G. Sinowjew 19141205 Die Parole der revolutionären Sozialdemokratie

G. Sinowjew: Die Parole der revolutionären Sozialdemokratie

[„Sozialdemokrat", Nr. 34. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 10-15]

In der gegenwärtigen Epoche der imperialistischen Kriege kann es keine andere Parole der revolutionären Sozialdemokratie geben als die Überleitung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.

Wir haben es mit keiner zufälligen Erscheinung zu tun. Der gegenwärtige Krieg ergab sich unvermeidlich aus allen Verhältnissen jener erlebten Stufe des Imperialismus, die der Kapitalismus durchmacht. Die Sozialdemokraten haben diesen Krieg vorausgesehen. Und es ist nicht der letzte Krieg – im Gegenteil, er wird eine ganze Ära neuer Kriege eröffnen, wenn das Weltproletariat außerstande sein wird, den Bürgerkrieg auf die Tagesordnung zu setzen, wenn wir in absehbarer Zeit nicht Zeugen von revolutionären Massenaktionen sein werden.

Nicht zu reden von jenen Sozialisten, die ihrem Banner untreu geworden und in das Lager der Chauvinisten übergegangen sind. Diese wollen natürlich vom Bürgerkrieg, ja, von irgend einem Klassenkampf überhaupt nichts hören Sie predigen den Burgfrieden wie die Deutschen, mit Verlaub zu sagen Sozialdemokraten oder der bloc national (der nationale Block der Arbeitersozialisten mit der Bourgeoisie, der Sozialisten mit den Reaktionären, der Schafe mit den Wölfen), wie ihn unermüdlich die französischen Sozialpatrioten mit Hervé Vaillant und Sembat an der Spitze predigen.

Aber auch unter den Sozialisten, die sich nicht zu den Chauvinisten geschlagen haben, die Sozialisten bleiben und ihre Pflicht vor der Demokratie erfüllen möchten, hat die Parole des Bürgerkrieges lange nicht eine absolute und einstimmige Anerkennung erlangt. Häufig wird inmitten dieser Sozialisten eine andere Parole ausgegeben. Die Losung der Arbeiter sollte momentan nach der Ansicht dieser Genossen, die Forderung des Friedens um jeden Preis sein.

Angeblich würden sich die Arbeiter aller Länder auf dieser Losung einigen können. Diese Losung (d. h. die Losung des Friedens) sei konkret und klar, mit ihr könne man leicht die Massen mobilisieren. Sie sei außerdem revolutionär, denn wir werden einen demokratischen Frieden fordern, d. h. einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, einen Frieden mit Entwaffnung, einen Friedensschluss unter der Kontrolle der Volksvertreter usw. Und endlich sei diese Losung – sagt man – noch deshalb praktikabel, weil man sie selbst unter den jetzigen Einschränkungen der Presse und Wortfreiheit legal propagieren könne und auch deshalb, weil sie die Massen der nichtarbeitenden Bevölkerung, die ebenfalls die Lasten des Krieges auf ihren Schultern spüren, für sich gewinnen würde.

Wir halten diese Fragestellung für vollkommen unrichtig.

Wenn es in der Tat wahr ist, dass der jetzige Krieg ein imperialistischer Krieg ist, dass der Imperialismus eine ganze historische Etappe in der sich vollziehenden Entwicklung des Kapitalismus bedeutet; wenn es wahr ist, dass der jetzige Krieg eine ganze Epoche wiederholter imperialistischer Kriege eröffnen kann; wenn die Epoche der imperialistischen Kriege uns mit unsagbarem Ungemach bedroht, mit Meeren von Blut und Millionen von Opfern droht, mit der Schwächung unserer internationalen Solidarität droht, auch droht, unsere große Befreiungsbewegung des Proletariats zurückzuschleudern; wenn all das so ist, – und es ist entschieden so, – so müssen wir, revolutionäre Sozialdemokraten, uns doch die Frage stellen: wie soll man gegen das drohende Unheil ankämpfen, wie sollen wir gegen diese kommende Etappe anfechten, wie den verderblichen Folgen vorbeugen, die der erste der „großen" imperialistischen Kriege bereits mit sich gebracht hat.

