieder der Staatsduma freigelassen.

Anlässlich des Obigen hat Maschkewitsch, der Untersuchungsrichter am Petrograder Bezirksgericht für besonders wichtige Prozesse, unverzüglich Voruntersuchung eingeleitet.

Nach Kenntnisnahme der beschlagnahmten Papiere hat der Untersuchungsrichter laut § 102 des Strafgesetzbuches ein gerichtliches Verfahren gegen sämtliche Teilnehmer eingeleitet und sie in Haft genommen."

Am Abend des 8. November lief in die Staatsduma auf den Namen des Präsidenten M. W. Rodsjanko die Mitteilung des Justizministers ein, dass „die Mitglieder der Staatsduma Badajew, Samojlow, Muranow, Schagow und Petrowski laut § 102 des Strafgesetzbuches gerichtlich belangt und nach ihrer Vernehmung durch Maschkewitsch, den Untersuchungsrichter für besonders wichtige Prozesse am Petrograder Bezirksgerichte, nach Beschluss des Untersuchungsrichters persönlich verhaftet worden."

Wir wissen noch nicht, wieweit die Lügenhaftigkeit der offiziellen Meldung der Petersburger Agentur geht, von welchen Lockspitzeln die belastenden „Dokumente" unterschoben worden sind usw. Wir wissen auch nicht, mit welchen „juristischen" Argumenten die Schwarze-Hundert-Regierung die offensichtliche Verhöhnung ihrer eigenen Gesetze rechtfertigte, die sie beging, indem sie die Immunität der Abgeordneten brach und unsere Genossen aus der R. S.-D. Arbeiterfraktion verhaftete. Doch das eine ist klar: die Regierung schafft „das Milieu" für einen neuen Zuchthausprozess gegen sozialdemokratische Abgeordnete, sie bereitet einen neuen Verschwörungsprozess vor. Das Schwert ist gegen unsere russische sozialdemokratische Arbeiterfraktion gerichtet.

Zugleich wird auch etwas anderes klar: Die russische sozialdemokratische Arbeiterfraktion hat den sie ehrenden Hass der Regierung dadurch geerntet, dass sie wirklich mit der Arbeiteravantgarde marschierte und ihre Pflicht gegenüber der russischen Arbeiterklasse, dem Sozialismus und der Demokratie tat. Die ganze Tätigkeit der jungen Fraktion war ein wahrhaft schönes, glänzendes Blatt in dem Buche der russischen Arbeiterbewegung. Im Verlauf eines knappen Jahres vermochte die R. S.-D. Arbeiterfraktion, – ungeachtet der ungünstigen Verhältnisse, – Verbindungen mit den breitesten Arbeitermassen Russlands zu schaffen, vermochte die Wortführerin der proletarischen Gedanken und Wünsche zu werden, vermochte die ständige Unterstützung und die heiße Liebe von Seiten des besten Teiles des russischen Proletariats zu gewinnen. Und diese Fraktion verharrte auch in der harten Kriegszeit auf ihrem Kampfposten. Auch da blieb sie das Fleisch vom Fleische der russischen Arbeiterbewegung. Auch da hörte sie nicht auf, die Wortführerin dessen zu sein, was in unserer Bewegung geistig, heldenhaft, licht und opferfroh ist. …

Die Verdienste der R. S.-D. Arbeiterfraktion sind umso größer, da sie unter besonders schwierigen äußeren Verhältnissen zu kämpfen hatte.

Der Zerfall der Internationale, das traurige Benehmen vieler Vertreter des internationalen Sozialismus, der Dolchstoß in den Rücken durch einige „renommierte" russische Sozialisten, die sich plötzlich zu Patrioten gemausert hatten, all das musste die Erfüllung der sozialistischen Pflicht ungeheuerlich erschweren. Es gab eine Zeit, da auch die deutsche Sozialdemokratie den Mut fand, ungeachtet des Kriegsregimes ihre Pflicht zu tun. Im September 1870 wurden alle Mitglieder des Braunschweiger Zentralparteivorstandes der deutschen soz.-dem. Partei verhaftet wegen des Protestes gegen die Annexion Elsass-Lothringens und der Bekundung brüderlicher Gefühle an die französischen Arbeiter. Es gab eine Zeit, da deutsche sozialdemokratische Abgeordnete – Liebknecht, Bebel – hinter Schloss und Riegel gesetzt wurden wegen ihres mutigen Protestes gegen die dynastischen Kriege und der Solidaritätserklärung mit den unvergesslichen Helden der Pariser Kommune. Das war 1872, als Bebel und Liebknecht in Leipzig zu 2 Jahren Festung verurteilt wurden. Diese Zeit ist leider vorbei. Die deutsche Sozialdemokratie hat eine lange, allzu lange Etappe durchgemacht vom „Soldaten der Revolution" Wilhelm Liebknecht bis zum … Geschäftssozialisten Herrn Südekum. In dieser schweren, allzu schweren Jahreswende wird die Ehre des internationalen Sozialismus von der jungen, aber von geistigen Kräften erfüllten russischen Arbeiterbewegung und ihren Helden gerettet werden …

