G. Sinowjew 19150521 Die deutsche Sozialdemokratie und die künftige Internationale

G. Sinowjew: Die deutsche Sozialdemokratie und die künftige Internationale

[„Sozialdemokrat", Nr. 42. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 95-101]

Innerhalb der jetzigen offiziellen einheitlichen deutschen Sozialdemokratie kämpfen im Grunde genommen zwei Parteien, zwei Klassenideologien, zwei Programme: der nationalliberalen Arbeiterpolitik und der proletarischen sozialdemokratischen Arbeiterpolitik.

Die deutsche Bourgeoisie und überhaupt alle regierenden Kreise Deutschlands verstehen wohl, welch ungeheure politische Bedeutung dieser Kampf innerhalb der deutschen Sozialdemokratie hat. Und wie! Die Sozialdemokratie Deutschlands steht an erster Stelle nach der Zahl ihrer Wähler, sie ist die zahlreichste deutsche politische Partei. Laut Berechnung der deutschen Sozialdemokraten betragen die Partei- und Gewerkschaftsmitglieder in der jetzigen deutschen Armee nicht mehr und nicht weniger als ganze vierzig Armeekorps. Die deutsche Sozialdemokratie hat Wilhelm anderthalb Millionen Soldaten geliefert. Diese anderthalb Millionen werden vielleicht für den Ausgang des ganzen Feldzuges entscheidend sein. Es ist klar, dass es für das regierende Deutschland keine wichtigere Frage gibt, als die Frage der Gesinnung dieser vierzig sozialdemokratischen Korps, als die Frage, wie weit der bürgerliche Einfluss der Opportunisten auf sie geht, wie weit die offizielle Sozialdemokratie auf dem Wege des Nationalliberalismus fortgeschritten ist. Sie endgültig in das Schlepptau nehmen, es soweit bringen, dass sie unwiderruflich bei der „nationalen" Ideologie festsitzt – heißt, für die Bourgeoisie eine politische Frage von ungeheurer Wichtigkeit lösen.

Und so sehen wir, dass der weitblickendste Teil des Junkertums sich der Wichtigkeit des Problems bewusst ist und sich alle Mühe gibt, damit der Ausgang des Kampfes für sie wünschenswert wird.

In dieser Hinsicht ist der bemerkenswerte Artikel „Die Sozialdemokratie und der Weltkrieg" in der Aprilnummer der Zeitschrift „Preußische Jahrbücher" von großer politischer Bedeutung. Diese Zeitschrift ist das Organ der gebildetsten konservativen Kreise. In ihm schreiben Minister und gewesene Minister. Sie ist mit vielen Fäden an das deutsche Außenministerium geknüpft. Sie wird von dem bekannten konservativen Professor Delbrück geleitet, und unter ihren Mitarbeitern befinden sich viele der einflussreichsten imperialistischen „Weltpolitiker". Und nun wirft diese einflussreiche ZeitschriftA die Frage auf, was eigentlich jetzt in der deutschen Sozialdemokratie vorgehe und wie das Programm des regierenden Deutschlands ihr gegenüber gestaltet sein müsse.

In der deutschen Sozialdemokratie kämpften drei Richtungen. Das „Zentrum" behandelt die konservative Zeitschrift offen verächtlich. In den „Preußischen Jahrbüchern" sitzen nüchterne Politiker, die nur mit tatsächlichen Kräften rechnen. „Ein nennenswerter praktischer Einfluss kann der „Neuen Zeit" (Organ des Zentrums) nicht zugesprochen werden, weshalb bei ihr im Grunde genommen nicht viel bedeutet, wie sie sich zum Weltkrieg und den dadurch aufgeworfenen nationalen und internationalen Problemen stellt. Die „Neue Zeit" hat nach Kriegsausbruch eine große Anzahl Artikel über den Krieg gebracht, in denen eine offene Stellungnahme gegen die Reichstagsfraktion vermieden wurde. Das entspricht der Auffassung des Leiters der „Neuen Zeit", Karl Kautskys, der weder für, noch gegen die Kriegskredite war. Das „Hamburger Echo" (Kampforgan der chauvinistischen Majorität) hat sich über diese Anschauung weidlich lustig gemacht. Ein Bekenntnis zu ihr ist auch in keiner anderen sozialdemokratischen Zeitung erfolgt" (S. 139).