Wie kämpfen? Dadurch, dass wir während des Krieges Frieden fordern? Und wenn nach einiger Zeit ein neuer imperialistischer Krieg ausbricht, wieder verkünden: Frieden um jeden Preis? Und so in die Unendlichkeit? Jeder Krieg – darunter auch der imperialistische Krieg – muss natürlich einmal mit dem Frieden enden. Und wenn die proletarische Rüstkammer nur die eine Parole „Frieden" aufzuweisen hätte, so hätten wir eine Art Kette ohne Ende. Die imperialistische Bourgeoisie und die dynastischen Cliquen dieser oder jener Länder erzeugen den Krieg. Der Krieg verursacht die schlimmsten Verheerungen. Wir können bloß „Frieden um jeden Preis" fordern. Wenn es im Interesse der regierenden Klassen liegt, geht der Krieg zu Ende, und dann wird „Frieden" geschlossen. Nach einiger Zeit entlädt sich über uns ein neuer imperialistischer Krieg. Die Geschichte geht von vorne an.

Wenn wir jetzt sagen: „Wir fordern Frieden," so haben wir noch nichts darüber gesagt, wie wir gegen die imperialistischen Kriege kämpfen können und müssen, die Kriege, durch die unzweifelhaft die ganze nächste Epoche des sozialpolitischen Lebens gekennzeichnet sein wird. Indes haben wir es gerade mit dieser Frage zu tun.

Es gibt nur eine Antwort darauf: die Organisierung, Propagierung und Vorbereitung des Bürgerkrieges in allen Ländern, wo das Proletariat schon eine einigermaßen ernste Kraft darstellt. „Wenn du den Frieden willst, so bereite den Krieg vor", – ist die Weisheit der bürgerlichen Klassen in der Sphäre ihrer Außenpolitik. Wir, Sozialisten glauben natürlich nicht an den sozialen Frieden bei der kapitalistischen Produktionsmethode. Wir können nicht sagen dass wir „diesen" Frieden anstreben. Aber wir müssen uns sagen: will man eine Einschränkung der Etappe der imperialistischen Kriege, so bereite man den Bürgerkrieg vor. Willst Du dich als Klasse wehren, willst Du deinen Klassengegnern erschweren, Dich in Stücke zerreißen zu lassen, willst Du nicht nur in Worten sondern in der Tat „Krieg dem Kriege" erklären, – dann musst Du auch einsehen, dass unsere Generation sich auf eine ganze Epoche imperialistischer Kriege einstellen muss; dass das Proletariat alles, was es besitzt in die historische Waagschale werfen muss; dass die Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung in den wichtigsten Ländern genügend ausgereift sind, damit wir die Möglichkeit haben, mit unserer Propaganda der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg zu beginnen.

Man betrachte die Losung: „Frieden um jeden Preis" vom Standpunkt der Mächtegruppierung im jetzigen Kriege. Kann nicht diese Losung morgen schon eine reaktionäre Losung sein, für die ein Iswolski und Bethmann-Hollweg eintreten werden? Liegt denn die Vermutung ganz fern, dass wenn (und falls) die Armee Nikolai Romanows endgültig Galizien erdrosseln und die Armee Wilhelms II. endgültig die Schlinge um den Hals Belgiens zuschnüren wird, die Romanows und die Hohenzollern dann sagen werden: Na, einstweilen mag’s genug sein, nun wollen wir Frieden schließen, es lebe der Friede um jeden Preis? Man darf sich von der Gruppierung der Mächte und Dynastien, die wir jetzt sehen, nicht hypnotisieren lassen. Umgruppierungen sind möglich, noch vor der Kriegsbeendigung. Nicht ausgeschlossen ist auch ein baldiger Waffenstillstand zwischen dem russischen Zarismus und dem deutschen Junkertum. Nicht umsonst redet man unter den deutschen einflussreichen Politikern von Anfang an davon, dass ein Krieg zwischen den Hohenzollern und Romanows „widernatürlich" sei. Nicht umsonst haben die deutschen Sozialchauvinisten, die aus purem Missverständnis sich auch jetzt noch Sozialdemokraten nennen, den ominösen „Krieg gegen den russischen Zarismus" aufgegeben und mit der Hetze der deutschen Arbeiter hauptsächlich gegen das „perfide Albion" begonnen. Nicht umsonst hat „Nowoje Wremja"1 darüber Alarm geschlagen, dass in einigen einflussreichen Petersburger „Salons" man sich dem Gedanken zuneige, ein Friedensschluss mit Deutschland sei notwendig. „In der Vorstellung dieser Leute", schrieb kürzlich „Nowoje Wremja", „bildet die russische Macht, ja die Existenz Russlands als Monarchie gewissermaßen eine Widerspiegelung der gewaltigen deutschen Großmacht. Wankt Wilhelm, so fällt auch bei uns alles auseinander unter dem Ansturm des zottigen Intellektuellen".