Die R. S.-D. A.-Fr. wird sich mit goldenen Lettern eintragen nicht nur in die Geschichte der russischen Bewegung sondern in die Geschichte der ganzen Internationale. Mit Recht waren die Arbeiter Russlands auf ihre Arbeiterdelegierten stolz. Und wir sind wahrlich berechtigt, darauf stolz zu sein, dass in unserem Lande unsere Genossen und Freunde, die aus dem Schoße der Arbeitermassen selbst hervorgegangen sind, die ruhmreichsten, edelsten Traditionen des internationalen Sozialismus fortsetzen.

Der Chauvinismus hat auch in Russland verheerende Eroberungen gemacht. Um den blutbefleckten Thron der Romanows haben sich nicht nur der beutelüsterne Adel und die Räuber und Strolche der Militärpartei „gierig" geschart, sondern die ganze Bourgeoisie, die ganze Blüte des russischen Liberalismus. Sogar viele „Demokraten" haben an die Befreiungsmission der zaristischen Waffen zu glauben angefangen. „Russland ist einig" –„Russland unterstützt wie ein Mann den Befreiungskrieg" – pfeifen von allen Dächern sowohl die Leutchen von ganz rechts wie die Liberalen. Ihr lügt, meine Herren, ihr lügt schamlos, antworten wir ihnen. Nein, Russland ist nicht einig. Und in diesen Tagen, da die Felder Polens, Galiziens und Preußens reichlich vom Blute der Hunderttausende von Söhnen Russlands, von russischen Arbeitern, von russischen Ackersleuten getränkt wird; auch in diesen Tagen, da inmitten der chauvinistischen Orgie die Freiheitshenker für die Ukraine, für Galizien und – zu gleicher Zeit auch – für das russische Volk selbst Ketten schmieden; auch in diesen Tagen, da alle Welt Ehre und Gewissen vergessen hat, und sich in den Dienst des Geldsacks und der zügellosen Macht der Soldateska stellt; auch in diesen Tagen, da in unserem Lande jedes freie Wort endgültig erstickt ist und die Helden des Tages die Lakaien und Knechte der Presse sind; – auch in diesen Tagen gibt es ein zweifaches Russland: ein Russland der Menschikow, Romanow, Miljukow und Bobrinski, und – ein Arbeiterrussland, ein proletarisches Russland, ein Russland, das einen Petrowski, Badajew, Muranow, Schagow und Samojlow geboren hat. Das zaristische Russland hat durch seine offizielle Regierungsnachricht selbst vielsagend bestätigt, dass dem so ist.

Wir wissen nicht, wie das russische Proletariat jetzt auf das Attentat gegen seine Dumafraktion reagieren wird. Unter anderen Verhältnissen wäre die Antwort: Streiks von Hunderttausenden, ja Millionen von Arbeitern und Demonstrationen. Wir wissen nicht, ob es selbst den russischen Staatsanwälten und Richtern gelingen wird, bei allen Fälschungen und Unterschiebungen die R. S.-D. A.-Fr. gerichtlich zu belangen, die selbst bei den russischen Gesetzen oder der russischen Gesetzlosigkeit das unbestrittene Recht besaß, mit Arbeitergruppen zu konferieren. Doch wir wissen bestimmt, dass alle, die dem sozialistischen Banner in der ganzen Welt treu geblieben sind, mit ihrem Sinnen und Trachten bei der russischen sozialdemokratischen Arbeiterfraktion sein werden.

Als eine der ersten ausländischen sozialistischen Zeitungen die auf das Attentat gegen die R. S.-D. A.-Fr. reagieren, schreibt eine schweizerische sozialdemokratische Zeitung:

Die Beschuldigung, die den russischen Genossen zur Last gelegt wird liefert ein glänzendes Zeugnis dafür, dass sie ihre revolutionäre Pflicht tun unter den schwierigsten Verhältnissen, die man sich nur vorstellen kann. Leider kann man dasselbe von den sozialistischen Parteien der anderen kriegführenden Ländern nicht sagen. Die Verfolgungen gegen die russischen Genossen und die Unterdrückung der revolutionären Bewegung in Russland rechtfertigen keineswegs die „Kämpfer gegen das Moskauer Joch". Denn diese „Kämpfer" würden bei sich zuhause denselben Verfolgungen unterliegen, wenn sie ihre revolutionäre Pflicht tun und sich gegen den imperialistischen Krieg wenden wollten, der m jedem Lande gegen die Interessen der Arbeiter gerichtet ist."

5. Dezember 1914.

G. Sinowjew.

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