Das „Zentrum", das nun versucht, sich zwischen zwei Stühle zu setzen, hat diese prächtige Verachtung von Seiten der gescheitesten Politiker der Bourgeoisie durchaus verdient. – Ihr wisst selbst nicht, Ihr Herren, was Ihr wollt. Uns seid Ihr nicht gefährlich, da Ihr nicht wagt, gegen Südekum und Scheidemann zu kämpfen, aber vor ihnen katzbuckelt, – sagt die deutsche Bourgeoisie zu Kautsky und seinen Freunden. Und sie hat vollkommen recht. Wir wollen hoffen, dass auch die andere Seite, die klassenbewussten internationalistischen Arbeiter, der Stellungnahme des „Zentrums" dieselbe wohlverdiente Verachtung zollen wird …

Es gibt zwei ernst zu nehmende Kräfte in der deutschen Sozialdemokratie: die offizielle Majorität und die linke Opposition – das ist die richtige Auffassung der konservativen Zeitschrift. Die ganze Aufgabe der Regierung sehen die klugen Konservativen darin, der ersteren zum Sieg zu verhelfen und die zweite „unschädlich" zu machen.

Der Pakt der deutschen Sozialchauvinisten mit der nationalliberalen Bourgeoisie und dem Junkertum ist so weit gegangen, dass jedwede Diplomatie als überflüssiger Luxus fallen gelassen wurde. – Ihr seid zu uns gekommen, ihr seid eine wahrhaft nationale Partei geworden, nun besteht die ganze Frage darin, dass wir mit vereinten Kräften diese „entnationalisierten Subjekte", die die Politik der sozialdemokratischen Fraktion seit dem 4. August 1914 angreifen, schwächen oder womöglich vernichten. Die Politik der sozialdemokratischen Fraktion seit dem 4. August ist unsere Politik, die Politik der Bourgeoisie und der Opportunisten. Deshalb haben wir auch einen gemeinsamen Feind. Das ist die offene Stellungnahme der konservativen Seite.

Das Blatt spart nicht mit Lobhudeleien gegenüber der sozialchauvinistischen Majorität. Die Haltung des Herrn Scheidemann nennt das Blatt „prächtig" (S. 45). Die verantwortlichen Parteiinstanzen werden gegen ihre Opposition, gegen die „Quertreiber" in Stuttgart in den Himmel gehoben, sowie wegen der energischen Maßnahmen gegen den „unterirdischen Krieg, den … verschiedene dunkle Anonyme … gegen die Politik der sozialdemokratischen Reichstagsmajorität führen" (S. 36, 40, 45). Mit Begeisterung zitiert die konservative Zeitschrift die lobende Erwähnung der „Deutschen Arbeitgeberzeitung", die ebenfalls anzuerkennen geruht, dass die offizielle Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaften nun sich gebessert und die „großen Aufgaben der Zeit" erfasst habe. Kurz und gut – „das in vaterländischem Sinne einwandfreie Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bei Ausbruch des Krieges." (S. 31)B

Die sachlichen Politiker der Bourgeoisie und des Junkertums müssen nur noch eine Frage aufklären: „Wohl aber erhebt sich die Frage, ob die Sozialdemokratie die Kraft in sich fühlen wird, zukünftig auch bei der Friedensarbeit die politischen Konsequenzen aus ihrer Haltung beim Kriegsausbruch zu ziehen" (S. 32). Diese Frage beunruhigt natürlicherweise die konservativen Herren aus den „Preußischen Jahrbüchern" sehr. Sie sagen sich: bis zu einem gewissen Grade wird das auch von uns abhängen. „Wir" dürfen nicht zu viel von der offiziellen Sozialdemokratie verlangen. Natürlich, auf große und ernsthafte Zugeständnisse können „wir" uns nicht einlassen. „Selbstverständlich haben unsere sozialdemokratischen Mitbürger durch die Erfüllung vaterländischer Pflichten keinen Anspruch auf besondere Entschädigung erworben" (S. 48). Sie haben ja vollkommen selbstlos, aus purer Vaterlandsliebe gehandelt. „Jedes Wort von Belohnung wäre eine Entweihung" (S. 49). Aber – auf kleine und äußerliche Zugeständnisse kann man eingehen. Nur keine kleinliche Nörgelei! Man darf z. B. das Koalitionsrecht nicht schmälern. Denn – die jetzige Sozialdemokratie ist nicht mehr gefährlich. Niemand braucht bange zu sein, es unterliegt jetzt keinem Zweifel, dass „wir" die offizielle Sozialdemokratie „zu einem Verzicht auf ihre prinzipielle Opposition zu den Forderungen des Militarismus" bringen werden. Von ihren republikanischen Stimmungen bleibt auch nicht mehr viel übrig. „Die Erfahrungen des Krieges haben gewiss antimonarchistische Stimmungen in der Sozialdemokratie nicht gefördert. Wer sich viel unter Sozialdemokraten bewegte, wird … aber das Gegenteil feststellen können" (S. 50).