In welche Lage würden unsere „praktischen" Sozialisten geraten, die die Losung des „Friedens um jeden Preis" verfechten, wenn eine solche, keineswegs unmögliche Sachlage eintreten würde?

Aber, – wird man uns sagen, – wir verfechten doch nicht einfach den Frieden, wir stellen die Losung eines „demokratischen" Friedens auf; und man beginnt uns auch ausführlich die Bedingungen dieses „demokratischen" Friedens aufzuzählen: 1. Friedensschluss nicht durch geheime diplomatische Verhandlungen, sondern vor den Völkern, 2. Verunmöglichung aller Annexionen ohne den Willen der Bewohner der annektierten Gebiete, 3. Entwaffnung sowohl der Besiegten wie der Sieger, 4. Schaffung eines interparlamentarischen Zentrums zur Beratung über die internationalen Konflikte und eine obligatorische Arbitrage. Die Leute, die im Ernst über alle diese schönen Dinge reden, gehen eigentlich, ohne es selber zu merken, vom Glauben an die Legende des letzten Krieges aus. Sie glauben an das naive Märchen, dass wenn der „preußische Militarismus" laut Ansicht der einen, oder der „englische Imperialismus" nach der Auffassung der anderen gebrochen sein wird, es keine Kriege mehr geben wird, die Großmächte abrüsten werden und Frieden auf Erden eintreten wird …

Entweder – oder. Entweder werden im Laufe des jetzigen Krieges revolutionäre Ereignisse eintreten, und dann werden sich die Arbeiter mit „Arbitrage" und ähnlichen Maßnahmen nicht zufrieden geben. Oder die jetzigen imperialistischen Regierungen werden Herren der Situation bleiben, und dann ist es durchaus … naiv, von der „Abrüstung" zu träumen und vom letzten Krieg. Churchill und Lloyd George beim „Worte fassen", die in Meetings dem englischen Kleinbürger einen „demokratischen Frieden" versprechen, oder die Versprechungen Vivianis und Millerands für bare Münze halten, dass sie, falls Frankreich siegen sollte, auf Entwaffnung bestehen würden, – ist keineswegs Realpolitik, obwohl die Männer, die ihre Pläne auf diesen Versprechungen bauen, sich für „Realpolitiker" halten.

So ehrenhaft die subjektiven Wünsche der Verfechter des „demokratischen Friedens" sind, die den Bürgerkrieg in nebelhafte Ferne rücken, – mit Sozialismus und den wahren Aufgaben des revolutionären Proletariats hat ihre Fragestellung sehr wenig gemeinsam. Diese objektiven Wünsche der bürgerlichen englischen Pazifisten Charles Fox, John Bright, Campbell-Bannerman u. a., deren mutiges Verhalten neulich Bernstein in der „Neuen Zeit" erwähnte, waren ebenfalls jeden Lobes wert. Die Vertreter des englischen Liberalismus der alten Schule protestierten mutig gegen den Krieg der Jahre 1792/93, gegen die Beteiligung Englands an der Krimkampagne, gegen den Burenkrieg usw. Sie forderten von Anfang an den „Frieden um jeden Preis". Aber – was den bürgerlichen Pazifisten recht, ist den Sozialisten nicht billig. Und dennoch geraten die Genossen Macdonald und Keir Hardie, einige Mitarbeiter des Pariser „Golos" und andere Genossen gerade auf diesen Pazifismus. Und dadurch berauben sie sich eines großen Teiles des Wertes, der ihren mitunter ausgezeichneten Protesten gegen die Sozialchauvinisten der verschiedenen Länder zukommt.

