G. Sinowjew 19150501 Die Maifeier der Bourgeoisie

G. Sinowjew: Die Maifeier der Bourgeoisie

[„Sozialdemokrat", Nr. 41. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 75-77]

Im Jahre 1914 beging das Weltproletariat zum 25. Mal die internationale Feier des 1. Mai. 1915 verwandelte sich die Maifeier der Arbeiter in eine Maifeier der Bourgeoisie. Es ist schwer, es ist bitter, dies auszusprechen. Aber man muss es eingestehen, damit wir im vollen Bewusstsein des Ernstes der Lage einen Ausweg finden.

Vor uns liegt das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, und wir lesen darin eine kleine offizielle Notiz:

Der erste Mai.

Die bevollmächtigten Zentralinstanzen empfehlen den Organisationen, in diesem Jahr in Anbetracht der besonderen Umstände auf die Arbeitseinstellung am 1. Mai zu verzichten. In Anbetracht dessen werden die Zeitungen am 1. Mai erscheinen. Die Maibeiträge werden nicht erhoben werden. Wo man Versammlungssäle finden kann, empfiehlt es sich, abends Mitgliederversammlungen abzuhalten. Eine besondere Mainummer wird in diesem Jahre nicht erscheinen."

Diese kleine, trockene Notiz wird dem künftigen Geschichtsschreiber unserer Tage von der Lage des Sozialismus, von der Lage der Internationale während des Krieges viel mehr sagen, als Dutzende „beruhigender" Artikel und Broschüren Kautskys.

Die deutschen Patrioten übernehmen wieder die wenig ehrenvolle Initiative zum Verrat des internationalen Banners der Arbeiter. Doch man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass sie – leider Gottes! – nicht die einzigen bleiben, dass ihnen die sozialpatriotischen Franzosen, Engländer usw. folgen werden. Und die Maifeier der Arbeit, die Feier der sozialistischen Hoffnungen, die Feier des Kampfes gegen das Regime kapitalistischer Versklavung, gegen Verelendung und menschenfeindlichen Chauvinismus – wird in diesem Jahre ins Wasser fallen.

Dadurch allein verwandelt sich die Maifeier dieses Jahres in ein Fest der Bourgeoisie. Einmal äußerte der bürgerliche Demokrat Jakoby, dass die Bildung eines beliebigen Arbeitervereins wichtiger sei und mehr für die menschliche Kultur bedeute, als die Schlacht bei Sadowa. Jetzt findet die Millionenpartei des deutschen Proletariats, dass das Gemetzel zwischen Mosel und Maas oder das „erfolgreiche" Blutvergießen in den Beskiden wichtiger sei, als das Abhalten des proletarischen sozialistischen Feiertages von Millionen Arbeitern.

Acht Monate lang währt der Krieg. Die Bourgeoisie hat in dieser Zeit keinen ihrer Feiertage aufgehoben. Die religiösen Feiertage, die Feiertage der Vorurteile und Unwissenheit werden aufs Eifrigste geehrt. Die religiöse Propaganda ist im Zusammenhang mit dem Krieg außerordentlich erstarkt. Der kriegerische Klerikalismus hat sein Haupt erhoben. Bourgeoisie und Reaktionäre tragen reichlich Hoffnung in die Reihen der Soldaten, sowie in die Reihen der unter den Lasten des Krieges zusammenbrechenden, verzweifelnden „friedlichen" Bevölkerung. Aber die sozialistischen Arbeiter sollen in dieser Zeit freiwillig auf ihre Maifeier verzichten!

Der Grad, mit dem die Arbeiter auf die Idee der Feier des 1. Mai reagierten, diente stets als Barometer für ihr sozialistisches Bewusstsein, für ihren Internationalismus, ihre Bereitwilligkeit, Opfer zu bringen und gegen den Kapitalismus zu kämpfen. In diesem Jahr steht dieses Barometer, insofern es sich um die Spitzen der revolutionären Sozialdemokratie handelt, unter Null. Die Sozialisten sind zu Sozialchauvinisten geworden.

Das traurige Bild, das wir am 1. Mai 1915 wahrnehmen, wird als die beste Illustration zur Beantwortung der Frage dienen, wem dieser Krieg nütze. Es unterliegt keinem Zweifel, dass zu den objektiven Aufgaben dieses Krieges – vom Standpunkt der Bourgeoisie – auch gehört: die lawinenartig anwachsende Arbeiterbewegung aufs Haupt zu schlagen, die sozialistische Organisation der Arbeiterklasse zurückzuwerfen und die „rote Gefahr" zu schwächen, die überall gegen die Bourgeoisie der „fortgeschrittenen" Länder anrückte. Aber der 1. Mai 1915 wird der Bourgeoisie die frohe Botschaft bringen, dass es ihr bis zu einem gewissen Grade – zumindest jetzt, zumindest für eine Zeitlang – gelungen ist, diese Aufgabe zu erfüllen.