Alles geht für „uns" ausgezeichnet. Nur … nur wollen wir in Gottes Namen nicht allzu anspruchsvoll sein. Wir wollen nicht vergessen, dass eine linke Opposition existiert, wir wollen nicht vergessen, dass unsere Freunde: Scheidemann, Südekum, Legien, Heine und andere es mit Arbeitern zu tun haben. Der „Umwandlungsprozess" vollzieht sich in der offiziellen Partei mit Volldampf. Aber man muss sich darüber Rechenschaft ablegen, was man von ihnen verlangen kann und was nicht. „Zum parlamentarischen, gouvernementalen Musterknaben wird man freilich die Sozialdemokratie nicht erziehen können. Ihr Charakter als Arbeiterpartei mit sozialistischen Idealen muss von ihr behütet werden, denn an dem Tage, an dem sie diese aufgeben würde, entstände eine neue Partei, die das verleugnete Programm in radikalerer Fassung zu dem ihren machen würde" (S. 50-51).

Das sind bemerkenswerte, geradezu historische Worte. Hier wird mit fester und geschickter Hand das ganze Programm vorgezeichnet, das der offiziellen Sozialdemokratie von der Bourgeoisie diktiert und von den Sozialchauvinisten jetzt ganz und gar verwirklicht wird.

Ausgemachte Reaktionäre, Ideologen des Großgrundbesitzes und des Kapitals, die schlimmsten Feinde des Sozialismus, Leute, die mit Geifer am Munde von sozialistischen Idealen reden, wenn es ernst mit ihnen wird, – diese Leute erklären offen: für uns, die Bourgeoisie, wäre es unvorteilhaft, wenn die jetzige offizielle Sozialdemokratie auf das sozialdemokratische Programm offen verzichten würde; wir, Bourgeoisie, haben's nötig, dass die offizielle Sozialdemokratie, die in Wahrheit nationalliberal wurde, immerhin ein Lippenbekenntnis für die „sozialistischen Ideale" ablege. Das braucht man, damit nicht eine andere, radikalere, wahrhaft sozialistische Partei entstehe. Man braucht dies als Anhängeschild, als Köder für die Arbeiter. Man braucht dies, damit die Scheidemänner unter der Flagge der Sozialdemokratie umso erfolgreicher den Einfluss der Bourgeoisie auf die Massen walten lassen können. Man braucht dies zu einer umso erfolgreicheren Irreführung der Arbeiter.

Dieses Programm wird in Wirklichkeit von allen Opportunisten verwirklicht. Alle Phrasen über „Sozialismus" und „sozialistische Ideale" behalten sie bei. Oh, sie sind nach wie vor Sozialisten. Sie fordern nicht einmal eine Programmrevision. Welcher „Realpolitiker" kümmert sich um „Programme"! Sie sind für ihn dasselbe, was der Neutralitätsvertrag Belgiens für Bethmann war: ein Fetzen Papier. Sie sind Sozialisten im selben Sinne des Wortes, in dem in Frankreich (besonders vor den Wahlen) sich fast jeder Bourgeois Sozialist nennt angefangen von den „unabhängigen Sozialisten"… Briand und Millerand bis zu den geschickten Geschäftemachern und Börsenjobbern aus der Partei der „radikalen Sozialisten". Die Herren Heine und Scheidemann haben ihnen nichts vorzuwerfen. Es fragt sich: wie lange wird diese grandiose Irreführung der Arbeiter dauern? So lange, bis die linke, oppositionelle, einzig sozialdemokratische Richtung der deutschen Sozialdemokratie sich zusammenschließen, mit den Opportunisten brechen und diese ungeheure Irreführung schonungslos entlarven wird.