Es wäre lächerlich zu hoffen, dass mit der Aufstellung der Losung des „demokratischen Friedens" im Vordergrund und der Zurückstellung der Losung des Bürgerkrieges wir imstande wären, momentan „irgendwie" die deutschen und französischen Sozialisten zu vereinigen und dadurch die Wiederherstellung der Internationale zu fördern. Die französischen und belgischen Sozialisten (und diejenigen, die mit ihnen sympathisieren) können die Losung des „Friedens" nicht akzeptieren, solange die Besetzung Belgiens und eines Teils von Frankreich nicht aufgehoben ist. Sie haben von ihrem Standpunkt aus vollkommen recht. Man sieht, dass selbst vom Standpunkt des angeblich „Praktischen" diese Fragestellung keineswegs praktisch ist. Aber die Hauptsache ist etwas ganz anderes. Die Hauptsache ist, dass dadurch, dass wir die geringste Falschheit, die kleinsten Schwankungen in der Frage des Bürgerkrieges zulassen, wir unserer Sache einen ungeheuren Schaden zufügen, wir nicht vorwärts, sondern rückwärts schreiten.

Indem wir die Parole: „Bürgerkrieg" in den Vordergrund rücken, bieten wir nichts neues im Vergleich mit dem, was die Internationale bereits gesagt hat. Die Resolution des Stuttgarter* und des Basler Kongresses sagten nämlich: Die Pflicht der Sozialisten ist, den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg umzuwandeln und – umgewandelt zu haben!

Die offiziellen sozialistischen Parteien Deutschlands und Frankreichs – alle diese Südekum, Haase, Hervé und Konsorten haben 10 Schritte rückwärts von dieser Resolution getan. Aber einen Schritt rückwärts tun auch jene Genossen, die den Chauvinismus tadeln, jedoch die ganze Wichtigkeit der Losung des Bürgerkrieges vertuschen.

Bürgerkrieg bedeutet durchaus nicht militärischen Zusammenstoß, bedeutet nicht jenen spezifischen „Antimilitarismus", dem die Gesamtheit der Erscheinungen fremd geblieben ist und der sich einbildet, dass es ein Allheilmittel gegen den Militarismus als solchen außerhalb des allgemeinen Kampfes um die soziale Revolution gebe. Bürgerkrieg bedeutet nicht, dass wir ihn von heute auf morgen ins Leben rufen können. Aber wir müssen alle wie ein Mann fest glauben, dass diese Aufgabe uns als die nächste, dringendste, alltägliche Kampfesaufgabe bevorsteht. Wir müssen der Gefahr grade ins Gesicht schauen. Gegen uns, gegen unsere Generation von Sozialisten rückt eine Epoche ungeheurer Schwierigkeit heran. Wenn wir Sozialisten bleiben wollen, können wir uns nicht auf die von den bürgerlichen Idealisten übernommenen Losungen „von Fall zu Fall" beschränken. Wir müssen das Banner des Bürgerkrieges erheben. Die Internationale, die ihres Namens wirklich würdig wäre, wird entweder unter dieser Parole wieder auferstehen, oder ist zu einem Vegetieren verurteilt. Unsere Aufgabe ist: uns bereit machen zu den kommenden Schlachten, uns selber und die ganze Arbeiterbewegung in dem Gedanken erziehen, dass wir entweder sterben müssen oder – unter dem Banner des Bürgerkrieges siegen!

G. Sinowjew.

1 Das Organ der russischen reaktionären Kriegshetzer und Chauvinisten unter Führung Suworins.

* Es wird darauf hingewiesen, dass der Stuttgarter Kongress außerdem empfahl, im Kriegsfall eine „schnelle Beendigung" des Krieges anzustreben. Das ist richtig. Aber eine „schnelle Beendigung" kann man verschieden anstreben: sowohl pazifistisch, wie auch sozialdemokratisch. Die Stuttgarter Resolution stellte vor allem die Aufgabe: mit allen Kräften das Volk aufzurütteln und den schleunigen Sturz der Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu fördern. Der richtigste Weg zur „schnellsten Beendigung" der Etappe der imperialistischen Kriege ist eben die mutige, entschlossene Verkündigung der Ära des Bürgerkriegs.

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