Die Vertreter der Bourgeoisie waren von Unruhe, ja von physischer Angst erfüllt, als sie die erste Maifeier des Proletariats 1890 erwarteten. Ebenso waren die besten Vertreter der Arbeiterklasse von Freude erfüllt, erfüllt von der kühnen Gewissheit des Erfolges. Fr. Engels wartete voller Spannung auf diese erste Schau der Arbeiterkräfte; er schrieb 1890 an seinen Freund Sorge, dass für das englische Proletariat die Beteiligung an der Feier des 1. Mai eine ganze geistige Revolution bedeute. Und jetzt, nach 25 Jahren fordert die stärkste sozialdemokratische Partei im Namen der bürgerlichen Idee des Burgfriedens die Arbeiter auf, auf die Feier des 1. Mai zu verzichten! Das ist ein Symbol. Das ist eine viel größere Sünde als die Beschießung der Reimser Kathedrale. Das ist der Gipfelpunkt der Lästerung des sozialistischen Banners von Seiten der Sozialchauvinisten. Der Kelch der Schande wird bis zur Neige geleert werden. Ist das nicht ein Fest für die Bourgeoisie?

Ein reaktionärer Schriftsteller hat neulich die Lage der offiziellen internationalen Sozialdemokratie in diesem Kriege mit der Lage der … katholischen Kirche verglichen. Die letztere ist ebenfalls eine internationale Organisation. Aber der Krieg hat ihre internationalen Verbindungen zerrissen und die guten Katholiken Frankreichs gezwungen, gegen die ebenso guten Katholiken Österreichs usw. zu schießen, genau so wie er die deutschen Sozialisten gezwungen hat, mit der Waffe in der Hand die französischen Sozialisten auszurotten, und umgekehrt. Diese Parallele entbehrt im Munde eines Reaktionärs nicht einer gewissen giftigen Wahrheit. Aber die Sozialchauvinisten sind bemüht, die Arbeiterbewegung noch mehr zu degradieren. Immerhin hat die katholische Geistlichkeit nicht gefordert, dass ihre Festtage aufgehoben werden, und in den Weihnachtstagen 1914/15 kamen die Soldaten auf beiden Seiten von selbst überein, einen vorläufigen Waffenstillstand abzuschließen.

Nach dem 4. August 1914 behaupteten einige Abgeordnete des deutschen sozialdemokratischen „Zentrums", die für die Kriegskredite gestimmt hatten, dass sie „die Hölle im Herzen hatten", als sie bei der Abstimmung die Hand erhoben. Aber wird nicht eine wahre Hölle in den Herzen der Proletarier brennen, die am Tage des 1. Mai auf den Kriegsschauplätzen die Waffe gegen ihre Brüder, die Arbeiter der anderen Länder kehren werden müssen? Kann man sich denn etwas Qualvolleres, etwas Tragischeres vorstellen?

Am 1. Mai 1915 rächt sich die Bourgeoisie aller Länder an der internationalen Arbeiterbewegung. Der Verzicht der offiziellen Sozialdemokratie auf die Maifeier ist der Bourgeoisie ebenso viel wert, wie manche gewonnene Schlacht. Es bedeutet den Sieg des bürgerlichen Prinzips und daher – den Festtag der Bourgeoisie aller Länder, ausnahmslos. Aber immerhin: wer zuletzt lacht, lacht am besten. Kann man sich denn vorstellen, dass die Vorhut der Arbeiter noch lange das Joch des Sozialchauvinismus dulden und schweigend alle Erniedrigungen ertragen wird, die der Arbeiterbewegung von den Opportunisten im Bund mit der Bourgeoisie bereitet werden? Ist es denn anders möglich, dass bei der Lektüre des Rundschreibens über die Aufhebung der Maifeier unter dem besten Teil der Arbeiter ein Murren der Empörung laut wird, die Fäuste sich ballen und Flüche über jene erschallen, die die II. Internationale in diese Schmach versetzt haben?

Heute ist Euer Feiertag, Ihr Herren Bourgeois! Aber unser Festtag wird noch kommen. Durch die Lehren des Krieges werden Millionen und Abermillionen von Arbeitern lernen, Euer ganzes niederträchtiges Regime der Gewalt, der Verkäuflichkeit, der Sklaverei und des Blutes zu hassen; sie werden begreifen, dass, wenn sie schon ihr Leben lassen, sie es für unsere Sache, für die Sache des Sozialismus, im Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie und die Regierungen, lassen müssen; sie werden begreifen, dass sie nur in der revolutionären Sozialdemokratie eine zuverlässige Wortführerin ihrer Interessen haben. Und wer weiß, ob die Herren Bourgeois mit derselben gutmütigen Seelenruhe den 1. Mai, sei es auch nur im nächsten Jahre, 1916, begehen werden?

1. Mai 1915.

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