Dem linken Flügel der deutschen Partei ist viel gegeben, es wird aber auch viel von ihm verlangt werden. Wir sehen klar, dass, wenn das regierende Deutschland jemanden fürchtet, so ist es diese Richtung allein. Das regierende Deutschland fürchtet sich auf den Tod, dass diese linken Sozialdemokraten ihre eigene wahrhaftige Arbeiterpartei bilden, denn sie weiß wohl, dass die Sozialchauvinisten dann entlarvt sein würden, und die Arbeitermassen dieser Partei und nicht den Sozialimperialisten folgen würden. Gerade deswegen rät die Bourgeoisie den Scheidemännern, auf die „sozialistischen Ideale" nicht zu verzichten. Die Bourgeoisie wird durchaus dafür eintreten, dass die Scheidemänner nach dem Kriege sich ein wenig „links wenden", damit die Partei ein paar pseudomarxistische Resolutionen im Geiste Kautskys annehme. Dass die Arbeitermassen sich nur nicht in den strittigen Fragen auskennen, dass sich vor den Massen selber nur nicht die Frage krass aufrolle: Sozialismus oder Nationalismus. Im gegenwärtigen Moment, im Kriege, beschützt die Bourgeoisie die „Einheit" der deutschen Sozialdemokratie mit Polizeimaßnahmen. Jedermann, der die sozialdemokratische Reichstagsfraktion oder den württembergischen Landesvorstand oder Südekum und Scheidemann verdammt, läuft Gefahr, gemaßregelt zu werden. In Zukunft wird die Bourgeoisie solche Extramaßnahmen nicht nötig haben, aber ihre Politik wird im Grunde genommen dieselbe bleiben, sie wird mit aller Kraft die jetzigen Sozialdemokraten unterstützen, wird die Bildung einer wahren sozialdemokratischen Partei hintertreiben, wird die Arbeiter irreleiten und ihnen versichern, dass die Sozialimperialisten keineswegs auf die „sozialistischen Ideale" verzichtet hätten.

Die linke Richtung in Deutschland ist die einzige Hoffnung der internationalistischen Elemente in allen Ländern. In welcher Lage befindet sich momentan die Formierung dieser Richtung?

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die linken Elemente in Deutschland numerisch wachsen und jetzt schon eine bedeutende Macht darstellen. So sehr der Artikelschreiber der „Preußischen Jahrbücher" diese linken Elemente hasst und ihnen die Zähne zeigt, ist er dennoch gezwungen, anzuerkennen, dass nicht weniger als zehn Tageszeitungen im großen und ganzen die Haltung der Linken vertreten. Zehn Tageszeitungen – das ist eine Größe! Außerdem wissen wir, dass auch in anderen Orten die Arbeiter das Banner des Protestes gegen die offiziellen sozial chauvinistischen Zeitungen erheben: in Stuttgart haben sich die sozialdemokratischen Arbeiter direkt von der offiziellen Organisation abgespalten, in Hamburg ist die Opposition im Wachsen, in Berlin hat sie offenkundig die Majorität, in Leipzig, Düsseldorf und Frankfurt hat sich eine überwiegende Majorität gegen die Politik des 4. August ausgesprochen.

Aber ideell und politisch haben sich die Linken in Deutschland noch nicht zusammengeschlossen. Die Linke befindet sich noch im Gärungsprozess, sie ist noch im Werden. Das Erscheinen des Kampforgans der Linken: „Die Internationale" (herausgegeben von Rosa Luxemburg und Franz Mehring), das die Heuchelei Kautskys und Konsorten brandmarkt, ist ein bedeutender Schritt vorwärts. Aber die „Internationale" hebt in einem ihrer Artikel selbst die Tatsache hervor, dass der Zusammenschluss der Linken erst im Beginnen ist. Und betrachtet man diese Linke genauer, so kann man in ihr selbst zwei Richtungen wahrnehmen. Die eine entschließt sich scheinbar zu einem völligen Bruch mit den Sozialchauvinisten, die andere will unbedingt im Rahmen der Einheitspartei verbleiben, d. h. in mehr oder minder „loyaler" Opposition verharren. Diese Teilung findet ihren äußeren Ausdruck darin, dass von den siebzehn Abgeordneten, die es für verbrecherisch hielten, die Kriegskredite zu bewilligen, im Reichstag nur zwei gegen und vierzehn für stimmten, um Disziplin zu wahren gegenüber der Chauvinistenbande, die schon längst mit der Sozialdemokratie gebrochen hatte. Die Schwankungen der Linken fanden ihren äußeren Ausdruck auch in den kürzlich stattgefundenen internationalen Konferenzen der Frauen und der Jugendlichen in Bern, wo die deutschen Linken faktisch die Rolle des „Zentrums" spielten und einen Kompromiss mit den Opportunisten im Namen der „Einheit" eingingen.

