7. Sozialchauvinismus in Russland

7. Sozialchauvinismus in Russland.

Von den Liquidatoren zu den National-Liquidatoren.

Nehmen wir an, das alles sei richtig, – wird mancher Leser sagen, aber was hat das alles mit Russland zu tun? In Russland gibt es ja bekanntlich keinen Revisionismus. Hat doch Plechanow auf dem Londoner Kongress erklärt, dass es „in unserer Partei keine Revisionisten gibt". Und sogar Axelrod selbst hatte dieser Tage, schon nach dem Zusammenbruch der II. Internationale, bestätigt, dass es keinen Revisionismus in Russland gibt.

Es wäre wahrhaft ein Wunder, wenn in unserem Lande, wo das Proletariat numerisch so schwach ist, wo das kleinbürgerliche Element auf jeden Tritt und Schritt fühlbar wird, wo der Kampf nur um die Vollendung der bürgerlichen Revolution geht – wenn es in unserem Lande keine revisionistische, d. h. kleinbürgerliche Strömung gäbe, die sich unbedingt zur Sozialdemokratie gesellen wollte, der einzigen politischen Richtung, die in ihrem Kampf um die politische Freiheit nicht auf halbem Wege stehen bleibt. Leider! Der Revisionismus ist in Russland vorhanden. Und er ist fast ebenso alt, wie die russische Sozialdemokratie selbst.

Natürlich ist der russische Revisionismus nicht in allem mit dem, sagen wir, deutschen Revisionismus identisch. Er hat seine eigenartigen Züge, seine nationalen Besonderheiten. Äußerlich hat er oft den Anschein, „linker" als sein westeuropäischer Bruder zu sein, was durch die allgemeine politische Lage leicht erklärlich ist. Bei uns in Russland trifft man sogar einen Revisionismus mit der „Bombe" (so die Sozialrevolutionäre), einen Revisionismus, der sich an die marxistische Phraseologie klammert (Liquidatoren usw.). Aber er ist da und hat alle Chancen zu gedeihen, denn er hat eine soziale Stütze: das Kleinbürgertum, die Intelligenz und einzelne kleine Gruppen der untergeordneten Angestellten und Arbeiter, die zum Ökonomismus und Trade-Unionismus neigen.

Mit vielen seiner großen und kleinen Züge rückte der russische Opportunismus fest an den klassischen Typus des „europäischen Opportunismus" heran, an den gewöhnlichen schablonenhaften Opportunismus, so wie wir ihn im Westen kennen. Der Kultus der Legalität, die kleinbürgerliche Überschätzung des Parlamentarismus, das angestrengte Suchen nach allgemeinen Berührungspunkten" mit der Bourgeoisie, die Abneigung gegen den Massenstreik, die Predigt des „nationalen" oppositionellen Blocks zur Isolierung der Reaktion, „die liberale Auffassung" der Bewaffnung und des bewaffneten Auftretens der Massen, der Agrarrevisionismus, der bürgerlich neutrale Standpunkt in der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung – alle diese Gattungsmerkmale des Opportunismus im allgemeinen sind unserem vaterländischen, russischen Opportunismus längst eigen. Es fehlte nur ein Merkmal: der Nationalismus, der bürgerliche Standpunkt über die Großmachtaufgaben der eigenen Nation, die Unterstützung der Auslandspolitik seines „Vaterlandes". Jetzt haben wir auch dieses Merkmal. Der Zyklus der Entwicklung ist vollendet. Im Jahre 1914/15 erhielt der russische Opportunismus endgültig seine Kriegstaufe. Die russischen Opportunisten bilden jetzt deutlich eine Filiale, eine russische Sektion des internationalen Opportunismus. Potressow, Plechanow, Tscherewanin erfüllen in Russland dieselbe Mission, wie Südekum, David, Scheidemann, Legien, Heine in Deutschland …

Die Liquidatoren wurden zu National-Liquidatoren. Das ist eine Tatsache von größter politischer Bedeutung für die russische Sozialdemokratie und die russische Arbeiterbewegung. Der Leser weiß aus dem Kampfe der „Prawdisten" mit den „Lutschisten"1, dass wir auch vor dem Kriege pessimistisch genug das Liquidatorentum beurteilten. Aber die Ereignisse übertrafen den allergrößten Pessimismus. Hand aufs Herz, wir müssen gestehen, dass, wenn wir noch so klar den Opportunismus der Liquidatoren beurteilt haben, vor dem Kriege hätten wir nicht geglaubt, dass das ganze Liquidatorentum als Richtung imstande sein würde, im vulgärsten Sozialchauvinismus zu versumpfen. Es hatte den Anschein, dass der Abscheu vor dem elendsten aller Regimes, des Zarenregimes es davor bewahren würde. Es ist doch ein Unterschied, ob man sich mit Poincaré, Asquith, Bethmann-Hollweg aussöhnt oder aber mit Maklakow, Purischkewitsch und Goremykin. O weh! die Tatsachen bewiesen, dass wir noch immer viel zu optimistisch waren.

Der Sozialchauvinismus ist auch in Russland das Ergebnis des Opportunismus, ein Glied in der Kette des russischen Revisionismus. Der Zusammenhang des Sozialchauvinismus mit dem Opportunismus ist für Russland genau so zweifellos wie für Westeuropa. Bemerkenswert ist, dass z. B. Plechanow diesen Zusammenhang ... in Deutschland sehr gut sieht. In seinem überaus schmachvollen Büchlein „Über den Krieg" versteht Plechanow sehr gut, dass die jetzige Politik der deutschen Sozialdemokratie „den größten Triumph des Opportunismus darstellt, dass „wir vor uns einen Revisionismus im Quadrat haben; der revolutionäre Internationalismus verwandelte sich (bei ihnen) in einen nationalen Reformismus", dass vielleicht hier sich am meisten der Sieg des rechten Flügels der deutschen Sozialdemokratie über den linken äußerte" usw. („Über den Krieg", S. 12, 14, 15 u. a.) Die letzten Reste seines ehemaligen marxistischen Gewissens zwingen Plechanow, den Zusammenhang des Sozialchauvinismus mit dem Opportunismus in Deutschland zu sehen. Aber die großen Reserven der sozialchauvinistischen Gewissenlosigkeit zwingen ihn, diesen Zusammenhang in Russland zu übersehenI. Und hinter was für einen kläglichen durchlöcherten Sophismus versteckt sich dazu unser gewesener Marxist und jetziger unfreiwilliger Mitarbeiter der „Nowoje Wremja"? Hinter dem Sophismus, der von allen revolutionären »Sozialdemokraten bis zu Kautsky, als er noch nicht zu Südekums Füßen lag, weidlich verlacht wurde, – dem Sophismus des Defensiv- und Offensivkrieges in der imperialistischen Epoche. Deutschland habe eben das arme zaristische Russland überfallen, dessen Außenpolitik sich immer durch die Sanftmut einer Taube auszeichnete und reiner als der Schnee der Alpenhöhen war! Welche Schmach! Vor zwölf Jahren reichte Plechanow nur einen Finger den zukünftigen Führern des russischen Opportunismus und jetzt musste er schon die ganze Hand dem Sozialchauvinismus hergeben. Man kann sich schwerlich einen tieferen Sturz vorstellen …

Wenn man die Broschüre „Über den Krieg" oder ihren Nachdruck im „Sowremenny Mir'J liest, kann man den Gedanken nicht loswerden: ist es denn wirklich Plechanow. Konnte Plechanow so ernste Fragen mit einer so vulgären Nichtigkeit beantworten? …

Plechanow hat ein einziges „Argument" in seiner ganzen Broschüre sowie in seinem neuesten Aufsatz im Sammelbuch „Der Krieg": Sein „Vaterland" (Russland), sowie auch Frankreich führe einen „Defensivkrieg". Russland wäre angegriffen worden. Und dann „Russland konnte nicht umhin, Serbien zu unterstützen". („Über den Krieg", S. 5.) Als hätte er nie gehört von dem vieljährigen grandiosen Gaunerspiele des „Zarismus" zum „Schutze Serbiens" oder vom Panslawismus überhaupt. Wie ein neugeborenes Kind nimmt er für echt das, was die Demagogie der „zaristischen Gaunerbande" „dem Volke" serviert hat.

