1. Je weiter nach Osten …

1. Je weiter nach Osten …

Der Sozialchauvinismus als ein ganzes System von Ansichten geht von einer Reihe von grundlegenden „Prinzipien" aus, die für alle Länder gleich sind. Aber in jedem Lande hat er seine Spielarten und Lokalfarben. Er ist ein Produkt seines „Vaterlandes". Und daher ist es ganz begreiflich, dass der Sozialchauvinismus eines bestimmten Vaterlandes auch umso unsympathischer ist, je feindlicher dem Sozialismus, je räuberischer die Außenpolitik ist, die sein „Vaterland" betreibt und ein je reaktionäreres Regime in der Innenpolitik dieses Landes herrscht.

Jeder Chauvinist, wie immer auch seine eigenen Absichten sein mögen, ist tatsächlich gezwungen, dem gegebenen inneren Regime, der gegebenen Regierung zu helfen, die sein „Vaterland" unterdrückt. Das ergibt sich in der Wirklichkeit sogar in den Fällen, in denen der Chauvinist, der die äußere „Macht"politik seines Landes unterstützt, in Opposition zu dessen Regime steht und gegen die Innenpolitik seiner Regierung kämpfen will. Ein naheliegendes Beispiel bieten die Jungtürken. Sie hassten das alte Regime des Sultans grimmig. Sie bereiteten den Staatsstreich gegen ihn vor und führten ihn durch. Dabei aber waren sie von allem Anfang türkische Chauvinisten und blieben es, sie wollten um keinen Preis die Beseitigung der türkischen Unterdrückung der Slawen zulassen, sie ließen nicht nur den Gedanken der völligen nationalen Unabhängigkeit der slawischen Nationalitäten nicht aufkommen, sondern billigten ihnen nicht einmal eine einigermaßen weitgehende Autonomie zu. Die „Groß"-Türkei war ihr Ideal, und die Größe ihres Vaterlandes erblickten sie in der fortgesetzten Unterdrückung der Slawen. Der jungtürkische Chauvinismus war einer der wichtigsten Gründe dafür, dass es im Jahre 1912 nicht gelungen war, den Balkankrieg zu vermeiden. Der Chauvinismus der Jungtürken versetzte ihr Vaterland in die Lage, in der es sich jetzt befindet. Der Chauvinismus der Jungtürken ist hauptsächlich schuld daran, wir sehen hier von der Schuld des europäischen Kapitals ab, dass in der Türkei mehr und mehr das alte Regime und der Zustand wie unter Abdul Hamid wieder hergestellt wird. Kaum würde sich irgendjemand besonders wundern, wenn im Zusammenhang mit den auswärtigen Schwierigkeiten das alte Regime in der Türkei wieder den vollen Sieg erringen würde. Obwohl der türkische Chauvinismus dem alten Regime im Lande gegenüber revolutionär sein wollte, fördert er tatsächlich dieses Regime.

Was hier vom Chauvinismus im Allgemeinen gesagt ist, gilt auch für den Sozialchauvinismus im Besonderen. Sein „Vaterland" während des Krieges um jeden Preis unterstützen, heißt seine Regierung unterstützen. Denn der Krieg wird von der Regierung und ihrer Armee geführt. Sie entscheidet die Frage, ob Krieg oder Frieden, Das „Vaterland" wird in dieser kritischen Zeit in der Regierung und ihrer Armee verkörpert. Engels sagte in seinem bekannten Artikel über die Außenpolitik des Zarismus, dass jeder Russe, der Chauvinist geworden ist, früher, oder später dem Zarismus huldigen wird. Im Augenblick einer kriegerischen Verwicklung ist das tatsächlich sogar für den „revolutionärsten" Chauvinisten unvermeidlich. Wer die „Größe" seines Vaterlandes chauvinistisch beurteilt, wer glaubt, dass er während des Krieges für den Sieg seines Landes nur darum eintreten muss, weil es „sein" Land ist, wer dem rein chauvinistischen Prinzip right or wrong, my country1 auch nur das kleinste Zugeständnis gemacht hat, der muss im Krieg der Jahre 1914/15 unausweichlich dem Zarismus huldigen. Ganz ebenso, wie in Deutschland der Sozialchauvinist durch die ganze Logik der Dinge dazu gebracht wird, dass er gezwungen ist, der Hohenzollernmonarchie zu huldigen und in Frankreich der Finanzplutokratie der französischen Republik Unterstützung zu leisten. Das wurde ebenso unvermeidlich für Guesde, Plechanow und Kautsky, sobald sie den Weg des Sozialchauvinismus betreten haben. Das Risiko, in die liebeglühenden Arme „ihrer" Regierungen zu sinken, ist das einfache und unvermeidliche Berufsrisiko für alle Sozialisten, die Sozialchauvinisten geworden sind. Und wenn unser vaterländischer russischer Sozialchauvinist dabei in die besonders duftende Gesellschaft eines Menschikow, Purischkewitsch und Struve geraten muss, so ist das schon ein zufälliger Mehrgenuss (etwas wie der Mehrprofit), der sich daraus ergibt, dass in unserem „Vaterlande" noch die absolute Monarchie herrscht, die unter anderen angenehmen Eigenschaften die Eigenschaft hat, die abstoßendsten Auswürfe der Politik und Journalistik um sich zu sammeln.

Je weiter nach Osten, desto feiger und gemeiner die Bourgeoisie, sagte einmal (als er noch Sozialist war) Herr Struve, der nun an seiner eigenen politischen Karriere diese Wahrheit am überzeugendsten illustriert hat. Je weiter nach Osten, desto gemeiner, desto blutdürstiger die Außenpolitik der herrschenden Regierungen, könnten wir jetzt sagen. Und im Zusammenhang damit – desto erniedrigender die Rolle, die dort die Sozialchauvinisten spielen, die jetzt diese räuberischen Regierungen unterstützen, desto schändlicher ihr Verrat an der Sache des Sozialismus und der Demokratie.

Je weiter nach Osten, desto niederträchtiger der Sozialchauvinismus. Um sich von dieser Wahrheit zu überzeugen, genügt es, sich auch nur in knappen Umrissen mit der Außenpolitik des Zarismus vertraut zu machen.

1 Mein Land mag im Recht oder Unrecht sein, ich trete dafür ein.

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