Die sogenannte „loyale" Opposition schreckt die Sozialchauvinisten keineswegs. Selbst. Herr Heine, der von der Revolution und vom Sozialismus genau in denselben Ausdrücken spricht, wie Struve oder Isgojew, selbst er ist bereit, eine Opposition zu seiner Majestät zu dulden. Den Quertreibern stellt er die „Loyalen" als Muster vor: „Die sogenannten Radikalen und die sogenannten Gemäßigten haben sich in der Bewilligung der Kriegskredite geeinigt, und auch Andersdenkende haben sich dem Beschluss der Majorität unterworfen. Mit einer geringen Ausnahme." („Zwei Reden", S. 40.) Unter der geringen Ausnahme wird Liebknecht gemeint.

Es gibt Situationen, in denen Quertreiberei, organisierter Bruch mit den ehemaligen Genossen, die sich vom alten Banner losgesagt haben, zur vornehmsten Pflicht des Revolutionärs wird. Wenn eine solche Situation je vorhanden war, so ist es gerade die jetzige Situation der revolutionären Sozialdemokraten in Deutschland. Bebel hat einmal gesagt, wenn die revisionistischen Tendenzen zur Vertuschung des Klassenkampfes auf dem Parteitag die Oberhand gewonnen hätten, würde er sich als erster gegen diese Partei wenden. Jetzt ist etwas viel schlimmeres eingetreten. An die Spitze der einstmals ruhmreichen deutschen Sozialdemokratie haben sich typische vollendete Bourgeois gestellt, wie der Anarchist Herr Heine, gegen den die offizielle Sozialdemokratie kein Wort zu sagen wagt. Die offizielle Sozialdemokratie ist nationalliberal geworden. Und dagegen soll man sich nicht wenden!

Auf die deutschen linken Sozialdemokraten fällt die Pflicht, bei der Erfüllung dieser ehrenhaften und verantwortlichen Aufgabe den ersten Platz einzunehmen. In jedem Lande haben natürlich die linken Elemente selbst zu entscheiden, welches Tempo im Kampf mit dem Sozialchauvinismus eingeschlagen, wann und in welcher Form der Bruch mit ihnen vollzogen werden soll. Aber die Aufgabe bleibt im Grunde genommen überall dieselbe. Die nächste Zukunft der neuen Internationale hängt am meisten vom Kampf der deutschen linken Richtung ab, davon, inwieweit sie sich zusammenschließen, wie entschlossen sie das Tischtuch zwischen sich und den Sozialchauvinisten zerschneiden wird.

Die Frage steht so: Entweder wir erfüllen die Hoffnungen der internationalen Bourgeoisie und lassen die Sozialchauvinisten aller Länder eine nationalliberale Internationale herstellen, mit einem Lippenbekenntnis zu „sozialistischen Idealen" nach dem Programm der Opportunisten, Kautskys und der Bourgeoisie; oder wir erfüllen die Hoffnungen der internationalistischen Arbeiter und schreiten entschlossenen Schrittes zur Schaffung einer sozialistischen Internationale auf Grund des Bruches mit den Opportunisten.

Entweder das gelobte „sozialistische Ideal" der Bourgeoisie, oder das sozialistische Ideal des Proletariats.

21. Mai 1915.

G. Sinowjew.

A Der Artikel ist mit dem Pseudonym „Monitor'1 gezeichnet. Der Herausgeber Delbrück schreibt in einem Artikel in derselben Nummer: „Sicher ist, dass wir einer eingreifenden Umgestaltung, sagen wir Umgruppierung … der Parteien entgegenzusehen haben. Als Zeichen dessen mag es auch gelten, dass die „Preußischen Jahrbücher" einen Beitrag aus der Feder eines Sozialdemokraten haben bringen können.“ („Preuß[ische] Jahrbücher", Band 160, 1915, S. 177). Der betreffende Aufsatz wird von der konservativen Zeitschrift natürlich deswegen gelobt, weil er eigentlich von den Politikern der Bourgeoisie diktiert ist, weil er ein Programm entwickelt, das den Opportunisten und der Bourgeoisie gemeinsam ist.

B Es sei bemerkt, dass schon früher der Sekretär des ehemaligen Vereins zur Bekämpfung der Sozialdemokratie („Reichslügenverbandes"), der als überflüssig aufgelöst wurde in Anbetracht dessen, dass die Sozialdemokratie den „falschen" Weg verlassen habe, Herr Erwin Bulger bereits den Sozialchauvinisten solche Auszeichnungen verliehen hat. In seiner Broschüre: „Die Sozialdemokratie nach dem Kriege" erklärt dieser Herr feierlich, dass die Haltung der offiziellen Sozialdemokratie seit dem 4. August „tadellos und ehrenhaft" sei (S. 8 der Broschüre).

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