Und womit will Plechanow den Defensivcharakter des Krieges von Seiten der Zarenmonarchie beweisen? Untersucht er die Geschichte der Diplomatie in den letzten Jahrzehnten? Wertet er die Mächtegruppierung vor dem Kriege? Untersucht er die Außenpolitik des Zarismus vor und nach dem Jahre 1905? Fragt er nach der Rolle imperialistischer Motive, die wenigstens bei den Bundesgenossen „Russland, Englands und Frankreichs" mitgespielt haben? Erwähnt er auch nur mit einem Wort das Grundmotiv der russischen Politik – das Streben nach der Aufteilung der Türkei?

Nichts dergleichen! Nicht ein Wort, nicht einen Laut! Den „defensiven" Charakter des Krieges seitens Russland „beweist" Plechanow ausschließlich damit, dass am Vorabend des Krieges das Zentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Partei („Vorwärts") in Erfüllung seiner sozialistischen Pflicht die deutsche Regierung angriff und sie überführte, den Krieg provoziert zu haben. Plechanows Verhalten der damaligen ehrlichen Haltung des „Vorwärts" gegenüber ist genau so unehrlich und unverschämt, wie die Handlung Südekums, Eberts und Konsorten gegenüber unseren italienischen Genossen jetzt. Die Italiener stimmen in Erfüllung ihrer sozialistischen Pflicht gegen die Kriegskredite, überführen ihr Vaterland des Imperialismus. Da treten auf die Tribüne die Eberts und Südekums und verkünden: sie sehen, die italienischen Genossen selbst haben anerkannt, dass ihre Regierung imperialistische Ziele verfolgt, die italienischen Sozialisten selbst stimmen gegen die Kredite. Daher … daher stimmen wir für die Kriegskredite, daher unterstützen wir die Imperialisten unseres „Vaterlandes" … Man kann sich schwerlich einen zynischeren, einen schmachvolleren Verrat am Prinzip der sozialistischen Internationale vorstellen.

Wollen wir die Frage des Defensiv- und Offensivkrieges näher betrachten?

Vor 25 Jahren sprach Wilhelm Liebknecht, als er die Epoche der nationalen Kriege im Sinne hatte, vom „gerechten" Krieg und ließ die Teilnahme der Sozialdemokratie an einem solchen Kriege zu. Nach einem Vierteljahrhundert, im Jahre 1915, grub der Sozialchauvinist Plechanow Liebknechts Worte aus, um auszurufen: „nun ja, wir sind auch für den „gerechten" Krieg, und wir, russische Sozialdemokraten, müssen Sr. Majestät dem Zaren und seinem „gerechten" Kriege helfen."K

Also Nikolaus der Blutige, angetan mit dem Nimbus eines Zaren, der einen „gerechten" Krieg führt! Soweit hat es Plechanow gebracht. Man kann sich vorstellen, wie die Zarendiplomaten aus dem „Jesuitenorden"2 sich jetzt über Plechanow lustig machen. Mehr als 30 Jahre war Plechanow unversöhnlicher Feind der Zarenmonarchie. Und jetzt spricht er Sasonow nach: unser Zar führt einen gerechten Krieg. Der Krieg um den Raub der Türkei, um die Unterdrückung Galiziens, um die Eroberung von Millionen neuer „Untertanen", ist ein „gerechter" Krieg. Ich bin noch nicht in den Dienst der deutschen Imperialisten getreten, schreibt Plechanow stolz. Gewiss, dies ist sehr lobenswert. Aber warum behandelt er den Krieg so, als stünde er im Dienste des russischen Zaren und wäre ein „Sozialdemokrat Sr. Majestät"?

Plechanow hat mit seinem Hinweis auf den „gerechten Krieg" uns seine Überführung des Chauvinismus sehr erleichtert. In der Tat, worin besteht das ganze Spiel Plechanows mit dem Kriterium des Defensivkrieges? Darin, dass er zwei Epochen verwechselt – die Epoche der nationalen Kriege und die der imperialistischen.

Konnten „gerechte" Kriege in der Epoche der nationalen Kriege stattfinden? Ja. Die Kriege der großen französischen Revolution waren auch „gerechte*" Kriege.

Und können jetzt, in der imperialistischen Epoche die „gerechten" Kriege Platz greifen?

Ja. Aber nur in zwei Fällen. Der erste Fall ist der Krieg des siegreichen Proletariats, der den errungenen sozialistischen Staat gegen andere Staaten, verteidigt, die das kapitalistische Regime schützen. Der zweite Fall ist ein Krieg Chinas, Indiens und anderer Länder, die Ausbeutungsobjekte des europäischen Imperialismus sind und um ihre Unabhängigkeit gegen die europäischen imperialistischen Regierungen kämpfen.

Aber ein „gerechter" Krieg zwischen den imperialistischen europäischen Regierungen ist unmöglich, weil man sich auch vom Standpunkt ehrlicher Menschen unmöglich einen „gerechten" Kampf zwischen einigen Räubern um die Teilung der gestohlenen Beute vorstellen kann. Jeder andere Krieg, außer der von uns genannten zwei Fälle wird zu unserer Zeit unbedingt kein gerechter, sondern ein „unehrlicher" Krieg der Imperialisten unter sich sein. Ein Krieg der finanzplutokratischen und dynastischen Cliquen, ein Krieg, der dem Proletariat aller Länder stets feindlich ist.

Könnte in „gerechten" nationalen Kriegen die Rede sein vom Kampfe der Bourgeoisie gegen das Proletariat, das den sozialistischen Umsturz auf die Tagesordnung gesetzt hat? Nein. Und in den jetzigen imperialistischen Kriegen, besonders wenn alle europäischen Mächte daran interessiert sind, ist es eine der Hauptaufgaben der internationalen Bourgeoisie.

In zwei Fällen sind also auch jetzt „gerechte" Kriege möglich. Aber im Jahre 1915 handelte es sich weder um den ersten noch um den zweiten Fall.

Man sollte annehmen, dass nur ein Söldner der Bourgeoisie den typischen imperialistischen Krieg von 1914/1915 einen „gerechten" Krieg nennen könnte. Aber nein – Plechanow nennt gerade diesen Krieg einen „gerechten"! Und dabei findet er die „Gerechtigkeit" natürlich auf der Seite „unseres" Vaterlandes.

Wir führen einen „gerechten" Krieg, rufen Südekum und Hindenburg, Nein, wir führen einen „gerechten" Krieg, entgegnen Plechanow und Miljukow.

Dabei berufen sich Südekum und Plechanow auf Liebknecht. Aber mit Liebknecht hat das wahrlich gar nichts zu tun. … Nehmen wir an, dass der Krieg 1914 in der Tat ein Präventivkrieg seitens Deutschlands ist – es gibt viele Gründe anzunehmen, dass dies der Fall ist. Was folgt daraus? Dass sich die Aufgaben der Arbeiter aller Länder in dem Losungswort „Gegen den preußischen Militarismus" erschöpfen sollen?

Durchaus nicht!

Was ist ein Präventivkrieg? Das Wort „Präventivkrieg" beinhaltet, dass auch ein anderes Land sich zum Kriege vorbereite. Die Koalition A. beginnt im Jahre 1914 einen Präventivkrieg gegen die Koalition B., weil sie überzeugt ist, dass die Kriegserklärung seitens der Koalition B. nur eine Frage der Zeit ist und weil ihr der gegebene Moment mehr Erfolg verspricht.

Man kann sich natürlich in Positur werfen und sagen: Aber vom Standpunkte der einfachen Normen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit ist es gar nicht gleichgültig, dass der eine erst angreifen will und der andere schon angegriffen hat; A. packte als erster B. bei der Gurgel, und er kann sich nicht damit rechtfertigen, dass andernfalls in ein oder zwei Jahren es B. wäre, der A. an der Gurgel packen würde.

Gut! Wir stellen uns auf den Standpunkt der einfachen Normen der Sittlichkeit und der Gerechtigkeit. Es ist richtig, dass der Marxismus die Anerkennung der einfachen Normen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit nicht ausschließt, sondern im Gegenteil, sie voraussetzt. Nur müssen Sittlichkeit und Gerechtigkeit nicht dem Kodex der bürgerlichen Imperialisten, sondern dem Kodex des für den Sozialismus kämpfenden Proletariats entnommen sein.

Setzen wir das Beispiel fort: Wenn wir voraussetzen, dass A. ein Räuber und B. der tugendhafteste Mann ist, wie es die Bourgeoisie der Koalition B. behauptet, so gebieten uns die grundlegenden Normen der Gerechtigkeit, dass wir uns natürlich auf A. werfen und B. verteidigen müssen. Oder wenn wir annehmen, dass B. ein berüchtigter Räuber und A. der tugendreichste Bürger ist, wie es die Bourgeoisie der Koalition A. behauptet, so müssen wir uns auf die Seite des A. stellen und gegen B. kämpfen. Der ganze Unterschied zwischen den imperialistischen Kriegen beider Koalitionen besteht ja nur darin, dass jede von ihnen die andere beschuldigt und sich selbst rein zu machen sucht.

Aber stellt Euch für einen Augenblick lang vor, dass wir vom Standpunkte einer ganz anderen Klasse urteilen, nämlich nicht vom Standpunkte der Bourgeoisie A. oder B., sondern vom Standpunkte des internationalen Proletariats.

Das internationale Proletariat ist schon längst überzeugt und hat seine Überzeugung schon tausendmal laut ausgesprochen, dass sowohl A. wie B. Räuber sind. A. und B. schleifen seit Jahren ihre Waffen, um sich aufeinander zu stürzen und einander an der Gurgel zu packen um der Beute wegen, die das Leben ganzer Völker verkörpert. A. wetzte als erster sein Räubermesser, aber B. ist mit dieser ehrenvollen Beschäftigung nicht zur richtigen Zeit fertig geworden. A. überfiel B. hinterrücks unerwartet, als er noch sein Messer wetzte. Vom Standpunkte des Räubers B. sind dadurch die grundlegenden Normen der Gerechtigkeit und Sittlichkeit des räuberischen Gemeinwesens unzweifelhaft gestört.

Aber es fragt sich, ob sich die Sache auch vom Standpunkte aller ehrlichen Menschen wirklich so verhält. Wir glauben es nicht. Wir nehmen an, dass die ehrlichen Menschen nur ein Interesse haben: beide Räuber A. und B. in Ketten zu legen; sowohl denjenigen, der sich beeilte, sein Messer zu schärfen, wie den anderen, der versäumt hat, diese Operation zu beenden, – aus Gründen, für die er selbst nichts kann…

Die Sache steht jetzt also so, dass den Anhängern der Theorie des Präventivkrieges in der imperialistischen Epoche keine andere Wahl bleibt: entweder erklären, dass „unser" Imperialismus gar nicht räuberisch ist, dass „unsere" Imperialisten unschuldige Lämmer sind, und dann unausweichlich den proletarischen Standpunkt verlassen; oder anerkennen, dass vom Standpunkte der Arbeiterklasse jeder Imperialismus die Politik der gewaltsamen Aneignung, Unterdrückung und Räuberei bedeutet, dann aber die Theorie des Präventivkrieges endgültig aufgeben.

Man versuche zum Beispiel, einmal das Kriterium des Präventivkrieges an die Normen des Rechtes und der Gerechtigkeit bei der Teilnahme Italiens am Kriege im Jahre 1915 heranzuziehen! Wo machten die Herren Imperialisten mehr Lärm von der nationalen Verteidigung, von der Befreiung der unterdrückten Brüder (Italia irredenta) und vom gerechten Kriege, als in Italien? Und wo waren diese Phrasen falscher, unehrlicher, heuchlerischer, als eben in Italien? Angeblich führt Italien den Krieg für die Befreiung der von Österreich unterdrückten Italiener. In der Tat – das versteht jedes kleine Kind – führt Italien den Krieg um die Unterwerfung von Millionen von Slawen.

In Italien ist der Wechsel zweier Epochen so augenscheinlich, dass ihn selbst ein Blinder sieht. Die italienischen Kriege der früheren Epoche gegen Österreich waren „gerechte", nationale Kriege. Die italienischen Kriege dieser Epoche, – mit der Türkei wegen Tripolis, mit Österreich wegen Albanien, Dalmatien, Istrien, der Häfen an der Adria, die Kämpfe um die Trinkgelder in Kleinasien und Afrika, die Frankreich und England den italienischen Imperialisten versprochen hatten, – das alles sind „unehrliche" Kriege, Kriege einer imperialistischen Epoche.

Nirgends sind die Traditionen der nationalen Kriege so lebendig, wie in Italien. Hier füllten die nationalen („gerechten") Kriege jahrzehntelang das ganze öffentliche Leben aus. Dann ging aber ein durchgreifender Umschwung vor sich. Die Epoche der nationalen Kriege wechselte mit der Epoche der imperialistischen Kriege ab. Aber die Bourgeoisie und die Regierung wollen ihrem „Glücke" nicht entsagen. Warum sollen sie denn die Volkstraditionen nicht ausnützen, warum soll man den unehrlichen, imperialistischen Krieg nicht mit der Ideologie des gerechten, nationalen Krieges umkleiden? Das ist doch das einzige Mittel, den Heroismus der Massen zu wecken, sie zu zwingen, Opfer auf dem Altar des Imperialismus mit Enthusiasmus zu bringen. Denn wüssten die Volksmassen die ganze Wahrheit, würden sie sich nicht selbst die Schlinge um den Hals werfen. Daher ist es für die italienischen Imperialisten eine dringende Notwendigkeit, ihren Krieg als einen gerechten, nationalen Krieg, als einen Verteidigungs- und Befreiungskrieg hinzustellen. Wenn der unwissende Kleinbürger und Mittelständler sich von den italienischen Imperialisten betrügen lässt, so sind sie Opfer. Wenn aber Bissolati, Mussolini, Plechanow und Konsorten den Massen einreden wollen, dass Italien jetzt einen „gerechten" Verteidigungskrieg führe, so sind sie Betrüger, sie begehen ein ungeheuerliches Verbrechen vor dem „heiligen Geist".

Einfache Normen des Rechtes und der Gerechtigkeit! Man versuche doch, sie in dem Verhalten Italiens zu finden.

Die diplomatische Methode Italiens in der neuesten Epoche des Imperialismus hat alle Chancen, „Schule zu machen". Die Imperialisten eines Reiches stellen große geschichtliche Forderungen an die Imperialisten eines anderen Reiches, aber sie sind außerstande, durch Waffen die Befriedigung dieser Forderungen zu erreichen. Allein sind sie zu schwach, und selbst im Verein mit den Feinden ihrer Feinde nicht stark genug. Daher greifen sie zu folgender Methode. Sie schließen sich ihren Feinden an und treten mit ihnen in ein Bündnis. Jahrzehntelang werden sie als Bundesgenossen betrachtet, um im entscheidenden Momente vom Bündnis abzufallen, und somit die Kraft des Freund-Feindes um die „Hälfte" zu vermindern. Denn nicht nur, dass dem Dreibund die Million italienischer Soldaten fehlte, Italien verwendete diese Million Soldaten gegen Deutschland und Österreich, was für diese Länder einen Ausfall von zwei Millionen Soldaten bedeutete.

Erinnert Ihr Euch, wie der russische adelige Dichter Alexei Tolstoi den hinterlistigen Verrat der Österreicher an ihrem Bundesgenossen – Russland – im Krimkrieg brandmarkte:

Wer mein Freund war, der bleibt es immer,

Und meine Liebsten lass ich nimmer,

Dem Bundesgenossen meine Hilfe sicher ward

Nach guter österreichischer Art."3)

Die Dichter des jetzigen Deutschland und Österreich könnten in ähnlichen bissigen Versen den Verrat und die Hinterlist Italiens brandmarken. Statt „nach österreichischer Art" könnten sie mit bitterer Ironie ausrufen: „nach italienischer Art"! Diesen Streit der Imperialisten untereinander könnten wir verstehen. Sie haben das Recht, einander Vorwürfe zu machen und über einander zu urteilen vom Standpunkte der grundlegenden Normen ihres Rechtes und ihrer Sittlichkeit. Aber wie können wir Recht und Sittlichkeit dort suchen, wo es nur Blut und Schmutz, Eigennutz der Sklavenbesitzer und imperialistische Räuberei gibt? Ist es denn nicht klar, dass die Partei der Sklavenhalter ihre Normen des Rechtes und der Sittlichkeit hat, die ganz verschieden sind von denen der Sklaven aller Nationalitäten?

Nach italienischer Art! – das ist das Losungswort der Kapitalisten aller Länder. In ihrem Munde bedeutet es folgendes: es gibt keinen Betrug und Verrat, keine Lüge und Räuberei, keine so scheinheilige Hinterlist, zu denen wir nicht fällig wären, wenn es gilt, in Afrika oder Asien etwas zu „mausen", wenn es gilt, neue Einflusssphären für die Cliquen des Finanzkapitals zu erobern.

Aber zum Glücke kann auch das internationale Proletariat das Losungswort „Nach italienischer Art" sich zu eigen machen. Denn die Sozialisten in Italien zeigten uns, wie die Vertreter unserer Klasse, wie das Proletariat zu handeln hat. Die Partei der Lohnsklaven in Italien hat die Partei der Sklavenbesitzer nicht unterstützt, sondern stellte sich ihr mutig entgegen.

Das Kriterium des „Verteidigungskrieges" hat schon lange seine Zeit verwirkt. Aber wäre das nicht längst vor dem Kriege 1914/15 geschehen, so müsste es dieser Krieg begraben, unabhängig von der Vergangenheit.

Was zeigte dieser Krieg? Wer appellierte an das Kriterium des Verteidigungskrieges? Alle und niemand! Alle, denn die Imperialisten aller Länder, die Diplomaten und die Regierungen aller Völker, die Gauner der „großen" europäischen Presse aller Zungen nahmen zu ihm Zuflucht, um ihre Eroberungspolitik zu rechtfertigen. Niemand, denn keiner nahm dieses Kriterium ernst.

Und die Internationale selbst! Wurde sie durch dieses Kriterium vom Zusammenbruch gerettet, konnte sie gerettet werden? Alle offiziellen, sozialchauvinistischen Parteien versichern, dass sie sich streng nach dem Kriterium des Verteidigungskrieges richten. Die Deutschen und die Franzosen, die Österreicher und die Italiener, sie alle versichern, dass sie den Grundsatz des Verteidigungskrieges heilig wahren. Wer von ihnen hat Recht? Sie haben alle Recht und niemand – Unrecht. Denn der Grundsatz selbst taugt jetzt nichts mehr. Was für einen Nutzen hat das Proletariat von der Anwendung der Theorie des Verteidigungskrieges, wenn die Folge davon jener Zusammenbruch der II. Internationale war, der die sozialistischen Parteien im Kriege zu einem Faktor machte, mit dem man nicht mehr rechnete?

Und das kann auch nicht anders sein, solange wir ein Kriterium, das für die eine Epoche taugt, auf eine ganz andere Epoche übertragen. „Vulgus non distinguit“4 – zitiert Plechanow Feuerbach. Das ist es eben! Deswegen erscheinen Sie eben als vulgärer Chauvinist, da Sie keinen Unterschied machen wollen zwischen der Epoche der nationalen Kriege, die schon im Jahre 1871 ihr Ende nahm, und der jetzigen Epoche der imperialistischen Kriege. Zwischen den europäischen Großmächten, die alle gleich imperialistische Politik betreiben, gibt es keine und kann es keine „gerechten" Kriege geben. Der Dreibund und die Tripleentente waren die zwei wichtigsten Mächtegruppierungen, die den ganzen Gang der europäischen Politik bestimmten. Und diese beiden Gruppierungen sind entstanden, lebten und wirkten im Zeichen des Imperialismus, sodass nach der richtigen Bemerkung Kautskys heute die eine Regierung als angreifende auftritt, morgen die andere und umgekehrt.

Bei einer solchen Lage der Dinge waren sogar die Sozialisten, die nicht einfach „ihrer" Regierung nach dem Mund redeten, sondern ehrlich bestrebt waren, das Kriterium des Verteidigungskrieges anzuwenden, gezwungen, hilflos von einer Seite auf die andere zu pendeln.

Diejenigen, die bis jetzt das Kriterium des Verteidigungskrieges für richtig hielten, müssten sich jetzt, wenn sie fähig wären aus der Geschichte zu lernen, sagen: „Bis jetzt hielten wir uns an dieses Kriterium und haben eine noch nie dagewesene unerhörte Schmach erlitten. Alles, was ihr wollt, nur nicht die Wiederholung des Alten. Alles was ihr wollt, nur nicht die Schmach vom Jahre 1914/15, die uns dazu brachte, dass wir, indem wir das Kriterium des Verteidigungskrieges anwendeten, zu Verrätern an der Arbeitersache wurden, zu Agenten der Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse!"

Es gab eine Zeit, da auch Plechanow einsah, dass man mit dem Kriterium des Verteidigungskrieges nicht weit kommen wird. Im August 1900 schrieb er:

Nicht weniger dogmatisch ist auch die Auffassung, dass wir Sozialisten mit einem reinen Verteidigungskriege sympathisieren können. Eine solche Meinung ist nur vom Standpunkte des konservativen (Kursiv des Verfassers) suum cuique (jedem das seine), richtig und das internationale Proletariat, das sich konsequent an diesen Standpunkt hält, müsste mit jedem Kriege sympathisieren – ob Verteidigungs- oder Angriffskrieg, das ist einerlei (Kursiv von uns), insofern er nur irgend ein Hindernis aus dem Wege der sozialen Resolution zu räumen verspricht."L

Plechanows Terminologie ist nicht genau. Er macht keinen Unterschied zwischen dem Verteidigungskrieg im diplomatischen und im geschichtlichen Sinne. Aber jedenfalls ist es klar, dass er das Ungenügende und Falsche der „Theorie des Verteidigungskrieges" anerkennt, die er jetzt wieder als Alpha und Omega des sozialdemokratischen Denkens hinstellt. Ob Verteidigungs- oder Eroberungskrieg, das ist ganz gleich, sagt Plechanow. Nur ein Dogmatiker kann glauben, dass die „Verteidigung" oder der „Angriff" die Sache entscheiden. Für uns Sozialisten ist nicht das das Entscheidende. Für uns sind die Interessen der sozialen Revolution entscheidend.

Das ist himmelweit von dem entfernt, was der Plechanow „neuen Schlages" jetzt propagiert. Man versuche die soeben angeführten Worte Plechanows auf den jetzigen Krieg anzuwenden, und seine heutige „Theorie" wird sofort wie ein Kartenhäuschen zusammenfallen. Im Jahre 1905 meinte er: ob Verteidigungs- oder Angriffskrieg, das ist gleich; nicht das bestimmt unsere Meinung. Im Jahre 1915 baut Plechanow seine ganze Position ausschließlich darauf, dass „wir" einen Verteidigungskrieg führen.

Im Jahre 1905 sagt man uns, dass wir nur mit dem Kriege sympathisieren müssten, der irgendein wichtiges Hindernis auf dem Wege der Revolution zu beseitigen verspricht. Und jetzt? Welches Hindernis auf dem Wege der sozialen Revolution wird beseitigt, wenn Galizien, Armenien, Konstantinopel, Persien in die Hände der russischen Imperialisten fallen werden … Durch die imperialistischen Kriege wird der endgültige Zusammenbruch des Kapitalismus unzweifelhaft näher gerückt, und in diesem Sinne beseitigen die Kriege die Hindernisse auf dem Wege der sozialen Revolution. Wenn Plechanow, so wie Guesde im Jahre 1885 getan hat, diese Kriege, soweit sie die soziale Revolution näher rücken, „begrüßen" würde, wäre er ein Sozialist und nicht ein Chauvinist.

Plechanow hat im Jahre 1905 auch über „Vaterlandsverteidigung" andere Ansichten vertreten. Damals erschienen ihm die Worte des „Kommunistischen Manifestes": „Die Arbeiter haben kein Vaterland", nicht als „Hervéismus", damals fand er, dass diese These „zur Grundlage der ganzen internationalen Politik des sozialistischen Proletariats" gemacht werden muss. Damals fand er, als er gegen Jaurès polemisierte, dass Jaurès' Argumente an den Sophismus erinnern, zu dem die bürgerlichen Ökonomen greifen, wenn sie behaupten, dass die Vernichtung des Kapitals gleichbedeutend wäre mit der Vernichtung der Produktion.

Das Kapital", schrieb Plechanow, „das ist eins, und die Produktionsmittel – das ist etwas ganz anderes. So sind auch die kulturellen Errungenschaften eines Volkes, seine Zivilisation, etwas ganz anderes, als das „Vaterland". Als notwendige Vorbedingung des Kapitalismus dient das Fehlen von Produktionsmitteln bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Ebenso ist die notwendige psychologische Bedingung für die Liebe zum eigenen Vaterland eine Missachtung der Rechte der fremden Vaterländer, was Jaurès selbst als Geist der Exklusivität bezeichnet. Und wenn das revolutionäre Proletariat in der Tat „alle Freiheiten befreien" soll, so muss es sich schon aus dem Grunde allein über die Idee des Vaterlandes erheben.“ (Kursiv ist überall von Plechanow.M)

Das ist etwas ganz anderes, als das, was Plechanow jetzt schreibt.

Mehr als das. Im Jahre 1905 zeigte Plechanow sogar ein gewisses Verständnis für den Unterschied, der zwischen der Epoche der nationalen Kriege und der Epoche des Imperialismus besteht, während es jetzt scheinen könnte, als ob Plechanow sich nie darüber Gedanken gemacht hätte, was Imperialismus bedeute.

Im Jahre 1905 schrieb er: „Der reine Patriotismus ist nur unter zwei Bedingungen möglich. Erstens setzt er einen unentwickelten Klassenkampf und zweitens das Fehlen jeder großen und auffallenden Ähnlichkeit in der Lage der unterdrückten Klassen zweier oder einiger „Vaterländer" voraus. Wo der Klassenkampf einen so schroffen revolutionären Charakter annimmt, dass er die alten, von früheren Generationen überlieferten Begriffe zerstört, wo die unterdrückte Klasse sich außerdem leicht überzeugen kann, dass ihre Interessen denen der bedrückten Klassen fremder Länder sehr ähnlich und den Interessen der herrschenden Klasse ihres eigenen Vaterlandes entgegengesetzt sind, dort verliert die Idee des Vaterlandes in hohem Maße ihren früheren Zauber."N

Eben! Jahrzehnte arbeiteten die revolutionären Marxisten, um den Zauber der Idee des Vaterlandes zu zerstreuen, indem sie die Arbeiter auf die „auffallende Ähnlichkeit in der Lage der unterdrückten Klassen zweier oder einiger Vaterländer" hinweisen. Und jetzt, als die Imperialisten aller Länder sich der Idee des Vaterlandes bemächtigten, um die Arbeiter aller Länder zu belügen, jetzt begann auch der gewesene Marxist Plechanow, „die Idee des Vaterlandes" zu propagieren. Welch ein Umschwung mit Gottes Hilfe! … Von Marx und Engels zu Südekum und Heine – das ist der Weg, den der wichtigste Vertreter des russischen Sozialchauvinismus zurückgelegt hat.

Indem Plechanow die „Theorie" Südekums und Heines auf die russischen Bedingungen anwendet, tadelt er voller schwarzen Undanks seine eigenen Lehrer. Aber diese letzten zeigen ihrem widerspenstigen Schüler gegenüber eine viel größere Großmut. Sie notieren mit Freude seine Erfolge in der Wissenschaft des Sozialchauvinismus. Sowohl David (s. sein Buch, S. 152), wie Legien (s. seine Broschüre „Warum müssen die Gewerkschaftsfunktionäre sich mehr am inneren Parteileben beteiligen?" S. 17) und Heine (s. seine Broschüre „Gegen die Quertreiber" und seinen Artikel in den „Sozialistischen Monatsheften") und Keil (s. seine Broschüre „Das deutsche Volk im Kriege") und Kampffmeyer („Sozialistische Monatshefte" 1915, II, S. 80) und Hugo Poetzsch („Sozialistische Monatshefte" 1914, Heft 20, S. 12-25) – alle diese heutigen Lehrer Plechanows erklären mit Vergnügen, dass sie auf einem Boden mit diesem „Marxisten" stehen, sie alle loben ihn und tragen ihn auf den Händen trotz seiner Unhöflichkeit ihnen gegenüber. Warum das? Weil sie wissen, dass der Krieg vorübergehen, aber die Frage der beiden Richtungen vom Berg und der Gironde in der modernen Arbeiterbewegung bleiben wird. Und sie verstehen sehr wohl, dass derjenige, der heute in Russland den Sozialchauvinismus verteidigt, morgen Hand in Hand mit dem europäischen Revisionismus gehen muss, um im entscheidenden Augenblicke als Girondist aufzutreten und die Revolution der Arbeiterklasse preiszugeben…

Alles, was über Plechanow gesagt wurde, stimmt ganz und gar auch für den bedeutendsten theoretisch-politischen Stab des Liquidatorentums. Plechanow erscheint jetzt mehr denn irgendjemand als Theoretiker des nationalen Liquidatorentums. Und die Zeitschrift „Nasche Djelo" hat sich beeilt, das öffentlich zu erklären. „Plechanows Ansichten über den Krieg stimmen in vieler Hinsicht mit den Ansichten der Redaktion überein", schreibt „Nasche Djelo" (1915. Nr. 2, S. 103).

Der russische Sozialchauvinismus ist mit dem Liquidatorentum sowohl durch die Erbfolge der Ideen, wie auch durch die der Personen und Organisationen verbunden.

Die wichtigste politische Idee des Liquidatorentums war unzweifelhaft die Ansicht, dass die bürgerliche Revolution in Russland schon vollendet sei, dass unsere Entwicklung jetzt „preußisch" vor sich gehe, dass die Aufgabe der Arbeiterklasse nicht in der Vorbereitung einer neuen Revolution bestehe, sondern im Kampfe um Teilreformen im eigenen Interesse und die konstitutionelle Konsolidierung des russischen Lebens auf dem Boden des gegebenen Regimes. Der Sozialchauvinismus führt diesen ideell-politischen Faden weiter. An welche neue demokratische Revolution in Russland kann in der Tat derjenige denken, der den Sieg der Zarenarmee in diesem Kriege gutheißt? Wer versteht denn nicht, dass ein solcher Sieg die Zarenmonarchie stärken würde, wie nichts anderes auf der Welt? Vom Siege „Russlands" kann man eine gewisse Stärkung der Bourgeoisie erwarten und damit, mit einem gewissen Recht, auch eine Befestigung der Oktober"konstitution". Nur eins – bei sonst gleichen Bedingungen – ist unmöglich vom Siege zu erwarten, nämlich die Verbesserung der Chancen für eine siegreiche demokratische Revolution. Seine Sympathie und seine Hilfe dem Zaren in diesem Kriege angedeihen zu lassen, bedeutet im besten Falle, seine Kräfte für den Kampf um die Konstitution gegen den revolutionären Weg hergeben. Die ganze Bourgeoisie, bis zu den „linken" Liberalen, versteht ihre Aufgabe ebenso. Sie lässt sich in ihrer Unterstützung des Krieges, abgesehen von anderen Erwägungen, auch davon leiten. Und die Liquidatoren verbleiben bei derselben politischen Orientierung. Die subjektiven Wünsche der einzelnen Persönlichkeiten sind belanglos. Und das politische Liquidatorentum erfüllt zweifellos eben diese bürgerlich-liberale Aufgabe. Schaut Euch z. B. das Auftreten unseres gewesenen Genossen und Freundes, des jetzigen offenen Liquidatoren N. A. Roschkow an. Im „Sowremenny Mir", der im Geiste Plechanows und „Nowoje Wremja" geschrieben wird, schreibt er:

In unserem Vaterlande steht jetzt auf der Tagesordnung der Übergang zum wirklichen Kulturkapitalismus, dem die rohe Raubgier fremd ist, und die Entwicklung zu freieren Staatsformen, die dem Kapitalismus mehr entsprechen. Und in Erwartung dessen ist die Fahne der nationalen Entwicklung erhoben. Im Speziellen drücken sich diese objektiv-notwendigen Aufgaben schon jetzt deutlich aus in der Abschaffung (?) des Weinmonopols, in der unbedingten Notwendigkeit der Einkommensteuer, in der feierlichen (!) Verkündung der Reformen in Polen." („Sowrem. Mir", 1915, S. 53.)

Da haben wir das typische Urteil eines ehrlichen und aufrichtigen Nationalliquidatoren. Auch vor dem Kriege meinte Roschkow offen, dass in „unserem Vaterlande" der Übergang zum „Kulturkapitalismus" und den uns eigenen „freieren Staatsformen" auf der Tagesordnung stehe. In gewöhnlicher menschlicher Sprache heißt dies: Nicht Revolution, sondern Konstitution! So sagte Roschkow ganz einfach: Wir dürfen „nicht einmal an Gewaltanwendung" und Revolutionskampf denken; der Weg zum „Kulturkapitalismus" und zur „freieren Konstitution" geht durch Teilreformen. Das war der reinste, ungeschminkteste Reformismus in seiner Anwendung auf die russischen Verhältnisse.

Nun kam der Krieg. Und Roschkow spinnt den Faden des Liquidatorentums logisch weiter. „In Erwartung dessen" (der Konstitution und des Kulturkapitalismus) ist „die Fahne der nationalen Entwicklung erhoben". Von wem ist sie erhoben? Klar: von Miljukow, Plechanow, Potressow, Struve, Roschkow. Denn gerade sie erwarten vom Kriege und Siege Russlands die nationale Entwicklung des Kulturkapitalismus (eines „wirklichen" Kapitalismus, wie sich Roschkow ausdrückt) und einen freieren konstitutionell-rechtlichen Rahmen für ihn. Wenn Plechanow, Maslow, Potressow und Roschkow sich dabei noch auf Marx und den Marxismus berufen, – umso besser für Miljukow und Struve, denn diese „Marxisten" verteidigen ihre, die nationalliberale Sache… Aus den konkreten „Reformen", die der Nationalliquidator Roschkow so feierlich aufzählt, wird die Sache noch klarer. Die Abschaffung (die Einstellung – nicht Abschaffung!) des Weinmonopols, die Einkommensteuer (die man übrigens erst für die ferne Zukunft in Aussicht zu stellen versprach), die feierliche Verkündigung von Reformen in Polen (die mehr einem neuen, feierlichen Betrug ähnlich schaut), das alles geht ja keinesfalls über die Grenzen der liberal-bürgerlichen Klasse. Wo ist hier auch nur die Spur einer revolutionären Lösung der Fragen des russischen Lebens, die in den Jahren 1912-1914 von Millionen Arbeitern, den Teilnehmern an revolutionären Streiks, von neuem auf die Tagesordnung gestellt wurden? …

Nascha Sarja" und „Nasche Djelo", die den Grundstock der Nationalliquidatoren in Russland bilden, sind in ihren Schlussfolgerungen (der unbedingten Absage an den Kampf für was immer, außer für die Konstitution und für den „Kulturkapitalismus") nicht so offenherzig. Aber die Gesamtsumme der Ideen ist dieselbe.

Wir erklären Ihnen, dass wir bei unserer Tätigkeit in Russland dem Kriege nicht entgegenwirken", schreibt die bedeutendste Gruppe der Liquidatoren in Russland an Vandervelde. Sie sagen nicht: Wir fördern …, wie vielleicht der aufrichtige Roschkow gesagt hätte. Sie sagen nur (nur!): Wir wirken nicht entgegen. Aber Miljukow und Purischkewitsch sind für den Anfang auch damit zufrieden.

Ein Sieg Deutschlands ist entscheidend für die ökonomische Abhängigkeit und Ausbeutung Russlands, dagegen garantiert ein Sieg des englischen „Imperialismus" die volle (!!) Freiheit der Verträge und die volle (!!!) Befreiung von der Zwangsausbeutung des Landes". Wenn die Zarenarmeen nicht siegen, das heißt, Galizien nicht erstickt und Konstantinopel bei den Türken verbleiben wird, so muss es, sehen Sie, unweigerlich „Russlands ökonomische und politische Entwicklung aufhalten". „Deutschland will Russland in eine Kolonie verwandeln, indem es seine Zölle ändert, seine Industrie vernichtet" (!) usw. So schreibt der Nationalliquidator Herr Maslow. („Die ökonomischen Ursachen des Weltkrieges" (russ.) Moskau 1915, S. 41-42.)

Europa hat sich gegen den preußischen Militarismus erhoben" und damit ist der „Zusammenbruch des preußischen Junkertums in diesem Kriege garantiert", stimmt Herr Tscherewanin ein („Nascha Sarja" 1914, 7-9, S. 103-108).

Ein dritter bedauert, dass Jaurès jetzt nicht im Ministerium Briand sitzen kann, um die Interessen der Demokratie und der Arbeiterklasse zu verfechten.

Wäre er am Leben, säße er sicher zusammen mit seinem ständigen Antagonisten in den Fragen der Taktik, Jules Guesde, in der Regierung als Delegierter „vom Proletariat" und würde mit ihm zusammen die Interessen der Demokratie und der Arbeiterklasse verteidigen", so schreibt Herr W. Lewitzki „selbst" (Ibid. 110).

Ein vierter versichert: „Die Wahrung der Perspektive verlangt die Anerkennung, dass der preußisch-deutsche Typus außer den allgemeinen Sünden der modernen Entwicklung noch seine eigenen spezifischen Sünden hat." (Und die Zarenmonarchie hat sie nicht??) Derselbe Herr A. P-w wiederholt die Methoden aller sozialchauvinistischen Falschmünzer, die an dem imperialistischen Krieg das anwenden, was Marx und Engels in Bezug auf die nationalen Kriege einer ganz anderen Epoche schrieben, und belehrt die russischen Arbeiter, dass sie im Interesse der Demokratie, der Kultur, der Zivilisation, des Sozialismus, des Marxismus usw. usw. für den Sieg des Zaren eintreten müssen und also dem Oberstkommandierenden Nikolai Nikolajewitsch Romanow „nicht entgegenwirken" sollen („Nasche Djelo" Nr. 1).

Ein fünfter, Herr Smirnow, erklärt, dass nach dem Kriege die Sozialdemokratie ihr Verhalten zum Militarismus überhaupt revidieren und aus einer prinzipiellen Gegnerin zu einer Anhängerin werden müsse. („Russk. Wjedom.")

Und endlich erscheint Nummer 3 und 4 von „Nasche Djelo", das allen Schwankungen ein Ende macht. Das, was Herr A. P-w verschleiert sagte, das verkünden die Herren W. Lewitzki und P. Maslow ganz offen, mutig, ohne das geringste Zaudern.

Im Kriege müssen die Sozialisten „Partei ergreifen" für eine Koalition der Mächte – verkündet Herr Lewitzki. Und er „ergreift" resolut die Partei des Dreibundes. Sie (die Demokratie) kann im gegebenen geschichtlichen Moment nur die Partei des Dreibundes ergreifen." (S. 68.) „Die belgischen und französischen Sozialisten haben dadurch, dass sie sich auf den Standpunkt der Vaterlandsverteidigung gestellt haben, sich nicht gegen die Prinzipien der „Internationalität" versündigt." (S. 67.) Die bekannte chauvinistische Resolution der Londoner Konferenz, die von Vandervelde und Sembat abgefasst wurde, verbindet nach der Meinung des Herrn Lewitzki „die Aufgabe der Vaterlandsverteidigung … mit den Prinzipien der internationalen Entwicklung." (S. 71.) Die Sozialisten, die nicht so wie Herr Lewitzki der Meinung sind, dass es sich um die „grundlegende Frage" handelt – der Sieg welcher Koalition vorzuziehen sei, werden als „Anarchisten, Syndikalisten und Hervéisten" gestempelt. (S. 68, 65.) Diese Sozialisten streben „nach allgemeinen Endzielen, abgesehen von den Teilaufgaben des heutigen historischen Tages, die die Geschichte gestellt und die der Weltkrieg scharf in den Vordergrund gerückt hat." (S. 62.)

Nicht weniger entschlossen ist auch Herr Maslow. Zum Trost für Martow meint er, dass die jetzige Scheidung im sozialistischen Lager nur eine „vorübergehende Scheidung" sei (S. 47), die die übelgesinnten „Liebhaber von Spaltungen und Scheidungen" (S. 48) zu vertiefen suchen. Aber er selbst vertritt den reinsten Sozialchauvinismus im „Geiste Kautskys". Seine Losung ist: „die prinzipielle, ständige Position des Selbstschutzes … um derselben Interessen bei allen anderen Ländern". (S. 50.) Er billigt vollkommen die „scharfsinnigen" und „richtigen" Erklärungen Plechanows. (S. 52.) Er verlacht die Sozialisten, die sagen, dass alle sozusagen „gleiche Raufbolde sind, und dass man den Unschuldigen vom Schuldigen nicht unterscheiden kann". (S. 52.) Ganz im Geiste Cunows und Davids sagt er von den Marxisten, dass sie „eine rein syndikalistische Schlussfolgerung ziehen von der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit, schon jetzt (Kursiv von Maslow) in die neue ökonomische Ordnung, d. h. in den Sozialismus hineinzuspringenO). (S. 51.)

Sie kriechen nicht so offen vor der Zarenbande wie es Südekum und Heine vor „ihrer" Regierung tun. Aber wartet nur, das kommt noch. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Vorläufig ist die Zarenbande so heillos dumm, dass sie sogar ihren besten Freund, Herrn Struve, unlängst zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt hat. Ihr genügt nicht der Chauvinismus im Geiste Struve-Potressow, sie möchte unbedingt den reinen Chauvinismus im Geiste der ,Nowoje Wremja" haben.

Übrigens, schon jetzt mangelt es nicht an kriechenden Sozialchauvinisten.

Da ist z. B. Herr N. Jordanski, der nächste Gesinnungsgenosse Plechanows. Bis zu welcher Gemeinheit muss einer gelangen, um imstande zu sein, voller Entzücken in einer „marxistischen Zeitschrift" zu schreiben:

Sogar in den Regierungskreisen ist, wie es verlautet, der Vorschlag aufgetaucht, die Juden, die in der Armee dienen, nach Beendigung des Krieges im ganzen Reiche wohnen zu lassen. Sogar Purischkewitsch ist unter dem Einflüsse des Kriegssturmes der Stimme des neuen Lebens zugänglich geworden. Er hat sich von der Gesellschaft Dubrowins schroff getrennt." Er (Purischkewitsch) habe gegenüber dem Vertreter der Zeitung „Herold" geäußert, dass in einem so außergewöhnlichen Augenblick die Hetze der rechten Presse nicht geduldet werden dürfe, umso mehr, da die Juden gleich allen übrigen Bürgern sich zur Verteidigung des Vaterlandes erhoben hätten. Jetzt sei die Einigung aller russischen Bürger notwendig. (Sowr. Mir.", 1915/1. S. 123.)

Wenn Purischkewitsch jetzt den „Burgfrieden" predigt, so verstehen wir ihn wohl. Er braucht wirklich den „Burgfrieden", damit „unsere Armee" die große Tat der Erdrosselung Galiziens, der Türkei und Persiens vollenden könne. Aber wenn der „Marxist" Jordanski in einer Zeit der größten Juden-Verfolgungen, der Pogroms in noch nie dagewesenem Maßstabe, der Ausweisungen von Juden aus einer ganzen Reihe von Gouvernements und anderer allergemeinsten Verunglimpfungen entzückt ist, dass, „wie es verlautet" in den Regierungskreisen der Vorschlag aufgetaucht (!) sei, den Juden, die nach dem Gemetzel am Leben geblieben sind, das „Wohnrecht" zu verleihen, so ist das schon ein geradezu ekelerregendes Schauspiel.

Da ist noch ein Reptil, Herr L. Kleinbort, aus derselben noblen Zeitschrift.

Wie auf einen Wink erlosch der Aufruhr in Petersburg, hörten die Streiks in Moskau und im Bakurevier auf – die Arbeiter, erfüllt vom Bewusstsein der historischen Wichtigkeit des Augenblicks, begriffen, dass es nicht an der Zeit sei, den inneren Kampf zuzuspitzen." („Sowr. Mir." XII, 1914, S. 135.)

Wie auf einen Wink! Herr Kleinbort hat wahrscheinlich nichts vom Belagerungszustand, von Verhaftungen Tausender und Abertausender der Avantgarde der russischen Arbeiter gehört, die nicht im geringsten vom „Bewusstsein" durchdrungen waren, wie etwa manche Tintenkulis … Es wäre überhaupt besser, wenn die Herren Sozialchauvinisten über russische Arbeiter schweigen möchten. Dort wird man verstehen, diese Zarenlakaien zu verachten und zu hassen. Und wenn der Sozialchauvinismus unter den russischen Arbeitern in der Tat stark wäre, so würde es die korrupte Presse schon verstehen, sich darüber auszulassen.

Da ist ein drittes Reptil – Herr Alexinski. Dieser „gewesene Revolutionär" (nach dem Zeugnis der „Moskowskije Wjedomosti") schlägt in derselben Zeitschrift Purzelbäume zum Ergötzen der „Nowoje Wremja" und „Russkoje Snamja"P. Und in der Schweizer Zeitschrift „La Revue Politique Internationale" bringt er einen Artikel, der so schamlos die Auslandspolitik der Zarendiplomaten in den Himmel hebt, dass es sogar für die guten Schweizer Bourgeois zu viel wurde, und sie Herrn Alexinski daran erinnerten, wie er früher von der geheimen Diplomatenkamarilla schrieb, die als die wirkliche Regierung in Russland dargestellt wurde. („Revue", 1915, Nr. 14, 177.)

Alle diese Herren haben geistig mit der russischen revolutionären Bewegung gebrochen. Sie sind in das Lager der russischen Bourgeoisie, der russischen Reaktion geworfen worden. Der Übergang zum Chauvinismus war für die russischen „gewesenen Revolutionäre" immer der erste Schritt zum völligen Renegatentum. Erinnern wir uns an den Vorfahren der Alexinski und Jordanski – an Herrn Lew Tichomirow. Womit begann seine „Reue"? Damit, dass er unerwartet für sich selbst' „entdeckte":

Nie habe ich die russischen, nationalen Interessen vergessen, ich hätte mich immer für die Einheit und Integrität Russlands geopfert."

Damit, dass er „die Ausarbeitung eines Planes einer großen nationalen Partei", die Entstehung einer „nationalen Intelligenz" verlangte. Damit, dass er über die Behauptungen der Revolutionäre zu lachen begann, „dass Murawiew-Amurski, der der Selbstherrschaft zum Ruhme der Befestigung Russlands am Stillen Ozean verhelfen hatte, ein schädlicher Mensch sei."Q

Einmal hat Plechanow „den Kummer Tichomirows" grimmig verlacht, aber jetzt ist der wirkliche Kummer der russischen Sozialdemokratie der, dass der Gründer unserer Partei heute Ideen propagiert, die die „Plechanowianer" veranlassen, die „Tichomirowiade" direkt nachzumachen.

Einzelne Persönlichkeiten aus der „Intelligenz" konnten in jeder Richtung „stolpern". Aber bei den Liquidatoren sehen wir etwas anderes. Die ideologischen Führer von „Nascha Sarja" und „Nasche Djelo" beschritten ohne Zaudern den Weg des Sozialchauvinismus. Und das konnte nicht anders sein, denn der Sozialchauvinismus ist ideologisch eine politische Fortsetzung des Liquidatorentums, ist das Liquidatorentum in Anwendung auf die Verhältnisse des Krieges 1914/15. Von den vielen (wie es mir erinnerlich ist, ganzen sieben) „Richtungen", die im Brüsseler Liquidatorenblock vertreten waren (die Besprechung in Brüssel am 3. 6. 1914 unter Vorsitz Vanderveldes), vertraten den Sozialchauvinismus:

1. die „Richtung" „Nascha Sarja",

2. die „Richtung" des Führers der kaukasischen Liquidatoren, An,

3. die „Richtung" Plechanow,R

4. die „Richtung" Alexinski,

5. die „Richtung" des Führers der Bundisten Kossowski.

Unter diesen 5 heute rein chauvinistischen „Richtungen" finden wir die wichtigsten Bestandteile des Liquidatorenblocks in Russland. Nicht nur ideell, sondern auch organisatorisch, ist der Sozialchauvinismus das Erbe des LiquidatorentumsS, das unterliegt keinem Zweifel.

Das russische Liquidatorentum hat sich in Nationalliquidatorentum verwandelt.

1 „Prawda" (Wahrheit; – Blatt der Linken. „Lutsch" (Strahl) – Blatt der Rechten in der russischen Sozialdemokratie.

I So verfährt auch der Führer der georgischen Sozialchauvinisten An. In seinem Aufsatz: „Die Taktik der deutschen Sozialdemokratie" (Achali Asri 143) beweist er, dass das jetzige Verhalten der deutschen S.-D. ein Sieg des Revisionismus ist. „An der Spitze der deutschen S.-D. stehen jetzt die Revisionisten David, Legien usw.", schreibt er. Aber wenn es sich um Russland handelt, empfiehlt er dieselbe Taktik, wie David für Deutschland. Und in seiner Rüstkammer findet sich sogar folgendes merkwürdige Argument: „Der Unterschied zwischen den beiden Nationen (!)" – der französischen und deutschen – „wird aus der Tatsache sichtbar, dass die Nationalhymne der ersten die Marseillaise ist, die den Kampf gegen die Tyrannen bedeutet und die der zweiten „Deutschland, Deutschland über alles", das den Kampf mit den anderen Nationen bedeutet" (Achali Asri Nr. 151). Merkwürdig ist die „marxistische" Stellung der Frage! Nachdem An ein vulgärer Chauvinist wurde, vergaß er, dass die Marseillaise schon seit langer Zeit ein patriotisches, krass antisozialistisches Lied der reaktionären Bourgeoisie gewesen ist, und dass „Deutschland, Deutschland über alles" vom Demokraten Hoffmann stammt und einmal ein Ausdruck des Protestes gegen die Rechte des Feudalismus und der nationalen Zersplitterung war. Und dann – was sagt An zu der Nationalhymne „unserer" englischen Bundesgenossen ,,Rule Britannia"? Ist sie irgendwie besser als „Deutschland, Deutschland über alles"?

J Herr Jordanski (Redakteur des „S. M ") begleitete den Nachdruck mit einer ganzen Reihe maßlos begeisterter Lobsprüche. Plechanow sei der „tiefste", der „autoritärste" Sozialist schier in der ganzen Welt usw. Ein dienstbereiter Freund ist gefährlicher, als ein Feind…

K Plechanows Aufsatz „Weiteres über den Krieg" im Sammelbuch „Der Krieg", Paris 1915. Plechanow wollte die Rede Liebknechts nicht ganz bringen und hat sie damit verunstaltet. Liebknecht hat die Rede auf dem Erfurter Parteitag im Jahre 1891 gehalten. Sie ist gegen die jungen Halbanarchisten und gegen Vollmar, dem jetzigen Gesinnungsgenossen Plechanows gerichtet Hier wollen wir nur auf die Worte hinweisen: „Unter gar keinen Umständen dürfen sich die Sozialdemokraten in den chauvinistischen Strom hineinziehen lassen." (Protokoll des Erfurter Parteitages, Seite 206/207.)

2 In der „Auswärtigen Politik des russischen Zarentums“ (1891) bezeichnete Friedrich Engels die russische Diplomatie als „modernen Jesuitenorden“ (Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. Berlin. Band 22, S. 11-48, hier S. 14)

3 Aus einem bekannten Gedicht: „Die Vernunft".

4 Das Volk macht keine Unterschiede.

L S. „Tagebuch des Sozialdemokraten" (russisch) Nr. 2 „Patriotismus und Sozialismus", die Antwort auf die Rundfrage der Redaktion der „La vie socialiste", S. 7/8.

M S. „Tagebuch des Sozialdemokraten" Nr. 2 „Patriotismus und Sozialismus", S.5/6.

N S. „Tagebuch des Sozialdemokraten" Nr. 2 „Patriotismus und Sozialismus", S.3/4.

O Am Anfang des Buches befindet sich eine Erklärung der Redaktion: „In Anbetracht der vorhandenen Uneinigkeit in der Redaktion und unter den nächsten Mitarbeitern von „Nasche Djelo" in der grundlegenden Frage der Gegenwart, öffnet die Zeitschrift ihre Spalten für Artikel, die diese Frage von verschiedenen Seiten beleuchten." Das ist ein goldenes Brücklein für Martow und seine Anhänger. In der vorigen Nummer hat die Redaktion von „Nasche Djelo" direkt erklärt, dass sie ganz auf dem Standpunkte des Chauvinisten Plechanow stehe. In dieser Nummer finden wir nur Artikel chauvinistischer Marke. Wir werden ja sehen, wie A. P-w, Maslow und Lewitzki die Frage von „verschiedenen Seiten" beleuchten. Übrigens ist es ja noch nicht bekannt, was für Uneinigkeiten unter den Liquidatoren bestehen. Da teilt ja die Redaktion mit, dass sie „aus unvorhergesehenen Ursachen" den Artikel des Herrn J. Larin nicht abdrucken konnte. Und Larin ist ja alles in allem ein ebensolcher Chauvinist wie Lewitzki, nur einer anderen (deutschen) Marke. -- Solche „Uneinigkeiten" sind wirklich „vorübergehend".

P Das skandalöse „Auftreten'- des Herrn Alexinski gibt den ominösen Hetzereien gegen die Juden des bis zur letzten Stufe hinab gesunkenen Chrustalew in nichts nach. Sichtlich erlebt auch dieser gewesene Revolutionär seinen Niedergang. Wie tief musste Alexinski sinken, wenn er in „Rjetsch" mit einem Brief auftritt, wo er die Zarenbande versichert, dass die politischen Emigranten sich sofort mit dem Krieg versöhnen würden, wenn „diesen Elementen die Möglichkeit gegeben wäre, ihrem unfreiwilligen und in der Kriegszeit moralisch so schwerem Aufenthalte im Ausland ein Ende zu machen und in die Heimat zurückzukehren" („Rjetsch", 26. Mai 1915). Für wen bemüht sich dieser gewesene Revolutionär? … Den endgültigen Rekord schlug Alexinski, als er vor Rodsjanko und Purischkewitsch auf die Knie fiel mit der Bitte um Amnestie.

Q S. „Warum habe ich aufgehört Revolutionär zu sein?" Moskau 1896, 8. 27, 82, 87, 66. Dieses Werk empfehlen wir besonders Ropschin, Alexinski, der Redaktion von „Nowosti", „Sowrem Mir", „Nascha Sarja" usw.

R Der Unvoreingenommenheit halber müssen wir bemerken, dass von den Sozialdemokraten, die vor dem Kriege zu Plechanow zählten, bei weitem nicht alle in Russland die Schwenkung zum Sozialchauvinismus mitmachten.

S Es ist bemerkenswert, dass unter den nationalen Parteien, die sich der Partei der R. S.-D. Arbeiterpartei anschließen, die Gruppierung dieselbe ist. Die Lettische S.-D., die ihre Liquidatoren besiegt hat, stellte sich fest auf denselben Boden, wie unser „Zentralkomitee" (s. die offizielle Erklärung der lettischen S.-D. auf der Londoner Konferenz). Die polnische „Opposition" steht demselben Standpunkt nahe. Dagegen stehen der „Bund" und die polnische Linke („Lewitza") dem chauvinistischen O.-K. nahe. In der ukrainischen S.-D. betreibt Herr Bassok, der frühere nächste Kollege Trotzkis in der Redaktion der Wiener „Prawda", und and. eine schändliche, rein bürgerliche Politik. In den Spalten der ukrainischen Blätter dieser Herren spielt Parvus seine Harlekinade.

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